Wie die gehobene britische Presselandschaft der 1950er über die Mau-Mau-Bewegung, ihre Hintergründe und Gewaltpraktiken berichtete, soll in dieser Arbeit anhand der Berichterstattung von Times und Guardian untersucht werden. Es geht außerdem darum, wie und zu welchem Grad auch die Verfehlungen des Empires aufgegriffen wurden und inwieweit die Zeitungen bei alledem auf die offizielle Regierungsversion vertrauten. Die Zeitungen wurden dabei aus mehreren Gründen ausgewählt. Zum einen erschienen sie täglich, sodass für die Untersuchung auf eine recht große Quellenbasis zurückgegriffen werden kann. Selbst kleinere Ereignisse, die etwa wöchentlich erscheinende Zeitungen nicht behandelten, wurden in Times und Guardian thematisiert. Größeren Begebenheiten räumten die Zeitungen wiederum den nötigen Platz ein, um der Leserschaft einen umfassenden Blick auf die aktuellen Geschehnisse bieten zu können – in direktem Gegensatz zur billigeren Tabloid-Press, die solchen Ereignissen oft nur einige wenige Zeilen zubilligte.
Zum anderen handelt es sich bei Times und Guardian traditionell um zwei der namhaftesten und wichtigsten Presseorgane der britischen Medienlandschaft. Sie bemühten sich um eine faktengetreue und unaufgeregte Berichterstattung und verkörpern die journalistischen Ideale im Großbritannien der 1950er Jahre wie wohl kein anderes Blatt. Damit fungierten sie als Leitmedien, an denen sich wohl auch Blätter mit kleineren Umlaufzahlen orientierten. Dementsprechend können die Narrative der beiden Zeitungen in gewisser Hinsicht als repräsentativ für die mediale Wahrnehmung der gehobenen Tagespresse Großbritanniens gesehen werden. Durch ihre recht großen Leserzahlen von etwa 270.000 für die Times und 140.000 für den Manchester Guardian bildeten die Blätter die gesellschaftliche Wahrnehmung der Mau Mau-Bewegung zudem nicht nur ab, sondern prägten diese auch wesentlich mit.
Gliederung der Arbeit
1. Einleitung
2. Der Mau Mau-Aufstand: Ursachen, Charakter und Gewaltanwendung
2.1. Ursachen des Konflikts
2.2. Formierung von Widerstand und der Weg in den Krieg
2.3. Verlauf des Mau Mau-Krieges und Formen der Gewaltanwendung
3. Presselandschaft und Journalismus im Großbritannien der 1950er Jahre
3.1. Allgemeine Entwicklungen
3.2. Die Times
3.3. Der Manchester Guardian
4. Die Darstellung des M au Mau -Aufstands in Times und Manchester Guardian
4.1. Afrikanische Kultur und die Ursprünge der Mau Mau
4.1.1. Darstellung im Narrativ der Regierung
4.1.2. Darstellung in Times und Guardian
4.2. Subversive Gewalt der Mau Mau
4.2.1. Gewalt gegen Weiße
4.2.2. Gewalt gegen Schwarze
4.3. Britische Counterinsurgency und Formen kolonialer Gewaltanwendung
4.3.1. Legitimierte Maßnahmen
4.3.2. Außerplanmäßige Gewalt
5. Abschließendes Fazit
6. Quellen und Literaturverzeichnis
6.1. Verzeichnis der Siglen
6.2. Quellenverzeichnis
6.2.1. Artikel aus der Times
6.2.2. Artikel aus dem Guardian
6.2.3. House of Commons Hansards
6.2.4. Sonstige Quellen
6.3. Forschungsliteratur
6.4. Sonstige Materialien aus dem World Wide Web
7. Anhang
1. Einleitung
Blickt man heute auf die territoriale Ausdehnung Großbritanniens, vermutet man kaum, dass es sich dabei um die Überreste des größten Weltreichs aller Zeiten handelt. Besteht die Nation heute lediglich aus dem britischen Stammland im Norden Europas und einigen eher unbedeutenden Überseegebieten, so umfasste das ehemalige britische Empire nach Ende des Zweiten Weltkriegs unter anderem die Kronkolonien Indien, Malaysia und Myanmar sowie große Teile Afrikas.1 Dass all diese Gebiete Mitte des 20. Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit erlangten, verdanken sie einem Prozess, den man heute gemeinhin unter dem Begriff der ‚Dekolonisation‘ kennt.2 Nicht ohne Stolz blickten die Briten damals auf die vermeintliche Großzügigkeit, mit denen sie die zuvor ‚zivilisierten‘ Völker in eine autonome Zukunft entließen. So heißt es etwa in einer 1960 gehaltenen Rede des britischen Premierministers David Attlee:
There have been many great Empires in the history of the world that have risen, flourished for a time, and then fallen. […] There is only one Empire where, without external pressure or weariness at the burden of ruling, the ruling people has voluntarily surrendered its hegemony over subject peoples and has given them their freedom, where also the majority of the people so liberated have continued in political association with their former rulers. This unique example is the British Empire.3
Dass dem hier beschworenen Mythos einer freiwilligen und friedlichen Auflösung des britischen Empires nur mit größter Skepsis zu begegnen ist, zeigen die zahlreichen Dekolonisierungskriege, in die das britische Empire in den 1940er und 1950er Jahren verwickelt war. Als brutalster und opferreichster Konflikt dieser Zeit zählt die Auseinandersetzung der Briten mit dem Phänomen, das heute gemeinhin als Mau Mau-Bewegung bekannt ist.4 Der von etwa 1951 bis 1960 andauernde Aufstand afrikanischer Widerstandskämpfer erforderte vom britischen Empire eine Vgl. hierzu auch die Karte bei Benjamin Grob-Fitzgibbon: Imperial Endgame. Britain's Dirty Wars and the End of Empire. Basingstoke 2011, S. XIV. Jan C. Jansen/Jürgen Osterhammel: Dekolonisation. Das Ende der Imperien. München 2013, S. 7-10. Clement Attlee: Empire into Commonwealth. The Chichele Lectures delivered at Oxford in May 1960 on ,Changes in the Conception and Structures of the British Empire during the last half Century’. London 1961, S. 1. Woher der Name „Mau Mau“ stammt, ist allerdings bis heute unklar. Eine Theorie der Namensbildung geht von einem Fehlverständnis der Briten aus, die den Kikuyu-Begriff „muma“ (für „Eid“) zu „Mau Mau“ ummünzten. Andere Forscher sehen wiederum eine lautschriftlichen Abwandlung von Löwengebrüll als Ursprung des Namens. Als wahrscheinlich gilt, dass der Begriff „Mau Mau“ zuerst bei den britischen Siedlern gängig war, und erst später auch in populären Darstellungen und der Geschichtswissenschaft übernommen wurde. Die kenianischen Unabhängigkeitskämpfer selbst nutzten den Begriff während ihres Aufstandes nicht (vgl. Wilfried Speitkamp: Spätkolonialer Krieg und Erinnerungspolitik. Mau Mau in Kenia, in: Ders., Helmut Berding, Klaus Heller (Hrsg.): Krieg und Erinnerung. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert (Formen der Erinnerung 4). Göttingen 2000, S. 193-220, hier S. 195).
Zudem sei bereits an dieser Stelle darauf verwiesen, dass der Mau Mau-Aufstand keine einheitliche und von oben organisierte Bewegung war. Zwar existierten innerhalb der Mau Mau durchaus Ältestenräte, diese wurden aber – gemäß der Tradition der Kikuyu – eher ad hoc zusammengerufen und hatten nur bedingte Entscheidungsgewalt innerhalb der Organisation. Auch ideologisch waren die Mau Mau nicht durch ein zentrales Manifest oder Ähnliches miteinander verbunden (vgl. ebd. S. 202f). Mehr hierzu in Punkt 2. ungeahnt aufwändige Counterinsurgency -Kampagne, die im Londoner Politikbetrieb jahrelang kontrovers diskutiert wurde.5
Mit dem Ziel, Repräsentanten und Unterstützer der europäischen Kolonialherren einzuschüchtern und so zum Überlaufen zu bewegen, begannen die Mitglieder der Mau Mau-Bewegung ab etwa 1950 eine jahrelange Serie von Attentaten gegen Männer, Frauen und Kinder, der – entgegen zeitgenössischer Darstellungen – vor allem schwarze Kenianer zum Opfer fielen.6 Spätestens ab dem Frühjahr 1953 entwickelte sich der Konflikt zu einem mit äußerster Gewalt geführten (Bürger-)Krieg im zentralen Hochland Kenias, wo sich die Mau Mau im schwer zugänglichen und dicht bewachsenen Dschungel verbargen. Letztlich war eine über 100.000 Mann starke Truppe, bestehend aus Soldaten des britischen Empires und kenianischen Hilfstruppen, für die Niederschlagung des Aufstands erforderlich. Zwar waren die eigentlichen Über den genauen Beginn und das Ende des Aufstandes ist sich die geschichtswissenschaftliche Forschung bis heute uneins. Während manche Historiker bereits die seit etwa 1920 gärende Unzufriedenheit der Kikuyu als Anfangspunkt der Mau Mau-Bewegung ausmachen, sehen andere einen solchen erst im Jahr 1945, als sich die ohnehin bestehenden Probleme weiter verschlimmerten (hierzu mehr in Kapitel 2). Die Auswahl des Jahres 1951 als eigentlicher Beginn des Mau Mau- Aufstands (!) basiert auf der Tatsache, dass sich in diesem Jahr erstmals physische Gewalt gegen Personen und Eigentum feststellen lässt. Die Gewaltausübung der Mau Mau vor 1951 belief sich hingegen ‚lediglich‘ auf psychische Gewalt in Form von Einschüchterungen. Ab 1952 wurden die ersten gezielten Attentate verübt. Berichte über Schwurzeremonien einer Geheimorganisation in den Bergen erreichten die Briten schon 1947/48 (vgl. Grob-Fitzgibbon, Endgame, S. 216f). Wenngleich die Kämpfe in Kenia schon ab 1955 weitestgehend beendet waren, so existierten bis circa 1960 noch manche Unruheherde, die weitere Maßnahmen seitens des britischen Empires forcierten. Erst in diesem Jahr wurde der im Oktober 1952 aufgerufene Notstand offiziell für beendet erklärt (vgl. Speitkamp, Krieg, S. 195f). Das Ende des Konflikts wird in dieser Arbeit dementsprechend für 1960 festgesetzt.
