Es gehört zu den unvergeßlichen Kindheitserlebnissen vieler Menschen, einen Wassertropfen, etwa aus einem Dorfteich, unter einem Mikroskop betrachtet und dabei ein Gewimmel von belebten Körperchen und unbelebten Strukturen erblickt zu haben, die dem bloßen Auge nicht sichtbar sind. Und wer jemals in einer sternklaren Nacht durch ein Fernrohr einen Blick in die Weiten des Weltalls getan und schier unerschöpfliche Ansammlungen von Sternen, Galaxien und kosmischen Nebeln gesichtet hat, wie sie in längst vergangenen Zeiten existierten, der ist ergriffen von der Tiefe des Raumes und der Unergründlichkeit der Zeit.
Mikroskop und Teleskop haben uns befähigt, die Welt in Bereichen kennen zu lernen, die uns ohne diese technischen Hilfsmittel für immer verborgen wären. Ihre Erfindung datiert um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Als Erfinder des Fernrohrs werden in Arbeiten zur Wissenschafts- und Technikgeschichte holländische Brillenmacher genannt, insbesondere Hans Lippershey, der 1608 ein entsprechendes Patent beantragt hatte. Galileo Galilei setzte 1609 ein von ihm selbst konstruiertes Fernrohr für seine astronomischen Forschungen ein und entdeckte mit ihm die vier hellsten Jupitermonde. Der Erfindung des Fernrohrs folgte die des Mikrokosps auf dem Fuße. Neben Galilei werden in diesem Zusammenhang gewöhnlich die Holländer Cornelius Drebbel und Zacharias Janssen genannt.
Ursprünglich zur Erbauung von Seele und Auge gedacht, wurde das Mikroskop bald zu einem unentbehrlichen Instrument der wissenschaftlichen Forschung. Die Technik des Mikroskopierens wurde rasch weiterentwickelt und die Leistungsfähigkeit des Instruments kontinuierlich gesteigert. Im Elektronenmikroskop werden optische Linsen durch Elektronenlinsen ersetzt, und die Technik der Raster-Tunnel-Mikroskopie erlaubt es heute, Gebilde in atomaren Größenordnungen sichtbar zu machen.
Ähnlich rasant verlief die Entwicklung des Fernrohrs. Von Galileis Sicht auf die Jupitermonde bis zu den Aufnahmen, die uns heute das auf einer Erdumlaufbahn stationierte Hubble-Teleskop über unser Universum liefert, sind gerade einmal vier Jahrhunderte vergangen.
Teleskop und Mikroskop erschließen uns makroskopisch große und mikroskopisch kleine räumliche Dimensionen. Die durch astronomische Fernrohre beobachteten Objekte befinden sich in großer Entfernung von uns, die im Mikroskop sichtbaren Objekte sind unmittelbar vor uns. Beide Instrumente befähigen das Auge, Räume zu durchmessen: Das Mikroskop, indem es in kleinen Dimensionen existierende Objekte größer erscheinen läßt; das Teleskop, indem es Objekte, die uns auf Grund der großen Entfernung klein erscheinen, sofern sie mit bloßem Auge überhaupt sichtbar sind, näher an uns heranholt und sie damit größer erscheinen läßt. Mikroskop und Teleskop sind für räumliches Sehen geschaffen.
Inhalt
Vorwort
1. Ein Mikroskop für die Zeit
Felix Ebertys „Die Gestirne und die Weltgeschichte“
2. Ein Mikroskop für Raum und Zeit
Das Apfelmännchen
3. Ein Teleskop für Raum und Zeit
Verborgene Similaritäten
4. Evolution – Zeit – Iteration
Daten der Abbildungen
Vorwort
Es gehört zu den unvergeßlichen Kindheitserlebnissen vieler Menschen, einen Wassertropfen, etwa aus einem Dorfteich, unter einem Mikroskop betrachtet und dabei ein Gewimmel von belebten Körperchen und unbelebten Strukturen erblickt zu haben, die dem bloßen Auge nicht sichtbar sind. Und wer jemals in einer sternklaren Nacht durch ein Fernrohr einen Blick in die Weiten des Weltalls getan und schier unerschöpfliche Ansammlungen von Sternen, Galaxien und kosmischen Nebeln gesichtet hat, wie sie in längst vergangenen Zeiten existierten, der ist ergriffen von der Tiefe des Raumes und der Unergründlichkeit der Zeit.
