Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung der ukrainischen Geschichte und ihre Auswirkungen auf die nationale Identität bis heute. Im Zentrum stehen die regional unterschiedlichen Ansichten, ob man sich eher Westeuropa oder Russland annähern sollte.
Die heutige Ukraine machte Ende 2013 mit langanhaltenden Protesten auf dem Euromaidan in Kiew auf sich aufmerksam. Die zunächst friedlichen Proteste von Studenten als Reaktion auf die Nichtunterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union weiteten sich schon Tage später zu Massenprotesten aus, da die Studenten von einer Spezialtruppe der ukrainischen Polizei angegriffen wurden. Nun forderte man neben der Unterzeichnung des Abkommens und einem proeuropäischen Kurs auch die Absetzung des Präsidenten Janukowitsch und vorgezogene Neuwahlen. Die von der Regierung daraufhin angeordneten Einschränkungen des Versammlungsrechts und der Meinungsfreiheit im Januar 2014 bringt nur noch mehr Menschen aus Protest auf die Straßen Kiews (Mijnssen/Weisflog, 2019).
Einleitung:
Die heutige Ukraine machte Ende 2013 mit langanhaltenden Protesten auf dem Euromaidan in Kiew auf sich aufmerksam. Die zunächst friedlichen Proteste von Studenten als Reaktion auf die Nichtunterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union weiteten sich schon Tage später zu Massenprotesten aus, da die Studenten von einer Spezialtruppe der ukrainischen Polizei angegriffen wurden. Nun forderte man neben der Unterzeichnung des Abkommens und einem proeuropäischen Kurs auch die Absetzung des Präsidenten Janukowitsch und vorgezogene Neuwahlen. Die von der Regierung daraufhin angeordneten Einschränkungen des Versammlungsrechts und der Meinungsfreiheit im Januar 2014 bringt nur noch mehr Menschen aus Protest auf die Straßen Kiews (Mijnssen/Weisflog, 2019). Spätestens seit den ersten gewaltsamen Aktionen seitens der Polizeieinheit wurde weltweit von den Protesten berichtet. Die Fernsehbilder zeigten hunderte Menschen, die zusammenstanden und ukrainische Fahnen schwangen, teilweise wurden auch ukrainische Lieder sowie die Nationalhymne gesungen. Aber steht dieses Verhalten nicht im Wiederspruch zu den Protesten, die sich doch gegen die Führung eben jenes Landes richten? Um auch nur ansatzweise zu verstehen, warum es kein Wiederspruch zu sein scheint zwischen der Regierung auf der einen und dem Selbstverständnis als ukrainische Nation auf der anderen Seite zu trennen, hilft es, einen Blick auf die historischen Begebenheiten zu werfen unter der die Ukraine und die Identität als ukrainische Nation entstand. Zudem muss geklärt werden, was eine nationale Identität überhaupt ausmacht.
Hauptteil:
Die historische, geo- und demografische Entwicklung der Ukraine ist ein Schlüsselelement für das Verständnis dieser Irritation über die Ablehnung des Staates aber dem Nutzen seiner Symbole.
Das Gebiet des heutigen Ukraine gehörte seit dem 14. Jahrhundert wechselweise zu verschiedenen Staaten bzw. Herrschaftsgebieten. So waren Teile ehemals von Litauen, Polen, Russland, Österreich und sogar von der Türkei besetzt. Dies machte das Grenzland, die kresy (Brown, 2003), zu einem Mosaik aus verschiedenen Religionen, Sprachen und Herkunftsländern. Doch im Verlauf des letzten Jahrhunderts gab es einen Wandel: „Today the once multiethnic borderland is a largely Ukrainian heartland“ (Brown, 2003).
Brown (2003) zeichnet die Entwicklung wie folgt nach: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren in der kresy etwa sechs Prozent der Bevölkerung polnischer Abstammung. Trotz des vergleichsweise geringen Anteils an der Gesamtbevölkerung besaßen diese sechs Prozent einen Großteil der landwirtschaftlichen Flächen und Fabriken und hatten wichtige Stellen an Gerichten und Verwaltungen inne. Zudem nahmen sie auch andere wichtige Positionen in den Versorgungseinrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser inne. Zwar versuchte das zaristische System mit großer Anstrengung den Einfluss polnischstämmiger Ukrainer z.B. mittels öffentlicher Zuschreibungen von bestimmten Verhaltensweisen. So wurde verbreitet, dass andere Volksgruppen von Polen wie Sklaven behandelt werden würden. Doch die Machtverhältnisse wurden so nicht geändert. Genauso wenig gelang es der orthodoxen Kirche die polnische katholische Kirche aus ihren Gebieten zu verdrängen. Wohl aber entwickelte sich zu dieser Zeit das Konzept der „polnischen Frage“ für den westlichen Teil der kresy, die nach dem Zarenreich auch in der Sowjetunion relevant blieb und zur weiteren Verfolgung von Minderheiten bis in die 1930er-Jahre beitrug.