Die Begriffe „schwarz“ und „weiß“ werden in dieser Arbeit nur unter Vorbehalt verwendet, denn die strikte Einteilung der multiethnischen und in vielerlei Hinsicht äußerst vielfältigen Bevölkerung Kenias in zwei solch simple Kategorien ist durchaus problematisch. Zum einen lassen sich sowohl die indigenen als auch die (ursprünglich) europäischen Bewohner nicht in einfach in schwarz-weiß Kategorien einteilen. Weder in Bezug auf ethnische Gesichtspunkte (Abstammung, Hautfarbe etc.), noch im Hinblick auf gesellschaftliche Aspekte (Bildungsstand, soziale Stellung, politische Einstellung etc.) kann von der einen ‚schwarzen‘, oder der einen ‚weißen‘ Bevölkerung Kenias gesprochen werden. War die aus vielerlei Stämmen bestehende Gesellschaft des vorkolonialen Kenias in sich schon äußerst heterogen, so kam es zusätzlich zwischen der ursprünglichen Bevölkerung Kenias und den europäischen Siedlern bereits seit den späten 1880er Jahren fortwährend zu Vermischungen, und das sowohl in biologischer als auch in kultureller Hinsicht. Tauchen die Begriffe auf, so sind sie nie absolut zu verstehen. Ebenso problematisch sind auch die Formulierungen „Kenianer“ und „Afrikaner“. Nach heutigem Verständnis hängt die Zugehörigkeit zu einer Nation bzw. einem Kontinent nicht mehr zwangsläufig von der Herkunft, sondern vielmehr von der ganz individuellen Wahrnehmung einer Person ab. Sicher gab es wohl hellhäutige Personen in Kenia, die sich gänzlich mit der Region und dem afrikanischen Kontinent identifizierten und dementsprechend „Afrikaner“ genannt werden könnten. Andere hielten sich hingegen schon seit Generationen in der Kolonie auf und sahen sich immer noch primär als Europäer bzw. Briten. Aus Gründen der Einfachheit und um einen besseren Lesefluss zu gewährleisten, werden „Kenianer“ und „Afrikaner“ hier trotz dieses Faktums in ihrer traditionellen und sicher auch zurecht umstrittenen Verwendungsweise genutzt. Die Begriffe meinen dementsprechend primär dunkelhäutige Personen, deren Vorfahren bereits das Gebiet des heutigen Kenias bewohnten. Nach diesem Prinzip wird auch der Begriff „Europäer“ verwendet, der hier stets hellhäutige Personen europäischer Herkunft meint. Zudem sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass solche Bezeichnungen stets beide Geschlechter umfassen.
Kampfeshandlungen bereits im Jahr 1955 faktisch beendet, bis 1960 gelang es den Briten jedoch nicht, alle Rückzugsorte der Guerillakämpfer ausfindig zu machen.7 Als konstitutiv für die Zugehörigkeit an Bewegung erwiesen sich Schwurzeremonien, deren atavistischer und von Tribalismus geprägter Charakter für Europäer nur schwer verständlich war und ist.8 Sie verpflichteten die Mitglieder zu ewiger Treue für die Bewegung.9
Auf die Brutalität der Mau Mau reagierten die Briten mit ausgesprochener Unnachgiebigkeit und Härte. Insgesamt forderten ihre Kampfhandlungen moderaten Schätzungen zufolge über 10.000 Todesopfer, etwa eintausend Anhänger der Mau Mau wurden nachträglich für ihre Beteiligung an dem Aufstand hingerichtet.10 Zum Höhepunkt des Konflikts im Jahr 1955 wurden zudem nicht weniger als 78.000 Personen in britischen Gefangenenlagern festgehalten, wo sie unter anderem Folter, Hunger und „rigorosen Umerziehungsprogrammen“ ausgesetzt waren. Vielen von ihnen konnte keine direkte Verbindung zur Mau Mau-Bewegung nachgewiesen werden. Über 100.000 Menschen waren durch den Konflikt zudem von Umsiedlungsmaßnahmen betroffen.11 Trotz des britischen Sieges bereiteten die Verantwortlichen in Kenia und Großbritannien ab 1961 die Unabhängigkeit Kenias vor, welche schließlich 1963 offiziell verkündet wurde.12
Wenig überraschend führte der Aufstand der Mau Mau zu großem medialen Interesse in Großbritannien. Die Brutalität der Tötungen, die Andersartigkeit der bizarren Rituale und der daraus abgeleitete Rückfall der Kenianer in Wildheit und Barbarei schockierten und faszinierten die britische Öffentlichkeit gleichermaßen. Da es sich bei Kenia um eine britische Kolonie handelte, interessierten sich die Menschen zudem für die Sicherheit der dort lebenden Siedler und die Stabilität der britischen Herrschaft in der Region.13 Bereits zu Beginn des Notstandes im Oktober 1952 war die Mau Mau-Bewegung in Großbritannien Vielen ein Begriff. So brachten Filmemacher den Konflikt in die Kinosäle, Eltern disziplinierten ihre Kinder mit der Drohung, die Mau Mau würden sie holen, und selbst in abgewandelten Kinderliedern wurde das Phänomen So berichteten Augenzeugen etwa von Aufnahmeritualen, bei denen es zum Verzehr tierischer Geschlechtsorgane oder zu öffentlichem Sex Frauen oder gar Tieren kam (vgl. Grob-Fitzgibbon, Endgame, S. 215).
Andere Schätzungen gehen von über 20.000 Opfern aus, Caroline Elkins spricht in ihrem Buch Imperial Reckoning sogar von bis zu 300.000 Toten (vgl. Anderson, Surrogates, S. 159; bzw: Caroline Elkins: Imperial Reckoning. The untold Story of Britain´s Gulag in Kenya. New York 2005, S. 366). aufgegriffen.14 Der ‚Mythos Mau Mau‘ war damit fester Teil der britischen Alltagssprache und Populärkultur.15 Kein Wunder also, dass sich auch die dortige Presselandschaft – teils getrieben von den eigenen journalistischen Ansprüchen, teils getrieben von der Aussicht auf hohe Verkaufszahlen – dem Thema Mau Mau gerne annahm. Während die billige Tabloid - Press eine emotionale Ausschlachtung des Themas anstrebte, existierten auch Zeitungen, die sich der Mau Mau-Bewegung vergleichsweise sachlich und objektiv näherten.16 Zu ihnen gehörten unter anderem die bereits seit 1785 erscheinende Times und der 1821 gegründete Manchester Guardian, der 1959 in Guardian umbenannt wurde.17 Beide Blätter widmeten dem Thema insgesamt mehrere hundert Artikel, in denen sie ihre Leserschaft über die aktuellen Geschehnisse in Kenia unterrichteten.18 Zentrale Themen waren unter anderem die Gewalt der Mau Mau, Verlauf und Erfolg der britischen Counterinsurgency -Kampagne sowie diverse Skandale um die Gewalt britischer Kolonialtruppen.
