Die Auseinandersetzung mit der Angst gehört zu den wichtigsten Aufgaben des Kindes, da Ängste seine Entwicklung erheblich hemmen können. Viele Kinder – besonders solche mit einer geistigen Behinderung – brauchen dazu Unterstützung. Wer aber Kindern helfen will, muss ihre Ängste verstehen.
Der Autor geht vorerst auf den Begriff Affekt ein, wobei er sich an Ciompis Entwurf einer fraktalen Affektlogik orientiert. Auf dieser Grundlage differenziert er anschliessend zwischen Angst, Schreck, Panik, Sorge und Ängstlichkeit und referiert auch Ursachen, Folgen und den Sinn der Angst.
Stets von der Normalität ausgehend werden die bedeutendsten Kinderängste fundiert behandelt und mit heilpädagogischen Aspekten ergänzt. Schliesslich werden konkrete Ideen für den Unterricht und die Elternarbeit vorgestellt.
Nicht nur Heilpädagogen, sondern auch Regelschullehrer, Eltern und andere an Entwicklungspsychologie Interessierte zeigten sich schon von der vorliegenden Arbeit begeistert.
Inhaltsverzeichnis
TEIL I EINLEITUNG
1 Probleme
2 Hypothesen und Fragen
3 Ziele und Abgrenzungen
TEIL II GRUNDLAGEN
4 Terminologie
4.1 Affekt, Emotion, Gefühl, Stimmung
4.2 Angst
5 Angst bei Kindern mit geistiger Behinderung
6 Ängste in der Entwicklung
6.1 Einleitung
6.2 Vom Fremdeln zur Trennungsangst
6.3 Angst vor Liebesentzug und Strafe
6.4 Angst vor Autonomieverlust
6.5 Phobien
6.6 Angstträume
6.7 Von der Angst vor Körperverletzungen und Krankheiten zur Angst vor dem Tod
TEIL III PRÄVENTIONS- UND BEWÄLTIGUNGSMÖGLICHKEITEN FÜR DIE SCHULE
7 Einleitung
8 Trennungsangst
9 Angst vor Liebesentzug und Strafe
10 Angst vor Autonomieverlust
11 Phobien
12 Angstträume
13 Angst vor Körperverletzungen, Krankheiten und dem Tod
TEIL IV FAZIT
14 Zusammenfassung
15 Schlussfolgerungen
16 Ausblick
TEIL V ANHANG
17 Unterrichtsmaterialien
17.1 Geschichten
17.2 Bilderbücher
17.3 Spiele
18 Literaturverzeichnis
19 Internetverzeichnis
20 Danksagung
TEIL I EINLEITUNG
1 Probleme
„Da, wo man Angst hat, muss man hingehen. Sonst lernt man nichts.“
Nicole Müller in „Denn das ist das Schreckliche an der Liebe“ (S. 108)
Von Angst beherrschte Schülerinnen und Schüler müssen ständig nach Gefahren Ausschau halten und ihren ganzen Aufmerksamkeitsfokus darauf richten. Das macht sie gegenüber allem andern verschlossen. So lange diese Kinder von der Angst erfüllt sind, können sie sich nicht auf den Unterrichtsstoff konzentrieren und somit auch nichts lernen.
Damit ein Kind bei der Bewältigung seiner Angst unterstützt werden kann, muss die Angst erst einmal bekannt sein. Doch Kinder mit einer geistigen Behinderung sind selten imstande, ihre Ängste zu benennen und es bleibt an uns, sie zu erkennen. Oftmals werden jedoch bloss Verhaltensauffälligkeiten wahrgenommen, nicht aber deren Ursache, die in vielen Fällen „Angst“ heisst.
Auf der andern Seite gibt es Kinder, um die wir Angst haben müssen, weil bei ihnen die Angst vor echten Gefahren fehlt. Angst ist demnach nicht nur unerwünscht – entscheidend ist das Mass.
Angst ist ein Affekt, der grundsätzlich negativ konnotiert ist, was zur Folge hat, dass die Angst verdrängt wird. Für die vorliegende Arbeit befragte ich nur wenige Leute direkt nach ihren Ängsten. Ich wollte aber von vielen Eltern und Lehrpersonen wissen, wie es um die Angst ihrer Kinder oder ihrer Schülerinnen und Schüler steht und ob sie mir Beispiele erzählen könnten. Die spontane Antwort lautete oft: „Meine Kinder/Schüler sind eigentlich nicht ängstlich.“ Dennoch wussten die meisten nach einer kurzen Bedenkzeit mindestens eine eindrückliche Begebenheit zu erzählen. Nicht selten waren es ziemlich aktuelle Geschichten, die – wenigstens nach meinem Empfinden – mit Erleichterung preisgegeben wurden. Offenbar gibt es also einen Widerstand gegen die Angst, sogar gegen die der andern. Diese Erkenntnis und das stets rege Interesse an meiner Arbeit haben mich endgültig von der Wichtigkeit des gewählten Themas überzeugt.
