„Wenn man [...] vorhersagen will, ob ein Kind eher viel oder eher wenig liest, bleibt das Geschlecht einer der zuverlässigsten Prädiktoren.“
Von den 15jährigen Jungen, die in Deutschland an der PISA-Studie teil-nahmen, gaben 51,8% an, nur zu lesen, wenn sie müssten. Von den Mäd-chen sagten dies nur 26,4%. Schon frühere Untersuchungen ergaben: Mädchen lesen mehr, länger und lieber als Jungen.
Auch der Deutschunterricht in der Schule liegt den Mädchen mehr als den Jungen. Wesentlich weniger Jungen als Mädchen äußern, dass ihnen der Deutschunterricht Spaß macht.
Möglicherweise ziehen Jungen die Anregungen für ihre Entwicklung aus anderen Quellen als Büchern. Ob Kinder, die vor allem durch das Fernsehen und kaum durch fiktionale Literatur mediensozialisiert sind, eine geringere soziale Interaktionskompetenz haben, als buchsozialisierte Kinder, ist nicht belegt.
Vielleicht ist lesen einfach nichts für Jungen.
Oder ist es vielleicht die Schule, in der das Lesen eingeübt wird, die nichts für Jungen ist? Das signifikant schlechtere Abschneiden von Jungen in der Schule, legt diese These sehr nahe.
Damit die Schule Jungen das Lesen nahe bringen kann, ist es wichtig, ihre psychische Situation zu ergründen, und so einen jungengerechten Literaturunterricht zu gestalten.
Natürlich sollte sowohl Jungen als auch Mädchen ein Unterricht angeboten werden, der sich an ihren Interessen und Bedürfnissen orientiert. Da es aber die Jungen sind, die der Schule zurzeit Probleme machen, konzentriert sich diese Arbeit ausschließlich auf die Besonderheiten von Jungen.
Inhalt
1 Einleitung
2 Literatur als Entwicklungschance
3 Jungenforschung
3.1 Anlage
3.2 Sozialisation
3.2.1 Fehlende männliche Vorbilder
3.2.2 Rollenklischees
3.2.3 Jungenbilder in der Kinder- und Jugendliteratur
4 Jungen in der Schule
4.1 Jungen als Problemgruppe
4.2 Die feminisierte Schule
4.3 Die Schule als weibliche Institution
4.4 Stärken nutzen, Schwächen fördern
4.4.1 Motorik
4.4.2 Sprache
4.4.3 Emotionen
5 Jungengerechter Literaturunterricht
5.1 Literaturauswahl
5.1.1 Auf Interessen eingehen
5.1.2 Literatur muss Freude machen
5.1.3 Jungen in ihrer Geschlechtsrolle stärken
5.2 Methodenwahl
5.2.1 Über Literatur sprechen
5.2.2 In Projekten denken
5.2.3 Vergleich und Wettbewerb
5.2.4 Leseförderung im multimedialen Kontext
5.2.5 Produktorientiertheit
5.3 Kontext
5.3.1 Literarische Geselligkeit
5.3.2 Gemütlichkeit und Atmosphäre
5.3.3 Männliche Lesevorbilder
5.4 Konsequenzen für die Praxis
5.4.1 Ein Leseclub für Jungen
5.4.2 Ein literarisches Mittagessen
5.4.3 Buchauswahl
6 Resümee
Literatur
1 Einleitung
„Wenn man [...] vorhersagen will, ob ein Kind eher viel oder eher wenig liest, bleibt das Geschlecht einer der zuverlässigsten Prädiktoren.“[1]
Von den 15jährigen Jungen, die in Deutschland an der PISA-Studie teilnahmen, gaben 51,8% an, nur zu lesen, wenn sie müssten. Von den Mädchen sagten dies nur 26,4%.[2] Schon frühere Untersuchungen ergaben: Mädchen lesen mehr, länger und lieber als Jungen.[3]
Auch der Deutschunterricht in der Schule liegt den Mädchen mehr als den Jungen. Wesentlich weniger Jungen als Mädchen äußern, dass ihnen der Deutschunterricht Spaß macht.[4]
Möglicherweise ziehen Jungen die Anregungen für ihre Entwicklung aus anderen Quellen als Büchern. Ob Kinder, die vor allem durch das Fernsehen und kaum durch fiktionale Literatur mediensozialisiert sind, eine geringere soziale Interaktionskompetenz haben, als buchsozialisierte Kinder, ist nicht belegt.[5]
Vielleicht ist lesen einfach nichts für Jungen.