Wie die gehobene britische Presselandschaft der 1950er nun konkret über die Mau Mau-Bewegung, ihre Hintergründe und Gewaltpraktiken berichtete, wie und zu welchem Grad auch die Verfehlungen des Empires aufgegriffen wurden und inwieweit die Zeitungen bei alledem auf die offizielle Regierungsversion vertrauten, soll in dieser Arbeit anhand der Berichterstattung von Times und Guardian untersucht werden. Die Zeitungen wurden dabei aus mehreren Gründen ausgewählt. Zum einen erschienen sie täglich, sodass für die Untersuchung auf eine recht große Quellenbasis zurückgegriffen werden kann. Selbst kleinere Ereignisse, die etwa wöchentlich erscheinende Zeitungen nicht behandelten, wurden in Times und Guardian thematisiert. Größeren Begebenheiten räumten die Zeitungen wiederum den nötigen Platz ein, um der Leserschaft einen umfassenden Blick auf die aktuellen Geschehnisse bieten zu können – in direktem Gegensatz zur billigeren Tabloid-Press, die solchen Ereignissen oft nur einige So wurde der klassische Kinderreim ‚Daddy wouldn´t buy me a Bow Wow‘ zu ‚Daddy wouldn´t buy me a Mau Mau‘ umgedichtet (vgl. Joanna Lewis: ‚Daddy wouldn´t buy me a Mau Mau’. The British Popular Press & the Demoralization of Empire, in: E.S. Atieno Odhiambo/John Londsdale (Hrsg.): Mau Mau & Nationhood. Arms, Authority & Narration (Eastern African Studies). Nairobi/Athens (USA), S. 227-250, hier S. 227 bzw. 247). Siehe für die Darstellung der Mau Mau im 1955 erschienenen Film Simba: Wendy Webster: „There´ll Always Be an England“. Representations of Colonial Wars and Immigration 1948-1968, in: Journal of British Studies 20/4 (2001), S. 557-584, hier S. 565-569. Vgl. Lewis, Popular Press, S. 227. Vgl. ebd. S. 230-245. Aus Gründen des Leseflusses wird der Manchester Guardian in dieser Arbeit meist mit „ Guardian “ abgekürzt. Dementsprechend impliziert Bezeichnung „Guardian“ nicht automatisch, dass das Blatt ab 1959 gemeint ist. Vgl. Tabelle 1, 2 und 3 im Anhang. Die Tabellen zeigen, wie das Interesse für den Konflikt sprunghaft anstieg (das Jahr 1952 bildet einen Sonderfall, da mediales Interesse etwa erst ab September bestand) und über die Jahre im Allgemeinen absank. Bestimmte Ereignisse, wie etwa das sogenannte ‚Hola-Massaker‘ im Jahr 1959 konnten die mediale Aufmerksamkeit kurzzeitig erhöhen. Speziell für den Suchbegriff „Kenya“ dürfte sich zudem der Unabhängigkeitsprozess der Nation auf das vergleichsweise hohe Interesse nach 1959 ausgewirkt haben. Siehe für weitere Erläuterungen: Kapitel 7.
wenige Zeilen zubilligte. Zum anderen handelt es sich bei Times und Guardian traditionell um zwei der namhaftesten und wichtigsten Presseorgane der britischen Medienlandschaft. Sie bemühten sich um eine faktengetreue und unaufgeregte Berichterstattung und verkörpern die journalistischen Ideale im Großbritannien der 1950er Jahre wie wohl kein anderes Blatt. Damit fungierten sie als Leitmedien, an denen sich wohl auch Blätter mit kleineren Umlaufzahlen orientierten. Dementsprechend können die Narrative der beiden Zeitungen in gewisser Hinsicht als repräsentativ für die mediale Wahrnehmung der gehobenen Tagespresse Großbritanniens gesehen werden. Durch ihre recht großen Leserzahlen von etwa 270.000 für die Times und 140.000 für den Manchester Guardian bildeten die Blätter die gesellschaftliche Wahrnehmung der Mau Mau-Bewegung zudem nicht nur ab, sondern prägten diese auch wesentlich mit.19 Darüber hinaus sind die beiden Zeitungen verschiedenen politischen Milieus zuzuordnen, was einen Vergleich interessant macht. Zwar war es für Zeitungen bereits seit den 1940er Jahren zunehmend unüblich, einer Partei nahezustehen und quasi als inoffizielle Parteiblätter zu operieren, dennoch waren die britischen Presseorgane in den 1950er Jahren weit davon entfernt, komplett unpolitisch zu agieren.20 So lässt die Times dem konservativen Spektrum zuordnen, wohingegen der Guardian durch seine eher liberale Ausrichtung besticht.21 Dementsprechend ermöglicht die Auswahl der beiden Blätter auch eine Beantwortung der Frage, inwiefern sich in der Berichterstattung politische Trennlinien ziehen lassen. Verteidigt bzw. verschweigt die Times etwa die Folterskandale der konservativen Regierungen unter Churchill (1951-55), Eden (1955-57) und Macmillan (1957-63) in einem höheren Maß als der Guardian ?22 Um die Analyse von Times und Guardian angemessen durchführen zu können, bedarf es zunächst einiger kontextueller Informationen über die Mau Mau-Bewegung. Im ersten Kapitel erfolgt dafür eine intensive Auseinandersetzung mit den Ursprüngen der Mau Mau, dem Verlauf Die Verkaufszahlen beziehen sich auf das Jahr 1950 (vgl. Stephen Koss: The Rise and Fall of the Political Press in Britain. Bd. 2. The Twentieth Century. Chapel Hill/London 1984, S. 648). Vgl. ebd. S. 628-642 bzw. 682-684. des Aufstands und den konkreten Formen der Gewaltanwendung beider Konfliktparteien. Die Darstellung des ereignisgeschichtlichen Verlaufs ermöglicht es, den Wahrheitsgehalt des offiziellen Regierungsnarrativs und der Berichterstattung der britischen Presselandschaft in den nachfolgenden Analysekapiteln besser nachzuvollziehen. So wird klar, inwieweit es überhaupt zu eventuellen Vertuschungen und ideologischen Verfärbungen seitens Regierung und Presse kam.
Das anschließende Kapitel widmet sich der Presselandschaft Großbritanniens in den 1950er Jahren. Konkret soll hier auf die Rahmenbedingungen und Entwicklungslinien eingegangen werden, welche die Berichterstattung der britischen Zeitungen prägten und ihr einen für diese Zeit typischen Charakter gaben. So werden hier etwa die zunehmenden ökonomischen Belastungen der britischen Zeitungen, ihre Loslösung von politischen Parteien oder das damals gängige Verständnis des Begriffs ‚objektiv‘ thematisiert. Diesen eher allgemeinen Erläuterungen folgt ein kurzer Blick auf die Times und den Manchester Guardian. Hier sollen spezifische Eigenheiten der beiden Blätter, etwa ihre politische Ausrichtung oder personelle Einflussfaktoren, kurz umrissen werden. Die in diesem dritten Kapitel konstatierten Merkmale der britischen Presselandschaft bilden den argumentativen Rahmen, um die Ergebnisse der nachfolgenden Analysen erklären und gleichzeitig in den historischen Kontext einordnen zu können.
Das Folgekapitel beschäftigt sich nun mit dem eigentlichen Kern der Arbeit, der konkreten medialen Berichterstattung über das Phänomen Mau Mau. Zum einen steht hier die Frage im Mittelpunkt, auf welche Ursachen Times und Guardian die Entstehung der Bewegung zurückführen. Vor dem eigentlichen Blick in die Zeitungen erfolgt hier eine Thematisierung, mit welchen pseudowissenschaftlichen Argumenten sich die Kolonialregierung des Empires nach ihrem jahrelangen Missmanagement in Kenia aus der Affäre ziehen wollte. Folgten die Zeitungen dem offiziellen Narrativ, das den Aufstand vor allem psychologisch erklären wollte, oder entwickelten sie eigene Erklärungsmuster und setzten die Verantwortlichen unter Druck? Zum anderen beschäftigt sich das Kapitel mit dem Bild, das Times und Guardian von den Mau Mau, Kenia und Afrika im Allgemeinen zeichnen. Wie stellen sie den schwarzen Kontinent und seine Bewohner dar, und auf welche Faktoren ist diese Art der Berichterstattung zurückzuführen?
Im Anschluss werfe ich einen Blick auf die Berichterstattung über die Gewalt der Mau Mau. Zentrales Thema des Kapitels ist, wie Times und Guardian auf die brutalen Ermordungen von Weißen und Kenianern reagierten und auf welche Ursachen der doch recht untypische Stil ihrer Artikel zurückzuführen ist. Zudem widmet sich das Kapitel der Frage, ob die Medien unterschiedlich über die Gewalt gegen Weiße und Schwarze berichteten. Speziell zur Gewalt gegen Kenianer gehe ich schließlich noch auf das ‚Lari-Massaker‘ aus dem Jahr 1953 ein, dessen koordinierte Vorgehensweise bis dato unbekannt war. Wie nahmen die Zeitungen das Blutbad wahr und welche Schlüsse zogen sie aus ihren Beobachtungen? Das dritte Analysekapitel befasst sich nun abschließend mit der Bewertung der britischen Methoden. Zum einen steht hier die offiziell genehmigte Gewalt im Fokus, welche die Briten im Zuge ihrer Counterinsurgency bewusst planten. Konkret geht es hier etwa um die Fragen, inwieweit Times und Guardian die harte Militärkampagne gegen die Mau Mau begrüßten und wie sie einzelne Maßnahmen – etwa Kollektivstrafen – bewerteten. Zum anderen wird mediale Reaktion auf die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen untersucht, die in Großbritannien zu Empörung führten. Besondere Aufmerksamkeit widme ich hier dem sogenannten ‚Hola-Massaker‘, der wohl skandalträchtigsten Grenzüberschreitung des gesamten Zeitraums. Auch die äußeren Beschränkungen und internen Bedenken, welche die Zeitungen bei der Aufdeckung weiterer Kolonialverbrechen behinderten, werden hier behandelt. Denn trotz der ständigen Präsenz britischer Medienvertreter in Kenia gelangte ein Großteil der Vergehen nie an die Öffentlichkeit. In einem abschließenden Fazit werden die Ergebnisse der Arbeit schließlich noch einmal zusammengefasst.
