Die Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert ist die Phase des Ausbaus der Industrie, in welcher schließlich die industrielle Produktion und Wertschöpfung die landwirtschaftliche überstieg und der Übergang vom Agrar- zum Industriezeitalter vollzogen wurde. In den ersten Dezennien des letzten Jahrhunderts fand dann eine rasante Technisierung und Automatisierung statt, welche Arbeits- und Lebenswelt der Menschen enorm veränderte. Besonders rasant vollzog sich diese‚ Zweite Industrieelle Revolution’ in den USA, die so zur führenden Wirtschaftsmacht aufstieg. Viele Europäer träumten von einer großen und schnellen Karriere in Amerika und die Jahre zwischen 1911 und 1915 waren Jahre der Masseneinwanderung mit jährlich etwa 750.000 Immigranten.
Unter ihnen war auch Charles Spencer Chaplin, der 1889 in London geboren wurde und sich, nachdem seine Familie verarmt war, als Allround-Künstler durchgeschlagen hatte. Eine Variete-Tournee führte ihn in die USA, wo er sich schließlich niederließ. 1913 begann Chaplin mit seiner Arbeit für den Film, woraus eine beispiellose Karriere wurde. Die Filmfigur des Tramps Charlie, den der Komiker in den meisten seiner Filme verkörperte, wurde in der ganzen Welt bekannt. In seinen Filmen Ein Hundeleben (1918), Zahltag (1922) und besonders in Das Kind (1921) schilderte Chaplin „mit viel menschlicher Wärme, ein wenig Wehmut und der ihm eigenen genialen Komik“ das sorgenvolle Leben in den Arbeitervierteln der Industrienation USA. In Moderne Zeiten (1936), zeigt der Komiker die Auswirkungen der hochtechnisierten Arbeitswelt auf den Menschen.
Zufällig zur gleichen Zeit, in der Chaplin in den USA seine Filmkarriere begann, schrieb Franz Kafka an seinem ersten Roman Der Verschollene (1912-1914), welcher das Schicksal eines jungen Amerika-Immigranten zum Thema hat. Kafkas Held Karl Roßmann betritt hier eine „Sphäre [...], die erstaunlich derjenigen ähnelte, der Charlie Chaplin als wirklicher und fiktiver ‚Immigrant’ die Stirn bieten mußte.“ Auch Der Verschollene erzählt vom Kampf ums Überleben in der modernen Industriegesellschaft.
„Doch warum sollte man Kafkas Karl und Chaplins Charlie eines besonderen Vergleichs würdigen, wo es doch unzählige junge Immigranten gibt?“ Die Antwort hierauf gibt Max Brod im Nachwort zur Erstausgabe des Verschollenen:
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Die moderne Arbeitswelt in der Industriegesellschaft – Der historische Hintergrund
III. Franz Kafka und das Kino
III.1. Die filmische Erzählweise in Kafkas Der Verschollene
IV. Die moderne Arbeitswelt in Kafkas Der Verschollene
IV.1. Auf dem Schiff
IV.2. Das Eisenhaus des Onkels
IV.3. Das Hotel Occidental
IV.4. Der moderne Großstadtverkehr
IV.5. Zusammenfassung
IV.6. Das „Teater in Oklahama“ als Rettung aus der modernen Arbeitswelt?