Mikroskop und Teleskop haben uns befähigt, die Welt in Bereichen kennen zu lernen, die uns ohne diese technischen Hilfsmittel für immer verborgen wären. Ihre Erfindung datiert um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Als Erfinder des Fernrohrs werden in Arbeiten zur Wissenschafts- und Technikgeschichte holländische Brillenmacher genannt, insbesondere Hans Lippershey, der 1608 ein entsprechendes Patent beantragt hatte. Galileo Galilei setzte 1609 ein von ihm selbst konstruiertes Fernrohr für seine astronomischen Forschungen ein und entdeckte mit ihm die vier hellsten Jupitermonde. Der Erfindung des Fernrohrs folgte die des Mikrokosps auf dem Fuße. Neben Galilei werden in diesem Zusammenhang gewöhnlich die Holländer Cornelius Drebbel und Zacharias Janssen genannt.
Ursprünglich zur Erbauung von Seele und Auge gedacht, wurde das Mikroskop bald zu einem unentbehrlichen Instrument der wissenschaftlichen Forschung. Die Technik des Mikroskopierens wurde rasch weiterentwickelt und die Leistungsfähigkeit des Instruments kontinuierlich gesteigert. Im Elektronenmikroskop werden optische Linsen durch Elektronenlinsen ersetzt, und die Technik der Raster-Tunnel-Mikroskopie erlaubt es heute, Gebilde in atomaren Größenordnungen sichtbar zu machen.
Ähnlich rasant verlief die Entwicklung des Fernrohrs. Von Galileis Sicht auf die Jupitermonde bis zu den Aufnahmen, die uns heute das auf einer Erdumlaufbahn stationierte Hubble-Teleskop über unser Universum liefert, sind gerade einmal vier Jahrhunderte vergangen.
Teleskop und Mikroskop erschließen uns makroskopisch große und mikroskopisch kleine räumliche Dimensionen. Die durch astronomische Fernrohre beobachteten Objekte befinden sich in großer Entfernung von uns, die im Mikroskop sichtbaren Objekte sind unmittelbar vor uns. Beide Instrumente befähigen das Auge, Räume zu durchmessen: Das Mikroskop, indem es in kleinen Dimensionen existierende Objekte größer erscheinen läßt; das Teleskop, indem es Objekte, die uns auf Grund der großen Entfernung klein erscheinen, sofern sie mit bloßem Auge überhaupt sichtbar sind, näher an uns heranholt und sie damit größer erscheinen läßt. Mikroskop und Teleskop sind für räumliches Sehen geschaffen.
Mit dem Teleskop kommt allerdings auch die zeitliche Dimension ins Spiel. Da das Licht sich mit endlicher Geschwindigkeit ausbreitet, sehen wir kosmische Objekte, die viele Lichtjahre von uns entfernt sind, im Moment der Beobachtung so, wie sie vor ebenso vielen Jahren waren. Je weiter wir im Weltraum blicken, desto älter sind die Objekte, die unserem Auge erscheinen. Indem wir in entfernte kosmische Räume blicken, blicken wir in die
Vergangenheit der Objekte, die wir sehen.
Doch können wir auch in unsere eigene Vergangenheit blicken? Gibt es ein Mikroskop, durch das wir unsere eigene Geburt verfolgen, die Kreuzigung Christi miterleben oder die Entstehung unseres Sonnensystems en detail besichtigen können? Das ist nicht die Frage nach der Möglichkeit von Reisen in die Vergangenheit, bei denen der Zeitreisende in der Vergangenheit ja körperlich anwesend wäre, sondern die Frage, ob wir, ähnlich wie wir mit einem gewöhnlichen Mikroskop räumliche Dimensionen erkunden, mit einem Mikroskop für die Zeit uns vergangene Zustände unserer Welt anschauen könnten. Diese Frage bewegte Mitte des 19. Jahrhunderts den Juristen und Liebhaberastronomen Felix Eberty.