Insgesamt beschränkt sich diese Arbeit also nicht darauf, die offiziellen und medialen Interpretationen mit den tatsächlichen Begebenheiten abzugleichen. Ein solcher Vergleich macht zwar einen nicht unerheblichen Part der Arbeit aus, bildet aber letztlich nur die Grundlage für einen genaueren Blick auf die Beweggründe für das Vorgehen der Redaktionen. Im Zentrum steht dementsprechend nicht, ob und inwieweit es zu Verzerrungen der historischen Realitäten kam, sondern warum die Presselandschaft – freiwillig oder zwangsweise – auf solche Mittel zurückgriff. Letztlich geht es also auch um die Frage, inwiefern die Zeitungen dazu beitrugen, den von Regierungskreisen in die britische Gesellschaft getragenen ‚Mythos Mau Mau‘ zu verbreiten. Wo grenzten sich die Blätter von den Regierungsberichten ab, wo setzten sie Westminster gar unter Druck?
Auf die für diese Arbeit relevanten Zeitungsartikel konnte dank der umfangreichen und online zugänglichen Zeitungsarchive von Times und Guardian problemlos zugegriffen werden. Der Beobachtungszeitraum für die Quellenanalyse beginnt im August 1952, als erstmals Berichte über eine gewaltbereite Unabhängigkeitsorganisation veröffentlicht wurden, und endet im Januar 1959 mit der medialen Berichterstattung über das ‚Hola-Massaker‘. Besonders im Fokus stehen dabei die Jahre 1952 und 1953. Zum einen lassen sich in diesem Zeitraum aufgrund der Neuheit und Aktualität der Ereignisse in Kenia besonders viele Artikel zur Mau Mau-Bewegung finden, zum anderen legten Times und Guardian in diesen ersten beiden Jahren des Konflikts die Narrative und Wertungen offen, welche ihre Berichterstattung auch in den kommenden Jahren dominieren sollten. Der Zeitraum zwischen 1955 und 1958 spielt in dieser Analyse hingegen eine untergeordnete Rolle. Dies hängt damit zusammen, dass diese Jahre in Bezug auf den Aufstand vergleichsweise unereignisreich waren, sodass sich die Medien in diesem Zeitraum eher anderen Themen widmeten. Erst das ‚Hola-Massaker‘ ließ das gesellschaftliche Interesse –- und damit die Aufmerksamkeit der Presse - wieder ansteigen.23
Mit der Frage, wie die britische Presse über den Mau Mau-Krieg berichtete, wurde sich in der geschichtswissenschaftlichen Forschung nur bedingt auseinandergesetzt. Generell existiert zum faszinierenden Themenkomplex ‚Mau Mau‘ ein fast unüberschaubares Angebot an Monographien und Artikeln in Zeitschriften und Sammelbänden. Schon während des Beginns der Bewegung in den frühen 50er Jahren erfolgten erste Versuche, sich dem Thema auch wissenschaftlich anzunähern. Nach heutigem Stand der Forschung sind diese ersten Arbeiten - vor allem jene, die noch während des Krieges verfasst wurden - aber längst überholt und bisweilen klar von pro-kolonialen und rassistischen Denkmustern durchsetzt.24 Spätere Veröffentlichungen schworen solchen Botschaften zwar weitgehend ab, bemühten sich jedoch um eine Aufwertung der Mau Mau-Bewegung als Katalysator für den kenianische Unabhängigkeit - eine heute nicht unumstrittene These. Basierend auf den Memoiren einzelner Kriegsteilnehmer zeichneten diese Veröffentlichungen die Mau Mau als Freiheitskämpfer. Ihr Kampf gegen die europäische Fremdherrschaft stelle einen entscheidenden Schritt im Nationsbildungsprozess Kenias dar, so der Tenor der Arbeiten.25 Die 1970er und 1980er Jahre verschoben den Fokus der historischen Forschung dann weg vom Ergebnis des Aufstands und hin zu dessen ökonomischen, sozialen und kulturellen Ursachen. Auch erfahrungs- und sozialgeschichtliche Aspekte wie die Rolle der Frauen innerhalb der Bewegung traten hier vermehrt in den Blick. Dem folgte die zunehmende Betrachtung wirkungsgeschichtlicher Aspekte in den 1990er Jahren. Nicht mehr der Aufstand selbst, seine Ursprünge oder direkten Einflüsse für die kenianische Nationswerdung standen fortan im Interesse der Vor allem in den Veröffentlichungen der weißen Siedler Kenias lassen sich eindeutig rassistische Stereotype finden. So sei der Charakter der Mau Mau auf eine inhärente Unfähigkeit der ‚schwarzen Rasse‘ zurückzuführen, sich zivilisatorischen Grundsätzen unterzuordnen. Zu selbstständigen Entwicklungsprozessen seien sie grundsätzlich nicht in der Lage (vgl. Speitkamp, Krieg, S. 206).
Geschichtswissenschaft, es waren vielmehr die Erinnerungen der Teilnehmer selbst, die – bedingt durch den immer größer werdenden Abstand zu den 1950er Jahren – zunehmend historisiert wurden.26 Die ersten Arbeiten, die sich primär mit medienhistorischen Gesichtspunkten befassen und daher für die Fragestellungen dieser Arbeit besonders relevant sind, stammen ebenfalls aus diesem Zeitraum. Der Großteil der Veröffentlichungen hierzu fällt allerdings ins neue Jahrtausend.27 Speziell zur britischen Medienreaktion auf die Mau Mau-Bewegung existieren zwar durchaus einige Veröffentlichungen, genauere Analysen zur Berichterstattung von Times und Guardian stehen aber weiterhin aus.28 Diese Arbeit ist dementsprechend durchaus darum bemüht, dieses Desiderat der Forschung zu schließen und den konkreten Umgang der Zeitungen mit dem Phänomen Mau Mau näher zu beleuchten.
2. Der Mau Mau-Aufstand: Ursachen, Charakter und Gewaltanwendung
2.1. Ursachen des Konflikts
Als sich die britischen Kolonialherren 1951 erstmals mit Berichten über Schwurzeremonien einer Geheimorganisation konfrontiert sahen, ahnten sie wohl kaum, dass diese das Empire in eine jahrelange Counterinsurgeny -Kampagne mit ungeahnt hohem Kosten- und Personalaufwand verwickeln würde, an deren Ende die Unabhängigkeit Kenias im Jahr 1963 stand. Den eigentlichen Hintergrund der Bewegung bildete die weitreichende Benachteiligung der afrikanischen Bevölkerung in Kenia, die bereits im späten 19. Jahrhundert begann und sich bis in die 1960er Jahre fortsetzte. Siehe für den hier dargestellten Überblick über die forschungsgeschichtliche Entwicklung des Themenkomplexes: ebd. S. 205-211. So etwa Erik Linstrum: Facts about Atrocity. Reporting Colonial Violence in Postwar Britain, in: History Workshop Journal 84 (2017), S. 108-127; Rosalind Coffey: ‚Does the Daily Paper rule Britannia’. The British Press, British Public Opinion, and the end of empire in Africa 1957-60 (unveröffentlichte Doktorarbeit). London 2015. Online abrufbar unter: http://etheses.lse.ac.uk/3271/1/Coffey_Does_the_Daily_Paper_rule_Britannia.pdf (zuletzt aufgerufen am 12.03.2020); oder: Melissa Tully: All´s well in the colony. Newspaper coverage of the Mau Mau Movement. 1952-1956, in: Toyin Falola/Hetty ter Haar (Hrsg.): Narrating War and Peace in Africa. Woodbridge 2010, S. 56-76. Eine Ausnahme bildet die quantitative Analyse von Melissa Tully, die sich mit der Times befasst. Die von Joana Lewis zitierte Arbeit von C. Shelton Nickens: British Newspaper Reaction to Mau Mau. The Cases of the Manchester Guardian, The Times and The Daily Telegraph (1970) (zitiert bei: Lewis, Popular Press, S. 248 (Fußnote 12)) war für diese Arbeit leider nicht verfügbar, da es sich nach Angabe von Lewis um eine studentische Abschlussarbeit handelt, die – in Anbetracht der enormen Zeitspanne seit der Veröffentlichung – wohl verschollen ist. Sie selbst konnte die Arbeit auf jeden Fall nicht zur Verfügung stellen, eine E-Mail Anfrage bei dem damaligen Betreuer der Arbeit blieb unbeantwortet.
