Die vorliegende Diplomarbeit stellt - ausgehend von dem Phänomen einer generellen Begeisterung für das Mittelalter und die Literatur des Mittelalters, speziell für das Nibelungenlied - eine regionale Besonderheit ins Zentrum ihres Interesses: die im Zweijahres-Rhythmus stattfindenden Nibelungenfestspiele der Stadt Plattling. Ausgangspunkt der dortigen Nibelungen-Begeisterung stellt die Tatsache dar, dass dieser Ort in einigen Handschriften des Nibelungenliedes, speziell Handschrift c und a, erwähnt wird, und zwar als eine Station Kriemhilds auf dem Weg von Worms über Passau zu König Etzel.
Die Arbeit spannt einen weiten Bogen von der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Rezeption des Mittelalters in der Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts über die Vermarktung des Nibelungenliedes, auch im Tourismus, hin zur Analyse der Rolle Plattlings im Nibelungenlied. Im Anschluss daran werden die Anfänge des Plattlinger Laienspiels, die Gründung des örtlichen Fördervereins und die dadurch entstandene umfassende Begeisterung für alles Mittelalterliche innerhalb der städtischen Gemeinde beschrieben. Hierzu konnte die Verfasserin auf die örtliche Unterstützung aller Beteiligten, auch der einschlägigen Behörden und Archive, zurückgreifen. Das abschließende Kapitel gilt der Analyse des Laienspiels „Die Nibelungen in Plattling“ von Josef Widl und seinem Vergleich mit den einschlägigen Quellen (Nibelungenlied, nordische Stofftraditionen und Wagners Ring). Im Anhang findet sich auch ein Interview mit dem derzeitigen Regisseur des Stückes, Josef Meißner.
Inhaltsverzeichnis
I. DIE NIBELUNGEN - EIN ABENTEUERLICHER REISEFÜHRER
II. DIE REZEPTION DES MITTELALTERS
1. Allgemeiner Überblick
2. Die produktive Rezeption des Nibelungenliedes seit Mitte des 20 Jahrhunderts
2.1 Literatur
2.1.1 Erwachsenenliteratur
2.1.2 Kinder- und Jugendliteratur
2.1.3 Lyrik
2.2 Theaterlandschaft
2.2.1 Musiktheater
2.2.2 Sprechtheater
2.3 Bildende Kunst
2.4 Filme
2.5 Unterricht
III. DIE VERMARKTUNG DES NIBELUNGENLIEDES IM TOURISMUS
1. Theoretische Vorüberlegungen
2. Inszenierung von Geschichte: Die Nibelungen in Deutschland
2.1 Nibelungenfestspiele
2.2 Nibelungen-Siegfried-Straße
3. Resümee
IV. DIE ROLLE PLATTLINGS IM NIBELUNGENLIED
1. Klärung der relevanten Textstelle
Exkurs: Die Handschriften des Nibelungenliedes
a Allgemeiner Überblick
b Die 'Plattling-freundlichen' Handschriften
b1 Handschrift C
b2 Handschrift a
2. Versuch einer Begründung für die Erwähnung Plattlings
3. Darstellung des Kontextes
V. DIE REZEPTION DES NIBELUNGENLIEDES IN PLATTLING
1. Gestaltung der Nibelungen-Vergangenheit
1.1 Nibelungen-Festspiele
1.1.1 Die Anfänge
1.1.2 Uraufführung des Laienspiels
1.1.3 Lagerleben als Begleitveranstaltung
1.1.4 Die Rolle des Fördervereins Nibelungenfestspiel Plattling
1.1.5 Tradition und Weiterentwicklung
1.1.6 Nibelungenmarkt
1.2 Bildende Kunst
1.3 Schulen
1.4 Kindergarten
1.5 Tourismus
1.6 Gastronomie
1.7 Stadtwappen und Straßennamen
2. Nicht realisierte Projekte
3. Resümee
VI. DIE NIBELUNGEN IN PLATTLING - EINE ANALYSE DER REGIEVORLAGE
1. Gattung
2. Der Autor Josef WIDL
3. Inhalt
3.1 Kurze Zusammenfassung
3.2 Kleidung
3.2.1 im Bühnenstück von Josef WIDL
3.2.2 im Nibelungenlied
3.3 Struktur
3.4 Figuren
4. Quellenlage
4.1 Vergleich mit dem Nibelungenlied
4.1.1 Unterschiede und Defizite
4.1.2 Verständnisschwierigkeiten, auch aus Laiensicht
4.2 Vergleich mit nordischer Stofftradition und WAGNERs Ring
5. Vergleich mit der Urfassung des Laienspiels von 1988
6. Resümee
VII. AUSBLICK
Interview mit dem Regisseur Josef MEIßNER
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Anhang
I. Die Nibelungen - ein abenteuerlicher Reiseführer
Der Weg der Nibelungen von Worms über die verschiedensten Schauplätze in Deutschland und Österreich bis nach Ungarn wurde in der Vergangenheit gerne als Reiseführer mit literarhistorischem Hintergrund genutzt. Schon 1927 be- schäftigt sich z.B. Oskar LUDWIG mit der 'nibelungischen' Reiseroute, der sog. Nibelungenstraße1, und zeigt das enorme Potential dieser als Ausgangspunkt für Wandertouren auf, beschränkt sich jedoch auf die Route von Passau bis Hainburg. So schreibt er nicht nur über die jeweilige Geschichte der Nibelun- genstädte, sondern widmet sich auch den dortigen Stiften und Klöstern sowie „Denkmäler(n) der Kunst im Bereiche der Nibelungenstraße“ (S. 110). Ebenso erwähnt werden die sich an dieser Straße befindenden Burgen und Schlösser, wie z.B. „die schönste Ruine der Wachau“ (S. 186) Burg Aggstein: „(d)as Wan- derziel der Burgenfreunde, der Dichter und der romantisch veranlagten Schola- ren und Wandervögel“ (ebd.)
Auch Robert SOMMER beschreibt in seinem Wanderbuch (1929) die Stationen der Nibelungen auf der Reise nach Ungarn und versucht deren Bedeutung bzw. Besonderheiten im Mittelalter herauszustellen. Nach diesen ersten Versuchen in den späten 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, das Nibelungenlied nicht nur bezüglich der Handlung, sondern auch der Schauplätze zu rezipieren, widmen sich KOLB (1989), GEIGER (2000, 2004) und SENDELBACH (2004) erst 60 Jahre später erneut dem Phänomen Nibelungenstraße.
In diesem Zusammenhang ist auch Walter HANSENs Buch Wo Siegfried starb und Kriemhild liebte (2004) zu nennen, welches unter Einbeziehung der jeweiligen Strophen aus dem Nibelungenlied die Schauplätze sowie die dort ablaufende Handlung vorstellt und mit Fotos veranschaulicht: er resümiert diese Plätze als „das größte Bühnenbild der Weltliteratur!“ (S. 13).
Besonders interessant erscheint an dieser Stelle Die Nibelungenreise von Eric HANSEN (2004): im Stil eines Roadmovie erzählt er von seiner Reise zu mittelal- terlichen Schauplätzen quer durch Deutschland, Österreich und Ungarn. So erzählt er z.B. auf seinem Zwischenstopp in Hamburg über den sagenumwobe- nen Störtebeker, im Harz über Theophanu, in Aachen über Karl den Großen, in Wien über Walther von der Vogelweide und in Heidelberg über den Codex Ma- nesse: „Den inhaltlichen Schwerpunkt des Itinerars aber bildet klar das Nibelungenlied“ (JUNGEN, 2004), dem er sich von Worms ausgehend auf seiner Reise bis ins ungarische Esztergom zu nähern versucht.
HANSEN, der vor über 20 Jahren nach Deutschland kam und nach seinem Mediävistik-Studium in München als Journalist arbeitet, resümiert das Werk des unbekannten Nibelungenlied-Dichters wie folgt:
Fast 800 Jahre nach dem Fall von Burgund nahm ein unbekannter Autor den gan- zen Krempel, mischte die Elemente neu, modernisierte sie, gab einen guten Schuß Rittertum und Liebe hinzu und hatte einen provokanten Mix aus Vergangenheit und Gegenwart geschaffen. Er verlieh dem Burgunderreich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Römischen Reich und der Stadt Worms einen Hauch von Aachen. Sein Lied der Nibelungen wurde eine Art mittelalterlicher Herr der Ringe - die Moderni- sierung einer toten Mythologie, die mehr über die Zeit des Autors aussagt als über die Vergangenheit. (S. 171)
Auffällig ist HANSENs literarische Aufarbeitung der Nibelungenreise - er setzt sich damit klar von Reiseführern ab, die das Nibelungenlied nur bezüglich der Reiseroute von Worms bis Esztergom rezipieren; das Ergebnis ist ein „senti- mentale(r) Reiserführerroman, der en passant ein ungeheures Wissenspensum abarbeitet“ (JUNGEN, 2004) und eine journalistische Annäherung an das Mittelal- ter mit seinen Helden bzw. Orten darstellt. So schreibt er bei seiner ersten Sta- tion in Worms weniger von den dortigen Sehenswürdigkeiten (In Worms fühlte ich mich irgendwie unbehaglich, S. 178), sondern befragt lieber den Wormser Kulturdezernenten Gunther HEILAND, ob er „irgend etwas Gutes über diese Stadt zu sagen“ (S. 179) habe. HANSEN integriert das Nibelungenlied erfri- schend kritisch in seine Nibelungenreise und macht sich seine eigenen Gedan- ken über interessante Stellen, wie z.B. jene, an der Hagen den Nibelungen- schatz versenkt haben soll: Sollten sie daran denken, nach ihm zu suchen […]: »ze Loche in den Rin.« Es gibt nur ein kleines Problem dabei - die richtige In- terpretation (S. 181). Um den wahren Ort doch noch herauszufinden - immerhin gibt es verschiedene Möglichkeiten, wo der Schatz versenkt worden sein könn- te - begibt sich der Autor auf die Suche und begegnet Menschen, welche je- weils verschiedenen Theorien dazu nachhängen: Die freundliche dünne Frau, die ich »Hilde« nennen werde, glaubt zum Beispiel, ein Ort namens »In den Lochen« sei damit gemeint (S. 181). Diese persönlichen Reiseaufzeichnungen über Gespräche mit Fachleuten oder Mittelalter-Interessierten sind charakteris- tisch für seinen Roman und ziehen sich wie ein roter Faden durch seine Ge- schichten:
„Die mitgeteilten Kenntnisse stammen sämtlich aus Gesprächen mit allwissenden Archivaren, Museumsleitern, Wissenschaftlern, Stadtführern oder Lokalmatadoren. Die Theorien von Mediävisten rangieren gleichwertig neben den esoterischen I- deen von Liebhabern und Schatzsuchern.“ (JUNGEN, 2004)
HANSEN kommt auf seiner Nibelungenreise über den Odenwald unter anderem auch nach Pförring, wo er erfolglos versucht, sie Szene aus dem Nibelungenlied mit den wilden merewîp nachzuspielen (Ich ging noch einmal zu den Kelsbachquellen hinaus, meine letzte Gelegenheit, diesen Wassern ein wenig Weisheit zu entlocken, S. 200).