Die Bekanntschaft mit Eberty verdanke ich Karl Clausberg, der dessen Buch „Die Gestirne und die Weltgeschichte“ von 1846/47 in einer von ihm besorgten und im Akademie-Verlag erschienenen Neuausgabe im Juni 2006 am Wissenschaftskolleg zu Berlin (Institute for Advanced Study) vorstellte. Am selben Ort hatte ich 1993 Gelegenheit gehabt, meine Studien zur fraktalen Natur der Mandelbrot-Menge zu einem „Märchen vom Apfelmännchen“ zu verdichten. Zugleich lag in dieser Zeit der Beginn meiner Arbeiten zur Strukturbildung durch Palindromisierung. In der hier vorgelegten Schrift wird nun der Versuch gemacht, diese drei Stränge zu einem zusammenzubinden: Ebertys Idee von einem „Mikroskop für die Zeit“ mit einem „Mikroskop für Raum und Zeit“ zur Analyse der Binnenstruktur der Mandelbrot-Menge, und ein „Teleskop für Raum und Zeit“ bei der Betrachtung von Strukturen, die in Palindromisierungsprozessen entstehen.
Ebertys Idee eines „Mikroskops für die Zeit“, die im Folgenden referiert wird, ist durchaus originell, wenn auch eine reine Gedankenkonstruktion. In einem ganz anderen Sinne erweisen sich heute ein Mikroskop wie auch ein Teleskop für Raum und Zeit als möglich. Und zwar dann, wenn wir es mit iterativen Prozessen der Strukturbildung zu tun haben. Im Folgenden werden zwei Arten solcher Strukturbildungsprozesse vorgestellt. Der eine vollzieht sich in der komplexen Zahlenebene, in der nach einer iterativ vorgegebenen Regel Strukturen (Punktmengen) entstehen oder vergehen, je nachdem, wie groß oder wie klein wir den abzubildenden Ausschnitt wählen und wie hoch oder wie niedrig wir die Zahl der Iterationen vorgeben. Ein fiktiver Beobachter, der im Bereich einer solchen Punktmenge, z. B. der Mandelbrot-Menge, auch als „Apfelmännchen“ bekannt, zu Hause ist, könnte nicht nur seinen räumlichen Standort wechseln, sondern nach Belieben auch die Zeit vorwärts oder rückwärts laufen lassen, um auf diese Weise Strukturen entstehen oder vergehen zu sehen. Je kleiner der Ausschnitt auf der komplexen Zahlenebene ist., der von ihm besichtigt wird, je tiefer er mit seinem Mikroskop also in die Punktmenge eindringt, um so höher muß er die Iterationszahl ansetzen, d. h. um so mehr Zeit muß vergehen, bis sich ihm Strukturen zeigen, die in diesem Ausschnitt existieren.
Wieder anders geartet sind sogenannte Palindromisierungsprozesse. Auch das sind iterative Prozesse, in denen Zahlen, die als farbige Pixel dargestellt sind, in bestimmter Weise manipuliert und angeordnet werden, so daß Strukturen entstehen, in denen bestimmte Substrukturen mit steigender Iterationszahl periodisch, similar oder fraktal reproduziert werden. Bei diesem Strukturbildungsverfahren gibt es die Möglichkeit, die Struktur bei unterschiedlichen Iterationszahlen (Zykluslänge) darzustellen. Mit jeder größeren Zykluslänge wird so ein räumlich größerer Bereich bei gleicher Ausschnittsgröße dargestellt, so daß unter bestimmten Bedingungen der Fall eintreten kann, daß sich in ihm Strukturen zeigen, die bei niedrigerer Zykluslänge zwar auch vorhanden, jedoch nicht sichtbar waren. Der Effekt ähnelt dem eines Teleskops für Raum und Zeit.
Entstehende und vergehende Strukturen werfen das Problem der Evolution auf. Hierzu wird im Folgenden die These vertreten, daß die Crux der Evolution die Iteration ist. „Zeit und Iteration“ ist deshalb der Untertitel dieses Buches, dessen Anliegen es ist, zu zeigen, wie in den Grenzen der Mathematik Spiele im Raum und mit der Zeit möglich sind.
1. Ein Mikroskop für die Zeit.
Felix Ebertys „Die Gestirne und die Weltgeschichte“.