Ihren Anfang nahm die britische Einflussnahme in der Region mit dem 1896 eingeleiteten Bau einer Eisenbahnlinie zwischen der Küstenstadt Mombasa und dem Victoriasee.29 Noch im selben Jahrzehnt übertrugen die Briten das damals noch kaum erschlossene und namenlose Territorium in Ostafrika der Imperial British East Africa Company, einer Chartergesellschaft mit Sitz in London.30 1895 nahmen sie das Gebiet dann auch formell in ihren Einflussbereich auf und gründeten das sogenannte Ostafrikanische Protektorat, das schließlich 1920 zur britischen Kronkolonie umgeformt wurde. Versuche der afrikanischen Stämme, sich gegen den britischen Expansionsdrang zur Wehr zu setzen, beantwortete man mit einer Reihe brutaler Strafexpeditionen, die teils schon das Ausmaß von Völkermorden annahmen.31 Parallel zur Unterwerfung und Vertreibung der schwarzen Bevölkerung begann im frühen 20. Jahrhundert dann die Vorherrschaft der Weißen. Zwar diente den Briten die angebliche Verbreitung von Modernität und Wohlstand schon fast traditionell als Legitimationsgrundlage für die Beherrschung anderer Völker, an einer gleichberechtigten Partnerschaft mit den indigenen Völkern waren die Briten aber keineswegs interessiert.32 Sie etablierten einen von Rassismus geprägten Zwei-Klassen-Staat, in dem die Kenianer von ihren Kolonialherren systematisch unterdrückt wurden. Die Interessen der afrikanischen Stämme standen fortan an unterster Stelle, selbst elementarste Menschenrechte wurden ihnen verweigert.33 Vor allem der Stamm der Kikuyu, dessen Mitglieder die größte ethnische Gruppierung in Kenia bildeten, hatte in der britischen Kolonialgesellschaft zu leiden. Für sie nahm die Situation nach Ende des Zweiten Weltkriegs gar existenzbedrohende Ausmaße an, sodass sie in besonderem Maße zu antikolonialen Denkmustern neigten. Da sich die Mau Mau-Bewegung infolgedessen vor allem aus Kikuyu zusammensetzte und von deren Kultur in besonderem Maße geprägt wurde, soll der Stamm im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen.34 Insgesamt lassen sich drei Algerien 1945-1962 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 66). München 2009, S. 79. Nur rein pragmatische Gründe schienen gewisse Stämme vor einer vollständigen Vernichtung bewahrt zu haben. So schrieb der britische Offizier Francis Hall in einem Brief an seinen Vater: „There is only one way of improving the [Kikuyu] [and] that is to wipe them out. I should only be delighted to do so, but we have to depend on them for food supplies.” (Brief von Francis Hall an seinen Vater, 5. Juli 1894; zitiert nach: Godfrey Muriuki: A History of the Kikuyu 1500-1900. Nairobi 1974, S. 155). Zusätzlich zu den britischen ‚Pazifizierungsmaßnahmen‘ wurden die Stämme Kenias Anfang des 20. Jahrhunderts auch durch Naturkatastrophen und eingeschleppte Krankheiten dezimiert (vgl. Elkins, Reckoning, S. 3). Neben den Kikuyu setzte sich die Bewegung unter anderem aus Mitgliedern der Meru, Embu und Massai zusammen (vgl. ebd. S. 87).
Konfliktbereiche identifizieren, die in wechselseitigem Zusammenspiel zunächst zur Erstarkung antikolonialer Tendenzen und letztlich zur offenen Revolte gegen die britischen Kolonialherren führten.35 Zum einen führten Eingriffe in die politische Selbstverwaltung der Kikuyu zu Spannungen. Wenngleich die traditionellen kolonialen Strukturen, die den afrikanischen Völkern keinerlei politische Partizipation ermöglichten, nach der Zäsur des Zweiten Weltkriegs zunehmend von liberaleren Ansätzen abgelöst wurden, so waren die Briten – allen voran ihr Gouverneur Sir Phillip Mitchell – noch 1947 fest davon überzeugt, dass die britische Hegemonialstellung in der Region nicht nur zum Vorteil aller Beteiligten sei, sondern dem Empire aufgrund seiner bisherigen Leistungen auch rechtmäßig zustehe:36 „The greater part of the wealth of the country is at present in our hands. […] This land we have made is our land by right – by right of achievement.”37 Diese Auffassung fand seinen Ausdruck unter anderem in der politischen Organisation der Kolonie. An deren Spitze stand ein britischer Gesandter mit umfassenden Befugnissen, der als verlängerter Arm des Kolonialministeriums in Westminster fungierte. Unterstützt wurde er von einem Exekutiv- und einem Legislativrat. Schon allein die Besetzung dieser zentralen Verwaltungsgremien zeigt, welch geringen Einfluss die Afrikaner auf die politische Ordnung der Kolonie hatte. Trotz einiger Reformen im Jahr 1948 gehörte dem Legislativrat keine einzige Person afrikanischer Abstammung an, in den 34-Kopf starken Exekutivrat wurden lediglich vier Kenianer berufen – und das obwohl die Afrikaner innerhalb der Kolonie die mit Abstand größte Bevölkerungsgruppe darstellten.38 Auch bei Wahlen nahm die weiße Bevölkerung Kenias eine Sonderrolle ein, denn ihre Stimmen zählten deutlich mehr als die ihrer dunkelhäutigen Mitbürger.39 Speziell für die Kikuyu erwies sich zudem das von den Briten implementierte System der Indirect Rule als problematisch. Mit dem Ziel, Kosten zu sparen und potentiellen Aufständen den Wind aus den Segeln zu nehmen, sollte Autoritätspersonen der traditionellen Stammeskultur dabei auch innerhalb der Kolonie gewisse Mitverantwortung übertragen werden.40 Bei ihrem Versuch, die Kikuyu in die Strukturen des Empires einzubeziehen, nahmen die Briten allerdings keinerlei Rücksicht auf die kulturellen Eigenheiten des Stammes. Zwar waren dessen Mitglieder durch Sprache und Religion verbunden, über eine zentrale Führung verfügten die Kikuyu allerdings nicht. Ihre Häuptlinge besaßen nur in ihren jeweiligen Dorfgemeinschaften Autorität und wurden nach etwa 25 Jahren durch die jüngere Generation abgelöst. Zudem fungierten sie eher als Berater und Moderatoren, hatten also bei weitem keine absolute Macht. Für militärische, religiöse und rechtliche Beschlüsse war ein Ältestenrat zuständig, alle anderen Entscheidungen traf man in einem allgemeinen Beratungsgremium, dem alle erwachsenen Männer angehörten.41 Dieses traditionelle System der politischen Organisation brach unter der britischen Kolonialherrschaft nun zusammen. So vergrößerte man etwa die Verwaltungseinheiten der Kikuyu, sodass das Dorf als zentrale Ordnungsinstanz faktisch obsolet wurde. Gleichzeitig bündelten die Briten viele der Aufgaben, die ursprünglich verschiedenen Instanzen zustanden, nun in wenigen, auf Lebenszeit ernannten Führern. Anfangs waren diese aufgrund ihrer Qualifikationen zwar noch von den lokalen Dorfgemeinschaften legitimiert, spätestens ab Ende des Zweiten Weltkriegs gingen die Briten aber dazu über, die Loyalität zur Regierung als primäres Kriterium für die Auswahl der Amtsträger festzulegen. Sukzessive wurden so überalternde oder verstorbene Häuptlinge durch Marionetten ersetzt, was die ohnehin sehr bescheidenen Partizipationsmöglichkeiten der Kikuyu noch weiter einschränkte.42
Politisch hatten die Kikuyu also kaum Einfluss auf die Geschicke ihres Stammes, und auch in ökonomischer Hinsicht konfrontierte sie die britische Einflussnahme mit zahlreichen Problemen. Infolge systematischer Enteignungen und Vertreibungen durch die Europäer verlor der Stamm sein ursprüngliches, fruchtbares Siedlungsgebiet im zentralen Hochland Kenias.43 Die Folge dieses Prozesses war nicht nur die kulturelle Entwurzelung des Stammes, der oft keinerlei Zugang mehr zu heiligen Stätten o.Ä. besaß. Durch den Entzug ihrer Heimat wurde den Kikuyu auch eine wirtschaftliche Selbstorganisation unmöglich gemacht. Dies trieb den Stamm letztlich in die Abhängigkeit von weißen Siedlern, die seit Ende des ersten Weltkriegs zunehmenden Die rechtliche Legitimation des britischen Empires für die Enteignung der afrikanischen Stämme bildete die Ansicht, diese besäßen erstens keine anerkannten Landrechte und könnten zweitens die wirtschaftliche Entwicklung des Gebiets nicht zufriedenstellend vorantreiben. Teilweise entstanden sogar Gerüchte, die Gebiete seien vor der europäischen Besiedlung von niemandem genutzt gewesen. Die Pachtverträge für die weißen Siedler beliefen sich zunächst auf 99 Jahre, was 1915 auf 999 Jahre (!) erhöht wurde (vgl. Wunyabari O. Maloba: Mau Mau and Kenya. An Analysis of a Peasant Revolt (Blacks in the Diaspora 1). Bloomington/Indianapolis 1993, S. 26; bzw: David Maughan-Brown: Land, Freedom & Fiction. History and Ideology in Kenia. London 1985, 23f). Einfluss auf die Politik Kenias ausübten.44 Ihr oft extrem rassistisches und rückwärtsgewandtes Weltbild schockierte sogar die britischen Machthaber.45