Mit der Lektüre dieses Romans begeben sich die LeserInnen auf die Reise durch das Mittelalter und erfahren nebenbei allerlei Interessantes über bedeutende Personen, Werke oder Orte des Mittelalters. „Auffällig ist, daß das eingearbeitete Wissen, obwohl im Lexikon des Mittelalters zu finden, auf Experten gegründet wird: Inquit-Formeln durchsetzen den Text“ (JUNGEN, 2004) und verleihen ihm damit einen höheren Wahrheitsfaktor.
Dabei wirken die humorvollen Anekdoten dieser Reise von persönlichen Bekanntschaften und Erlebnissenäußerst erfrischend und man lässt sich als imaginärer Beifahrer von HANSENs Begeisterung für das Mittelalter anstecken. „Dem akademischen Kleinklein stellt Hansen die mächtige Zugkraft der gut gesetzten Pointe entgegen und erreicht eine erstaunliche Vergegenwärtigung, aber um den Preis eines diskursiven Rückfalls“ (ebd.), welchen er durch seine „bestechende Ehrlichkeit“ (ebd.) auszugleichen vermag.
Besonders erwähnenswert im Rahmen der vorliegenden Arbeit erscheint auch der Abstecher in die niederbayerische Kleinstadt Plattling, welche (e)igentlich […] zu den Orten (gehört), welche [ ] (er) auslassen wollte (S. 213) und im Nibe- lungenlied eigentlich keine Rolle spielt: Sie ist bloß einer der vielen Zwischen- stopps, die Kriemhild auf ihrem Weg von Worms zur Heirat mit Attila einlegte (ebd.).
Trotz der scheinbar unbedeutenden Stellung innerhalb des Nibelungenliedes lässt sich HANSEN auf einen kurzen Aufenthalt dort ein und lernt die Laien- schauspielerInnen des Plattlinger Nibelungenfestspiels und das gotische Klein- od der Stadt, die Pfeilerbasilika St. Jakob aus dem 12. Jahrhundert kennen - und ist begeistert (S. 215). Neben der Bekanntschaft mit dem Plattlinger Tou- rismusreferenten Josef GRIMM lernt er auch einige DarstellerInnen des dortigen, regelmäßig stattfindenden Nibelungenfestspiels kennen und besteht darauf, den Star der Show (Kriemhild) zu einer Tasse Kaffee einzuladen (S. 215). Von dort aus fährt HANSEN nach Passau, dem vergessene(n) Städtchen im südöstli- chen Winkel Deutschlands (S. 216) weiter, wo er Prof. Theodor NOLTE von der dortigen Universität und den Archivdirektor des Bistums Dr. Herbert WURSTER zum Nibelungenlied befragt und deren fachwissenschaftliche Ausführungen über den Tod Attilas und den Verfasser des Nibelungenliedes ebenso in seinen Roman übernimmt wie den Besuch in einer Poetry-Slam-Veranstaltung, eine(r) Kunstform des Mittelalters (S. 228).
Doch nicht nur HANSEN ist begeistert von der Idee, das ganze Epos, aufgehängt an dieser einen Szene (S. 215) des Nibelungenliedes, wo Plattling erwähnt ist, zu erzählen: selbst die PlattlingerInnen fiebern seit der Premiere des Nibelun- genfestspiels im Jahr 1988 der regelmäßig stattfindenden Veranstaltung mit großer Begeisterung und großem Engagement entgegen und blicken gespannt auf die diesjährige Neu-Inszenierung des Laienspiels Die Nibelungen in Platt- ling.
Das Beispiel des Plattlinger Nibelungenfestspiels zeigt, dass mittelalterliche Stoffe wie z.B. das Nibelungenlied nach wie vor auf der Bühne, aber auch in der Literatur, in der bildenden Kunst etc. rezipiert werden und zu Begeisterungs- stürmen hinreißen, insbesondere dort, wo es regionale Anknüpfungspunkte gibt.
Aus diesem Grund werden in der vorliegenden Arbeit besonders die Rolle Plattlings im Nibelungenlied bzw. das Laienspiel Die Nibelungen in Plattling als Beispiel für die Rezeption mittelalterlicher Texte in aktuellen Verwendungskontexten aufgezeigt und diskutiert.
Um dieses Rezeptionsbeispiel besser einordnen zu können bzw. einen Überblick über bereits veröffentlichte Werke zum Nibelungenstoff zu erhalten, wird im Vorfeld - als weiterer Schwerpunkt - auf die Rezeption des Nibelungenliedes in der Literatur, in der Theaterlandschaft, in der bildenden Kunst, in Filmen und im Unterricht eingegangen.
Da das Nibelungenlied durchaus auch als Standortfaktor bezüglich einer touris- tischen Vermarktung einer Region bzw. einer Stadt ausschlaggebend sein kann, wird im Rahmen dieser Arbeit aufgezeigt, welche Möglichkeiten sich bieten, mit Hilfe dieses mittelalterlichen Stoffes den Tourismus zu fördern.
Um den Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zu sprengen, sind die jeweiligen Schwerpunkte eingegrenzt worden. So wird etwa bei der Darstellung der Mittel- alter-Rezeption speziell auf die Rezeption des Nibelungenliedes seit Mitte des 20. Jahrhunderts eingegangen.
Ebenso wird die Vermarktung des Nibelungenliedes als Tourismus-förderndes Prinzip auf die zwei wesentlichen Strategien, die Inszenierung von Festspielen und die Gestaltung 'Touristischer' Straßen, eingegrenzt, um diese besonders im Hinblick auf bereits bestehende Praxisbeispiele anwenden zu können. Bei der Darstellung der Geschichte des Plattlinger Nibelungenfestspiels be- schränke ich mich auf die wesentlichen Aktivitäten bzw. Ereignisse seit den An- fängen Mitte der 80er Jahre, um die Entwicklung des Festspiels bzw. des För- dervereins und die in diesem Zusammenhang mittlerweile bestehenden Traditi- onen besonders hervorheben zu können. Da Plattling im Nibelungenlied jedoch lediglich in den Handschriften a und C erwähnt wird, wird im Rahmen eines Ex- kurses nur kurz auf die übrigen Handschriften des Nibelungenliedes eingegan- gen, um einen kurzen Abriss über deren Entwicklungen geben zu können und dem Anspruch auf Vollständigkeit zu genügen.
II. Die Rezeption des Mittelalters
Nachfolgend wird nach einem Überblick über Formen und Bewertungskriterien der Mittelalter-Rezeption konkret auf die Rezeption des Nibelungenliedes in der Literatur, der Theaterlandschaft, der bildenden Kunst und im Unterricht seit Mitte des 20. Jahrhunderts eingegangen. Im Zuge der zunehmenden Medialisierung werden auch Verfilmungen des Nibelungenliedes diskutiert.
In diesem Zusammenhang steht der Begriff des Mittelalters für „die Epoche in ihrer Gesamtheit, literarische Themen und Formen so gut wie Musik und Buch- malerei, historische Ereignisse und gesellschaftliche Institutionen (sowie) (d)ie Ablösung vom literarischen Rezeptionsbegriff“ (MERTENS, 1986, S. 377). Mit 'Rezeption' ist hier der „Rückgriff über eine Distanz, […] ein bewusstes Hinein- stellen des Alten, Fremden in die eigene Gegenwart“ (ebd.) gemeint.
Interessant hierbei ist vor allem der „Medienwechsel [ ] z. B. bei der Übertra- gung literarischer Stoffe und historischer Ereignisse auf die Opernbühne“ (ebd.) - wie dies der Fall bei Der Ring der Nibelungen von Richard WAGNER wäre - und in der bildenden Kunst. Ebenso bemerkenswert ist das Phänomen der Re- zeptionsselektion bezüglich des Nibelungenliedes: so stellt sich die Frage, wes- halb „mittelalterliche Malerei zunächst nur reproduziert und nicht produktiv rezi- piert (wurde) im Unterschied etwa zur […] Architektur“ (ebd., S. 376). Ein wesentlicher Aspekt der Mittelalter-Rezeption ist zudem die erweiterte „Re- zeption nicht-literarischer Themen und Formen […]. Die Erforschung der Mittel- alterrezeption ergibt (in der Summe) primär mehr Erkenntnisse über die rezipie- rende Epoche als über die rezipierte Epoche“ (ebd.): die historische Wahrheit tritt in den Hintergrund und lässt mit Hilfe der z. B. produktiven Rezeption einen Rückschluss auf die aktuelle Rezipienten-Situation zu.
1. Überblick
Da im Bereich der Mittelalter-Rezeption seit 1945 eine Vielzahl an Werken veröffentlicht wurde, ist es sinnvoll, diese 'Erzeugnisse' ihrer Art bzw. Form nach zu kategorisieren. Hieraus ergeben sich nach MÜLLER und in Anlehnung an DÖHL (1986) vier Grundformen:
1. „Die produktive, d.h. schöpferische Mittelalter-Rezeption: Stoffe, Werke, Themen oder auch Autoren aus dem Mittelalter werden in einem schöpferischen Akt zu einem neuen Werk verarbeitet;
2. die reproduktive Mittelalter-Rezeption: mittelalterliche Werke werden auf eine Weise, die man als >authentisch< ansieht, in ihrer mittelalterlichen Lebensform konstruiert, etwa durch musikalische Aufführungen oder Renovierungen (z.B. von Gemälden oder Bauwerken);
3. die wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption: mittelalterliche Autoren, Werke, Ereignisse oder Sachverhalte werden mit den Arbeitsmethoden der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin untersucht und erklärt;
4. die politisch-ideologische Mittelalter-Rezeption: Werke, Themen, >Ideen< oder Personen des Mittelalters werden für politische Zwecke im weitesten Sinn verwen- det und verarbeitet, etwa zur Legitimierung oder zur Abwertung“ (1986, S. 508).
Da die Werke meist jedoch nicht nur einen, sondern mindestens zwei dieser Grundformen aufweisen, bestimmt sich die jeweilige Grundform nach der Häu- figkeit der jeweiligen Merkmale, welche verschiedenen Bewertungskriterien un- terliegen: „Eine Untersuchung von >richtig< und >falsch< ist idealiter nur bei den Rezeptions-Typen 2. und 3. möglich“ (ebd., S. 508), da sich nur diese auf eine möglichst perfekte Wiedergabe der historischen Wahrheit bemühen bzw. diese zum Ziel haben (sollten).
Im Gegensatz dazu steht der erste, der produktive Rezeptionstyp:„ das neuent- standene Werk (muss) gemäß seinem eigenen historischen Kontext und seiner eigenen Qualität beurteilt werden; […] die wissenschaftliche Untersuchung und dasästhetische Urteil müssen […] getrennt bleiben “ (ebd., S. 508f.). So ist z.B. im Parsifal Richard WAGNERs zwar eine verfälschte Rezeption be- züglich der Konzeption seiner Vorlage, Wolframs von ESCHENBACH Parzival festzustellen, diese Erkenntnis hat jedoch keinen Einfluss auf die Qualität der Oper, d.h. wie diese kritisch als Kunstwerk zu beurteilen ist. Man kann sagen, dass „Wagner die Vorlage anders interpretiert hat […] und daß sein Musikdra- ma eine völlige Neugestaltung des Stoffes darstellt“ (MÜLLER, 2003, S. 408). Die politisch-ideologische Mittelalter-Rezeption istähnlich dem ersten Rezepti- onstyp zu handhaben, „doch ist jeder, gemäß seinem weltanschaulichen und wissenschaftlichen Standpunkt, zur historischen und ideologischen Bewertung aufgerufen“ (MÜLLER, 1986, S. 509).