1846/47 erschien in Breslau eine kleine Schrift in zwei Teilen mit dem Titel „Die Gestirne und die Weltgeschichte. Gedanken über Raum, Zeit und Ewigkeit.“[1] Hinter dem Pseudonym „F. Y.“ des Autors verbarg sich Felix Eberty, zu jener Zeit am Amtsgericht in Hirschberg und zeitweilig als Richter in Lübben tätig. Eberty stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Berliner Familie, hatte Rechtswissenschaften studiert und eine Professur für Natur- und Kriminalrecht an der Universität Breslau inne. Seine wissenschaftlichen Interessen waren außerordentlich vielseitig; neben seiner juristischen Tätigkeit betrieb er philosophische, literaturhistorische, mathematische und astronomische Studien. Er war Autor einer siebenbändigen „Geschichte des Preußischen Staats“, von Biographien Walter Scotts und Lord Byrons, der „Jugenderinnerungen eines alten Berliners“, einer Schrift über die „Aufgaben der Zeit“, in der er über das Verhältnis des Staates zur Kirche nachdachte, und veröffentlichte als Achtzehnjähriger bereits einen Aufsatz in dem berühmten „Crellschen Journal für reine und angewandte Mathematik“.[2] In seinen astronomischen Studien beschäftigte er sich mit der Frage, was aus den ungeheuren Entfernungen der Fixsterne von unserer Erde im Verein mit der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit für unser Verständnis von Raum und Zeit folge.
1675 hatte der dänische Astronom Olaus (Ole) Römer aus den Verfinsterungen der Jupitermonde die Lichtgeschwindigkeit zu annähernd 300 000 km/sec bestimmen können. Für die Fixsternentfernungen lagen zu Beginn der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts bereits ziemlich genaue Werte vor. Beides zusammen genommen bedeutete, daß, wenn wir einen Fixstern sehen, der sich in einer Entfernung von mehreren Tausend oder gar Millionen von Lichtjahren von uns befindet, wir ihn nicht so sehen, wie er in diesem Augenblick ist, sondern so, wie er vor eben dieser Anzahl von Jahren gewesen ist. Je weiter ein Stern von uns entfernt ist, in einem um so älteren Zustand sehen wir ihn jetzt. Diese Einsicht war um 1840 herum bereits mehr oder weniger naturwissenschaftliches Allgemeingut, und Ebertys Schrift wäre womöglich gänzlich unbeachtet geblieben, wenn er sich mit ihr begnügt hätte.
Das Neue und Originelle seiner Schrift bestand jedoch darin, daß er den genau umgekehrten Blickpunkt wählte. Er versetzte sich gedanklich auf einen entfernten Fixstern und betrachtete von dort die Erde. Je nach dem, wie weit dieser Stern von der Erde entfernt war, könnte er sie mithin zu verschiedenen historischen Zeiten erblicken. Ein im Mond gedachter Beobachter würde die Erde nicht so erblicken, wie sie im Moment der Beobachtung, sondern so, wie sie ca. 5/4 Sekunden vor diesem Moment beschaffen war. Wer die Erde von der Sonne aus beobachtet, sieht sie nicht so, wie sie jetzt ist, sondern so, wie sie vor 8 Minuten war. „Bei der unermesslich grossen im Weltenraume ausgestreuten Anzahl von Fixsternen“, so folgert Eberty, „welche in Entfernungen zwischen 4 Billionen und 5000 Billionen Meilen von uns im Aether schweben, wird also unzweifelhaft für jede beliebige Zahl von Jahren rückwärts gerechnet, sich ein Stern auffinden lassen, der (eine) vergangene Epoche unserer Erde gerade jetzt als gegenwärtig erblickt.“[3]
Denkt man sich darüber hinaus den fiktiven Beobachter mit der Fähigkeit ausgestattet, sich in Gedankenschnelle von einem Punkt des Universums zu einem beliebigen anderen zu versetzen und verfügte er über hinreichend leistungsstarke Teleskope, so wäre er in der Lage, die Erde und die auf ihr lebenden Menschen und Völker in ihren unterschiedlichsten Verrichtungen und Entwicklungsstadien zu sehen. „Will man zum Beispiel Luther vor dem Reichstag in Worms erblicken, so muß man sich in einer Sekunde auf einen Fixstern versetzen, von welchem das Licht etwa 300 Jahre (oder so viel mehr oder weniger) bedarf, um bis zur Erde zu gelangen. Von dort aus wird die Erde in der Lage und mit den handelnden Personen erscheinen, wie sie zur Zeit der Reformation sich zeigte. ... Und so kann durch den Lauf der Jahrhunderte abwärts bis auf die neueste Zeit jeder vergangene Augenblick wieder in die Gegenwart zurückberufen werden.“[4]