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts strebten die Verantwortlichen in Kenia noch die Errichtung eines segregierten Rassestaats an, in dem die afrikanischen Ethnien durch die Verbannung in Reservate kaum in Kontakt mit den weißen Siedlern kommen sollten. Bald aber schon merkten sie, dass die wirtschaftliche Entwicklung Kenias stark von der billigen Arbeitskraft der schwarzen Bevölkerung abhing. Dementsprechend verwarf man die Idee einer strikten Trennung der ‚Rassen‘ und bemühte sich in der Folgezeit um die kontrollierte ökonomische Ausbeutung der Kenianer.46 Zu diesem Zweck erschwerte man es den afrikanischen Ethnien zum einen, sich als selbstständige Agrarproduzenten von der Regierung unabhängig zu machen. So wurde den Kikuyu etwa der Anbau der Cash Crops Tee, Sisal und Kaffee verboten.47 Parallel dazu etablierte man das feudal anmutende System der Squatter, bei dem Kenianer ein Stück Land auf dem Grundbesitz der europäischen Siedler zugewiesen bekamen.48 Dort war ihnen der Anbau von Lebensmitteln zu Subsistenzzwecken gestattet, im Austausch dafür mussten sie aber zu einem Hungerlohn auf den Feldern ihrer Grundbesitzer arbeiten.49 In Kombination mit der Einführung hoher Steuern garantierten die Briten so einen steten Fluss billiger Arbeitskräfte in ihre White Highlands, denn vielen Kikuyu war eine wirtschaftliche Existenz innerhalb der Reservate kaum mehr möglich.50 Oft blieb ihnen nur der Weg in die ausbeuterische Lohnarbeit oder eine Flucht in die großen Städte wie etwa Nairobi, wo sich zunehmend Slums bildeten.51 Viele Stammesmitglieder litten trotz ihrer täglichen, harten Arbeit unter großer Armut. Der Zweite Weltkrieg brachte aufgrund gesteigerter Nachfrage nach Lebensmitteln zunächst einen wirtschaftlichen Boom für die Kolonie, von dem die weißen Siedler wie die Kikuyu gleichermaßen profitierten. Mittelfristig verschlechterte der Krieg die Lage der Afrikaner aber weiter, denn durch ihre gesteigerte Wirtschaftskraft besaßen die Siedler letztlich auch die Mittel, ihre Farmen durch Maschinen zu modernisieren.52 Die Arbeitskraft zahlreicher Kikuyu wurde infolgedessen nicht mehr benötigt, sodass Tausende in die ohnehin überfüllten Reservate zurückkehren mussten.53 Parallel dazu wurden die miserablen Arbeitsverhältnisse auf den Farmen weiter verschärft. So erhöhten die Briten die Anzahl der Tage, an denen die Squatter auf dem Gebiet ihrer Herren arbeiten mussten, um das Dreifache - und das, ohne die Löhne entsprechend anzupassen.54 All dies führte zu einem regelrechten Exodus aus den White Highlands: Zwischen 1946 und 1952 wanderten über 100.000 Kikuyu ab.55 Der Zwang in die Lohnarbeit und die allgemeine Landverknappung in den Reservaten belastete die Stammesmitglieder allerdings nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, denn der Besitz von Land signalisierte in ihrer Kultur eine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Erwachsenen. Da fast alle Mitglieder des Stammes, seien es die Kikuyu in den Reservaten, White Highlands oder Städten, durch die britischen Kolonialstrukturen vom Besitz eigenen Grundbesitzes ausgeschlossen wurden, verwehrten die Briten ihnen damit gleichzeitig einen integralen Bestandteil ihrer Stammesidentität.56 Solcherlei eher beiläufige Einmischungen wurden von planmäßigen Programmen begleitet, mit denen die Briten im Zuge ihrer vermeintlichen ‚Zivilisierungsmission‘ bewusst in die Kultur der Kikuyu eingriffen.57 Sie sollten durch die erzwungene Übernahme europäisch-christlicher Denk- und Verhaltensweisen zu ‚zivilisierten‘ Menschen umgeformt werden, um auf Grundlage dieses Transformationsprozesses überhaupt erst als gleichberechtigte Partner am gesellschaftlichen Leben Kenias teilnehmen zu können. Natürlich basierten solcherlei Ideen auf rassistischen Ideologien, die den westlichen Lebensstil als das zivilisatorische Non-Plus-Ultra sahen. Letztlich dienten die damit verbundenen Begriffe des Multiracialism und Racial partnership aber nur als Vorwand, um die weiße Hegemonialstellung innerhalb der Kolonie langfristig zu sichern.58 Insbesondere die christlichen Missionen, die sich der Konversion der afrikanischen Bevölkerung verschrieben hatten, bedrohten die Kikuyu in der freien Auslebung ihrer Kultur. Die variablen Naturreligionen Ostafrikas gestatteten zwar durchaus fremdartige Einflüsse, eine vollständige Übernahme des David Maughan-Brown, Land, S. 34. Gleichzeitig stiegen die Lebenshaltungskosten zwischen 1947 und 1951 um knapp 30% (vgl. die Tabelle bei: Maloba, Mau Mau, S. 37). Bereits in den Jahren davor nahmen die Endverbraucherkosten für Produkte des täglichen Bedarfs um durchschnittlich 80% zu, während die Löhne nur um etwa 50% stiegen (vgl. David W. Throup: Economic & Social Origins of Mau Mau 1945-53 (Eastern African Studies 3). London/Nairobi 1987, S. 189. christlichen Glaubens widersprach dem spirituellen Selbstverständnis der Kikuyu aber fundamental.59 Als besonders brisantes Thema erwies sich die weibliche Beschneidung. Diese war für die Kikuyu unabdingbarer Teil des Initiationsritus, also der rituellen Aufnahme von Jugendlichen in den Kreis der Erwachsenen. Von den christlichen Missionen wurde die Praktik hingegen nicht toleriert. Mit dem Ziel, die Kikuyu zur Aufgabe ihrer kulturellen Eigenheiten zu bewegen, verweigerte man beschnittenen Mädchen schließlich den Zugang zu den weit verbreiteten Missionsschulen. Damit war Vielen die Möglichkeit genommen, aus der strukturellen Benachteiligung der Briten wenigstens durch Bildung zu entkommen.60
2.2. Formierung von Widerstand und der Weg in den Krieg
Sowohl in politischer, ökonomischer als auch kultureller Hinsicht gerieten die Kikuyu durch die Kolonialherrschaft der Briten also in existentielle Bedrängnis. Kein Wunder also, dass sich innerhalb ihrer Reihen zunehmend Widerstand bildete. Dieser Prozess begann bereits in den 1920er Jahren, als sich die Mitglieder des Stammes in der Kikuyu Central Association (KCA), einer Partei mit höchst regierungskritischer Ausrichtung, formierten.61 Ihr Gegenstück bildeten die Local Native Councils, die sich eher an loyale Kikuyu richteten und von den Verantwortlichen daher als einzig zulässige Repräsentanten der afrikanischen Bevölkerung betrachtet wurden.62 Indem die Kolonialregierung die KCA im Jahr 1940 aber verbot, delegitimierte man gleichzeitig jegliche Form moderaten Widerspruchs. Erst vier Jahre später wurde gemäßigten Oppositionellen mit der Gründung der Kenya African Union (KAU) wieder eine politische Heimat geboten. Den Parteivorsitz übernahm 1947 Jomo Kenyatta, der die KCA bis zu deren Verbot in London vertrat und bereits in den 1930er Jahren durch politische Schriften auf sich aufmerksam machte.63 Vorrangige Ziele Kenyattas war es, die bestehenden rassischen Siehe für einen genaueren Blick auf die Entwicklung der kenianischen Parteienlandschaft: Bethwell A. Ogot: Mau Mau & Nationhood. The Untold Story; in: E.S. Atieno Odhiambo/John Londsdale (Hrsg.): Mau Mau & Nationhood. Arms, Authority & Narration (Eastern African Studies). Nairobi/Athens (USA), S. 8-36, hier S. 11-16. Bereits in seinem 1938 erschienenen Werk Facing Mount Kenya kritisierte Kenyatta die Unterdrückung der Kikuyu mit deutlichen Worten: „Along with his land [the Europeans] rob him of his government, condemn his religious ideas, and ignore his fundamental conceptions of justice and morals, all in the name of civilization and progress. […] [The African] realizes that he must fight unceasingly for his own complete emancipation; for without this he is doomed to remain the prey of rival imperialism.” (Jomo Kenyatta: Facing Mount Kenya. The Tribal Life of the Gikuyu. With an Introduction by B. Malinowski. London 1938, S. 318. Grenzen innerhalb Kenias abzubauen und den Kikuyu so einen gleichberechtigten Zugang zur wirtschaftlichen Prosperität des Landes zu ermöglichen.64 Alle Versuche, die britische Administration zur Umsetzung der lange geforderten Reformen zu drängen, scheiterten jedoch. Zu groß war der Einfluss der Interessenverbände weißer Siedler, zu klein der Wille an einer tatsächlichen Umsetzung des propagierten Racial Partnership. Mit der kontinuierlichen Zuspitzung der Probleme und dem Misserfolg der KAU verzagten bei vielen jungen Kikuyu auch die Hoffnungen auf eine verfassungskonforme Lösung der Probleme.65 Sie entwickelten deutlich radikalere Denkmuster und bewerteten die Anwendung von Gewalt zunehmend als probates Mittel zur Erreichung ihrer Ziele.66 Vor allem die kenianische Hauptstadt Nairobi entwickelte sich zum Sammelbecken für extremistische Gruppierungen.67
