Anhand des Gebrauchs des tertius usus legis in den lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften soll untersucht werden, was diese beiden großen evangelischen Traditionen zum Thema der Heilsgewissheit zu sagen haben.
Dabei wird vor allem die Zuordnung des theologischen Indikativs und Imperativs in den Bekenntnisschriften untersucht, um von da aus die unterschiedlichen Schlussfolgerungen beider Richtungen zu verstehen.
1 EINLEITUNG:
Die Thematik „Gnadenwahl Gottes und Freiheit des Menschen“ umfaßt eine Vielzahl verschiedener Fragestellungen. Sie ist aufs engste verknüpft mit der Stellung des Menschen zu Gott. Daraus folgt, daß man zunächst kenntlich machen muß, auf welche „Art“ von Mensch man dieses Verhältnis hin untersucht.
Bei ihrer Abhandlung über den „unfreien Willen“ unterscheidet die Konkordienformel zwischen dem Menschen vor dem Sündenfall, nach ihm, nach seiner Rechtfertigung und nach seiner Auferstehung . In dieser Arbeit soll es um den dritten Fall gehen, um die Frage also, wie es um die Verantwortlichkeit des gerechtfertigten Christen gegenüber seiner Erwählung und der damit verbundenen Wirksamkeit Gottes in (und an) ihm bestellt ist. Im Zentrum steht also die menschliche Verantwortung; auf weiterführende Fragen bezüglich der Erwählungslehre, die sich konsequenterweise aus den nachfolgenden Untersuchungen ergeben, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.
Dieses Verhältnis zwischen Zuspruch und Anspruch, Gabe und Aufgabe, oder Indikativ und Imperativ ist gekennzeichnet von der Spannung des „schon jetzt“ und des „noch nicht“ im Leben des Christen. Als solcher besitzt er größere Freiheiten und Vorrechte in seinem Handeln als vor seiner Rechtfertigung, aber mit dieser größeren Gabe steht er auch vor einer ganz neuen und ernst zu nehmenden Aufgabe: seiner Heiligung (Hebr.12,14). Dieser menschliche Verantwortungsbereich darf niemals losgelöst von seiner neuen Identität betrachtet werden; der Ruf zum Gehorsam ergeht nicht als „Gebot an ein souveränes, isoliertes Ich, sondern an die Heiligen, d.h. die Christus Gehörigen.“ Wo diese Wechselwirkung nicht beachtet wird, „da wird das Gebot Gottes des Versöhners in der Wurzel verfälscht“ .[...]
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
2. DIE NEUE SCHÖPFUNG (EINORDNUNG DES INDIKATIVS)
2.1 DIE RECHTFERTIGUNG ALS GRUNDLAGE
2.2 DIE FREIHEIT ALS KENNZEICHEN
2.3 GOTT ALS GEGENÜBER
2.4 LIEBE ALS MOTIVATION8
2.5 HEILIGUNG ALS VERANLAGUNG
3. DER NEUE GEHORSAM (EINORDNUNG DES IMPERATIVS)
3.1 DAS FRUCHT-MOTIV
3.2 DAS SOLLENS-MOTIV
4. DIE FRAGE DER HEILSSICHERHEIT
4.1 BEI CALVIN UND LUTHER
4.2 PERSÖNLICHE STELLUNGNAHME
BIBLIOGRAPHIE
1 EINLEITUNG:
Die Thematik „Gnadenwahl Gottes und Freiheit des Menschen“ umfaßt eine Vielzahl verschiedener Fragestellungen. Sie ist aufs engste verknüpft mit der Stellung des Menschen zu Gott. Daraus folgt, daß man zunächst kenntlich machen muß, auf welche „Art“ von Mensch man dieses Verhältnis hin untersucht.
Bei ihrer Abhandlung über den „unfreien Willen“ unterscheidet die Konkordienformel zwischen dem Menschen vor dem Sündenfall, nach ihm, nach seiner Rechtfertigung und nach seiner Auferstehung[1]. In dieser Arbeit soll es um den dritten Fall gehen, um die Frage also, wie es um die Verantwortlichkeit des gerechtfertigten Christen gegenüber seiner Erwählung und der damit verbundenen Wirksamkeit Gottes in (und an) ihm bestellt ist. Im Zentrum steht also die menschliche Verantwortung; auf weiterführende Fragen bezüglich der Erwählungslehre, die sich konsequenterweise aus den nachfolgenden Untersuchungen ergeben, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.