2. Die produktive Rezeption des Nibelungenliedes seit Mitte des 20. Jahrhunderts
Im Rahmen dieser Arbeit konzentriere ich mich auf die Darstellung der Nibelun- genlied-Rezeption seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nachdem direkt nach dem zweiten Weltkrieg in der Germanistik vor allem „immanente, bewusst ahistorische Interpretationen des Nibelungenlieds“ (MÜLLER, 2003, S. 412) er- schienen waren, fand um 1970 „ein deutlicher Paradigmenwechsel statt. Karl Heinz IHLENBURG (1969) und Rolf BRÄUER (1970) leiteten den Umschwung hin- sichtlich einer primär gesellschaftsgeschichtlichen Interpretation des Textes ein“ (ebd.) und gaben Mediävisten wie Otfried EHRISMANN und Werner WUNDERLICH den Anstoß zur „Aufarbeitung der Rezeptionsgeschichte, und zwar sowohl der- jenigen der Wissenschaft als auch derjenigen der produktiven Neuformung in Literatur und Kunst“ (ebd.), wobei letztere nachfolgend genauer diskutiert wer- den soll.
Im Zuge dieser Umorientierung zeigte sich als Ergebnis der Neuformung unter anderem „eine Reaktion auf veränderte Heldenbilder […]. Siegfried verlor seinen Status als vorbildlicher Held und wurde zum lächerlichen Blondschopf“ (SCHMIDT, 2001, S. 141f.).
2.1 Literatur
Nachfolgend wird die Nibelungenlied-Rezeption anhand der Erwachsenenliteratur (sog. Nibelungenromane), der Kinder- und Jugendliteratur sowie der Lyrik aufgezeigt. Übersetzungen bleiben hiervon unbeachtet, Nacherzählungen sind auf die Kinder- und Jugendliteratur beschränkt.
Die Angaben in den Klammern () nennen den Verlag und/oder das Jahr der Erscheinung.
2.1.1 Erwachsenenliteratur
Vor allem im Bereich der Unterhaltungsliteratur wurde der Nibelungenstoff nach dem zweiten Weltkrieg häufig rezipiert, wobei „es offenbar nicht möglich (ist), über den im Dritten Reich kulminierenden ideologischen Mißbrauch des Nibe- lungenstoffes hinwegzugehen und an die vorangehende Rezeptionstradition anzuschließen. […] Sowohl auf normativer, als auch auf politischer Ebene bewegen sich die Werke im Rahmen einer konservativen Weltanschauung.“ (SCHMIDT, 1989, S. 340f.)
Ein frühes Beispiel für die Rezeption des Nibelungenstoffes nach 1945 ist Der Stern von Burgund von Martin BEHEIM-SCHWARZBACH aus dem Jahre 1961 (Rüt- ten & Loening). Mit diesem Werk „vollzieht sich um 1965 in den Intentionen der Nibelungen-Rezeption eine deutliche Wende […] in der Präsentation und damit der normativen Einordnung der AkteurInnnen“ (SCHMIDT / MÜLLER, 1997, S. 345). Der Autor bedient sich einer recht unpathetischen Erzählsprache mit all- tagssprachlichen Ausdrücken, die jedoch nach HOFFMANN nicht darüber hinweg täuschen können, dass dieses „Werk letztlich doch nichts anderes ist als eine zeitgemäße Neuerzählung der alten maere […] und nicht mehr ist als ein gut lesbarer Unterhaltungsroman“ (1990, S. 127).
Dieser Nibelungenroman integriert auch die Vorgeschichte Siegfrieds aus dem nordischen Sagenkreis, also seine Lehre beim Waffenschmied und den Dra- chenkampf, in die Erzählung. Zudem bemüht sich BEHEIM-SCHWARZBACH um eine „stärkere Profilierung der im Nibelungenlied im Grunde blaß gebliebenen Gestalt Brünhilds, was darin kulminiert, daß Brünhild sich in den Scheiterhaufen stürzt, auf dem Siegfrieds Leichnam verbrannt wird“ (ebd., S. 124). Auffällig sind die Eingriffe des Autors in das Zeitgerüst, welches je nach Bedarf verkürzt (die Kriegserklärung der Angeln und Sachsen erfolgt bereits nach drei Tagen Aufenthalt Siegfrieds, S. 64) oder verlängert (Siegfried benötigt mehrere Mona- te für seine Rückkehr von der Niblungburg nach Isenland, S. 174) wird.
Fünf Jahre später kommt es zu einer weiteren produktiven Neuformung des Nibelungenstoffes: Joachim FERNAU veröffentlicht Disteln für Hagen. Be- standsaufnahme einer deutschen Seele (1966, Herbig) - ein Bestseller, dessen Taschenbuchausgabe mittlerweile in der 11. Auflage (2001) in den Buchläden steht. Obwohl sich FERNAU in seinem Roman weitgehend an das Nibelungen- lied hält und vereinzelt sogar wörtlich zitiert (z.B. Noch weiz ich an im mêre, daz mir ist bekannt2, S. 12), geht er vor allem bezüglich der Personencharakterisie- rung eigene Wege und wertet z.B. Gernot „aufgrund der diesem eigenen Nei- gung zu Reden, die er auch als „Gernotsche Krankheit“ apostrophiert (S. 19, 29) unter das Niveau des Nibelungenliedes“ (HOFFMANN, 1990, S. 127) sowie Gunther mit Hilfe eines ausführlichen Psychogramms (S. 105f.) zum schwächli- chen König ab. Er versucht, den Handlungsstrang und die Personen des Nibe- lungenliedes so zu aktualisieren, damit die LeserInnen einen schnelleren Ein- gang in den Stoff finden - „auch auf Kosten des künstlerischen Takts, […] und er scheut dabei auch vor billigen Gags nicht zurück“ (HOFFMANN, 1990, S. 128). den Fährmann z.B. bezeichnet er als Donaudampfschiffahrtsgesellschaftskapi- tän (S. 145). Seiner offensichtlichen Affinität zu Karl MAY ist es wohl auch zu verdanken, dass in diesem Nibelungenroman sowohl von Ewigen Jagdgründen (S. 94) als auch von Gunthers Mustang (S. 145) die Rede ist. Man kann sagen, dass vermutlich „(g)erade dieser forsch unterhaltende, despektierliche, aber auch triviale Charakter des Werkes [ ] wesentlich zu seinem Erfolg beigetragen (hat)“ (HOFFMANN, 1990, S. 129).
Doch begnügt sich FERNAU nicht mit einer bloßen, aktualisierenden Nacherzäh- lung des Nibelungenliedes: durch die in den Text eingeschobenen Betrachtun- gen (Rondo), in denen er z.B. Hagen als Verräter mit schauerlich-imposante(r) Geradlinigkeit (S. 199) charakterisiert, kommentiert und wertet er seine Roman- figuren. Der Autor arbeitet mit Klischees über Verhaltensweisen deutscher und anderer Völker, die zwar „partiell richtig sein mögen, [ ](aber), indem Fernau sie generalisiert, zur Ideologie (werden)“ (HOFFMANN, 1990, S. 129). So attestiert er sowohl Hagen (eine Gestalt aus der tiefsten Tiefe der deutschen Seele, S. 24) als auch dem ahnungslosen und untadeligen Siegfried das Hervorkommen aus der deutschen Seele: der Held der deutschen Seele (S. 42) - „Die deutsche Seele ist also offenbar ambivalent, bringt den Verräter Hagen ebenso hervor wie der verratenen, übertölpelten Siegfried“ (HOFFMANN, 1990, S. 130).
Trotz des großen Verkaufserfolges gibt HOFFMANN dem Werk ein negatives Ge- samturteil, unter anderem deswegen, weil „Fernau der Komplexität des ernsten Themas schlechterdings nicht gewachsen“ (ebd., S. 131) ist. Schon kurz nach Erscheinen fordert WAPNEWSKI in seiner polemischen Rezension über Disteln für Hagen den Autor, seines Zeichens ehemaliger SS-Kriegsberichterstatter, auf, „das Handwerk des Schreibens zu lassen, […] (und) das eigene Volk mit Bestandsaufnahmen künftig zu verschonen“ (1967).
FERNAU verwendet den „Nibelungen-Mythos als Möglichkeit der Selbstdeutung der deutschen Geschichte und Gegenwart“ (BACHORSKI, 1988, S. 347) - und scheitert.
Sind in den Jahren nach Ende des zweiten Weltkriegs im Wesentlichen nur die- se beiden Werke erwähnenswert, steigerte sich in den 80ern die Zahl der Neu- erscheinungen rund um den Nibelungenstoff enorm. Müller attestiert ihnen „ganz unterschiedliche[ ] Art und auch Qualität“ (2003, S. 430): Der 1985 bei Benziger erschienene Roman Die Erinnerungen des Helden Sig- frid von Georg ZAUNER ist ein gelungenes und interessantes Beispiel moderner Nibelungen-Rezeption. Mit Hilfe der „Erinnerungen des offenkundig re- inkarnierten Siegfried namens August N.“ (ebd., S. 431) wird das Geschehen des Nibelungenliedes „auf kunstvolle und verschlungene Weise“ (ebd.) in die Welt des 19. Jahrhunderts transportiert, in der Siegfried alias August N. 38jährig des Strafbestands des Mordes und der Vergewaltigung beschuldigt und hinge- richtet wird. Der Autor verdeutlicht damit seinen LeserInnen, dass „(d)er im 19. Jahrhundert verherrlichte Siegfried [ ] in der damaligen bürgerlichen Realität eigentlich ein gewalttätiger Verbrecher gewesen (wäre)“ (ebd.) und entwirft „ein ganz und gar antiidealistisches Bild des „Helden“ Sigfrid (!)“ (HOFFMANN, 1990, S. 133).
Der Roman integriert das aus dem nordischen Sagenkreis bekannte Vorleben Siegfrieds in die Geschichte bzw. beschränkt sich auf dessen Lebenslauf - Ha- gen spielt deswegen „auch eine weitaus geringere Rolle [ ] als im Nibelungen- lied“ (ebd.), zudem bleiben aus diesem Grund die „eigentlichen Motive für die Ermordung Sigfrids in der Schwebe“ (ebd.). Gekonnt verbindet der Autor das Heldenleben mit dem Leben des dem Okkultismus verfallenen Erzählers Sa- muel Litzauer auf der Ebene der Metafiktion - die Erlebnisse werden dem Häft- ling August N. alias Siegfried mit Hilfe von Hypnose entlockt und von Litzauer verschriftlicht. Jedoch kann sich letzterer nicht davon lösen und träumt immer wieder von Szenen des Nibelungenliedes, an denen er sich selbst beteiligt, wie etwa dem Saalbrand bei Etzel.