V. Die moderne Arbeitswelt in Chaplins Moderne Zeiten S. 25 V.1. In der Fabrik
V.2. Der Tramp und das Waisenmädchen auf Arbeitssuche
V.3. Hinter den Kulissen
VI. Der Verschollene und Moderne Zeiten – Ein Vergleich
VII. Als Schlusswort: Film und Literatur als sozialhistorische Quellen?
Verzeichnis der Quellen und Darstellungen
I. Einleitung
Die Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert ist die Phase des Ausbaus der Industrie, in welcher schließlich die industrielle Produktion und Wertschöpfung die landwirtschaft- liche überstieg und der Übergang vom Agrar- zum Industriezeitalter vollzogen wurde. In den ersten Dezennien des letzten Jahrhunderts fand dann eine rasante Technisierung und Automatisierung statt, welche Arbeits- und Lebenswelt der Menschen enorm ver-änderte. Besonders rasant vollzog sich diese ‚Zweite Industrieelle Revolution’ in den USA, die so zur führenden Wirtschaftsmacht aufstieg. Viele Europäer träumten von einer großen und schnellen Karriere in Amerika und die Jahre zwischen 1911 und 1915 waren Jahre der Masseneinwanderung mit jährlich etwa 750.000 Immigranten.[1]
Unter ihnen war auch Charles Spencer Chaplin, der 1889 in London geboren wurde und sich, nachdem seine Familie verarmt war, als Allround-Künstler durchgeschlagen hatte. Eine Variete-Tournee führte ihn in die USA, wo er sich schließlich niederließ. 1913 begann Chaplin mit seiner Arbeit für den Film, woraus eine beispiellose Karriere wurde. Die Filmfigur des Tramps Charlie, den der Komiker in den meisten seiner Filme verkörperte, wurde in der ganzen Welt bekannt. In seinen Filmen Ein Hundeleben (1918), Zahltag (1922) und besonders in Das Kind (1921) schilderte Chaplin „mit viel menschlicher Wärme, ein wenig Wehmut und der ihm eigenen genialen Komik“[2] das sorgenvolle Leben in den Arbeitervierteln der Industrienation USA. In Moderne Zeiten (1936), zeigt der Komiker die Auswirkungen der hochtechnisierten Arbeitswelt auf den Menschen.
Zufällig zur gleichen Zeit, in der Chaplin in den USA seine Filmkarriere begann, schrieb Franz Kafka an seinem ersten Roman Der Verschollene (1912-1914), welcher das Schicksal eines jungen Amerika-Immigranten zum Thema hat. Kafkas Held Karl Roßmann betritt hier eine „Sphäre [...], die erstaunlich derjenigen ähnelte, der Charlie Chaplin als wirklicher und fiktiver ‚Immigrant’ die Stirn bieten mußte.“[3] Auch Der Verschollene erzählt vom Kampf ums Überleben in der modernen Industriegesellschaft.
„Doch warum sollte man Kafkas Karl und Chaplins Charlie eines besonderen Vergleichs würdigen, wo es doch unzählige junge Immigranten gibt?“[4] Die Antwort hierauf gibt Max Brod im Nachwort zur Erstausgabe des Verschollenen:
„Es gibt Szenen in diesem Buch (namentlich die in der Vorstadt spielenden Szenen, die ich ‚Ein Asyl’ genannt habe), die unwiderstehlich an Chaplin-Filme erinnern, an so schöne Chaplin-Filme, wie sie freilich noch nicht geschrieben wurden – wobei man nicht vergessen möge, daß in der Zeit, in der dieser Roman entstand (vor dem Kriege!), Chaplin unbekannt oder vielleicht gar noch überhaupt nicht aufgetreten war.“[5]
Eine genauere Analyse wird zeigen, dass sich der Autor in diesem Roman einer unge-wöhnlichen ‚Filmischen Erzählweise’ bediente, die an den frühen Stummfilm erinnert. So erscheinen stilistisch viele Passagen des Verschollenen ‚chaplinlike’. Andererseits kann man aber auch sagen, dass viele Szenen in Chaplin-Filmen wie Moderne Zeiten ‚kafkaesk’ wirken.
Die „alles zu Staub zermahlende moderne Arbeitswelt“[6], insbesondere die amerikanische Arbeitswelt als „Inferno gnadenlos unmenschlicher Betriebsamkeit“[7] wird sowohl in Kafkas Der Verschollene als auch in Chaplins Moderne Zeiten thematisiert. Beide Werke stellen mit diesem Thema große Ausnahmen in der Literatur- und Kinolandschaft ihrer Zeit dar.