Dieses Verhältnis zwischen Zuspruch und Anspruch, Gabe und Aufgabe, oder Indikativ und Imperativ ist gekennzeichnet von der Spannung des „schon jetzt“ und des „noch nicht“ im Leben des Christen. Als solcher besitzt er größere Freiheiten und Vorrechte in seinem Handeln als vor seiner Rechtfertigung, aber mit dieser größeren Gabe steht er auch vor einer ganz neuen und ernst zu nehmenden Aufgabe: seiner Heiligung (Hebr.12,14). Dieser menschliche Verantwortungsbereich darf niemals losgelöst von seiner neuen Identität betrachtet werden; der Ruf zum Gehorsam ergeht nicht als „Gebot an ein souveränes, isoliertes Ich, sondern an die Heiligen, d.h. die Christus Gehörigen.“[2] Wo diese Wechselwirkung nicht beachtet wird, „da wird das Gebot Gottes des Versöhners in der Wurzel verfälscht“[3].
Der Versuch der Theologie, den Imperativ unter der besonderen Berücksichtigung des neuen Indikativs auf den Gläubigen anzuwenden, ist in der Kirchengeschichte bekannt unter dem „dritten Gebrauch des Gesetzes“ (tertius usus legis)[4]. Dieser Begriff wurde von Melanchton eingeführt, indem er neben der zum Schutz der Öffentlichkeit gegebenen und der zur Buße führenden eine dritte Funktion des Gesetzes konstatierte: den praktischen Vollzug desselben im Leben des Gerechtfertigten. Calvin nahm ihn als solchen in seiner Institutio religionis Christianae [5] auf. Luther hat sich zwar zeit seines Lebens gegen die Begrifflichkeit dieses Gebrauchs gewehrt, dennoch hat er seine praktische Umsetzung in seiner Lehre sehr wohl gekannt und benutzt[6]. Aus diesem Grund lag es für mich nahe, in dieser Arbeit von der sonst klassischen Zweiteilung (Gegenüberstellung der Positionen) im Aufbau abzusehen, sondern lediglich an den für das Thema relevanten Stellen die Auffassungsunterschiede herauszustreichen.
Ziel dieser Arbeit soll sein, aus dem gemeinsamen und unterschiedlichen Verständnis des tertius usus legis von Calvin und Luther eine eigenständige Position zur soteriologisch – dogmatischen Fragestellung zu entwickeln, ob es dem Christen durch die ihm anvertraute Verantwortung möglich ist, sein Heil nicht zu „verwirklichen“ und damit wieder zu verlieren. Dabei gilt es, die großen Linien nachzuzeichnen und der Gefahr zu widerstehen, auf Nebenschauplätze zu geraten. Als Grundlage dienen mir dazu die Glaubensbekenntnisse, denn hier wird in schlichter und eindeutiger Weise „Farbe bekannt“[7].
So beschäftigt sich diese Arbeit in ihrem ersten Teil damit, wie der neue Indikativ zu verstehen ist, d.h. in welchen neuen Gegebenheiten sich der Christ wiederfindet. Die herausgegriffenen Charakteristika erheben selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit; die Liste könnte beliebig erweitert werden. Ich habe aber ganz bewußt die gewählt, die mir als Bedingung für eine grundlegende Einschätzung und Beurteilung des neutestamentlichen Imperativs als besonders relevant erschienen.
Diese Einschätzung geschieht im zweiten Teil der Arbeit. Hier soll gezeigt werden, in welcher Verantwortung sich der Christ unter den ausgeführten neuen Lebensbedingungen wiederfindet. Es muß an dieser Stelle angefügt werden, daß sich Indikativ und Imperativ niemals (wie in der Gliederung dargestellt) auf eine solche Weise „operativ“ voneinander trennen lassen. Es handelt sich vielmehr (wie bereits angeklungen) um eine gegenseitige Wechselwirkung. Von daher darf es nicht verwundern, wenn bereits im ersten Teil Elemente des zweiten Teils anklingen; ebenso wie selbstverständlich im zweiten Teil auf den ersten zurückgegriffen werden muß.