Oder ist es vielleicht die Schule, in der das Lesen eingeübt wird, die nichts für Jungen ist? Das signifikant schlechtere Abschneiden von Jungen in der Schule, legt diese These sehr nahe.
Möglicherweise sind Jungen dem Lesen gar nicht so abgeneigt, wie es scheint. Vielleicht fehlen ihnen nur die passenden Zugänge. So kann das Ziel einer stabilen Lesemotivation nur dadurch erreicht werden, dass Literatur als etwas Bedeutungsvolles wahrgenommen wird, dass die Erwartungshaltung besteht, von dem Gelesenen belohnt zu werden, dass ein Bedürfnis nach Verstehen besteht, dass eigene Erfahrungen und Gefühlserlebnisse mit der Literatur verbunden werden, die durch Identifikation oder die Freude, einen Text bewältigt zu haben ausgelöst werden können, dass Lesen auch in der zwischenmenschlichen Begegnung als sinnvoll erlebt wird, und dass sie ästhetisch wahrgenommen und genossen wird. Ist dies gegeben, kann die Lesemotivation auch durch Schwierigkeiten und Frustration nicht erschüttert werden.[6]
Damit die Schule Jungen das Lesen nahe bringen kann, ist es wichtig, ihre psychische Situation zu ergründen, und so einen jungengerechten Literaturunterricht zu gestalten.
Natürlich sollte sowohl Jungen als auch Mädchen ein Unterricht angeboten werden, der sich an ihren Interessen und Bedürfnissen orientiert. Da es aber die Jungen sind, die der Schule zurzeit Probleme machen, konzentriert sich diese Arbeit ausschließlich auf die Besonderheiten von Jungen.
Zu Beginn der Arbeit führe ich Thesen auf, die die Bedeutung des Lesens herausstellen und zeigen, warum es nicht egal ist, wenn Jungen nicht lesen. Das Kapitel „Jungenforschung“ sucht in der Entwicklung von Jungen nach möglichen Ursachen dafür, warum eine Lesesozialisation bei Jungen häufig nicht glückt. Das darauf folgende Kapitel „Jungen in der Schule“ benennt die Diskrepanz zwischen jungentypischem Verhalten und den Erwartungen der Schule und gibt Anregungen dafür, wie sich die Schule besser auf Jungen einstellen könnte, wie sie ihre Stärken nutzen kann und dadurch auch das Lesen zu etwas für Jungen werden kann. Das abschließende Kapitel „Jungengerechter Literaturunterricht“ thematisiert ganz konkret, wie Literaturunterricht gestaltet werden kann, damit er Jungen erreicht.
Wenn ich in dieser Arbeit von „den Jungen“, „den Mädchen“, „den Lehrern und Lehrerinnen“ oder „der Schule“ spreche, handelt es sich um Generalisierungen, die dem Einzelfall nie gerecht werden können. Diese Generalisierungen sind aber notwendig, um die speziellen Probleme von Jungen zu beleuchten und für sie zu sensibilisieren.
2 Literatur als Entwicklungschance
Warum ist es so wichtig, dass auch Jungen lesen? Warum ist das Lesen nicht durch andere Tätigkeiten ersetzbar?