Um 1914 trat in der deutschsprachigen Literatur zwar das Phänomen der ‚Arbeiter-dichtung’ auf, in welcher sich die Dichter mit der modernen Arbeitswelt auseinander setzten, doch war diese meist „Träger bürgerlicher Ideologie – zum Teil in ihrer aggressivsten Form.“[8] Franz Kafkas Romanfragment Der Verschollene wird von der Literaturwissenschaft als eine der „hellsichtigsten dichterischen Enthüllungen der modernen Industriegesellschaft“[9] gewürdigt, und es ist dabei besonders bemerkenswert, dass der Dichter, obwohl er aus bürgerlichem Milieu stammt, doch aus der Sicht des ‚kleinen Mannes’ schreibt. Kafkas Beruf bei der ‚Arbeiterunfallversicherungsanstalt für das Königreich Böhmen in Prag’ (1908-1922) konfrontierte ihn mit den Nöten der Arbeiter, seit 1910 besuchte er sogar sozialistische Veranstaltungen.[10] Der kritische Lichtbildervortrag des Prager Sozialisten Dr. Frantisek Soukup über seinen vier-monatigen Aufenthalt in Amerika war wohl eine der Quellen, die der Dichter nutzte, um sich für seinen Roman über die USA und die dortigen Lebensverhältnisse zu informieren. Kafka selbst war nämlich nie in Amerika. Seine Eindrücke über das moderne Leben in den USA, die er in seinem Roman Der Verschollene niederschrieb, gewann er aus (Reise-)Büchern, Erzählungen – und aus dem Kino.[11]
Anders als die Literatur war der Film schon in der Frühphase des Kinos zum Massen-medium geworden und Arbeiter und Angestellte repräsentierten sein Publikum. So war die Filmproduktion gezwungen auch auf die Bedürfnisse dieser Gruppen einzugehen. Doch diese waren durchaus ambivalent. Man ging vornehmlich ins Kino, um für ein paar Stunden der Arbeitswelt und den sozialen Problemen entfliehen zu können, sich einfach nur unterhalten zu lassen. Andererseits verspürte man aber auch den Wunsch, im Film eine Widerspiegelung seiner sozialen Probleme zu finden. So stand die Film-industrie vor der Frage, ob der Film nur unterhalten sollte und damit system-stabilisierend wirkte, oder ob er die Situation in Fabriken und Betrieben zeigen sollte und so letztlich sozialemanzipatorische Bedürfnisse wecken würde.[12] Zu beidem war der Film als Massenmedium weitaus besser „berufen und fähig“[13] als die Literatur. Der deutsche Film der Zwanzigerjahre widmete sich durchaus auch der Darstellung der industriellen Lebenswelt und fand deshalb auch im Ausland ein größeres Publikum.[14] Der amerikanische Film dagegen orientierte sich äußerst selten an den tatsächlichen sozialen Gegebenheiten. Hier war die fiktive Filmwelt eine heile Welt: „Der Arbeiter im Zuschauerraum windet sich vor Lachen. Vergißt das Fließband, verlässt den Alltag.“[15] Mit diesem Konzept beherrschte Hollywood aber schon in den Zwanzigerjahren 60 - 90% des weltweiten Filmmarktes.[16] Die Wallstreet – Kapitalgeber der amerikanischen Industrie – „entsendet [...] ihre Aufsichtsräte in die Betriebe, wo Gesinnung produziert wird. In die Schule, in die Kirche und nach – Hollywood. [...] Die Fords produzieren Massenautos und die Paramounts – Massenamerikaner,“[17] nämlich brave und gefügige Arbeiter.
Zu dieser Zeit waren es – abgesehen von einigen wenigen erfolglosen Streifen linker Filmemacher – vor allem die Filme Charlie Chaplins, welche das Leben der sozialen Unterschichten darstellten.[18] Doch mit den enormen sozio-ökonomischen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise konnte auch Hollywood sich vor einer Aus-einandersetzung mit den sozialen Fragen der Gegenwart nicht mehr drücken. Erstmals entstand beim amerikanischen Publikum jetzt auch der Wunsch, im Film eine Widerspiegelung ihrer Sorgen und Nöte zu finden. So entstand ab etwa 1933 ein ganz neues Filmgenre: der sogenannte ‚Social Problem Film’.[19] Der Rooseveltsche ‚New Deal’ der 30er-Jahre regte allgemein dazu an, sich mit den Problemen der Arbeit und der Arbeiter zu beschäftigen, doch eher im kapitalistischen Erziehungssinn. Und so blieben sozialkritische Filme neben der großen Masse der eskapistischen Unterhaltungs-filme weiterhin die Ausnahme.[20]
Anfang der 30er-Jahre kam Chaplin in Paris und Berlin mit der kommunistischen Bewegung in Berührung. Nach seinen Filmen Moderne Zeiten (1936) und Der Große Diktator (1940) war er in den USA als ‚politisch gefährlich’ verschrien. Nach einigen politischen Hetzkampagnen wurde er 1952 vom amerikanischen Justizminister McGranery ausgebürgert. Erst 1972 lud ihn das US-Filmkapital zu einer theatralischen ‚Versöhnungsreise’ nach Hollywood ein und verlieh ihm hier einen Oscar für sein Lebenswerk.[21]