Um eine Massenmobilisierung zu erreichen und möglichst viele Kikuyu auf den kollektiven Widerstand einzuschwören, nutzten die Verbände zunehmend gemeinsam abgehaltene Eide.68 Schon 1943 ließen Stammesmitglieder im westkenianischen Olenguruone-Distrikt die uralte Kikuyu-Tradition wiederaufleben, in Krisenzeiten Schwurzeremonien abzuhalten. Ursprünglich sollte das gemeinsame Ablegen eines Eides den Zusammenhalt der Männer vor Stammeskriegen oder inneren Konflikten garantieren; nun aber richtete sich die Praktik gegen die europäischen Machthaber und stand auch Frauen und Kindern offen.69 Bedingt durch die große Unzufriedenheit innerhalb der afrikanischen Bevölkerung verbreiteten sich die Schwurzeremonien wie ein Lauffeuer durch Kenia. 1948 war die Bewegung schließlich unter dem Namen Mau Mau bekannt.70 Aufgrund der Vielfältigkeit der Schwüre ist es generell schwierig, ein einheitliches Bild der Praktik zu zeichnen.71 Klar ist aber, dass der Inhalt der Eide – und damit letztlich auch die Bewegung an sich – mit der Zeit immer radikaler wurde. Ging es 1947 in einem der üblichen Schwüre etwa noch um das Bezahlen von Mitgliedsgebühren oder den Verkauf von Land an die weißen Siedler, hatte eine abgewandelte Version des Schwures aus dem Jahr 1950 bereits einen deutlich militanteren Charakter.72 So heißt es dort: „If I am sent to bring in the head of my enemy and I fail to do so, may this oath kill me. If I fail to steal anything I can from the European may this oath kill me. If I know an enemy to our organization and I fail to report him to my leader, may this oath kill me. […] If I refuse to help in driving the Europeans from this country, Da die Schwurtradition tief in der Kultur der Kikuyu verwurzelt war, stellten die Eide ein nicht zu unterschätzendes Druckmittel dar. Stammesmitgliedern, die den Eid nicht ablegen wollten, warfen die Mitglieder der Mau Mau vor, insgeheim auf Seiten der Regierung zu stehen. Ihr Beitritt in die Organisation wurde – oft auch unter Ausübung von Gewalt– regelrecht erzwungen.73 Begleitet wurden die Zeremonien von tribalistischen Ritualen, die teils einen abnormen sexuellen Charakter hatten.74 So existieren Berichte, nach denen die Anhänger zur Erreichung des Kriegerrangs etwa ihren Penis in den Hals einer toten Ziege stecken mussten.75 Insgesamt dürfen die Mau Mau aber nicht als einheitliche Organisation gesehen werden, denn es mangelte ihnen an einer einflussreichen zentralen Führung und einem klar formulierten, überregionalem Programm.76 Generell handelte es sich bei der Bewegung um eine äußerst heterogene Gruppierung, die letztlich vor allem durch ihre Verbundenheit zur Kikuyu-Kultur und Gegnerschaft zum britischen Imperialismus zusammengehalten wurde. Die Anhänger der Mau Mau definierten sich dementsprechend eher über ihre gemeinsame Abstammung als über nationale Zugehörigkeit.77 Die Bewegung lässt sich somit nicht als klassisch-nationalistisch beschreiben, denn vor allem anfangs war die Etablierung einer ethnisch diversen Nation Kenia keineswegs ein erklärtes Ziel der Mau Mau. Ihre Pläne, die sich anhand der zahlreich überlieferten Schwüre, Lieder und Erinnerungen herauslesen lassen, drehten sich vielmehr um die Rückgewinnung des von den Europäern besetzten Landes und die Vertreibung der britischen may this oath kill me.” Siehe für die kompletten Versionen der beiden Schwüre: Grob-Fitzgibbon, Endgame, S. 214f. In der Kultur der Kikuyu sollte die klare Überschreitung sexueller und psychologischer Grenzen die Bedeutung des abgelegten Eides betonen. So heißt es im autobiographischen Werk des ehemaligen Mau Mau-Anhängers Karari Njama: „[T]he sexual acts or symbols performed or invoked while swearing an oath were calculated violations of acknowledged taboos designed, in both traditional and modern usage, to revolt and inspire awe and fear in the initiates or accused. […] [T]he more vile or repulsive were the acts performed while swearing an oath […] the stronger and more binding did such an oath become” (Donald L. Barnett/Karari Njama: Mau Mau from Within. Autobiography and Analysis of Kenya´s Peasant Revolt. Letchworth/London 1966, S. 126). Vgl. Maloba, Mau Mau, S. 102. Allerdings stellt diese Art des Eides eine noch vergleichsweise harmlose Form begleitender Rituale dar. Berichten zufolge gab es innerhalb der Mau Mau acht Stufen des Eides. Auf Stufe fünf mussten Teile eines menschlichen Gehirns gegessen werden, auf Stufe acht musste schließlich menschlicher Urin getrunken werden (vgl. ebd. S. 106).
Mit dem Ziel, die verschiedenen Teilströmungen der Mau Mau nicht nur oberflächlich durch Schwüre, sondern auch durch eine gemeinsame Administration zu vereinigen, wurde schließlich das Central Committee ins Leben gerufen. Es sollte den Widerstand zentral organisieren und dafür zum Beispiel Waffen und Geldmittel beschaffen (vgl. Klose, Menschenrechte, S. 86). Dass die angestrebte zentrale Führung aber letztlich kaum faktische Macht hatte, liegt nicht zuletzt an der kaum überschaubaren Menge an Personen, die etwa bei der Durchführung von Eideszeremonien oder beim Sammeln von Spenden mitmischten. Zudem waren viele Anführer der Mau Mau Analphabeten. Dementsprechend war eine zentrale Koordination aller Beteiligten durch Telegramme, Briefe o.Ä. unmöglich, sodass die Organisation letztlich auf dem Prinzip von Mündlichkeit und gegenseitigem Vertrauen basierte (vgl. Maloba, Mau Mau, S. 64). Vgl. Speitkamp, Krieg, S. 202f. Machthaber aus Ostafrika.78 Je nach Region konnten zusätzliche Forderungen, wie etwa die Erhöhung der Löhne, hinzutreten.79 Der von Wilfried Speitkamp verwendete Begriff des „ethnischen Nationalismus“ beschreibt den Charakter der Bewegung wohl am treffendsten.80 Ab dem Jahr 1952 radikalisierte sich das Vorgehen, mit dem die Mau Mau ihre politischen Ziele erreichen wollte, zusehends. Es kam zu einer Kampagne gezielter Attentate, die sich gegen vermeintliche oder tatsächliche Unterstützer der Kolonialregierung richteten. Mit der Ermordung des Senior Chiefs Waruhiu am 9. Oktober 1952 gelangte die Anschlagsserie schließlich an einen Punkt, der das Colonial Office zum Handeln zwang.81 Elf Tage später rief der erst kürzlich ins Amt gekommene Gouverneur Sir Evelyn Baring den Notstand aus. Damit war die Regierung handlungsfähig, sodass noch am selben Tag die erste Militäroperation der Briten, genannt Jock Scott, in die Wege geleitet wurde. Durch die Festsetzung von insgesamt 187 KAU-Politikern und vermuteten Strippenziehern hinter der Mau Mau-Bewegung – darunter auch Kenyatta – erhoffte sich Baring, die Revolte noch im Keim ersticken zu können.82 Die Verhaftung der Anführer trug allerdings damit nicht zur Beruhigung der Gemüter bei, sondern ist eher mit einem Stich ins Bienennest vergleichbar: Anstatt die Aktivitäten der Mau Mau damit einzudämmen, nahmen ihre Gewalttaten sogar noch zu.83 Gleichzeitig entledigten sich die Briten durch den Schritt selbst zahlreicher moderater Verhandlungspartner, welche eine weitere Mobilisierung der übrigen Mau Mau-Rebellen noch hätten verhindern können.84 Noch radikalere Führungspersonen übernahmen nun die Leitung und stellten Kampfverbände zusammen – der Weg in den Krieg war frei.85
[...]