HURRELMANN sieht den Wert des Lesens in der Förderung der sprachlichen, kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Besonders die Entwicklung sozial-emotionaler Kompetenzen bindet sie dabei an die Lektüre fiktionaler Texte. Diese machten ein Angebot emotionaler Beteiligung an fremden Geschichten, wie sie durch reale Erfahrungen nicht zugänglich seien. HURRELMANN nimmt an, „... dass die Möglichkeit zur realitätsentlasteten Teilnahme an den Geschicken literarischer Figuren eine ganz entscheidende Entwicklungshilfe für das soziale Verstehen und die emotionale Entwicklung junger Leserinnen und Leser ist.“[7]
ULICH/ULICH sehen den Einfluss des Lesens auf die Persönlichkeitsentwicklung in der Entfaltung der Imaginationsfähigkeit und Entwicklung und Ausdifferenzierung emotionaler Schemata. Das Lesen diene dazu, Kinder in die „emotionale Kultur“ der Gesellschaft einzuführen.[8]
SCHÖN sieht im Lesen die Möglichkeit „soziale Interaktionskompetenzen“ einzuüben, ohne sich dabei den Gefahren der Realität auszusetzen. „In der Rezeption von Literatur kommen die gleichen Interaktionsformen zum Tragen wie in der personalen sozialen Interaktion. Die Gratifikation für den Leser besteht darin, soziale Interaktion - erfolgreich - zu praktizieren (und dabei einzuüben) in einem Rahmen, der doch offensichtlich gerade keine soziale Interaktion ist, entlastet von Zwängen, Risiken, Sanktionen etc. der realen sozialen Interaktion.“[9]
Als die kompetenteste Form der literarischen Identifikation und der sozialen Interaktion bezeichnet SCHÖN Empathie. Sie beinhalte „... die Fähigkeit zu einem kontrollierten flexiblen Umgang mit den Grenzen eigener und fremder Identität“ und erlaube es, „Fremdes in die eigene Identität aufzunehmen“[10].
Lesen kann Entlastung und Erholung bedeuten, wenn das Gelesene mit bereits Bekanntem in Verbindung gebracht wird und somit bestärkt und bestätigt. Lesen kann aber auch zur Weiterentwicklung und zum Umlernen beitragen, wenn das Gelesene dem Bekannten widerspricht und nicht so einfach mit ihm vereinbar ist und sich die Leserin oder der Leser darauf einlässt, sich diese neuen Informationen zu nutze zu machen.[11]
Lesen kann dabei helfen, „eigene Entwicklungsprobleme und Lebensthemen zu bearbeiten, über die Welt nachzudenken, sich eigener Wünsche und Einstellungen zu vergewissern... [Es kann] ästhetische Erfahrung vermitteln und auch nur einfach Freude machen“[12].
Lesen, so HURRELMANN ist die Voraussetzung für eine „soziokommunikative und personale Qualifikation“. „Informiertheit, Fähigkeit zur Weiterbildung, politisches Interesse, Kritikfähigkeit, kulturelles Gedächtnis [...,] die Fähigkeit zur Selbstreflexion, Artikulations- und Ausdrucksfähigkeit, Vorstellungsfähigkeit [und] ästhetische Genussfähigkeit“[13] bedingen sich durch Lesen.
Mit anderen Worten, wer nicht liest, dem bleiben viele Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilnahme verschlossen und viele Chancen für die persönliche Entwicklung verwehrt.
3 Jungenforschung
Bis in die sechziger Jahre gab es eine gesellschaftlich anerkannte Rollenverteilung der Geschlechter. Jungen und Mädchen wussten, was von ihnen erwartet wurde. Die in der Familie erlebten Rollenbilder konnten von den Kindern bruchlos übernommen werden. In der Familie war der Vater der unumstrittene Vorstand, in dessen Rolle Jungen hineinwachsen sollten.
Die Emanzipationsbewegung der 70er Jahre stellte dieses Modell der Rollenverteilung massiv in Frage. Jungen und Mädchen sollten wirklich gleichberechtigt erzogen werden. Jungen durften nicht mehr aggressiv sein und Mädchen nicht zurückhaltend. Grundidee war, dass der Mensch primär durch die Sozialisation geschlechtsspezifische Rollen annimmt und es keine angeborenen Verhaltensweisen gibt.