Die Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik vom 22. Januar 1918 währte nicht lange, da die Ukraine bereits im März 1918 im Zuge des Ersten Weltkrieges von Deutschland eingenommen wurde. Nach Ende des Krieges ging der Ostteil der Ukraine 1919 in der neu gegründeten Sowjetunion auf, wohingegen der westliche Teil zu Polen und zur Tschechoslowakei zugeteilt wurden. Polen und die Sovjetunion tauschten die polnische und ukrainische Bevölkerung untereinander aus, damit sie auf der „richtigen“ Seite ihrer Nationalität entsprechend lebten (Brown, 2003). Die Ostukraine wurde 1922 zum Teilstaat der Sowjetunion erhoben, gelangte also ein wenig Autonomie. Schon während des russischen Kaiserreichs begann man damit Siedlungsstrategien festzulegen. So musste fast die gesamte jüdische Bevölkerung Russlands im Gebiet der kre sy leben. Hebräisch war verboten und jüdische Kinder waren zu verpflichtet russische Sprachschulen zu besuchen und es musste ein langer Militärdienst abgeleistet werden. Auch die in dort lebenden Polen und Ukrainer sollten mittels Sprachschulen an das Zarenreich angepasst werden Später wurde die ukrainische Sprache ebenfalls untersagt, weshalb die Region insgesamt weniger zugänglich für ukrainisch sprechende wurde.
Die kresy bildete ebenfalls die Grenze zwischen katholischen und orthodoxen Christen, bot innerhalb aber den Raum für die Verschmelzung von Religionen und Aneignung der jeweils anderen Riten und Bräuche. „And finally, for nearly two decades in the twenthies century (1921-1939) the kresy served as a border between two competing world views, communism and capitalism“ (Brown, 2003).
1925 wurden im Staatsgebiet der ukrainisch-sozialistischen Sowjetunion sogenannte Autonomiebereiche eingerichtet, um die harmonische Koexistens von Kuluren bzw. Nationalitäten oder Religionen zu gewährleisten. Dies diente ursprünglich nicht der Diffarmierung einzelner Gruppen und sollte keine Ungleichheit erzeugen.
Der aufkommende Nationalsozialismus in Deutschland mit Hitlers Doktrin vom Lebensraum im Osten führte im Zweiten Weltkrieg zum Aufbau deutscher Kolonien in der Ukraine. Dort sollte der mit der nationalsozialistischen Ideologie verbundene Mord an Menschen jüdischen Glaubens sowie an anderen, in sogenannte „Rassen“ kategorisierten, Gruppen systematisch nach deutschem Vorbild erfolgen. Die bestehende Kategorisierung seitens der ukrainisch-sozialistischen Sowjetunion in den Autonomiegebieten bot eine ideale Vorsortierung im Sinne des nationalsozialistischen Rassenwahns und beschleunigte bzw vereinfachte die systematische Ermordung tausender Menschen: „Sovjet records provided a map for Nazi genocide“ (Brown, 2003).
Nach dem Zweite Weltkrieg dominierte in Europa das Bild vom Staat als homogene Natin, weshalb viele Menschen aufgrund ihrer Muttersprache aus der Ukraine ausgewiesen wurden.
Aus dem multiethischen Grenzland ein einigermaßen homogenes Kernland zu schaffen war folglich nicht das Werk eines einzelnen Landes oder Ideologie. Stattdessen waren an diesem Prozess viele Parteien mit unterschiedlichen Interessen und Motiven beteiligt (Brown, 2003).