1 Vgl. David Anderson: Surrogates of the State, in: George Kassimeris (Hrsg.): The Barbarization of Warfare. New York 2006, S. 159-174, hier S. 160.
2 Vgl. Speitkamp, Krieg, S. 194 bzw. 204.
3 Ebd. S. 214f.
4 Vgl. Speitkamp, Krieg, S. 194.
5 Die hier zitierten 10.000 Opfer sind als absolute Mindestanzahl zu verstehen.
6 Vgl. Speitkamp, Krieg, S. 194f bzw. 204; sowie: Anderson, Surrogates, S. 159.
7 Vgl. Speitkamp, Krieg, S. 205.
8 Tully, Colony, S. 68.
9 Tully, Colony, S. 68.
10 Tully, Colony, S. 68.
11 Tully, Colony, S. 68.
12 Tully, Colony, S. 68.
13 Tully, Colony, S. 68.
14 Tully, Colony, S. 68.
15 Tully, Colony, S. 68.
16 Tully, Colony, S. 68.
17 Vgl. Roy Greensdale: Press Gang. How Newspapers make Profit from Propaganda. London 2003, S. 77; bzw: David Ayerst. The Manchester Guardian.
18 Biography of a Newspaper. New York 1971, S. 564f.
19 Wenngleich im hier relevanten Zeitraum zwischen 1952 und 1959 gleich drei konservative Regierungen an der Macht waren, so blieben die internen Vorgänge, militärischen Ziele sowie Haltungen zur Mau Mau-Bewegung in dem Zeitraum relativ konstant.
20 Klare Zäsuren lassen sich nicht identifizieren. Dies mag zum einen damit zusammenhängen, dass die kritischste Phase der britischen Counterinsurgency in den Jahren 1952-1955 – und damit noch gänzlich während der Regierungszeit von Churchill – stattfand.
21 Zum anderen übten in den sieben Jahren nur zwei Personen das Amt des Colonial Secretary aus, sodass auch nur zwei Personen die Handlungen in Kenia offiziell vertreten mussten. Dabei handelte es sich um Oliver Lyttelton, der das Amt bis Juli 1954 bekleidete, und Alan Lennox-Boyd, der bis Oktober 1959 übernahm.
22 Da die Regierungshaltung zur Mau Mau-Bewegung zumindest nach außen hin recht beständig blieb, wird bei Begriffen, die sich auf die drei Tory-Regierungen der 50er Jahre beziehen, nicht spezifisch unterschieden. Worte wie „Regierung“ oder „Verantwortliche“ meinen daher stets die jeweils bekannten oder unbekannten Amtsträger, welche die Geschicke in London und Nairobi leiteten.
23 Dies zeigt auch die quantitative Analyse der veröffentlichten Artikel zum Themenkomplex „Mau Mau“ (siehe Kapitel 7).
24 Beispiele für solcherlei Arbeiten sind etwa die Veröffentlichung von Louis S. B. Leakey: Defeating Mau Mau. London 1954; oder der zunächst für den internen Regierungsgebrauch bestimmte Bericht von F. D. Corfield: Historical Survey of the Origins and the Growth of Mau Mau. London 1960.
25 Vgl. Speitkamp, Krieg, S. 206.
26 Vgl. Elkins, Reckoning, S. 1f.
27 Vgl. Speitkamp, Krieg, S. 197.
28 Vgl. Fabian Klose: Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt. Die Dekolonisierungskriege in Kenia und
29 Vgl. Jürgen Osterhammel/Jan C. Jansen: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. München 72012,
30 S. 112-115; bzw: Elkins, Reckoning, S. 5-7.
31 Vgl. Klose, Menschenrechte, S. 63-73.
32 Vgl. Speitkamp, Krieg, S. 196-201.
33 Vgl. Klose, Menschenrechte, S. 70.
34 Zitiert nach: Mark Curtis: Web of Deceit. Britain´s Real Role in the World. With a Foreword by John Pilger. London
35 2003, S. 320f.
36 Vgl. Speitkamp, Krieg, S. 197f.
37 Vgl. ebd.
38 Vgl. Kenneth R. Curtis: Indirect Rule, in: James S. Olson/Robert Shadle (Hrsg): Historical Dictionary of the British
39 Empire. Bd. 1. A-J. Westport/London 1996, S. 569f; bzw: Speitkamp, Krieg, S. 198.
40 Vgl. Speitkamp, Krieg, S. 198f.
41 Vgl. ebd. S. 199.
42 Vgl. ebd. S. 199.
43 Vgl. ebd. S. 199.
44 Vgl. Maloba, Mau Mau, S. 26; bzw: Caroline Elkins: Race, Citizenship and Governance. Settler Tyranny and the End of Empire, in: Dies./Susan Pedersen (Hrsg.): Settler Colonialism in the Twentieth Century. Projects, Practices, Legacies. New York/Abingdon 2005, S. 203-222, hier S. 208-211.
45 Vgl. Dane Kennedy: Constructing the Colonial Myth of Mau Mau, in: The International Journal of African Historical Studies 25/2 (1992), S. 241-260, hier 245-247; bzw: David Anderson: Histories of the Hanged. Britain´s Dirty War in Kenya and the End of Empire. London 2005, S. 95f.
46 Vgl. Klose, Menschenrechte, S. 80.
47 Vgl. ebd. S. 80 bzw. 82f.
48 Vgl. ebd. S. 81.
49 So betrug der durchschnittliche Monatslohn eines Squatters im Jahr 1950 lediglich 11 Schilling. 1946 bewertete der Labour Commissioner Kenias noch 12 Schilling pro Monat als absolutes Minimum für eine Existenz in der Kolonie (vgl. Maughan-Brown, Land, S. 34).
50 Vgl. ebd. Die Steuerreform umfasste unter anderem eine Kopf- und Hüttensteuer (vgl. Klose, Menschenrechte, S. 80).
51 Vgl. Speitkamp, Krieg, S. 197; bzw: Klose, Menschenrechte, S. 84.
52 Vgl. Elkins, Reckoning, S. 24.
53 Vgl. Klose, Menschenrechte, S. 83; bzw: Grob-Fitzgibbon, Endgame. S. 212f.
54 Vgl. Klose, Menschenrechte, S. 82f.
55 Vgl. Greet Kershaw: Mau Mau from Below. Oxford 1997, S. 213f.
56 Vgl. Klose, Menschenrechte, S. 83.
57 Vgl. ebd. S. 83f.
58 Vgl. Grob-Fitzgibbon, Endgame, S. 211; bzw. Speitkamp, Krieg, S. 199.
59 Vgl. Speitkamp, Krieg, S. 199.
60 Vgl. Grob-Fitzgibbon, Endgame, S. 212f.
61 Vgl. Kenneth R. Curtis: Jomo Kenyatta, in: James S. Olson/Robert Shadle (Hrsg): Historical Dictionary of the British
62 Empire. Bd. 2. K-Z.Westport/London 1996, S. 620f; bzw: Klose, Menschenrechte, S. 85.
63 Vgl. Klose, Menschenrechte, S. 85.
64 Siehe für genauere Erläuterungen der sozialen Zusammensetzung der Mau Mau: Maughan-Brown, Land, S. 41-46.
65 Vgl. Klose, Menschenrechte, S. 85f; bzw: Maughan-Brown, Land, S. 32.
66 Vgl. Klose, Menschenrechte, S. 86.
67 Vgl. ebd.
68 Vgl. Elkins, Reckoning, S. 25.
69 Zu Hinweisen über den etymologischen Ursprung des Namens siehe Fußnote 4.
70 Vgl. Grob-Fitzgibbon, Endgame, S. 214.
71 Vgl. Maloba, Mau Mau, S. 65; bzw: Elkins, Reckoning, S. 25-27.
72 Vgl. Maughan-Brown, Land, S. 46; bzw: Speitkamp, Krieg, S. 202f.
73 Vgl. Speitkamp, Krieg, S. 202f.
74 Ebd. S. 203.
75 Vgl. Elkins, Reckoning, S. 31f; bzw: Klose, Menschenrechte, S. 89.
76 Vgl. Maloba, Mau Mau, S. 77; bzw: Klose, Menschenrechte, S. 89.
77 Vgl. Susan L. Carruthers: Winning Hearts and Minds. British Governments, the Media and Colonial
78 Counter-Insurgency 1944-1960. London/New York 1995, S. 134; sowie: Maloba, Mau Mau, S. 77.
79 Vgl. Klose, Menschenrechte, S. 89f.
80 Vgl. Klose, Menschenrechte, S. 89f.
81 Vgl. Klose, Menschenrechte, S. 89f.
82 Vgl. Klose, Menschenrechte, S. 89f.
83 Vgl. ebd. S. 90.
84 Vgl. ebd. S. 90.
85 Vgl. ebd. S. 90.
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