Zu Gustav Janouch soll Kafka einmal über Charlie Chaplin gesagt haben:
Das ist ein sehr energischer, arbeitsbesessener Mann. In seinen Augen qualmt die Glut der Verzweiflung über die Unveränderlichkeit des Niedrigen, doch er kapituliert nicht. Wie jeder echte Humorist, hat er ein Raubtiergebiß. Damit geht er auf die Welt los. Er tut es auf eine nur ihm eigene Art. Er ist – trotz des weißen Gesichts und der dunklen Augenreifen – kein sentimentaler Pierrot, aber auch kein bissiger Kritiker. Chaplin ist Techniker. Er ist Mensch einer Maschinenwelt, in der die Mehrzahl seiner Mitmenschen nicht mehr über das notwendige Gefühl und Gedankenwerkzeug verfügen, um sich das ihnen verliehene Leben wirklich anzueignen. Sie haben keine Phantasie. Also beginnt Chaplin zu arbeiten. Wie ein Zahntechniker falsche Gebisse, so erzeugt er Phantasieprothesen. Das sind seine Filme. Das ist der Film überhaupt.“[22]
Nun muss man bei den von Janouch kolportierten Äußerungen Kafkas immer kritisch sein,[23] doch ist es letztlich unerheblich, ob die obige Würdigung Chaplins von Kafka selbst stammt oder ihm von Janouch in den Mund gelegt wurde – wahre Worte sind es auf jeden Fall.
II. Die moderne Arbeitswelt in der Industriegesellschaft –
Der Historische Hintergrund
Die amerikanische Industrie wurde durch die Rationalisierungs- und Arbeitsteilungs-konzepte F. W. Taylors (1903) und die Einführung der Fließbandarbeit in den Ford-Werken (1913) revolutioniert. Die USA wurden zur führenden Wirtschaftsmacht und ließen in Produktion und Erfindung England und Deutschland, wo das Fließband erst ab 1924 eingesetzt wurde, weit hinter sich.[24]
Parallel zum ‚Fordismus’ in der Produktion verlief die Mechanisierung und Ratio-nalisierung der Bürobetriebe.[25] Zwar fanden auch in Deutschland schon seit den 1880er-Jahren neue Rechen-, Schreib- und Kommunikationsgeräte massenhaften Einsatz in der privaten Verwaltung und im öffentlichen Dienst, doch erst gegen 1924 erreichte die Bürorationalisierung hier amerikanische Ausmaße. Elektrische Bleistiftanspitzer, Geldzählgeräte, Briefschließ- und -öffnungsgeräte waren die neuesten technischen ‚Spielereien’, die nach amerikanischem Vorbild auf großen Büromessen vorgestellt wurden.
Die Folgen der immer noch zunehmenden Technisierung der Arbeitswelt sind ambivalent. Auf der einen Seite befreiten die Maschinen den Arbeiter vor übergroßer körperlicher Anstrengung und schützen ihn vor den Gefahren durch gesundheitsschädliche Rohstoffe. Der Maschineneinsatz wendet sich aber in vielerlei Weise auch wieder gegen den Arbeiter. Durch diesen konnte nicht nur erheblich Personal eingespart werden, mit ihm ging auch ein entscheidender Dequalifi-zierungsprozess einher. Fachkräfte konnten oftmals durch junge, nur noch angelernte und damit billigere Arbeiter ersetzt werden. Zudem wurden in den meisten Büros und vielen Fabriken nun mehr, wenn nicht gar ausschließlich, Frauen eingestellt, die eine bedeutend geringere Entlohnung erhielten. Mit der Mechanisierung gingen auch Arbeitszerlegung und Akkordarbeit einher. Im Gegensatz zum Zeitlohn, also der nach Arbeitszeit berechneten Entlohnung des Arbeiters, besteht der Akkordlohn aus einem geringen Grundlohn und einem Stücklohn. Aufgrund dieser erweiterten Verdienst-möglichkeiten begrüßten zu Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst viele Arbeiter diese Arbeitsweise.[26] Doch einige Akkordarbeiter, die (vorübergehend) physisch und psychisch besonders leistungsfähig sind, können sich selbst ‚die Preise verderben’, das heißt, zu einem besonders hohen Durchschnitt und damit zu einem für den Arbeiter schlechten Akkordrichtsatz führen.[27] So „muß der Akkordarbeiter auf der Werksuhr vor dem eigenen Arbeitsplatz das unaufhaltsame Verrinnen der Zeit beobachten.“[28] Zudem gibt es für den Akkordarbeiter keine Sicherheit durch ein garantiertes Lohn-Fixum, „sondern an jedem Arbeitstag steht die materielle Sicherung des eigenen Lebens wieder neu auf dem Spiel.“[29] Während beim Angestellten und Beamten die Entlohnung mit zunehmendem Dienstalter steigt, fällt sie zudem beim Akkordarbeiter, weil er dem Akkord nicht mehr voll gewachsen ist.