Bedenkt man nun, daß diese Überlegung nicht allein für die Erde und die Abspiegelungen ihrer Geschichte und ihrer Gegenwart in den Fixsternen gilt, sondern für das gesamte Weltall, so gelangt man zu der wunderbaren Vorstellung, unser Universum sei gleichsam ein unermeßliches Lichtbildarchiv: „Wie ein ewig unverwüstliches und unbestechliches Archiv, dessen Inhalt lauterste, unmittelbare Wahrheit ist, umschliesst so der Weltenraum die Bilder des Vergangenen.“[5]
Versetzt er im ersten Teil seiner Schrift den fiktiven Beobachter auf unermeßlich weit von der Erde entfernte Fixsterne, so läßt Eberty ihn im zweiten Teil mit Lichtgeschwindigkeit durch das Universum reisen. Bewegt der Beobachter sich in diesem Gedankenexperiment von einem Fixstern nach der Erde zu, so würden „sich die Bilder der Weltbegebenheiten in einem Augenblick zusammendrängen lassen.“[6] Umgekehrt würde der Beobachter, wenn er sich mit Lichtgeschwindigkeit von der Erde weg bewegt, imstande sein, Vorgänge auf der Erde, die sich hier in einem relativ kurzen Zeitraum abspielen, gleichsam zeitgedehnt zu verfolgen und so eine Menge einzelner Begebenheiten entdecken können, von deren Vorhandensein wir auf der Erde keine Ahnung haben.
Eberty erläutert das so: „Nehmen wir an, dass das Licht, und mit ihm die Abspiegelung einer irdischen Begebenheit zu irgend einem Fixsterne zweiter Grösse genau in zwanzig Jahren gelangt. Nehmen wir ferner an, dass der Beschauer in dem Augenblicke wo z. B. eine Blüthenknospe sich zu erschliessen beginnt, bis zu diesem Fixsterne in einem Zeitraume von zwanzig Jahren und Einem Tage aufsteigt, so wird er dort das Bild dieser Blume in demjenigen Stadium der Entwicklung antreffen, in welchem sie sich Einen Tag nach ihrem ersten Aufblühen befindet. – Wenn er nun, mit unendlicher Sehkraft und Beobachtungsgabe ausgerüstet, diese Blüthenentwicklung während der ganzen Reise verfolgen könnte, so würde er zwanzig Jahre lang Zeit gehabt haben, um diejenigen Veränderungen zu studieren, welche mit der Blume auf Erden während eines Einzigen Tages vorgingen. – Die forteilende Entwicklung der Gestalten würde gleichsam vor seinem Auge fixiert.“[7]
Es wäre auf diese Weise, so lautet Ebertys originelle Schlußfolgerung, „gewissermassen ein Mikroskop für die Zeit gegeben.“[8] Ein Blitzstrahl erscheint uns z. B. als ein momentanes Leuchten, ohne daß wir die Vorgänge zu unterscheiden vermögen, welche dieses Leuchten bewirken. „Könnten wir aber“, so Eberty, „dem Bilde eines solchen Blitzstrahles nur bis zur Sonne hinauf, durch acht Minuten folgen, so würden sich uns über die Natur dieses Phaenomens Geheimnisse erschliessen, welche in ihrer Art gewiss nicht minder staunenswerth wären, als die lebenden Welten, die das Mikroskop uns in Wassertropfen offenbart.“[9]
Ebertys Überlegungen enthalten keine logischen Widersprüche; sie halten sich an das, was denkmöglich ist. Sie sind rein gedankliche Experimente, bei denen zunächst „von allen Ansprüchen auf Wirklichkeit und Ausführbarkeit abstrahiert wird.“[10] Doch glaubt er nicht , sich einem „leeren Phantasiespiel“[11] ergeben zu haben. Sein nächster Schritt besteht deshalb darin, zu zeigen, daß Raum und Zeit keine Wesenheiten an sich sind, sondern lediglich eine Art und Weise, wie wir die Dinge wahrnehmen, also bloße Anschauungsformen.
Hier seine Argumentation. Zunächst für die Zeit.