Der Autor Jürgen LODEMANN sieht in seinem Buch Siegfried. Die deutsche Ge- schichte (Thienemann, 1986) das Nibelungenlied als „ein Ereignis, das bis in die Gegenwart und in die Biographie des Autors nachwirkt“ (MÜLLER, 2003, S. 431) und verfolgt mit diesem Roman „zwei Ziele: Er will auf der einen Seite die- se versunkene Welt wieder aufleben lassen und auf der anderen Seite die Gründe für ihren Untergang darstellen“ (MARTIN, 1992, S. 188); er schließt mit der Ermordung eines unpolitischen Siegfrieds, der „die römische Raff- und MachtGier (!)“ (LODEMANN, 1986, S. 32) in der Person Hagens bekämpfen will. Im Gegensatz zur Vorlage spielen römisch-christliche Vorstellungen eine we- sentliche Rolle, welchen sich Siegfried zu entziehen sucht. Da dieser die Exis- tenz der „christlichen Kirche als das einzige politische Machtinstrument“ (MAR- TIN, 1992, S. 195) bedroht, ist dies und nicht der Königinnen-Streit wahrer Aus- löser seiner Ermordung durch Hagen. LODEMANN zielt in seiner Erzählung auf eine Remythisierung der Nibelungensage ab, in welcher die christliche Kirche als Ursache allen Übels verdammt wird: Siegfrieds selbstloser, naturverbunde- ner Lebensentwurf soll einen Ausweg aus dem römisch-christlichen Teufels- kreis von Machtgewinn und Naturzerstörung anbieten (vgl. MARTIN, 1992, S. 197). Ob jedoch diese „Pervertierung der christlichen Lehre“ (HOFFMANN, 1990, S. 137) eine gute Idee im Rahmen seines Siegfried-Romans ist, der „als Vehikel einer aufdringlichen antikirchlichen Tendenz erscheint und […] theologische Diskussionen“ (ebd.) beinhaltet, ist zu bezweifeln.
MARTINs Einschätzung nach will LODEMANN das Nibelungenlied aktualisieren, indem er „den Text bewusst aus dem nationalen Kontext früherer Nibelungenadaptionen he- rauszunehmen und ihm eine im Rahmen der allgemeinen Skepsis gegenüber In- dustrialisierung und Fortschrittsglauben neue Bedeutung zu geben versucht.“ (2004, S. 172)
Jedoch „(kennzeichnet) die Kluft zwischen dem schriftstellerischen Ehrgeiz des Autors und dem tatsächlich erreichten Ergebnis [ ] das ganze Buch“ (MÜLLER, 1989, S. 502).
Dass ihn der Nibelungenstoff inspiriert, zeigt auch sein Roman Siegfried und Krimhild (Klett-Cotta) aus dem Jahr 2002: LODEMANN versucht hierbei, die noch im Nibelungenlied inkonsistenten Stellen wie z. B. das Verschwinden Brünhilds verständlich zu machen, ohne groß von der Vorlage abzuweichen. Er charakte- risiert Siegfried als „Lichtgestalt, von Gefühlen und einer freien Lebensgestal- tung geleitet“ (EBNER, 2006), wohingegen die Burgunden als klarer Gegenpart zu diesem Lebensentwurf gezeigt werden und ein machtgieriges Volk mit Ha- gen an der Spitze darstellen. Wie schon in seinem ersten Nibelungenroman wird die christliche Kirche erneut thematisiert und mit der von ihm eingeführten Person des Wormser Bischof Ringwolf negativ belegt. LODEMANN erzählt die gesamte Geschichte des Nibelungenlieds, wobei „die Schilderung des Unter- gangs der Burgunden [ ] vor allem dazu (dient), die Bedeutung des Tods Sieg- frieds für die Welt darzustellen“ (MARTIN, 2004, S. 212). Siegfried erscheint bei näherem Betrachten als Vorarbeit zu diesem Nibelungenroman, der um den zweiten Teil des Nibelungenliedes erweitert wurde, in seiner Grundaussage hingegen, verglichen mit dem Vorgänger-Roman, nicht nennenswert verändert wurde.
Einen weiteren nennenswerten und „(im positiven Sinne:) eher konventionellen historischen Roman“ (MÜLLER, 2003, S. 431) veröffentlicht Wolfgang HOHLBEIN 1986 (Hagen von Tronje, Ueberreuter). Ähnlich wie LODEMANN 1986 gestaltet er den ersten Teil des Nibelungenlieds (also bis zur Ermordung Siegfrieds) aus der Perspektive des nun sympathischen Protagonisten Hagens neu: so wird Siegfried, welcher hier lediglich eine Nebenrolle spielt, „nicht von Hagen getötet, sondern während eines verabredeten Zweikampfes mit diesem von Gunther durch einen heimtückischen Gerwurf“ (HOFFMANN, 1990, S. 137) und stellt als Hagens (magisch-dämonischer) Gegenspieler die Bedrohung in Person dar, da er unbedingt dessen Herrschaft über Worms übernehmen will.
Wesentlich in diesem Roman ist, dass Hagen, der selbst in Kriemhild verliebt ist, Siegfried das Versprechen abnimmt, Kriemhild glücklich zu machen; an- dernfalls würde er ihn töten (vgl. S. 393). Die Szene des Königinnen-Streits im Nibelungenlied wird also mit dem Versprechen über eine glückliche Zukunft Kriemhilds ersetzt und just in dem Moment zum Mordmotiv, als Hagen Siegfried im Schlafzimmer Brünhilds 'erwischt'. Im Kampf beider erkennt Hagen, dass sein Widersacher „das schuldlos-schuldige Opfer einer Magie (ist), die außer- halb seiner Kontrolle“ (MARTIN, 1992, S. 207) liegt. Obwohl Gunther Siegfried ermordet, nimmt Hagen die Schuld auf sich. HOHLBEIN versucht sich mit diesem Roman an einer modernen Aktualisierung des Nibelungenlieds - jedoch „mit erheblichen Eingriffen in den pragmatischen Nexus des Epos“ (HOFFMANN, 1990, S. 139). Auch WUNDERLICH bescheinigt HOHLBEINS Roman lediglich einen trivialen Status - nicht zuletzt deshalb, weil sich Hagen von Tronje „einer Nibelungenmaskerade für eine beliebige Geschichte“ (1989, S. 375) bediene.
Sehr nahe am Stoff bzw. dem Erzählgang des Nibelungenliedes bleibt Meister Konrads Nibelungen Roman von Armin AYREN (dtv, 1991): Erzählt aus der Chronistenperspektive des burgundischen Hofkaplans, der auch als Romange- stalt fungiert sowie „als einziger dem Untergang entronnen ist“ (HOFFMANN, 1990, S. 140) und rückblickend die Ereignisse niederschreibt, „beweist (der Au- tor) ein an der modernen Germanistik geschultes quellenkritisches Problembe- wusstsein“ (MÜLLER, 2003, S. 431). Wie schon bei ZAUNERs Sigfrid bedient sich der Autor der Metafiktion: der Kaplan kommentiert und reflektiert mögliche Ge- danken der Romanfiguren, obwohl er selbst eine davon ist. Nach HOFFMANN gilt die Reflexion des fiktiven Erzählers „zum Beispiel den im Nibelungenlied weithin ausgesparten Motivierungen der Protagonisten für ihre Handlungen, ohne daß er beansprucht, die Antriebe der Handelnden wirklich zu kennen, so daß er auch mehrere Möglichkeiten nebeneinanderstellt.“ (1990, S. 141)
Die Handlung dieses Nibelungenromans wird „in der epochalen Umwälzung zwischen heidnischer Germanenzeit und christlichem Mittelalter“ (WUNDERLICH, 1989, S. 373) platziert und dient lediglich als Folie für einen historischen Ro- man. AYRENs Ausführung zufolge ist Siegfried in seinem Roman allein „verant- wortlich für die zukünftigen Ereignisse, während Hagen, hätte er nur die Wahr- heit gekannt, Burgund vor dem Untergang hätte bewahren können“ (MARTIN, 2004, S. 183).
Nach der Einschätzung MÜLLERs verbindet der Autor „solide Fachkenntnisse mit erzählerischem und stilistischem Können […] (und) vermittelt den Inhalt des Nibelungenliedes, zusammen mit den nötigen Kommentaren, auf durchaus zutreffende und moderne Weise“ (1989, S. 501). WUNDERLICH attestiert dem Roman eine schlüssige Erzählstruktur, durch die wenigstens gute Unterhaltung geboten werde (1989, S. 373).
Bei den hier vorgestellten Nibelungenromanen (mit Ausnahme von BEHEIM- SCHWARZBACH) zeigt sich, dass die Autoren dem Nibelungenlied eine gewisse gesellschaftliche Brisanz in ihren Werken geben, um den Stoff zu aktualisieren und ihm „Relevanz für die Gegenwart zu geben“ (MARTIN, 1992, S. 210). Über die Nibelungenlied-Rezeption seit 1945 kann man sagen, dass „die narra- tive Erneuerung des Nibelungenliedes überwiegend im Umkreis der Belletristik verblieben und sogar wiederholt in den trivialliterarischen Bereich abgeglitten ist“ (HOFFMANN, 1990, S. 142).
2.1.2 Kinder- und Jugendliteratur
An dieser Stelle ist vor allem die Nacherzählung der erfolgreichen Autorin Au- guste LECHNER (Die Nibelungen. Für unsere Zeit erzählt, Mirabell 1951) zu nen- nen, welche versucht, das Nibelungenlied kind- und jugendgerecht aufzuberei- ten: „durchgängig (ist) die Intention spürbar, Grausames zu mildern, Härten, wo immer möglich, auszugleichen, zumindest verstehbar zu machen“ (SCHREIER- HORNUNG, 1988, S. 185). Erzählschwerpunkte werden zugunsten von zwi- schenmenschlichen, emotionalen und charakterisierenden Passagen, welche sehr ausführlich gehalten sind, verschoben: Kriemhild wird als stark vereinfa- chend als verwirrt dargestellt, obgleich sie im Nibelungenlied eine zwiespältige Rolle nach Siegfrieds Tod innehat:
„So lange sie zum bloßen Leiden verurteilt war, war ihre triuwe gegenüber Siegfried gepriesen worden (1142,4). In dem Augenblick, in dem sie selbstständig handelt, erscheint sie als Satan (vâlandinne, 2371,4).“ (MÜLLER, 2005, S. 119)
Hagen trägt in dieser Nacherzählung allein die volle Verantwortung für die Katastrophe, was nach LECHNER auch seine Ermordung rechtfertigt; die Hunnen werden entsprechend dem angewendeten Stilmittel der Schwarz-Weiß-Malerei als geldgierige Monster dargestellt.
Es bleibt jedoch fraglich, ob diese stark wertende sowie (zumindest für einige Protagonisten) beschönigende Version des Nibelungenliedes nicht zu sehr in die Urteilsfähigkeit der jungen LeserInnen eingreift und eine Bevormundung anstrebt. So zeigt sich „die Klischierung von Frauen- und Männergestalten […] über Nebengestalten, die zu Persönlichkeiten aufgebaut werden […], während die Akzente bei den Hauptfiguren `psychologisch einfühlsam´ verschoben wer- den“ (SCHREIER-HORNUNG, 1988, S. 188) - letzteres wohl auch Grund für den enormen Verkaufserfolg dieses Buches. Das Nibelungenlied dient in dieser Nacherzählung als Folie für LECHNERs doch sehr patriarchalisches Familienbild, was beispielsweise durch die starke Heiratsorientierung Kriemhilds erkennbar wird; dieses Werk verwendet „den Stoff als Verpackung für eine eindeutig kon- servative bis reaktionäre Ideologie“ (SCHMIDT, 1986, S. 334). „Doch mittelalterliche Figuren sind diese von Macht, Intrigen und Herzenser- güssen geleiteten Charaktere nicht, ebensowenig wie ihre Privatsphäre etwas ist, das vor 800 Jahren auch nur annähernd so bestanden hätte“ (KARG, 1998, S. 125).