Es ist heute bewiesen, dass die Akkordarbeit auch gravierende Auswirkungen auf psychische und körperliche Gesundheit der Beschäftigten, sowie auf ihr Sozialverhalten innerhalb und außerhalb des Betriebes hat. Die Ausführung zusammenhängender komplexer Tätigkeiten des traditionellen Handwerksberufs wurde auf wenige gleich-bleibende, aber schneller auszuführende Handgriffe in der modernen Fließbandarbeit reduziert. Ärzte stellten die „Gefahr der chronischen Übermüdung [durch] Monotonie“[30] fest, die ständige Arbeitshetze kann zu krankhafter Nervosität führen.[31] Der Fließband-arbeiter ist in der Regel nicht in der Lage einen Zusammenhang zwischen seiner Tätigkeit und dem ganzen Produktionsprozess herzustellen. Er verliert so das Gefühl, etwas wichtiges und sinnvolles getan zu haben. Die Folgen können Lustlosigkeit, Apathie, gar Depressionen sein.[32] Viele Akkordarbeiter klagen über chronische Leiden wie Sehnenscheidenentzündungen, Bandscheibenschäden und Rückenschmerzen, Magen- und Galle-Krankheiten.[33] Bei der Fließbandarbeit bleiben die meisten Muskel-gruppen passiv, während einige wenige überbeansprucht werden, was dazu führen kann, dass sie entweder gefühllos werden oder von Gehirn und Nerven auch nach beendeter Arbeit weiter zur immergleichen Kontraktion (Tics) veranlasst werden.[34] Auch die Sinne des Menschen können durch übermäßige Beanspruchung (Lärm, Gerüche, Lichtverhältnisse) abstumpfen.[35]
Durch die Arbeitszergliederung ist die Kommunikation unter den Arbeitern nicht mehr wichtig, durch den Akkord wird sie weitgehend verhindert.[36] Solidarisierung unter den Arbeitern ist nicht nur durch die fehlende Kommunikation erschwert. Wird der Akkordrichtsatz von besonders leistungsfähigen Arbeitern in die Höhe getrieben, kann dies unmittelbare Folgen auf den Verdienst der Kollegen, die den gleichen Arbeits-schritt ausführen, haben. Zudem ist jeder Arbeiter am Fließband von der Geschwindig-keit seines Vordermanns abhängig. Oft wird außerdem versucht, Solidarität unter den Arbeitnehmern zu unterbinden, um emanzipatorische Bestrebungen gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Auch auf Ehe- und Privatleben hat das moderne Arbeitsleben Auswirkungen. Die Selbstbezogenheit im Einzelakkord führt zu Kommunikationsproblemen, die das heutige Familienleben prägen.[37] Ulrich sieht zudem die Gefahr, dass „wer in seiner Arbeit nicht sich selber als ganze Person einsetzen muß, dem wird es auch in der Familie z. B. schwerer fallen, aus sich heraus zu gehen, Offenheit und Sensibilität für den anderen zu entfalten.“[38] Eine Akkordarbeiterin klagt zudem stellvertretend: „[...] in unserem Beruf und in unserer Arbeit spielt sich da abends mit dem Ehemann nichts ab. Die Frau ist viel zu müde, und das muß der Mann denn auch verstehen können. Und gerade deswegen möchte ich sagen, daß viele Ehen darunter leiden und in die Brüche gehen.“[39]
