In seinen Confessiones artikuliert Augustinus das Auseinanderdriften der klassisch-antiken Kongruenz von Wissen und Praxis vor allem in Form persönlicher Erfahrungen und führt damit eine Unterscheidung von Willens- und Handlungsfreiheit ein. Zwischen Vernunft und Praxis siedelt er eine weitere zentrale Instanz an: den freien Willen des Menschen, welcher allein in seiner Macht stehe. Damit stellt er auch die Sünde in die ausschließliche Verantwortung des Menschen und kann Gott weiterhin als den Schöpfer alles Guten, zu dem der freie Wille folglich ebenfalls gehört, erhalten. Wie aber kommt es, dass dieses Gut zugleich die Quelle allen Übels sein kann? Die Antworten, die Augustinus darauf gibt, werden in diesem Essay skizziert, wobei zuerst seine Bestimmung des Bösen sowie anschließend sein Konzept der menschlichen Freiheit problematisiert werden.
Der zerrissene Wille und die versöhnende Macht der Gnade:
Augustinus' Konzept der Willensfreiheit innerhalb der Grenzen des
christlichen Glaubens
Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will.
Röm 7,19
Was Paulus im obigen Zitat anspricht, gehört auch zu den zentralen Problemen augustinischer Schriften[1]: Wie kommt es, dass Menschen Böses tun? Wenn alles Sein, die gesamte Schöpfung, von Gott geschaffen ist, und Gott nur Gutes hervorbringt - wie lässt sich dann das Vorhandensein des Bösen, der menschlichen Sünde erklären? Zugleich impliziert Röm 7,19 eine Kluft zwischen Wissen im Sinne des richtigen Urteils bezüglich dessen, was gut und böse ist, und dem faktischen Handeln, das diesem richtigen und vorhandenen Wissen nicht zu folgen vermag. Dieses Auseinanderdriften der klassisch-antiken Kongruenz von Wissen und Praxis artikuliert Augustinus vor allem in Form seiner persönlichen Erfahrungen in den Confessiones und führt damit eine Unterscheidung von Willens- und Handlungsfreiheit ein. Zeugte für Sokrates falsches Handeln noch von einem ihm vorhergegangenen falschen Urteil, denn niemand wolle schließlich das Böse, da jeder wisse, dass es schadet, und niemand sich freiwillig Schaden zufüge, so reiht sich für Augustinus eine weitere Instanz zwischen Vernunft und Tun: der freie Wille des Menschen, welcher allein in seiner Macht steht. Damit stellt er auch die Sünde in die ausschließliche Verantwortung des Menschen und kann Gott weiterhin als den Schöpfer alles Guten, zu dem der freie Wille folglich ebenfalls gehört, erhalten. Wie aber kommt es, dass dieses Gut - als Gut, zugleich die Quelle allen Übels sein kann? Die Antworten, die Augustinus darauf gibt, sollen im Folgenden skizziert werden, wobei zuerst seine Bestimmung des Bösen sowie anschließend sein Konzept der menschlichen Freiheit problematisiert werden.
Um Augustinus' Argumentationsgang nachzuvollziehen, erscheint es an dieser Stelle sinnvoll, sich zunächst vor Augen zu führen, wovon er sich abgrenzt und an welche Denkströmungen er stattdessen anknüpft. Bei der Bestimmung des Bösen stellt sich die Ausgangsfrage, ob, und wenn ja, wie es das Böse überhaupt geben kann, wenn alles Bestehende sein Dasein Gott als dem Schöpfer des ausschließlich Guten verdankt. Bereits diese Qualifizierung der Schöpfung als allumfassend und ohne Ausnahme gut wendet sich gegen die manichäische Ansicht, das Böse sei ein selbständiger Antagonist des Guten. Vielmehr definiert Augustinus das Böse, in Anknüpfung an Plotin, als Wegnahme, Privation des Guten, die somit weder an sich sein noch einem distinkten Bereich der geschaffenen Dinge als Eigenschaft zukommen kann. Die entscheidende Differenz in Augustinus' Ontologie besteht damit auch nicht etwa zwischen gut und böse, sondern zwischen gut und nichts, woraus resultiert, dass zwar das Seiende mit dem Guten verschmilzt, nicht aber das Nichts mit dem Bösen.