Auch Willi FÄHRMANN versucht mit den Nacherzählungen Siegfried von Xanten (Thienemann, 1987) und Kriemhilds Rache (Thienemann, 1988) jungen Lese- rInnen das Nibelungenlied nahe zu bringen. Ihm gelingt „eine überzeugende Synthese von alter und moderner Erzählweise“ (WUNDERLICH, 1989, S. 372), indem er in schlichtem Stil den Inhalt des Nibelungenliedes „stark straffend für ein junges Lesealter“ (ebd.) erzählt sowie z.B. grausame Szenen weglässt und Charaktere klar umreißt.
MARTIN hingegen kritisiert diese in FÄHRMANNS Nacherzählungen vorgenommenen Veränderungen hinsichtlich des Nibelungenliedes, da es „entweder keine Motivierung in der übrigen Handlung […] (gibt), oder sie treten nur an einer Stelle auf und werden nicht konsequent durchgehalten […], was seiner Bearbeitung einen unfertigen Eindruck gibt.“ (MARTIN, 2004, S. 192)
Auch HOFFMANN beurteilt FÄHRMANNs literarische Leistung negativ und stempelt Siegfried von Xanten als eine „selbst im Rahmen der Kinder- und Jugendlitera- tur ungewöhnlich anspruchslose Nacherzählung der Sage“ (1990, S. 117) ab.
Eine auffallend moderne Nacherzählung des Nibelungenliedes für Jugendliche stellt Total krasse Helden. Die bockstarke Story von den Nibelungen (Eichborn, 1986) von Uta CLAUS und Rolf KUTSCHERA dar. Diese 'Story' versucht in einer ins groteske Extrem gesteigerten Pseudo-Jugendsprache das Nibelungenlied als Parodie dem (jugendlichen?) Publikum näher zu bringen und versteht sich als „knallharte Actionstory mit supersülzigen Trivi-Einlagen" (Klappentext). Je- doch werden „die Nibelungen zum bloßen Anlass einer Anhäufung läppischer Witzchen“ (WUNDERLICH, 1989, S. 377) und lassen eine parodistische Rezeption nur noch erahnen. Dieses vermeintliche Jugendbuch, dessen extreme Sprach- gestaltung m. E. sowohl der erwachsenen als auch der jugendlichen Zielgruppe nach einer Weile sehr auf die Nerven gehen dürfte, endet damit, dass Hildchen dem Monster (Hagen) die Birne vom Stiel (hackt). Hildebrand beguckt sich das gar nicht erst lange. Er findet diese Action für eine Tussi total ungeil und macht Zombie-Hildchen auch noch alle. Und Etzel und Didi sind ziemlich gebügelt, daß ihre Party so total in die Hosen gegangen ist. (S. 87)
Wolfgang SIEG hingegen übernimmt in seinem Jugendbuch Siegfrieds Tarnkap- pe (Fackelträger, 1974) einzelne Motive und Figuren aus dem Nibelungenlied: der Autor reduziert das Nibelungenepos auf Siegfried, die Burgundenkönige sowie Hagen von Tronje und das Motiv der Tarnkappe (neben anderen Sagen- figuren wie Loreley und Kudrun). Alle zusammen repräsentieren zwar Super- helden „samt den Wertimplikationen, die sie in den Sagenbüchern verkörpern. Diese setzt Sieg als bekannt voraus, hält sie aber in der Gegenwart nicht ein- mal mehr auf fiktionaler Ebene für realisierbar“ (SCHMIDT, 1986, S. 335). In die- sem Werk, dessen Handlung im Hamburg der frühen 70er Jahre spielt und „die Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen“ problematisiert (ebd., S. 334), welche gegen die Errichtung eines vollautomatisierten Spielplatz durch Erwach- sene rebellieren, fehlt „die Auseinandersetzung mit den weiblichen Gestalten. […] Damit gibt Sieg seinem Werk nur denäußeren Anschein einer der Entstehungszeit entsprechenden innovatorischen Rezeption des Nibelungenlieds, bleibt aber der konservativen Tradition der Sagenbücher noch sehr stark verhaftet.“ (ebd., S. 336).
2.1.3 Lyrik
Im Wesentlichen sind in der deutschen Lyrik seit Mitte des 20. Jahrhunderts zwei Gedichte zu nennen, welche sich intensiv mit dem Nibelungenstoff aus- einander setzen: Das Nibelungenlied von Wolfgang KEVERING (1986; in: MÜL- LER, 2003, S. 434) und das kritische Genug! von Erich KUBY (1988; in: MÜLLER, 2003, S. 434). Während sich letzterer mit der politisch-ideologischen Rezeption in der Vergangenheit beschäftigt und mit Müh und Not versucht, dies zu reimen und dabei „beispielhaft für das Missverhältnis von ideologiekritischem Anspruch und literarischer Qualität steht“ (WUNDERLICH, 1989, S. 370), bringt KEVERING „in provozierender Lakonik“ (MÜLLER, 2003, S. 434) schlagzeilenartig den Hand- lungsstrang des Nibelungenlieds vereinfachend auf den Punkt.
Diese recht magere Ausbeute der Nibelungenlied-Rezeption in der Lyrik zeugt von einem gewissen Desinteresse an dem Stoff. So wird entweder auf die belastete Rezeptionsgeschichte oder auf den Inhalt näher eingegangen. Eine literarische Aktualisierung, wie z.B. in der Unterhaltungsliteratur, findet nicht wirklich statt - was gerade im lyrischen Bereich doch sehr interessant und spannend wäre. Es bleibt zu hoffen, dass sich dies in der Zukunftändert und Lyriker einen aktualisierenden Zugang zum Nibelungenlied finden.
2.2 Theaterlandschaft
Im Gegensatz zu der gehäuften Rezeption in der Literatur sind im Bereich des Theaters eher weniger Nibelungenlied-Rezeptionen seit 1945 zu finden. Die bekanntesten Stücke sind auch über 100 Jahre später nach wie vor Friedrich HEBBELs Theater-Trilogie Die Nibelungen (1860) und Richard WAGNERs Opern- Tetralogie Der Ring der Nibelungen (1876), wobei wohl dessen große Erfolge ein Grund dafür sein könnten, dass „eine erneute Darstellung (des Nibelungen- liedes) auf der Bühne zu einem aussichtslosen Unternehmen“ (MÜLLER, 2003, S. 422) zu werden scheint.
2.2.1 Musiktheater
Besonders das Radio-Musical Lass´ das Hagen! Ein Nibelungen-Musical (1967) von Horst PILLAU (Libretto) und Siegfried ULBRICH (Musik) ist an dieser Stelle zu erwähnen; sie gingen mit ihrem Stück „(e)inen Schritt weiter in Richtung De- montage herkömmlicher Heldenvorstellungen“ (SCHMIDT, 2001, S. 142). Die politisch-ideologische Nibelungenlied-Rezeption der Vergangenheit, zuletzt während des zweiten Weltkrieges, wird in diesem Stück mit satirischer Lakonik in Szene gesetzt und setzt sich dank seiner ideologisch unbedenklichen sowie kitsch-losen Umsetzung von anderen produktiven Nibelungen-Rezeptionen je- ner Zeit ab, wobei PILLAU „seiner Stoffgestaltung insofern eine weitere histori- sche Dimension (verleiht), als er die dargestellte Intention durch gewisse Reiz- wörter ideologisch und historisch ganz klar dem NS-Regime zuordnet“ (SCHMIDT / MÜLLER, 1997, S. 346). Die Kommunikation der Protagonisten ist bewusst in moderner Sprache gehalten und mit einem Schuss Ironie gewürzt, um dem Stück bzw. den Dialogen Leichtigkeit zu verleihen. So wird z. B. Siegfried mit Spitznamen genannt bzw. mittelalterliche Wörter und Ausdrücke in das Stück integriert:
GUNTHER: Ach, Sigi, dieses Kraftweib, dieser Kemenatendragoner, diese Kakteenblüte, diese wilde Hilde - ahh. Sigi, es war schrecklich (PILLAU / ULBRICH 1967 in: SCHMIDT / MÜLLER, 1997, S. 326).
PILLAU greift in diesem Musical den Paradigmenwechsel in der MittelalterRezeption auf und inszeniert ein „bemerkenswertes Spannungsfeld zwischen zitierter und realisierter Rezeption“ (SCHMIDT / MÜLLER, 1997, S. 345). Hagen erscheint als Kommentator, der die Hörerschaft anhand verschiedener Musikrichtungen (z.B. WAGNER) durch das Stück begleitet.
Wie schon erwähnt ist die Dominanz des WAGNERschen Rings im Musiktheater unübertroffen und wird aus diesem Grund an dieser Stelle kurz erwähnt. Der Ring des Nibelungen erfährt auch in den 70er Jahren im Zuge des Para- digmenwechsels eine Neuorientierung durch die „bahnbrechenden Inszenie- rungen von Ulrich Melchinger/ Thomas Richter-Forgach (Kassel 1970 ff.) und Joachim Herz/ Rudolf Heinrich (Leipzig 1973-1976)“ (MÜLLER, 1989, S. 496). Vor allem mit Hilfe der Fernsehübertragung der Ring-Inszenierung von Patrice CHÉREAU und Richard PEDUZZI (1976-1981) von den Bayreuther Festspielen wird diese ein durchschlagender Erfolg und avanciert zum 'Jahrhundertring'. Nach Harry KUPFER (1988 bis 1994) darf man gespannt auf die Inszenierung des Dramatikers Tankred DORSTs 2006 sein, der erstmals bei einer Oper Regie führt und aus dem „öde(n) Herumgestehe in unförmigen Korsetten“ von KIRCH- NERs Inszenierung (MENZEL, 2005) heraushelfen soll.
2.2.2 Sprechtheater
Max MELL versucht sich mit Der Nibelunge Not (1951; Wiener Bibliophilen- Gesellschaft) als erster am Nibelungenstoff nach der überwiegend politisch- ideologischen Rezeption während des 2. Weltkrieges. Im Wesentlichen über- nimmt er den Handlungsstrang aus dem Nibelungenlied: auch bei ihm ist der Königinnen-Streit der Ausgangspunkt allen Unglücks; er will neben einer dra- matischen Rezeption des Nibelungenliedes aber auch „den Glaubensschwund im Christentum bekämpfen“ (STIX 1959 in: SCHULZ, 1972, S. 122). Doch „es fehlt (dem Stück) die notwendige dramatische Diktion“ (Schulz, 1972, S. 124) und wurde wohl deshalb eher zu einer erfolglose Nacherzählung als zu einem überzeugenden Nibelungen-Drama.