Inzwischen wird in der Gender-Forschung davon ausgegangen, dass geschlechtsspezifisches Verhalten sowohl das Produkt der Sozialisation als auch auf die Anlage zurückzuführen ist. Die Erkenntnis, dass es männliche und weibliche Eigenschaften gibt, die auf Gene und Hormone zurückzuführen sind, setzt sich immer mehr durch. Trotzdem werden wir stark von der Gesellschaft beeinflusst. Die vorhandenen Differenzen der Geschlechter, so GUGGENBÜHL, werden von Gesellschaft und Kultur „überformt“. So gibt es also ein Zusammenspiel aus Anlage und Sozialisation.[14]
3.1 Anlage
Bis zum Jugendalter verfügen Jungen über eine deutlich schlechtere körperliche und seelische Konstitution. Besonders in den ersten Lebensjahren wird deutlich, dass sie sich sehr viel schlechter an die Umwelt, außerhalb des Mutterleibes, anpassen können als Mädchen.[15] Sie lassen sich schwerer beruhigen und sind auch häufiger krank.[16]
Jungen haben 30% mehr Muskelmasse als Mädchen, was die Ursache dafür ist, dass sie körperlich aktiver sind, sich mehr bewegen wollen, raufen und toben. Dadurch haben sie einen Vorsprung in der Grobmotorik gegenüber Mädchen, was zum Beispiel beim Werfen und Fangen zum Ausdruck kommt.[17]
Die linke Gehirnhälfte wächst bei kleinen Kindern langsamer als die rechte. Bei Jungen wird dieses Phänomen noch verstärkt, weil das männliche Sexualhormon, Testosteron, das Wachstum der linken Gehirnhälfte zusätzlich verlangsamt. Das hat zur Folge, dass die Vernetzung der beiden Hirnhälften bei Jungen deutlich geringer ist als bei Mädchen. Die rechte Gehirnhälfte versucht, während sie heranwächst, Verbindungen zur linken Seite herzustellen. Die linke Gehirnhälfte ist bei kleinen Jungen aber noch nicht so weit entwickelt, dass sie diese Verbindungen eingehen kann. Das führt dazu, dass sich die Nervenzellen der Gehirnhälften untereinander verbinden. So sind bei Jungen also die Gehirnhälften reicher an internen Vernetzungen, aber ärmer an Vernetzungen zwischen den Hälften. Der Balken, der die Hirnhälften verbindet, ist bei Jungen kleiner.[18]
Bestimmte Problemstellungen werden von Jungen nur mit einer Hirnhälfte angegangen, während Mädchen dazu beide Hälften benutzen. Durch die effiziente und konzentrierte Nutzung einer Gehirnhälfte können Jungen schneller handeln und die Initiative ergreifen. Sie können sich gut auf ein einzelnes Problem konzentrieren. Mädchen fällt es dagegen leichter Informationen zu verbinden. Sie neigen dazu, Taten erst genau zu überdenken und handeln dadurch häufig überlegter, aber auch später als Jungen.[19]
Da die rechte Gehirnhälfte für Gefühle zuständig ist, die linke jedoch für die Sprache, fällt es Jungen häufig schwer, über Gefühle zu sprechen, da sie mehr Schwierigkeiten als Mädchen haben, in die linke Hälfte „hinüberzuschalten“, um dort die richtigen Worte für ihre Gefühle zu finden.[20]
Durch die starke Vernetzung innerhalb der rechten Gehirnhälfte verfügen Jungen über ausgeprägtere mathematisch-analytische Fähigkeiten und haben ein besseres räumliches Vorstellungsvermögen als Mädchen.[21] Diese haben dagegen einen Vorteil in der sprachlichen Entwicklung. Die Sprachbereiche im weiblichen Gehirn sind größer als die im männlichen. Das so genannte Splenium, das die Sprachzentren der Gehirnhälften verbindet, ist bei Frauen erheblich größer als bei Männern, woraus ihre sprachliche Überlegenheit resultiert. Dies erklärt das bessere Abschneiden der Mädchen bei sprachlichen Aufgaben und warum sie häufig früher lesen lernen als Jungen.[22]