In einem zweiten Schritt kann Augustinus nun das Böse anthropologisch verankern: Nicht der Materie oder dem Nichts an sich ist es zuzuschreiben, sondern liegt allein in der menschlichen Abwendung vom Guten und Hinwendung zum Nichts, im willentlichen Abfall von Gott begründet. Dies eröffnet den zweiten Problemhorizont: Wie ist dieser willentliche Abfall vom Guten möglich, wenn doch der freie Wille, immer vorausgesetzt, er ist dem Menschen von Gott verliehen worden, augenscheinlich an sich nicht schlecht bzw. zum Bösen inkliniert sein kann? Augustinus beantwortet diese Frage in erster Linie, indem er die Einheitlichkeit des Willens zersplittert[2]: Der (freie) Wille, den zugunsten eines Fatums aufzugeben unannehmbar wäre, setzt sich aus dem liberum arbitrium als dem autonomen Urteilsvermögen einerseits, der voluntas als einem faktisch bestehenden Streben andererseits zusammen. Was alleinig vollständig in unserer Machts steht, ist das liberum arbitrium, vermöge dessen wir zum Sein wie zu unserem eigenen Handeln Stellung nehmen können. Hier siedelt sich «das Gute, das ich will» an. Die auf ein bestimmtes Objekt gerichtete Strebensdisposition hingegen ist infolge des Sündenfalls zum Abfall von den höchsten Gütern inkliniert und affiziert damit potentiell die handlungsrelevante Macht des liberum arbitrium, das jedoch prinzipiell autonom bleibt. Der Sündenfall enthebt uns also keinesfalls der Eigenverantwortlichkeit für unser Handeln, sondern erfüllt vielmehr die Funktion, faktische Willensschwäche zu erklären. Um diese zu überwinden, bedarf es nun der göttlichen Gnade - denn nur durch diese, wie sie in Christus offenbart wurde, vermag der Mensch, seinen guten Willen in die Tat umzusetzen, d. h. wirklich tugendhaft zu leben, indem er seinen Willen unter den Willen Gottes stellt. In Verbindung mit diesem Ziel, dem tugendgemäßen Leben nach den Geboten Gottes, stellt Augustinus eine Güterhierarchie auf, deren Maßstab eben die Ermöglichung der rechten Lebensführung ist: Als dafür unabdingbar schreiten die Tugenden voran, gefolgt von den Fähigkeiten des Geistes als den mittleren Gütern, zu welchen auch der freie Wille gehört, das Schlusslicht bilden die äußerlich-physischen Güter. Als Gaben Gottes ist diese Triade zwar an sich, wie die gesamte Schöpfung, gut; während die Tugenden es auch unter allen Umständen bleiben, können laut Augustinus die unteren beiden allerdings auch missbraucht werden, ihrer ursprünglichen und eigentlichen Bestimmung entgegengerichtet werden. So ist auch der freie Wille zwar von Gott verliehen worden, um das rechte Leben zu ermöglichen - denn ohne Willentlichkeit gäbe es keine Möglichkeit, sich bewusst zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden, keine Verantwortlichkeit und somit auch nicht das Rechte als solches. Als mittleres Gut kann es aber auch missbraucht werden, indem es sich statt Gott, den Tugenden, der Wahrheit oder allgemein gefasst «einem unwandelbaren, allgemeinen, uneigenen Gut»[3], den niederen Gütern zuwendet. Die rein faktische, äußerliche Unterwerfung unter den Willen Gottes reicht folglich nicht aus, um sich vom Bösen ab- und dem Guten zuzukehren, es bedarf vielmehr meiner freien Zustimmung. Erst wenn ich mich damit identifizieren kann, wenn ich davon überzeugt bin, dass mein Gutes in Gottes Willen aufgehoben ist und die Unterwerfung meines Willens unter den guten Willen Gottes zugleich Freiheit bedeutet, Freiheit vom Bösen allgemein und von den versklavenden Begierden insbesondere, kann von einer wirklichen Unterwerfung meines Willens überhaupt gesprochen werden.[4] Freiheit wird in diesem Zusammenhang also in erster Linie negativ definiert als Befreiung von Sünden, vom Bösen, von den flüchtigen Reizen des Lebens etc. Als Entscheidungsfreiheit ist sie indes so frei nicht, denn letzten Endes ist die Hinwendung zu Gott eine durch Gottes Gnade ermöglichte Rückkehr des «verlorenen Sohnes»[5], die als natürliche und eigentliche Ausrichtung des menschlichen Willens infolge seines Sündenfalls verloren gegangen ist und welche es nun wiederzufinden gilt. Dass das richtige Gesetz, die Ausrichtung auf das Gute, letztlich also auf Gott, «in die Herzen der Menschen eingegraben ist», sagt Augustinus denn auch expressis verbis im Zusammenhang mit dem Erlebnis des Birnendiebstahls in seiner Jugend.[6] Sich gegen dieses Gesetz aufzulehnen, bedeutet zugleich, einer illegitimen, pervertierten Freiheit nachzujagen, sich gottgleich-eigengesetzgeberisch zu wähnen, «Gott nachzuäffen». Laster sieht Augustinus also als hybride menschliche Derivationen des Göttlichen, die eben deshalb Gott zugleich bestätigen.