In den 60er und 70er Jahren findet der Wandel hin zu einer konsequent aktuali- sierenden und ideologiekritischen Nibelungenlied-Rezeption statt, welche sich in Heiner MÜLLERs Germania Tod in Berlin (Uraufführung 1977) widerspiegelt.
In Rückbezug auf GÖRINGs Rede von 1943 konzentriert er sich auf die Kessel- schlacht von „Stalingrad als Zitation des Todeskampfes der Burgunden in Et- zels Saal“ (GREINER, 2003, S. 533) (deutlich an der Szene Hommage a Stalin 1, mit 2 in die Gegenwart transponiert), denn schließlich sind seiner Meinung nach die Nibelungen „immer noch der deutscheste aller deutschen Stoffe […] und auch immer noch eine deutsche Wirklichkeit“ (MÜLLER, 1983 in: GREINER, 2003, S. 531). Mit Hilfe von Versatzstücken der deutschen Geschichte zeigt MÜLLER Stationen der DDR-Geschichte auf und kreiert seinen eigenen Nibelungenstoff aus dem politischen Mythos (mit dem Verfahren der Spiegelung und derber Komik), indem er „die zu mythischen Monstern aufgeblähten Nibelungen von einst zu erbärmlichen Wichten degradiert[ ]“ (WUNDERLICH, 1989, S. 377). Er „präsentiert die fortdauernde Wirkungsmacht der Nibelungen und […] wendet seine Arbeit daran, einen Ausweg aus der Verstrickung historischer Erfahrung in eine mythische Dramaturgie zu postulieren“ (SCHMITT-SASSE, 1991, S. 370). MÜLLER beschränkt seine Protagonisten auf vier Nibelungen-Figuren (Gunther, Volker, Hagen und Gernot): „der Kampf bis zum letzten Mann ist das Wesen ihres Daseins“ (ebd., S. 386). Ende der 80er Jahre findet das Stück bei den Re- zensenten wenig Begeisterung, da es als „böse(r), verzweifelte(r) und hoff- nungszerstörende(r) Haßgesang auf die deutsche Geschichte und Gegenwart […] (und) politisches Theater der Schwarzmalerei ohne positive Aspekte“ (KLUSSMANN, 1981, S. 396f.) empfunden wird.
NOLTE resümiert Müllers Werk wie folgt:
„Müllers Drama trifft insofern den Kern jeder problematischen nationalistischen Rezeption des „Nibelungenstoffes“, als es die damit einhergehende Verkürzung des komplexen Epos auf kleinste Handlungseinheiten zum Motiv wählt und dabei die in der Vergangenheit häufig propagierte „Nibelungentreue“ beispielhaft durchspielt und konsequent zuende denkt.“ (2002, S. 11)
Jedoch sind die Struktur und der Aussagekern von Germania Tod in Berlin nur schwer zu durchdringen und man kann KAWOHLs Einschätzung nur zustimmen, dass „die zunächst nötige kognitive Leistung zur Entflechtung der verschiede- nen Szenen und Gedankenstränge [ ] eine spontane und emotionale Reaktion erschwert, wenn nicht unmöglich“ (1994, S. 21) macht.
Germania Tod in Berlin bleibt nicht Heiner MÜLLERs einzige Nibelungenlied- Rezeption. Bis zu seinem Tod 1995 schrieb er an einem weiteren Nibelungen- stück: Germania 3 Gespenster am Toten Mann (Kiepenheuer & Witsch, 1996), erneut situiert im Kessel von Stalingrad und Reaktion auf das Ende der DDR sowie das Scheitern der sozialistischen Bewegung. Konkret bezieht er sich in diesem Stück auf die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern zwischen dem römischen Aetius und dem Hunnenkönig Attila (451 n. Chr.), in welcher letzter als Repräsentant Asiens unterliegt und zum Rückzug aus Europa gezwungen wird; aktualisiert wird dieses historische Ereignis durch die Integration HITLERs und STALINs sowie der deutschen Nachkriegsgeschichte. Das Stück „ist der Ruf eines wahnsinnig werdenden Soldaten […], der an die poetische Überhöhung der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern erinnert“ (GREINER, 2003, S. 542) und Angst vor einer Wiederholung hat. Jedoch kann das statische und undra- matische Theaterstück Germania 3 nicht an den Erfolg des Vorgängers an- schließen: „Es ist ein Scheitern in dem Versuch, dieses Thema in der Gattung des Dramas zu fassen“ (ebd., S. 543).
Neben Heiner MÜLLER beschäftigt sich auch Volker BRAUN mit der Handlung des Nibelungenlieds. Beide zeigen „deutlich den Einfluß Hebbels(3 ) und verar- beiten vor allem ideologiekritisch die deutsche Rezeption des Stoffes“ (MÜLLER, 2003, S. 422). Mit Siegfried - Frauenprotokolle - Deutscher Furor (Urauffüh- rung 1986) versucht sich BRAUN an der Darstellung dreierästhetisch verschie- dener Teile: Siegfried fungiert als mythologische Basis des Stücks und erzählt die Entwicklung des Helden, Frauenprotokolle zeigt die Auseinandersetzung zwischen Kriemhild und Brünhild, die mit der Unterwerfung endet und „die sich stellvertretend für ihre Männer Siegfried und Gunter in einen Krieg hineinma- növrieren“ (JOSCHKO, 1992, S. 205), als Familiendrama. Im letzten Teil be- schreibt BRAUN in dem Epochenstück Deutscher Furor mit moderner politischer Terminologie - wie schon MÜLLER in Germania 3 - das Gemetzel der Hunnen unter Attila auf den Katalaunischen Feldern (mit dem Einbeziehen der Trüm- merfrauen nach dem ersten Weltkrieg und Antikriegssentenzen), projiziert dies in die Gegenwart und zieht Konsequenzen für die europäische Politik.
„Volker Braun thematisiert in seinem Stück nicht nur die zentrale Frage von Krieg und Frieden, sondern auch die Widersprüche beim Übergang von Matriarchat zum Patriarchat, die Unterdrückung der Frau zugunsten feudalstaatlicher Machtetablierung und -konsolidierung.“ (JOSCHKO, 1992, S. 207)
Aktuellstes Beispiel einer Nibelungenlied-Rezeption im Theater ist das Stück Die Nibelungen von Moritz RINKE (Rowohlt, 2002), welches als Grundlage für die Wormser Inszenierung des Nibelungenliedes (Festspiele 2002, 2003 und 2006) herangezogen wird. RINKEs Worten zufolge hat er „versucht, diese mythische Höhe - inklusive der schwierigen Rezeption - herabzusetzen und die Nibelungen wirklich ganz für [ ] (sich) selbst zu entdecken, so als hätte [ ] (er) das auf Pergament geschriebene Lied von 1200 zufällig in einer Bibliothek gefunden“ (RINKE, 2002, Klappentext).
RINKE bemüht sich in seiner Neufassung des Nibelungenstoffes um „die De- konstruktion der germanischen Heldenmythen“ (TRIMMEL, 2006), wie sie insbe- sondere im Nationalsozialismus entstand. So erscheint Siegfried als naiver Muskelprotz, Gunther als Schwächling; Hagen wird aufgrund seiner weitsichti- gen Beratertätigkeit als burgundischer Staatsmann zum Sympathieträger. Die- ses Werk thematisiert das Untergehen einer Männerwelt, in der die männer- losen und zickigen Frauen Kriemhild und Brünhild zum (neuen) Schluss „als letzte Feindinnen, letzte Freundinnen stumm zu Boden gehen. «So sitzen die Frauen da»“ (VON BECKER, 2002, S. 128). RINKE bedient sich vornehmlich der Hauptmotivik des Nibelungenliedes, enthält sich aber der Kritik am Mythischen (wie z.B. BRAUN oder MÜLLER). Er lässt die im Nibelungenlied sehr ausgepräg- ten Motive wie Gefolgschaftstreue und Ehrgefühl weg und verändert dadurch die Logik der Konsequenzen (vgl. TRIMMEL, 2006). Nach der (unbegründeten) Einschätzung MÜLLERs „macht die Textlektüre des Stückes einen besseren Eindruck als die spektakuläre Wormser Freilicht-Produktion“ (2003, S. 422). SCHWARZMAIER bezeichnet RINKEs Nibelungen als „glaubwürdige Neuinterpreta- tion […], die das projizierte Pathosälterer Interpretationen in Film und Theater auf ein menschliches Maß alltäglicher Konflikte und persönlicher Charakter- schwäche zurücknimmt - mit mancher wohltuender Ironie“ (2003, S. 187).
Das dazu erschienene Hörspiel Die Nibelungen (Der Hörverlag, 2003) ist nach TRIMMEL durchaus hörenswert, unter anderem, da „(d)er mediumsbedingte Verzicht auf Visualisierung die atmosphärische Dichte“ (2006) steigert.
2.3 Bildende Kunst
Die Bebilderung des Nibelungenliedes setzte nach VOETZ wesentlich später ein, als bei den etwa zur gleichen Zeit (um 1200) entstandenen höfischen Roma- nen.
Eine Ausnahme hierzu stellt die rund 250 Jahre nach der Verschriftlichung des Nibelungenliedes entstandene Handschrift b, der sog. Hundeshagensche Co- dex, dar, welcher um 1440 mit „heute noch insgesamt 37 kolorierten Feder- zeichnungen“ (VOETZ, 2003, S. 299) entstand. Diese prächtigen, spätmittelalter- lichen Nibelungenliedillustrationen zeigen den Anfang einer bis heute interes- santen Nibelungenlied-Rezeption in der bildenden Kunst; im Rahmen dieser Arbeit wird die Rezeptionsentwicklung seit 1945 an ausgewählten Kunstwerken aufgezeigt.
Jedoch begnügte sich „die Kunstszene der 50er und 60er Jahre mit der hartnä- ckigen Verweigerung des Themas“ (KIMPEL / WERCKMEISTER, 1991, S. 286) - umso mehr, da der damalige Kalte Krieg viel aktuelleres Material für künstleri- sche Auseinandersetzungen bot. Vereinzelt finden sich zwar künstlerische Ar- beiten über den Nibelungenstoff, jedoch sind diese eher als Ausnahme von der Regel zu sehen und zeugen von einer zunehmenden Respektlosigkeit gegen- über dem Nibelungenstoff: „Verunsichert durch die Perversionen, denen das Epos zur Zeit des Faschismus ausgesetzt war, wird das Nibelungenlied nun nicht mehr illustriert, sondern karikiert“ (SCHULTE-WÜLWER, 1980, S. 8) und ver- liert jegliche aktuelle politische Dimension.
Lediglich Max BECKMANNs Zeichnungen Krimhilde und Kampf der Königinnen (beide aus dem Jahr 1949) beschäftigen sich mit dem Nibelungenlied und machen keinen Bogen um den bis 1945 ideologisch belasteten Stoff. Als mögli- chen Beweggrund für seine visuellen Gestaltungen des Nibelungenliedes lässt sich heute lediglich die Lektüre der Simrockschen Übersetzung sowie allgemeine Kenntnisse über die nordischen Sagenkreise rekonstruieren. In der Zeich- nung Kampf der Königinnen bezieht er sich konkret auf die den Untergang einläutende Szene im Nibelungenlied: „Er transponiert das Ganze auf eine theaterhafte Bühne und verwickelt die beiden Königinnen in einen körperlich ausgetragenen Abb. 1 BECKMANN: Kampf der Königinnen Ringkampf“ (KASTNER, 1986, S. 85) vor den Augen Siegfrieds und Gunthers.