Diese Ausführungen beschreiben eine Tendenz. Da das menschliche Gehirn extrem anpassungsfähig ist, können sich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern durch frühzeitige und gezielte Förderung nahezu aufheben.[23]
3.2 Sozialisation
Zu respektieren, dass Geschlechtseigenschaften auch anlagebedingt sind, bedeutet nicht, dass wir unseren Genen hilflos ausgeliefert sind. Es gibt einen großen Bereich, den wir beeinflussen und gestalten können und wir können uns sogar bewusst von unserer Veranlagung abgrenzen.[24]
3.2.1 Fehlende männliche Vorbilder
Die wachsende Zahl allein erziehender Mütter[25] und die immer noch weitverbreitete Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen, bei der der Vater arbeiten geht und die Mutter für den Haushalt und die Kindererziehung zuständig ist, hat zur Folge, dass vielen Jungen kein Modell zur Verfügung steht, wie „gelebtes Mannsein“ aussehen kann. Auch in Kindergarten und Grundschule haben Jungen kaum männliche Vorbilder, da dort überwiegend Frauen arbeiten.[26]
Die männliche Geschlechtsrollenidentifikation vieler Jungen vollzieht sich somit mindestens bis zum zehnten Lebensjahr in einer weitgehend feminisierten Umwelt. Da diesen Jungen keine lebendigen und erreichbaren Männer als Vorbilder zur Verfügung stehen, müssen sie diese Lücke fast zwangsläufig mit reduzierten Männlichkeitsbildern schließen. Im Fernsehen, auf Plakaten oder auch in Computerspielen werden Jungen mit Rollenerwartungen wie Unverletzbarkeit, Stärke und Coolness konfrontiert. Diese Männlichkeitsbilder bieten den Jungen jedoch keine konkreten Handlungsmöglichkeiten für ihre alltägliche Lebensbewältigung.[27]
Wenn Jungen keine männlichen Vorbilder haben, kann die männliche Geschlechtsidentität nur als Negation des Weiblichen stattfinden. Als männlich wird gesehen, was sich vom Weiblichen abgrenzt.[28]
Die ersten Lebensjahre eines Kindes sind meist stark von der Mutter geprägt. Sie ist für die Ernährung und emotionale Versorgung zuständig. Doch schon etwa ab dem dritten Lebensjahr nehmen Kinder wahr, dass es zwei unterschiedliche Geschlechter gibt. Die Jungen suchen nun nach Personen, mit denen sie sich identifizieren können. Wenn sich die Väter aber aus der Erziehung heraushalten, bleibt diese Suche vergeblich. Die zu erwerbende Männlichkeit bleibt abstrakt. Die Jungen können sich nur daran orientieren, was für sie nicht männlich, also weiblich ist. Was die Mutter vorlebt, wie zum Beispiel soziale Verantwortung, Zeigen von Gefühlen oder Kommunikation, wird dem weiblichen Geschlecht zugeordnet und somit abgelehnt. Alles was Nicht-Mann ist, kann für einen Jungen nicht richtig sein.[29]
Auch das Lesen stellt sich den Kindern in unserer Gesellschaft als weibliche Tätigkeit dar. Es sind die Mütter, die ihren Kindern vorlesen und im Prozess des Schriftspracherwerbs werden Kinder in der Grundschule fast ausschließlich von Lehrerinnen begleitet. Eine Studie zum „Leseklima in der Familie“ von Bettina HURRELMANN ergab, dass etwa 50% der Mütter gemeinsame Buchinteressen mit ihren Kindern haben und sich regelmäßig mit ihnen über Bücher unterhalten. Dies war nur bei einem Viertel der Väter der Fall. Nur 14% gaben gemeinsame Buchinteressen an.[30]
Lesen wird von Kindern somit als etwas Weibliches erlebt. Diesem Vorbild können Mädchen begeistert nacheifern. Sie eignen sich frühzeitig sprachliche Kompetenzen an und haben damit eine gute Ausgangsposition, sich in der Schule in ihrer Schriftlichkeit und im Lesen weiterzuentwickeln.[31]