Zusammenfassend ließe sich Augustinus' Konzeption des freien (?) Willens anhand seines Bekehrungserlebnisses[7] veranschaulichen, in dem vor allem die Zerrissenheit des menschlichen Willens und ihr Angewiesensein auf die Gnade Gottes deutlich wird: Er ringt mit sich selbst, wird von Gott teilweise mit Gewalt dazu gezwungen, sich selbst anzuschauen, sich zu vergägenwärtigen, wie er in all den Jahren zuvor die völlige Zuwendung zu Gott hinausgeschoben hat, sich hinter der Ausrede, er wolle sich der Wahrheit des Wortes Gottes erst vollständig sicher werden, bevor er sich von den irdischen Gelüsten befreien kann, um sein Leben Gott allein widmen zu können, nur versteckt hat. Obwohl er diese Sicherheit nun erlangt hat, vermag sein neuer Wille sich nicht durchzusetzen: Eine Fessel aus verkehrtem (alten) Willen, Begierde, Gewohnheit und Notwendigkeit hält ihn gefangen; der Wille ist in sich gespalten[8] ; gegen die Macht der Gewohnheit, die aus jahrzehntelanger falscher Ausrichtung des Willens, immer wieder gewählten falschen Handlungen erwachsen ist, gegen die ursprünglich willentlich initiierte und sich verfestigte Disposition[9], vermag der neue Wille von sich aus nicht erfolgreich anzukämpfen.[10] Das Ideal der Enthaltsamkeit, um das er gerungen hat, vermag er von sich aus nicht gänzlich zu verinnerlichen: Er muss sich zunächst fallen lassen, sich Gott vollkommen anvertrauen und überlassen, denn auch die Enthaltsamkeit ist letztlich eine Gnadengabe Gottes. Bezeichnend ist an dieser Umkehrszene, dass sie unter einem Feigenbaum stattfindet, welcher die Situation des sündigen Menschen vor Gott versinnbildlicht.[11] Nach dieser Überantwortung seiner selbst an Gott nun hört er eine Kinderstimme, die «Nimm und lies, nimm und lies!» ruft und welche er als Aufforderung Gottes interpretiert, und die zufällig aufgeschlagene Stelle im Römerbrief[12] gibt ihm die letzte Sicherheit, Unbesorgtheit und Geborgenheit, weil diese ihm von Gott gewährt wurde. So hebt also schließlich Gottes Wille den Widerstreit im Innern Augustinus' dialektisch auf: «Für Menschen ist das unmöglich, für Gott aber ist alles möglich» (Mt 19,26).[13]
Literatur
Augustinus, Aurelius: Der freie Wille, Übers. Carl Johann Perl, Paderborn 1947.
Ders.: Des Heiligen Augustinus Bekenntnisse, übertragen und eingeleitet von Hubert Schiel, Freiburg 1959.
Peetz, Siegbert: Augustin über die menschliche Freiheit, in: Christoph Horn (Hrsg.): Augustinus, De civitate dei, Berlin 1997, S. 63-86.