Stellen wir uns vor, daß von einem bestimmten Zeitpunkt an alles Geschehen in unserer Welt doppelt so schnell erfolgen würde als zuvor. Eine solche Veränderung wäre, da sie alles Geschehen umfaßt – den Lauf der Gestirne, die Entwicklung der Pflanzen und Tiere und den gesamten menschlichen Lebensprozeß mit allen seinen Rhythmen -, von uns nicht wahrnehmbar. Was aber der Verdoppelung recht ist, muß der Vervierfachung, Verachtfachung usw. billig sein. „Wir können uns auf diese Weise den ganzen Verlauf der Weltgeschichte in einen Einzigen unermessbar kurzen Zeitmoment zusammengedrängt denken, ohne dass wir eine Veränderung wahrnehmen würden und könnten, ja ohne dass wir eine Veränderung erlitten.“[12] Die Zeit ist somit „lediglich eine Art und Weise ..., wie der menschliche Geist mit Hülfe der menschlichen Sinne das Geschehen der Begebenheiten wahrnimmt, während diese Begebenheiten mit derselben Vollständigkeit und Vollkommenheit auch in einer längeren oder kürzeren Zeit geschehen können, also unabhängig von der Zeit gedacht werden müssen.“[13] Die gesamte Weltgeschichte, so lautet das Fazit dieser Überlegung, kann und muß folglich „unabhängig von der Zeit gedacht werden ...- Die Zeit ist nur der Rhythmus der Weltgeschichte.“[14]
Analoges gilt für den Raum.
Denken wir uns von dem gegenwärtigen Augenblick an sämtliche Dimensionen des ganzen Weltalls auf die Hälfte reduziert, so würde auch diese Veränderung nicht wahrzunehmen sein, „und wir würden uns, nach einer solchen Verkleinerung mit demselben Rechte, wie Gullivers Lilliputaner, für vollkommen wohlgewachsene Menschen halten.“[15] Mehr noch: „Wir würden uns, wenn unser Fixsternsystem plötzlich mit Allem was es enthält, zu der Grösse eines Sandkornes sich zusammenzöge, in dieser kleinsten Welt mit derselben Unbefangenheit und Bequemlichkeit regen und bewegen, mit der wir in dieser uns so gross erscheinenden Schöpfung leben, weben und sind.“[16]
Doch selbst ein Sandkorn hat noch Länge, Höhe und Breite. Die Argumentation kann jedoch – so Eberty – ohne weiteres bis zu der Vorstellung geführt werden, daß der Raum bis auf einen einzigen Punkt reduziert wird. Um dies zu illustrieren, verweist er auf die Zauberlaterne, die laterna magica. Diese zeigt bekanntlich ein Bild, das ursprünglich auf eine Glaslinse geworfen wird, in umgekehrter Lage auf einer hinter dem Brennpunkt der Linse aufgestellten Wand. Rückt man die Zauberlaterne nun so nahe an die Wand, daß der Brennpunkt der Linse genau auf die Wand fällt, so erscheint der Brennpunkt als ein einziger unteilbarer Lichtpunkt. Dieser Punkt enthält das ganze ursprüngliche Bild in sich; in ihm ist die ganze Fläche des Bildes konzentriert. Wenn aber ein einzelner Punkt den Inhalt einer ganzen Fläche enthalten kann, dann müssen wir, wenn wir diesen Inhalt mit unseren menschlichen Augen erfassen wollen, zur Fläche zurückkehren und den Punkt wieder in die Fläche auflösen. Der Raum kann somit als ein Mittel gedacht werden, um uns das Nebeneinanderbestehen der Bilder zur Anschauung zu bringen, „als eine bloße Anschauungsform“[17], als „eine Art und Weise ..., wie wir die Dinge gewahr werden.“[18]
Damit glaubte Eberty, nachgewiesen zu haben, „daß ein Standpunkt denkbar ist, von welchem aus die Welt nicht mehr der zeitlichen und räumlichen Ausdehnung bedarf, um zu existieren und begriffen zu werden.“[19]
Ebertys Schrift hat in den anderthalb Jahrhunderten seit ihrer Veröffentlichung eine vielseitige Wirkungsgeschichte erfahren. In Deutschland mehrmals neu aufgelegt – im 20. Jahrhundert zuletzt 1925 – und in einer englischsprachigen Raubkopie wurde das Werk in weiten Kreisen
der wissenschaftlichen und künstlerischen Intelligenz bekannt. Karl Clausberg ist der vielgliedrigen und weit verzweigten Proliferationskette der Ebertyschen Schrift akribisch nachgegangen. Er führt vor, wie Kerngehalte der Ebertyschen Perspektiven das Denken von Naturwissenschaftlern, Philosophen und Künstlern nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und in den USA, im baltischen Raum, in der Schweiz und in Frankreich beeinflußt haben.
Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist die Frage, ob Ebertysches Gedankengut auch bei der Entstehung der Einsteinschen Relativitätstheorien – zumindest der speziellen -Pate gestanden hat. Clausberg glaubt Gründe für die Vermutung zu haben, Einstein sei bereits im jugendlichen Alter mit Ebertys Schrift bekannt gewesen.[20] Doch sind es weniger die Folgerungen, welche Eberty aus seinen Überlegungen ableitet, etwa daß Raum und Zeit lediglich Anschauungsformen seien, denen Einstein gefolgt wäre. Was sich sowohl bei Eberty als auch bei Einstein findet, sind vielmehr Kernelemente des Herangehens an die Problematik. Hier wie da sind es Gedankenexperimente, in denen bewegte Beobachter agieren. Hier wie da spielt die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichts eine zentrale Rolle. Und hier wie da ist Dehnung von Zeit und Kontraktion von Längen nichts Ungewöhnliches.
Wie sehr sich jedoch Einsteins und Ebertys theoretische und philosophische Positionen voneinander unterscheiden, wird z. B. daraus ersichtlich, daß Raum und Zeit für Einstein nicht bloße Anschauungsformen sind, sondern eine physikalische Bedeutung haben, die eben auf der Lichtgeschwindigkeit gründet: „Es ist der Relativitätstheorie oft vorgeworfen worden, daß sie der Lichtfortpflanzung ungerechtfertigterweise eine zentrale theoretische Rolle zuweise, in dem sie auf das Gesetz der Lichtfortpflanzung den Zeitbegriff gründe. Damit verhält es sich wie folgt. Um dem Zeitbegriff überhaupt physikalische Bedeutung zu geben, bedarf es der Benutzung irgendwelcher Vorgänge, welche Relationen zwischen verschiedenen Orten herstellen können. Welche Art von Vorgängen man für eine solche Zeitdefinition wählt, ist an sich gleichgültig. Man wird aber mit Vorteil für die Theorie nur einen solchen Vorgang wählen, von dem wir etwas Sicheres wissen. Dies gilt von Lichtausbreitung im leeren Raume in höherem Maße als von allen anderen in Betracht kommenden Vorgängen.“[21]
[...]
[1] Wiederabgedruckt in: Clausberg, Karl: Zwischen den Sternen: Lichtbildarchive. Berlin 2006.
[2] Vgl.: Ebenda. S. 14-15.
[3] Eberty, F. Y.: Die Gestirne und die Weltgeschichte. Gedanken über Raum, Zeit und Ewigkeit. Breslau 1846. In: Ebenda. S. 143-144.
[4] Ebenda. S. 150.
[5] Ebenda. S. 150-151.
[6] Eberty, F. Y.: Die Gestirne und die Weltgeschichte. Gedanken über Raum, Zeit und Ewigkeit. II-tes Heft. Breslau 1847. In: Ebenda. S.164.
[7] Ebenda.
[8] Ebenda. S. 165.
[9] Ebenda.
[10] Ebenda. S. 166.
[11] Ebenda. S. 168
[12] Ebenda. S. 178.
[13] Ebenda. S. 181.
[14] Ebenda. S. 182.
[15] Ebenda. S. 184.
[16] Ebenda.
[17] Ebenda. S. 189.
[18] Ebenda. S. 190.
[19] Ebenda.
[20] Vgl.: Clausberg, Karl: Zwischen den Sternen: Lichtbildarchive. A. a. O. S. 7 – 10.
[21] Einstein, Albert: .Grundzüge der Relativitätstheorie. Braunschweig 1965. S. 19.
- Arbeit zitieren
- Prof. Dr. Günter Kröber (Autor:in), 2008, Zeitspiele - Zeit und Iteration, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89427
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