Die Entwicklungsaufgabe der Jungen, in ihrer späten Kindheit und frühen Pubertät, besteht dagegen in der Loslösung von der Mutter. Um in der Welt der Männer Anerkennung zu finden, müssen sie alles Weibliche verleugnen. Lesen, und besonders das Lesen fiktionaler Literatur, was als ausschließlich weiblich wahrgenommen wird, wird von vielen Jungen daher abgelehnt oder zumindest in der Öffentlichkeit verleugnet.[32]
Diese Entwicklungsphase fällt etwa in die Zeit der dritten bis sechsten Klasse, also genau in die Zeit nach dem Erwerb der Lesefertigkeit, in der sich eine stabile Lesemotivation aufbauen müsste, damit das Lesen auch in späteren Jahren noch bzw. wieder als Gewinn bringende Tätigkeit erlebt wird. Männliche Lesevorbilder könnten erheblich dazu beitragen, dass sich eine solche Motivation bei Jungen entwickelt, da das Lesen so nicht als weibliche Tätigkeit abgelehnt werden müsste.[33]
3.2.2 Rollenklischees
Wenn Kinder in die Schule kommen, haben sie bereits eine grundlegende Selbstkategorisierung als Mädchen oder Junge vorgenommen. Diese Geschlechtsidentität wird während der Grundschulzeit weiter erprobt und ausdifferenziert. Dies geschieht zum Beispiel im Umgang mit anderen Kindern und ihren Praktiken der Geschlechtsunterscheidung, in der Interaktion mit den Lehrerinnen und Lehrern oder durch die Auseinandersetzung mit Unterrichtsgegenständen und -materialien. Viele Spiele der Kinder leben von der Inszenierung der geschlechtlichen Unterschiede.[34]
Obwohl sich in der Realität vermeintlich männliche oder weibliche Tätigkeiten immer mehr vermischen, halten sich einige Klischees, über die Zuordnung geschlechtsspezifischer Rollen, hartnäckig. Mädchen und Jungen werden von ihrer Umwelt ständig für ein Verhalten belohnt, das dem traditionellen Rollenbild entspricht.[35] Fragt man Kinder, was ein „richtiger“ Junge sei, wird deutlich, wie sehr das vermeintlich veraltete Bild von Männlichkeit noch präsent ist: Jungen müssen überlegen sein, sie müssen sich durchsetzen können, sie dürfen keine Angst zeigen und nicht zaghaft sein. Ihr Körper muss gut funktionieren und sie müssen ständig über sich hinauswachsen.[36]
Die Anforderungen, mit denen Jungen konfrontiert werden, sind allerdings noch paradoxer. Sie werden einerseits in ihrem „typisch männlichen“ Verhalten durch die Reaktionen und Vorbilder der Umwelt bestärkt, andererseits erleben sie häufig, dass Mädchen wegen ihres angepassteren Verhaltens bevorzugt werden.[37] Die moderne Vorstellung, wie ein Junge sein sollte, scheint dem traditionellen Jungenbild einfach hinzugefügt worden zu sein. Einerseits sollen Jungen männlich sein, andererseits aber auch sensibel, konfliktfähig und sozial. Solch widersprüchliche Anforderungen schaffen Verwirrung.[38]
Untersuchungen haben gezeigt, dass es bei Jungen einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Ausprägung von Geschlechterrollenstereotypen und der Entwicklung von Lesekompetenz gibt. Hierzu KASSIS: „Geschlechterrollenstereotype hemmen sehr deutlich den Umgang der Jungen mit Büchern im Elternhaus wie auch die Lesekompetenz gesamthaft.“[39]
3.2.3 Jungenbilder in der Kinder- und Jugendliteratur
In der klassischen Kinder- und Jugendbuchliteratur werden Jungen gemäß dem klassischen Rollenbild als wild, abenteuerlustig, aggressiv und häufig auch schwer erziehbar dargestellt. Trotzdem sind sie positive Identifikationsfiguren.[40]
Beispiele hierfür sind Mark Twains „Tom Sawyer“, die Jungenfiguren von Astrid Lindgren, wie „Michel“ oder „Rasmus“ oder „Mathias“ aus Erich Kästners „Das fliegende Klassenzimmer“.