Im letzten Teil soll der lutherische und calvinistische Standpunkt von mir bewertet werden, um zu einer eigenen Position zu gelangen. Dies geschieht mit dem Augenmerk darauf, wie sich die unterschiedliche Zuordnung von Indikativ und Imperativ bei den Beiden auf die letzte Konsequenz auswirkt: auf die Frage nach der Sicherheit oder Wandelbarkeit des Heils.
Es sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, daß es mir bei der Anführung von Bibelstellen[8] nicht auf deren exegetische Feinheiten ankommt. Ich werde bei dieser Arbeit von einem gegebenen konkreten Verständnis ausgehen und möchte vielmehr die Konsequenzen betonen, die sich aus einem solchen Verständnis für die Zuordnung von Indikativ und Imperativ ergeben
2 DIE NEUE SCHÖPFUNG:
Die Überschrift läßt sich zurückführen auf ein Bibelwort aus 2.Kor.5,17. Dort steht: „Daher, wenn jemand in Christus ist, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ Mit diesen eindrücklichen Worten beschreibt Paulus die gewaltige Erneuerung des wiedergeborenen Christen. Ihre wesentlichen Merkmale sollen dabei im Folgenden kurz zur Sprache kommen.
2.1 Die Rechtfertigung als Grundlage der neuen Schöpfung
Der unüberwindbare Unterschied zwischen der profanen (philosophisch geprägten) und evangelischen Auffassung des Imperativs liegt in der absolut konträren Einschätzung des Zusammenhangs zwischen Identität und Handeln. Diese Sachlage wird von Thielicke folgendermaßen beschrieben:
„1 Während die philosophische Ethik... vom Ziel des ethischen Aktes ausgeht, nimmt die evangelische Ethik ihren Ausgangspunkt bei den Voraussetzungen..., nämlich bei der Tatsache der geschehenen Rechtfertigung, die jener Akt als gleichsam ‚nachträgliche‘ demonstratio zum Ausdruck bringt.
2 Während für die philosophische Ethik das Ziel... lediglich die Bedeutung eines heuristischen Gleichnisses hat und der ethische Akt selber alleine Realität besitzt, hat für die evangelische Ethik nur die gegebene Rechtfertigung Realität, die ihr folgenden ethischen Akte dagegen gleichnishafte Bedeutung, in denen jene Realität sich ‚ausdrückt‘.“[9]
Kaum einer hat das so deutlich zur Sprache gebracht wie Martin Luther, indem er mit ganzer Macht darauf bestand, daß der Mensch (im Guten wie im Bösen) das tue was er sei – und eben nicht (umgekehrt) seine Identität über sein Handeln gewinne.[10]
Dieser Sachverhalt kann nicht deutlich genug betont werden. Wo er nicht beachtet wird, wird die Zuordnung des Imperativs schon im Ansatz verfälscht. Wo er aber Berücksichtigung findet, wird die Geltung der göttlichen Norm geehrt und anerkannt, daß der Mensch niemals den zur Tat brauchbaren Willen in sich trägt, sondern daß vor ihm ein anderer steht, dem er die Abweisung schuldet, und erst dadurch gewinnt er jenen Willen, der deshalb von ihm die Bestätigung und Verwirklichung bekommen darf.[11]
2.2 Die Freiheit als Kennzeichen der neuen Schöpfung:
Das Neue Testament spricht an vielen Stellen von der Gebundenheit des Menschen an die Sünde. Unter diese Gebundenheit (Sklaverei) fielen nach Luther und Calvin auch der menschliche Wille, seine Vernunft und sein Verstand. Daraus folgerten sie, daß eine cooperatio des Menschen zum Heil ausgeschlossen sei.