Dieser Impuls zu einer neuerlichen Auseinandersetzung mit dem wohl bekann- testen deutschen Heldenepos wurde in der damaligen Kunstszene jedoch nicht aufgenommen und führte zu keiner weiteren kunstgeschichtlichen Rezeption.
Weitaus weniger Anerkennung hingegen findet der parodistische Holzschnitt- Zyklus Tittmoninger Nibelungenlied (1963) von Karl-Heinz HANSEN-BAHIA, in welchem sich die Nibelungenlied-Protagonisten ihres germanischen Helden- tums selbstironisch zur Gänze entledigt haben (vgl. KIMPEL / WERCKMEISTER, 1991, S. 288). Er „illustriert eine kleine Auswahl von Nibelungen-Strophen, die in der Simrock-Übersetzung neben (!) die Holzschnitte gedruckt werden“ (KASTNER, 1986, S. 144).
1975 bedient sich Rainer HARTMETZ in seinem Zeich- nungskomplex Die Nibelungen „einiger karikierend verzerr- ter, nibelungischer Motive, um die sich immer gleich blei- bende ideologische Verbohrtheit des Menschen […] anzu- prangern“ (KASTNER, 1986, S. 38) und den Status der 'ewigen' Helden des Nibelungenliedes zu demontieren.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2 HARTMETZ: Vol- ker und Hagen
Man kann sagen, dass „(d)ie Zeichnungen [ ] im Grunde mit spitzer Feder festgehaltene Karikaturen auf den Mißbrauch des Nibelungenliedes (sind)“ (ebd., S. 146).
Obwohl sich zwar vereinzelt Werke der bildenden Kunst finden, resümieren KIMPEL / WERCKMEISTER: „Auskunft über den Stellenwert des Nibelungenliedes für die Bildpraxis der 50er bis 70er Jahre gibt nicht die Anwesenheit eines verstreuten Materials, sondern die Abwesenheit eines kontinuierlichen Rezeptionsgeschehens“ (1991, S. 291).
Ab Ende der 70er Jahre regt sich ein neues Interesse an dem stillgelegten My- thos, welcher mit „sinnstiftender historisch-politischer Substanz“ (KIMPEL / WERCKMEISTER, 1991, S. 291) neu gefüllt werden kann. Jedoch erfolgt der Neu- zugang zum Nibelungenlied „über Richard Wagners Ring des Nibelungen und dessen Mythenamalgam. […] Die Nibelungen-Rezeption einer neuen Künstler- generation findet somit statt in Gestalt einer Wagner-Rezeption“ (ebd., S. 292).
Anselm KIEFER inszeniert 1973 Der Nibelungen Leid, indem er „die deutschen Kriegs- und Geisteshelden nicht visualisiert, bloß noch [ ] (benennt); bei ihm wirft das Unheil nicht mehr Bilder, nur noch Benennungen ab“ (KIMPEL / WERCKMEISTER, 1991, S. 297). Auf dem dargestellten kahlen Bretterboden erinnern lediglich Graffitis im Stil der Bankkritzeleien ('Der Nibelungen Leid' als Titel der Arbeit und 'Hagen was here') lustloser SchülerInnen an seine Vergangenheitsbeschwörung. Nach KIMPEL / WERCKMEISTER werden die Nibelungen so „in eine scheinhafte Existenz zurückgerufen“ (1991, S. 298).
Es ist festzustellen, dass KIEFER „die blinden Flecken des kollektiven Gedächtnisses durch schmerzhafte Erinnerungsarbeit zu reaktivieren“ (KIMPEL / WERCKMEISTER, 2003, S. 651) versucht.
Edward KIENHOLZ schafft zwischen 1975 und 1977 die 19teilige Werkgruppe Volksempfängers (u. a. mit den Teilen Brünnhilde und Die Rheintöchter) aus Bestandteilen faschistisch-propagandistischer Apparate - gesammelt auf Berli- ner Trödelmärkten - „die er […] zu visuellen Kommentaren des Dritten Reiches akkumuliert“ (KIMPEL / WERCKMEISTER, 1991, S. 293) und die wie folgt beschrie- ben werden kann:
„Jedes »Volksempfängers«-Tableau basiert auf der Verbindung zweier zentraler Komponenten: dem Radioapparat, der als technisches, lärmendes, aufdringliches Artikulationsinstrument das männlich-dominante Verhaltensprinzip repräsentiert, und dem Waschbrett, dem Prinzip des Weiblich-Dienenden.“ (ebd.)
Das einzelne Tableau wird aber erst mit Hilfe der akustischen Begleitung durch WAGNERs Ring - wobei diese erst durch Interaktion, also Tritt auf den Schalter (und somit aktiver Integration des Rezipienten), ertönt - zum Sinnbild des deutschen Faschismus.
Bei Brünnhilde sind auf einem hohen Holzsockel zwei Waschbretter, eines davon mit dem nationalsozialisti- schen Mutterkreuz ausgestattet, um ein Kissen befestigt und werden von einem halbhohen Eisengitter umzäunt. Beleuchtet wird das Ganze von einer für deutsche Keller typischen Schiffslampe. Beim Treten des Fußschalters ertönen Ring-Sequenzen.
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Abb. 3 KIENHOLZ: Brünn-hilde
1984 beschäftigt sich SALOMÉ näher mit dem Nibelungenlied und resümiert selbst dazu: „Das war eine Götterdämmerung in der Metropolitan Opera, die mich auf den Stoff ge- bracht hat“ (SALOMÉ, in: STORCH, 1987, S. 286). Im Rahmen eines Stipendiums des DAAD4 hält sich der 1954 in Karlsruhe geborene Künstler in New York auf und findet dort die Inspiration zu seinen Alugraphien, welche er in ernsthafter, aber vor allem ideologieloser Absicht kreiert. „Die Tragik des Geschehens ist hier in wild verschlungene Farbstriche, variierend vom schrillen Akkord unge- dämpft kräftiger Grundfarben bis hin zu zarten Pastelltönen, gefasst“ (KASTNER, 1986, S. 38) und zeigt lediglich Ansätze von Figurenumrissen. Dieses optische Spannungsgefüge wird der dramatischen Handlungsstruktur der Vorlage durch- aus gerecht und wirkt „wie ein kühlendes Pflaster auf den Wunden einer (ge- schundenen) Dichtung“ (KASTNER, 1986, S. 38). SALOMÉ malt neun großforma- tige Gemälde zum Nibelungenstoff - erkennbar inspiriert von WAGNERs Ring. Sie „spiegeln daher sowohl die motivische Komplexität als auch die ideologische Vielschichtigkeit, die dem Thema im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte erwachsen ist“ (KIMPEL / WERCKMEISTER, 1991, S. 302) und illustrieren in gewissem Sinne WAGNERs Tetralogie.
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Abb. 4 SALOMÉ: Siegfrieds Tod
Ein Beispiel aus diesem Zyklus ist Siegfrieds Tod (1987): Siegfried wird im Drahtzaun eines Konzentrationslagers erschossen und avanciert so zum Sinn- bild für diskriminierte Minderheiten, die einer störungsfreien Machtausübung im Weg stehen und deshalb beseitigt werden. SALOMÉ versteht seine „Malerei als Mahnung […] (und) propagiert die Möglichkeit, den zwanghaften Geschehens- verlauf zu unterbrechen“ (KIMPEL / WERCKMEISTER, 1991, S. 303f.). Um seine „Arbeit über Wagner“ (SALOMÉ, in: STORCH, 1987, S. 287) adäquat abschließen zu können, entscheidet er sich für ein Schlussbild, das „wieder mit dem Anfang zu tun hatte […]. Also wieder die Wiederholung der deutschen Geschichte“ (ebd.). SALOMÉ will mit seinen Kunstwerken „neue, zeitgemäße Inhalte den al- ten Bildvorwürfen auf[ ]erlegen“ (KIMPEL / WERCKMEISTER, 2003, S. 651).
Einen weiteren modernen Beitrag zur künstlerischen Umsetzung des Nibelungenstoffes stellt Einar SCHLEEFs Bilderzyklus mit Text Was gehen uns die Nibelungen an? (1987), dar, den er eigens für die
Nibelungen-Ausstellung in München im Haus der Kunst 1987/88 anfertigt. Er beantwortet seine Frage gleich ein paar Zeilen später selbst: „Um einen abgesprungenen toten Helden. unser Bester bla bla sein Vermächtnis bla bla sein Werk na und? […]
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Abb. 4 SCHLEEF: Die Helden durch- queren die Donau
Die Helden haben ausgespielt (zit. nach STORCH, 1987, S. 111).
Im Gemälde Die Helden durchqueren die Donau (1987) stellt er die Nibelungen als bedrohliche Nebelmänner im Dickicht bzw. Wasser dar. „Nur im Angriff sind sie ganz da, ein Panzer, ein Körper, eingeschworen bis zur Selbstvernichtung“ (STORCH, 1987, S. 292).
JiíGeorg DOKOUPIL sorgt 1993 mit seinen 14 großformatigen Gemälden (u. a. Siegfried tötet Fafner, den Drachen) für Aufsehen durch seine Ausstellung in dem frisch renovierten Weimarer Hotel Elephant. Wie schon bei Künstlern vor ihm, entstand sein Beitrag zur kunstgeschichtlichen Nibelungenlied-Rezeption über die Rezeption des WAGNERschen Rings. DOKOUPIL reproduziert die vom Maler Josef HOFFMANN erstellten Bühnenbildentwürfe für die Uraufführung des Rings 1876 in Bayreuth und verwendet sie „als visuelle Basis seiner eigenen künstlerischen Nibelungen-Kommentare. In ei- nem ersten Arbeitsschritt, der durch Fotokopien, Montagen und Vergrößerungen Hoffmanns Darstellungen verflacht, reduziert und vergröbert, werden zudem die Charaktere durch Einfügen ihrer Initialen gekennzeichnet“ (KIMPEL / WERCK- MEISTER, 2003, S. 650).
Mit Hilfe einer Kerze verrußt er die an der Decke hängenden Kunstwerke, welche „die verrußten Trümmer eines überalterten Mythos“ (ebd, S. 651) versinnbildlichen, dessen Ideologie verraucht. Zugleich zeugt die Kerze von einem gewissen Abstand, der „zur Ideenwelt der Nibelungen mit Hilfe der vielschichtigen Verschränkung von Vorbildern und Malweise“ (ebd.) zu halten ist.