[...]
[1] Hurrelmann, Bettina / Hammer, Michael / Nieß, Ferdinand. Unter Mitarb. von Susanne Epping u. Irene Ofteringer: Lesesozialisation. Bd. 1: Leseklima in der Familie. Studien der Bertelsmannstiftung, Gütersloh 1993, S. 53
[2] Vgl. Schilcher, Anita: Was machen die Jungs? Geschlechterdifferenzierender Deutschunterricht nach Pisa. In: Abraham, Ulf u.a. (Hg.): Deutschdidaktik und Deutschunterricht nach PISA, Freiburg im Breisgau 2003, S. 363
[3] Vgl. Hurrelmann, Bettina / Hammer, Michael / Nieß, Ferdinand, 1993, S. 51
[4] Vgl. Richter, Karin / Plath, Monika: Lesemotivation in der Grundschule. Empirische Befunde und Modelle für den Unterricht, Weinheim, München 2005, S. 75
[5] Vgl. Garbe, Christine: Geschlechtsspezifische Zugänge zum fiktionalen Lesen. In: Bonfadelli, Heinz / Bucher, Priska (Hg.): Lesen in der Mediengesellschaft. Stand und Perspektiven der Forschung, Zürich 2002, S. 225
[6] Vgl. Hurrelmann, Bettina, 2002, S. 14 f.
[7] Hurrelmann, Bettina: Leseförderung. In Praxis Deutsch 127/1994, S. 20 f.
[8] Vgl. Ulich, Michaela / Ulich, Dieter: Literarische Sozialisation: Wie kann das Lesen von Geschichten zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen? In: Zeitschrift für Pädagogik, Bd. 40, 1994, S. 827 ff.
[9] Schön, Erich: Die Entwicklung Literarischer Rezeptionskompetenz. Ergebnisse einer Untersuchung zum Lesen bei Kindern und Jugendlichen. In: SPIEL, Jg. 9, Heft 2, 1990, S. 231 f.
[10] Schön, Erich: Veränderung der literarischen Rezeptionskompetenz Jugendlicher im aktuellen Medienverbund. In: Lange, Günter / Steffens, Wilhelm (Hg.): Moderne Formen des Erzählens in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart unter literarischen und didaktischen Aspekten, Würzburg 1995, S. 110
[11] Vgl. Richter, Karin / Hurrelmann, Bettina (Hg.): Kinderliteratur im Unterricht. Theorien und Modelle zur Kinder- und Jugendliteratur im pädagogisch-didaktischen Kontext, Weinheim, München 1998, S. 17
[12] Hurrelmann, Bettina, 2002, S. 17
[13] Hurrelmann, Bettina: Leseleistung - Lesekompetenz. In : Praxis Deutsch 176/2002, S. 17
[14] Vgl. Guggenbühl, Allan: Kleine Machos in der Krise. Wie Eltern und Lehrer Jungen besser verstehen, Freiburg 2006, S. 15 f.