Die Freiheit des Christen meint nichts anderes, als das was Schlatter am Ende seines Zitates mit dem „gewonnen Willen, der nun im Leben des Christen bestätigt und verwirklicht werden darf“, umschreibt. Sie ist also in letzter Konsequenz eine in der Wiedergeburt erhaltene Befähigung, als ein von Gott Gerechtfertigter nun auch ganz praktisch als ein vor Gott Gerechter leben zu können.[12]
Somit ist die Fähigkeit der cooperatio im Geschehen des Heils ausgeschlossen; in der Heiligung aber ist sie nicht nur theoretisch gegeben, sondern durch das Wirken des Heiligen Geistes veranlagt. So schreibt H. Schmid:
„Sie (die Erneuerung des Menschen) ist endlich ein Werk Gottes in dem Menschen, jedoch in der Art, daß von seiten des Menschen, der jetzt in der conversio neue geistliche Kräfte erhalten hat, eine freie Mitwirkung stattfindet.“[13]
Mit diesen Ausführungen ist aber die dem Christen zugehörige Freiheit nur nach einer Seite hin abgegrenzt. Sie unterscheidet sich aber auch grundlegend von der des „vollendeten“ Menschen (status gloriae). Der Christ darf zwar schon unter dem „posse non peccare“ atmen und leben, aber er befindet sich noch nicht unter dem großen Vorzeichen des „non posse peccare“[14]. Aus diesem Grund steht er in seiner großen Freiheit auch in einer großen Verantwortung. Es ist ihm deshalb auch nicht freigestellt, ob er und wie er handeln möchte, sondern unter welchem Einfluß, unter welcher „Regie“ er sozusagen sein Leben führt.
[...]
[1] Horst Georg Pöhlmann, Unser Glaube: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 1986, 3. Auflage, Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1991, S. 783.
[2] Walter Kreck, Grundfragen christlicher Ethik, 1975, 4. Auflage, Chr. Kaiser Verlag München, 1990, S.127
[3] Ebd.
[4] Eine kurze, aber gut verständliche Zusammenstellung dieser drei Gebrauchsweisen findet sich bei:
Friedrich Thiele, Unser Tun und Lassen: Leitfaden evangelischer Ethik, Konstanz: Christliche Verlagsanstalt, 1984, S. 75 – 77, sowie Wilfried Joest, Dogmatik: Der Weg Gottes mit dem Menschen, 1986, Bd.2, 4. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, 1996, S. 494ff
[5] Heinz-Horst Schrey / Helmut Thielicke, Glaube und Handeln, Carl Schünemann Verlag Bremen, S.152-157.
[6] Vgl. Helmut Thielicke, Theologische Ethik, 1958, Bd.1, 4. Auflage, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen, 1972, S.90f
Luther sprach in der Regel von einem „duplex usus legis“. Der „dritte“ Gebrauch des Gesetzes war für ihn vielmehr ein „usus practicus evangelii“. Seine Einschätzung desselben und warum es bei ihm zu dieser Begriffsunterscheidung kam, dazu siehe:
Wilfried Joest, Gesetz und Freiheit, 1951, 2. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, 1956, S.129 - 133
[7] Vgl. Horst Georg Pöhlmann / Torleiv Austad / Friedhelm Krüger, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, Chr. Kaiser Gütersloher Verlagshaus, 1996, S.25
[8] Im Folgenden verwende ich die rev. Elberfelder Bibelübersetzung (in Zitaten angeführten Bibelstellen können auch andere Übersetzungen zugrunde liegen).
[9] Thielicke, Theologische Ethik, Bd.1, S.87 : vgl. Kreck, Grundfragen christlicher Ethik, S.28f
[10] „Item opus non facit personam, sed persona facit opus, lex non facit opus, sed monstrat opera“
Thielicke, Theologische Ethik, Bd. 1, S.95
vgl. Joest, Gesetz und Freiheit, S.32 – 36 und Kreck, Grundfragen christlicher Ethik, S.135
[11] Adolf Schlatter, Das christliche Dogma, 1923, 3. Auflage, Calver Verlag Stuttgart, 1977, S.517
[12] Pöhlmann, Unser Glaube: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, S.789, vgl.
Pöhlmann / Austad / Krüger, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, S.113f, sowie
Jan Rohls, Theologie reformierter Bekenntnisschriften, UTB Vandenhoeck & Ruprecht, 1987, S. 189
[13] Heinrich Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche: Dargestellt und aus den Quellen belegt, 9. Auflage, Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1979, S.311
[14] Wolfgang Trillhaas, Ethik, 3. Auflage, Walter de Gruyter & Co. Berlin, 1970, S. 70, vgl.
Jean Calvin, Christliche Unterweisung: Der Genfer Katechismus von 1537, Gütersloher Verlagshaus Mohn, Übersetzung und Hrsg. Lothar Schuckert, 1978, S.33
- Quote paper
- René Debus (Author), 2003, Ist das Heil verlierbar? Zur Frage der Heilsgewissheit in den lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89072
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