Die Nibelungenlied-Rezeption in der bildenden Kunst seit 1945 wird von KIMPEL / WERCKMEISTER wie folgt auf den Punkt gebracht:
„Die bisherige Ideologisierung der Nibelungen ist also einer Pädagogisierung gewi- chen: Siegfried als Erzieher. Von den Nibelungen lernen heißt, sich von ihnen zu distanzieren, sich zu lösen aus behaupteten Zwangsläufigkeiten, Unvermeidlich- keitsthesen und mechanistischer Logik. Anstatt also - wie bisher - politischer Ver- blendung noch die Scheuklappen bunt zu dekorieren, bemüht sich die künstleri- sche Nibelungen-Rezeption nunmehr um Augenöffnung.“ (2003, S. 654)
2.4 Filme
Erst gut 40 Jahre nach der erfolgreichen Verfilmung des Nibelungenlieds durch Fritz LANG (Die Nibelungen, 1924), welche von Kritikern als Filmkunstwerk an- gesehen wird, unternimmt Harald REINL einen weiteren Versuch zur filmischen Nibelungen-Rezeption: Die Nibelungen: Siegfried von Xanten / Kriemhilds Ra- che, 1966). REINL hält sich in seiner, von der Kritik jedoch verrissenen bunten Kostümfilm-Version an HEBBELS Nibelungen-Trilogie und ergänzt dessen ideo- logische Passagen „mit einzelnen Szenen aus dem mittelalterlichen Text sowie Teilen der nordischen Überlieferung - vor allem die Vorgeschichte Siegfrieds wird von daher illuminiert“ (BACHORSKI, 1988, S. 348), indem die aus der nordi- schen Stofftradition bekannte Liaison von Siegfried und Brünhild genauestens erzählt wird. Jedoch geht es REINL wohl weniger um einen originalgetreuen Ni- belungenfilm im Sinne einer 1:1-Verfilmung des Nibelungenliedes, als eher um eine Folie für den damaligen ideologischen Diskurs der 60er Jahre. Überhöht stehen sich in den relevanten Problemfeldern wie z. B. Männer- und Frauenbild jeweils nur die Alternativen gut oder schlecht gegenüber: so konkurriert das 'gu- te' Bild vom mutigen, starken, der (Ehe-) Frau überlegenen Mann mit dem des feigen, schwachen Mann. Entsprechend steht der 'guten', sehr weiblichen und eher hausfraulichen Kriemhild die 'unweibliche' Brünhild gegenüber; Kriemhilds Überlegenheit Etzel gegenüber lässt diese später ebenso in einem negativen Licht erscheinen. Die Beziehung von Mann und Frau wird bei REINL als bloßer Geschlechterkampf mit „der konsequenten Denunziation der aktiven oder gar überlegenen Frau artikuliert“ (BACHORSKI, 1988, S. 351).
Ein weiterer Schwerpunkt ist die West-Ost-Problematik: die atheistischen Hun- nen werden als 'unmenschliche Täter' aus dem Osten dargestellt, gegen die sich die 'christlichen Deutschen' als Opfer zur Wehr setzen müssen. „Der Nibe- lungen-Stoff gerät zu einer Demonstration der herrschenden Grundüberzeu- gungen“ (ebd., S. 353) - REINLs Adaptionsversuch trägt somit wesentlich zur Enthistorisierung des Nibelungenliedes bei. Er hat „den Stoffkomplex in einer auch die Mediävistik herausfordernden Weise in das Medium Film übertragen“ (KRAFT / SCHRIEVER, 1992, S. 119) und die Verfilmung kann durchaus auf seine Art als eigenständiges Filmwerk mit LANGs Nibelungen mithalten: „Aktualisie- rung heißt bei Reinl aber nicht wie zuvor bei Fritz Lang das Verarbeiten von Zeitgeschichte, sondern Interpretation und Deutung, um […] adressatenbezo- gen zu erzählen“ (ebd.). So versucht er das beim Publikum fehlende Wissen über das Mittelalter logisch zu 'ersetzen', indem er z.B. den „Konflikt zwischen Brunhild und Siegfried nicht mit der Verletzung von Brunhilds êre begründet, die für den heutigen Rezipienten kaum nachzuvollziehen wäre, sondern durch die zurückgewiesene Liebe Brunhilds erklärt“ (ebd., S. 120).
Wiederum knapp 40 Jahre später kommt im Jahr 2004 eine weitere Nibelun- gen-Produktion ins Fernsehen: Die Nibelungen von Regisseur Uli EDEL. Da je- doch heutige Zuschauer unter Umständen nicht mehr allzu viel vom Mittelalter wissen, hat der Film „vorsichtshalber überhaupt nichts mit dem mittelalterlichen Epos zu tun“ (WINKLER, 2004, S. 2). Lediglich die aus dem nordischen Stoffkreis bekannte Liebesgeschichte zwischen Siegried und Brünhild ist als interessanter Aspekt in die Nibelungen-Verfilmung eingestrickt, läuft aber „kaum anders als in einem kuscheligen Soft-Porno“ (ebd.) ab. Der stark vereinfachende Handlungs- verlauf verwandelt das Nibelungenlied in ein ent-mythisiertes Fantasyabenteuer mit Schauspielern, die das Mittelalter lediglich annähernd durch ihre Kostüme repräsentieren und „weit hinter den Spezialeffekten zurückbleiben“ (WINKLER, 2004, S. 2). Nichtsdestotrotz sorgte der auch im englischsprachigen Raum (hier: Kingdom in Twilight) ausgestrahlte TV-Zweiteiler für sehr hohe Quoten, was wiederum von einem großen Interesse des Publikums am Mittelalter zeugt.
2.5 Unterricht
„Die Kenntnis dieses Gedichts gehört zu einer Bildungsstufe der Nation. Jedermann sollte es lesen, damit er nach dem Maß seines Vermögens die Wirkung davon empfange.“ (GOETHE zur Simrockschen Übersetzung des Nibelungenliedes, zit. nach PANZER, 1955, S. 5)
Die Nibelungen im Unterricht - ein Teilbereich der Nibelungenlied-Rezeption, „in der das Mittelalter und seine Literatur […] allenfalls ein Randdasein fristet“5 (KARG, 1998, S. 9). Nach 1945 steht - wie in den vorangegangenen Umsetzun- gen - vor allem die Entideologisierung des Epos im Mittelpunkt der schulischen Betrachtung6. In den 50ern verabschiedet man sich aus diesem Grund vom Ni- belungenlied als d e m deutschen Nationalepos, was jedoch keine pädagogi- sche 'Neuentdeckung' nach sich zieht; ESSEN bringt das Ziel des Deutschunter- richts nach 1945 auf den Punkt: durch die Lektüre des Nibelungenlieds „erken- nen die Schüler, daß wahre Dichtung unhistorisch ist“ (zit. nach WUNDERLICH, 1991, S. 132). Die schulische Auseinandersetzung mit dem Nibelungenstoff ist bis in die 60er hinein auf sich selbst gestellt - das Nibelungenlied wird zum blo- ßen Dokument einer tragischen Schicksalserfahrung degradiert: „es zeigt sich „(d)ie Unfähigkeit auch der neuen Deutschdidaktik, sich mit dem Nationalsozia- lismus auseinanderzusetzen, (und) führt[ ] zu unkritischer Übernahme alter Ar- gumentationsmuster“ (WUNDERLICH, 1991, S. 132).
Dabei wäre es, vor allem in Anbetracht der vorigen Rezeptionsbeispiele z.B. in der Literatur, durchaus angebracht, das Mittelalter im Unterricht zu behandeln, schließlich besteht ein großes Interesse am Mittelalter - zumindest außerhalb der Schule (was jedoch bei SchülerInnen nicht allzu verwunderlich sein sollte): angefangen bei der Wissenschaft, bis hin zum „produktiven Umgang bei zeitge- nössischen Autoren […] (und) populäre(r) Rezeption auf verschiedenen Ebe- nen“ (KARG, 1998, S. 10). Auch wenn in der Vergangenheit historische Literatur im Deutschunterricht z.B. der gymnasialen Oberstufe durchaus ein Bestandteil der Unterrichtspraxis ist, so wird diese selten reflektiert oder gar hinterfragt be- züglich ihrer literaturdidaktischen Konzeption (vgl. KARG, 1998, S. 10).
Ist das Nibelungenlied in den 70er Jahren noch in Dreiviertel aller Lehrpläne Pflichtlektüre, so ist es Anfang der 80er lediglich noch im Lehrplan von Baden- Württemberg zu finden. Diese Entwicklung hin zu einer historisch-literarischen Ahnungslosigkeit der SchülerInnen ist als sehr bedenklich einzustufen und wird dadurch verschärft, dass „(d)ie Literaturdidaktik [ ] nur noch vereinzelt Interesse an mittelalterlichen Texten (zeigt), obschon sie sich wieder verstärkt der histori- schen,ästhetischen, kulturellen Dimension von Literatur zuwendet“ (WUNDER- LICH, 2003, S. 357).
Auch MÜLLER konstatiert ein „vielleicht nur zeitweilige(s), gelegentlich aber fast totale(s) Verschwinden der mittelhochdeutschen Texte aus dem Lektürekanon der deutschsprachigen Schulen“ (1996, S. 5).
Aktuell wird z.B. an bayerischen Gymnasien lediglich im Literaturunterricht der 7. Klasse die Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Stoffen angestrebt:
„Vertrautwerden mit Stoffen des Mittelalters […], auch in jugendgemäßer Bearbeitung: Lesen und Verstehen ausgewählter Texte, z. B. zu den Themen Erziehung, Frau, Heldentum, Liebe“ (ISB, 2004).
Eine Beschränkung mittelalterlicher Texte auf diese Sichtweise erscheint nicht nur im Hinblick auf die Ausschließlichkeit der Jahrgangsstufe, in der dies be- handelt werden soll, als durchaus problematisch. Nach WUNDERLICH müsste der Unterricht „die Geschichtlichkeit des Stoffes und dieästhetische Qualität des Epos vermitteln, um beides in der Gegenwart verständlich zu machen“ (2003, S. 358).
[...]
1 Vgl. hierzu auch Karl WELLERs Ausführungen zur Nibelungenstraße (1933).
2 Im Vergleich dazu die Strophe aus dem Nibelungenlied: Noch weiz ich an im mêre daz mir ist bekant (NL 100, 1).
3 Friedrich HEBBEL (1813-1863) vollendete 1860 die wohl bekannteste Theaterversion des Nibelungenstoffes: die Trilogie Die Nibelungen. Er bemühte sich um die Verbürgerlichung des Epos und hielt sich relativ genau an die Vorlage, ohne die nordischen Sagenkreise zu recherchieren. Hebbel konnte jedoch bei weitem nicht an Wagners (auch zeitgleiche) Erfolge des >Ring< anknüpfen. Seit Einführung der Wormser Nibelungenfestspiele kommt dieses Stück immer wieder zur Wiederaufführung, das letzte Mal 2005.
4 Deutscher Akademischer Austauschdienst
5 Als Gründe hierfür werden von KARG u. a. „die ideologische Belastung“ und „die sprachliche Form der Texte“ (1998, S. 9) angegeben.
6 So wurde in der Zeit von 1890 bis 1945 u. a. das Nibelungenlied dazu verwendet, „um die Reichsidee oder Tugenden wie die Treue zum Führer bis in den Tod, Stolz und Opferbereitschaft heraufzubeschwören“ (WILHELM, 1986, S. 96).
- Arbeit zitieren
- Dipl.-Hdl. Christina Hacker (Autor:in), 2006, Die Nibelungen in Plattling - Überlegungen zur Präsenz mittelalterlicher Texte in aktuellen Verwendungskontexten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89122
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