[15] Vgl. Schnack, Dieter / Neutzling, Rainer: Kleine Helden in Not, 2003, S. 121
[16] Vgl. Kunze, Petra / Schmiedecke, Gerald: Jungs. Wie Eltern glückliche Söhne erziehen, München 2006, S. 14
[17] Vgl. ebd., S. 15
[18] Vgl. Biddulph, Steve: Jungen! Wie sie glücklich heranwachsen. Warum sie anders sind - und wie sie zu ausgeglichenen, liebevollen und fähigen Männern werden, München 2000, S. 73 ff.; Pickering, Jon, Wie das Lernen Jungen erreicht. Ein Programm zur Integration und Förderung, Mülheim an der Ruhr 2005, S. 84
[19] Vgl. Biddulph, Steve, 2000, S. 73 u. 83; Pickering, Jon: Wie das Lernen Jungen erreicht. Ein Programm zur Integration und Förderung, Mülheim an der Ruhr 2005, S. 84
[20] Vgl. ebd., S. 83
[21] Vgl. Pickering, Jon, 2005, S. 84
[22] Vgl. Kunze, Petra / Schmiedecke, Gerald, 2006, S. 17 f.; Pickering, Jon, 2005, S. 84f.
[23] Vgl. Herden, Birgit: Erbe und Erziehung, DIE ZEIT vom 28.6.2007, S. 31
[24] Vgl. Guggenbühl, Allan, 2006, S. 16
[25] Vgl. Statistisches Bundesamt auf http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/2006/08/PD06__320__122.psml, Stand 31.07.2007
[26] Vgl. Rhyner, Thomas / Zumwald, Bea (Hg.): Coole Mädchen — starke Jungs. Ratgeber für eine geschlechtsspezifische Pädagogik, Bern, Stuttgart, Wien 2002, S. 32
[27] Vgl. ebd., S. 32 f.
[28] Vgl. Kaiser, Astrid: Koedukation und Jungen. Soziale Jungenförderung in der Schule, 1997, S. 12
[29] Vgl. Boldt, Uli: „Ich bin froh, dass ich ein Junge bin“. Materialien zur Jungenarbeit in der Schule, Baltmannsweiler 2004, S. 10 ff.
[30] Vgl. Hurrelmann, Bettina / Hammer, Michael / Nieß, Ferdinand, 1993, S. 39
[31] Vgl. Garbe, Christine: Warum lesen Mädchen besser als Jungen? Zur Notwendigkeit einer geschlechterdifferenzierenden Leseforschung und Leseförderung. In: Abraham, Ulf u.a. (Hg.): Deutschdidaktik und Deutschunterricht nach PISA, Freiburg im Breisgau 2003, S.77 f.
[32] Vgl. Garbe, Christine, 2003, S. 78 f.
[33] Vgl. ebd., S. 79 u. 81
[34] Vgl. Heinzel, Friederike / Prengel, Annedore: Mädchen und Jungen in der Grundschule. In: Einsiedler, Wolfgang u.a. (Hg.): Handbuch der Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik, Bad Heilbrunn 2005, S. 183
[35] Vgl. Pollack, William F.: Jungen. Was sie vermissen – was sie brauchen. Ein neues Bild von unseren Söhnen, Weinheim, Basel 2001, S. 415 f.
[36] Vgl. Schnack, Dieter / Neutzling, Rainer, 2003, S. 75
[37] Vgl. Bründel, Heidrun / Hurrelmann, Klaus: Gewalt macht Schule, 1994, S. 29 f.
[38] Vgl. Schnack, Dieter / Neutzling, Rainer, 2003, S. 76
[39] Kassis, Wassilis zitiert nach: Garbe, Christine, 2003, S. 82 f.
[40] Vgl. Schilcher, Anita: Was machen die Jungs? Geschlechterdifferenzierender Deutschunterricht nach Pisa. In: Abraham, Ulf u.a. (Hg.): Deutschdidaktik und Deutschunterricht nach PISA, Freiburg im Breisgau 2003, S. 366
- Citar trabajo
- Ulrike Krauspe (Autor), 2007, Konsequenzen aus der Jungenforschung für den Literaturunterricht, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88433
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