Bereits in den Zwanzigerjahren gaben viele Firmen psychotechnische Experimente zur Leistungssteigerung ihrer Angestellten in Auftrag, welche Internalisierung von Gedächtnisleistungen und Bewegungsabläufen zur Folge haben sollten.[40] In Europa und in den USA wurde das Bedaux-System in Betrieben eingeführt, wonach die Arbeits-leistung eines Arbeiters unter ‚normalen Arbeitsbedingungen’ und ‚normalem Arbeits-tempo’ pro Minute berechnet wurde. Durch Aushänge in den einzelnen Abteilungen wurde dann täglich die Arbeitsleistung jedes einzelnen Beschäftigten am vorher-gehenden Tag verkündet. Das Bedaux-System wurde von den Ausgebeuteten als Bedaux-Hölle bezeichnet und galt als gleichbedeutend mit ‚Amerikanismus’. So stand Amerika bei Arbeitern und Angestellten in Deutschland zwar vor allem für Modernität, aber auch für ausbeuterischen Kapitalismus.[41]
Viele der oben genannten körperlichen, psychischen und soziologischen Auswirkungen der modernen Arbeitswelt lassen sich in dem Roman Kafkas und dem Film Chaplins wiederfinden.
[...]
[1] Vgl. Loose, S. 22.
[2] Schettler, S. 231.
[3] Tyler, S. 186f. The Immigrant ist ein Chaplin-Film von 1917.
[4] Tyler, S. 187.
[5] Max Brod in Kafka: Amerika. Ein Roman, München 1927, S. 392. Hier zitiert nach Plachta, S. 87.
[6] Emrich, S. 227.
[7] Jahn (1965), S. 115.
[8] Dithmar, S. 27.
[9] Emrich, S. 227.
[10] Vgl. Wirkner, S. 11.
[11] Zu Soukup siehe Kafka: Tagebücher (Notiz vom 2.06.1912), S. 327. Zur weiteren Quellenlage Kafkas siehe Citati, S. 82, Jahn (1965), S. 145, Loose, S. 21, Plachta, S. 81ff. und Wirkner, S. 26f.
[12] Vgl. Schettler, S. 9ff. und Richter, S. 117.
[13] Richter, S. 117.
[14] Vgl. Schettler, S. 233. Er spricht hier sogar von einem enormen „deutschen proletarisch-sozialistischen Filmschaffen.“ Dies ändert sich aber in den frühen Dreißigerjahren. Nun kann man auch in Deutschland von einer „verbürgerlichten Leinwand“ sprechen. Siehe hierzu näher Richter, S. 68.
[15] Fodor, S. 88.
[16] Vgl. Schettler, S. 231.
[17] Fodor, S. 87.
[18] Vgl. Schettler, S. 231.
[19] Vgl. Schettler, S. 233f.
[20] Vgl. Schettler, S. 94 und S. 239.
[21] Zur Biografie Chaplins vgl. u. a. Kreimeier, S. 136f.
[22] Janouch, S. 214ff.
[23] Vgl. Zischler (1998), S. 11.
[24] Vgl. Nienhaus, S. 68.
[25] Vgl. Nienhaus, S. 67f.
[26] Vgl. Nienhaus, S. 68.
[27] Vgl. Dithmar, S. 81f.
[28] Ulrich, S. 61.
[29] Ulrich, S. 93.
[30] Nienhaus, S. 76.
[31] Vgl. Dithmar, S. 81.
[32] Vgl. Ulrich, S. 56.
[33] Vgl. Dithmar, S. 79.
[34] Vgl. Ulrich, S. 57.
[35] Vgl. Ulrich, S. 64.
[36] Vgl. Ulrich, S. 86f.
[37] Vgl. Ulrich, S. 89f.
[38] Ulrich, S. 56.
[39] Dithmar, S. 80.
[40] Vgl. Nienhaus, S. 73.
[41] Vgl. Nienhaus, S. 75f.
- Arbeit zitieren
- Magister Artium Kevin Dahlbruch (Autor:in), 2004, Die Darstellung der modernen Arbeitswelt in Literatur und Film, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89713
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