Doch wie entstand das Selbstverständnis der ukrainischen Bevölkerung sich als Nation zu begreifen? Brown beschreibt die Identitäsfindung als einen Prozess, der auf politisch gelenkten bzw. gewollten Kategorisierungen basiert. Die Sowjetunion unterteilte, wie bereits erwähnt, die multiethische kresy in Autonomiegebiete ein. Dazu wurde die Bevölkerung anhand vorher relativ willkürlich festgelegten Kategorien einer dieser daraus gesultierenden Gruppen zugeordnet. So trennte man zum einen nach der Muttersprache in wie deutsch, ukrainisch und polnisch, im Falle der jüdischen Glaubensgemeinschaft jedoch auch nach Religion. Betont werden muss, dass diese Kategorien auch ganz anders hätten getroffen werden können. So wäre eine Trennung nach Geburtsland, komplett nach Glaubenszugehörigkeit oder anderem möglich gewesen. Aus welchem Grund die Kategorien so getroffen worden sind, kann nur vermutet werden. Bekannt ist jedoch, dass die Kategorisierung ein Muster erzeugte, welches in der Realität oft auf Grenzen stieß. Problematisch wurde es bespielsweise, wenn ein Ehepaar nicht der gleichen Kategorie entstammte. Wie waren sie einzuordnen? Sollten sie getrennt werden? Und zu welcher Kategorie sollten die Kinder gehören? Die Kategorien setzen voraus, dass die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen strikt voneinander getrennt lebten, die Realität war jedoch das genaue Gegenteil: Es handelte sich in der kresy häufig um ein Miteinander, bei dem man sich gegenseitig beeinflusste und auch Elemente, die durch die in der Konstruktionsphase des Systems nur einer Kategorie zuschrieben wurde, beispielsweise von anderen übernommen wurde.
„Soviet leaders found a region densely populated by a great tangle of humanity, all of whom lived tightly bound up in uncertain definitions and contingent cultures. What could be the dialectical synthesis of a region where many Poles spoke Ukrainian, where traditionally Orthodox Ukrainians went to Catholic or Protestant churches, where Jews mixed Russian into their Yiddish or Yiddish into their Russian, and where settlements of Germans, Czechs, and even Swedes pockmarked the nominally Ukrainian countryside?“ (Brown, 2003)
Dies verdeutlicht, dass staatliche Interventionen, wie in diesem Fall die räumliche Sortierung von Menschen anhand von staatlich vorgegebenen Kategorien, in diesem Kontext stark mit den Prozessen der Identitätsfindung von Nationen zusammenhängt: Verschiedene Konzepte von Staat, Macht und damit zusammenhängende politische Projekte konstruieren Identität.
Brown (2003) betrachtet die Entstehung einer nationalen Identität aus einer konstruktivistischen Perspektive: Die Ukraine als Nation ist ein Produkt ihres historischen Kontextes, diverser Akteur*innen und Gegebenheiten sowie verschiedener Politiken.
Ein Effekt dieser Konstruktion als Nation ist eine Form der Macht, die in der jüngeren Geschichte, aber auch darüber hinaus, schon zwischen Leben und Tod entscheiden konnte. Das zentrale Konstruktionsprinzip des Nationalsozialismus, die Hierarchisierung und Wertung von „Rassen“, mag ein eindringliches Beispiel dafür abgeben, was aufgrund der Konstruktion eines Ordnungs- und Bewertungssystems geschehen kann.
Doch wie entwickelt sich aus der künstlich geschaffenen Nation eine nationale Identität, welche die Menschen auf dem Euromaidan ja offensichtlich verbindet und auch der Regierung des dazugehörigen Landes entgegentreten kann, ohne wiedersprüchlich zu sein?
Ernest Renan lehnte es in einer Rede bereits 1882 ab eine nationale Identität anhand von äußeren Merkmalen, der Sprache, der Herkunft bzw. dem Wohnort oder der Glaubensgemeinschaft festmachen zu wollen. Für ihn war eine nationale Identität immateriell und ergab sich aus einem kollektiven Gedächtnis und der Entscheidung zusammengehörig zu sein.
Bringt man nun Renan (1882) und Brown (2003) zusammen, dann ist die ukrainische Identität durch ihren historischen Kontext, verschiedene Politiken, einem kollektiven Gedächtnis und der Entscheidung für die Zusammengehörigkeit entstanden. Und trotz der staatlichen Maßnahmen, mit der versucht wurde ein System oder eine Ordnung zu schaffen, ist die ukrainische Identität eine kulturelle und keine staatliche Konstruktion, da sie auf einem kollektiven Erinnern beruht (vgl. Assmann, 2006).
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- Anonymous,, 2019, Die Ukraine. Vom vielfältigen Grenzland zum homogenen Kernland?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/899360
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