Van Fleteren, Frederick: Confessiones 2. Prolegomena zu einer Psychologie und Metaphysik des Bösen, in: Norbert Fischer/Cornelius Mayer (Hrsg.): Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretationen zu den 13 Büchern, Freiburg 1998/2004, S. 107-132.
Van Hooff, Anton: Confessiones 8. Die Dialektik der Umkehr, in: ebd., S. 343-388.
[...]
[1] In den folgenden Textstellenangaben verwende ich als Abkürzungen lib.arb. für De libero arbitrio sowie conf. für Confessiones.
[2] Vgl. hierzu Peetz, Siegbert: Augustin über die menschliche Freiheit, in: Christoph Horn (Hrsg.): Augustinus,
De civitate dei, Berlin 1997, S. 63-86.
[3] Lib.arb. II 51.
[4] Ist der eigene Wille auf das Höhere hin ausgerichtet, folgen ihm die platonischen Kardinaltugenden quasi auf dem Fuße: Guter Wille ist für Augustinus ohne Klugheit, Tapferkeit, Mäßigkeit und Gerechtigkeit nicht denkbar. Vgl. lib.arb. I 27.
[5] Vgl. z. B. conf. II 2: «ich entfernte mich immer weiter und weiter von dir, immer mehr und mehr in jene unfruchtbare Saat» und conf. II 4: «von der Grundfeste sich losreißend» bzw. in der Übersetzung von Otto F. Lachmann: «ich liebte meinen Abfall (von dir), nicht das Objekt meines Abfalls, sondern meinen Abfall selbst: schändliche Seele, die sich, von deiner Himmelsfeste trennend, selbst verbannt [...]» (Hervorhebungen von mir, T F.). Zum Gleichnis vom verlorenen Sohn s. Luc 15,11-32. Frappierend ist außerdem, dass hier wie dort Schweine auftreten.
[6] Vgl. conf. II 4. Zugrunde liegt dieser Äußerung vermutlich Röm 2, 14 f.: «Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, daß ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab[...].»
[7] Vgl. conf. VIII.
[8] Augustinus weist auch hier entschieden alle 'manichäistischen' Deutungen zurück, vgl. conf. VIII 10.
[9] Was Aristoteles noch für beinahe unmöglich gehalten hat, nämlich die Umkehrung der einst sich verfestigten Grundhaltung, wird bei Augustinus durch die Gnade Gottes vollzogen.
[10] In diesem Kapitel findet sich auch die Erbsünde wieder, aus der jeglicher Zwiespalt der menschlichen Seele resultiert, der als Strafe verstanden wird: «Woher stammt diese Unnatur? Und warum? Deine Barmherzigkeit erleuchte mir, und ich will fragen, ob die verborgensten Strafgerichte und die finstersten Zerknirschungen der Kinder Adams mir Antwort zu geben vermögen.», conf. VIII 9; «Und dieser Zwiespalt zeigte nicht hin auf die Natur eines fremden Geistes, sondern auf die Strafe des meinigen. Und so tue ich nun dasselbige nicht, sondern die Sünde, die in mir wohnte, durch die Strafe einer ohne Zwang begangenen Sünde, dem ich war Adams Sohn.», conf. VIII 10.
[11] Vgl. Gen 3,7 (Feigenblätter als Bedeckung Adams und Evas gleich nach ihrer ursündigen Tat), Mt 21,18-22 (Unfruchtbarkeit des Verfluchten), Io 1,48 (Jesus sieht Natanäel unter dem Feigenbaum).
[12] Röm 13,13 f.: «Laßt uns ehrenhaft leben wie am Tag, ohne maßloses Essen und Trinken, ohne Unzucht und Ausschweifung, ohne Streit und Eigersucht. Legt (als neues Gewand) den Herrn Jesus Christus an, und sorgt nicht so für euren Leib, daß die Begierden erwachen.»
[13] Vor diesem Hintergrund verschiebt sich auch die Frage nach der Vereinbarkeit von freiem Willen des Menschen und Gottes Vorsehung, aber dieses Thema kann im Rahmen dieses Essays leider nicht diskutiert werden, es verdiente eine eigenständige Diskussion.
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- Tatjana Fabrizius (Author), 2007, Der zerrissene Wille und die versöhnende Macht der Gnade, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88441