2 Hypothesen und Fragen
Für diese Arbeit ging ich von folgenden Hypothesen aus:
Angst ist in der Entwicklung des Kindes ein zentrales Thema, weil immer wieder neue Ängste auftauchen, die wenigstens teilweise bewältigt werden müssen, damit sich das Kind weiter entfalten kann.
Kinder mit einer geistigen Behinderung sind verletzlicher als andere und erleben deshalb überdurchschnittlich viel Angst. Im Gegensatz zu andern Kindern wachsen sich ihre entwicklungsspezifischen Ängste nicht automatisch aus, da ihre Entwicklung behinderungsbedingt irgendwann stagniert.
Während meinen Überlegungen und Recherchen liess ich mich von folgenden Fragen leiten:
Was ist Angst? (In diesem Zusammenhang auch: Was sind Affekte?)
Welche Funktion hat die Angst?
Welche Formen von Angst gibt es?
Wie lassen sie sich entwicklungstheoretisch erklären?
Sind Ängste bei Kindern mit einer geistigen Behinderung tatsächlich häufiger?
Haben Kinder mit einer geistigen Behinderung spezifische Ängste?
Wie beeinflusst eine geistige Behinderung die Möglichkeiten der Angstbewältigung?
Was können Lehrerinnen und Lehrer zur Prävention von Kinderängsten beitragen?
Was können Lehrerinnen und Lehrer tun, damit Kinder ihre Ängste abbauen können?
3 Ziele und Abgrenzungen
Zuerst befasse ich mich mit der Frage, was Affekte sind, wobei ich mich hauptsächlich an Ciompis Entwurf einer fraktalen Affektlogik orientiere (Ciompi, 2005). Erst mit diesen Kenntnissen ist es möglich, umfassend zu begreifen, was Angst ist. In meiner eigenen Angstterminologie gehe ich vor allem auf die Funktion und die Entwicklung der Angst ein. Anschliessend versuche ich zu erläutern, wie sich eine geistige Behinderung im Allgemeinen auf die Angst auswirkt. Den Kern dieser Arbeit bildet aber die Beschreibung der wichtigsten Ängste in der Entwicklung des Kindes. Es sind dies die Trennungsangst, die Angst vor Liebesentzug und Strafe, die Angst vor Autonomieverlust, die Phobien, die Angstträume und die Angst vor Körperverletzungen, Unfällen und dem Tod. Diese Ängste können nur verstanden werden, wenn man den jeweiligen Entwicklungsstand mit seinen spezifischen Bedürfnissen und Aufgaben berücksichtigt. Aus den Grundlagen soll schliesslich auch ersichtlich werden, warum manche Ängste zu überwinden sind, während bei andern bloss ein Umgang möglich ist.
Im praktischen Teil biete ich einige Ideen an, mit denen Kindern geholfen werden kann, mit ihren Ängsten umzugehen, sie zu überwinden oder zu verhüten. Einige dieser Ideen lassen sich nicht in der Schule selbst umsetzen, sondern müssen an die Eltern weitergegeben werden.
Lehrerinnen und Lehrer sollten nach der Lektüre in der Lage sein, die Ängste ihrer Schülerinnen und Schüler zu erkennen, zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren. Wo meine Darstellung etwas knapp ist, wird durch Verweise ein rascher Zugang auf weiterführende Informationen ermöglicht.
Diese Arbeit beinhaltet keine Gesamtschau über die psychoanalytischen, behavioristischen, kognitiven und anderweitigen Theorien zur Angst. Mein Ziel war vielmehr, das aus der Forschungsliteratur herauszupflücken, was mir plausibel und nützlich erschien und meine eigenen Überlegungen untermauern oder ergänzen konnte. Ebenso fehlt eine Übersicht über die verschiedenen Entwicklungsmodelle. Kenntnisse davon sind zwar von Vorteil, können aber bei den meisten Leserinnen und Lesern vorausgesetzt werden. Andernfalls gibt es zahlreiche Lehrbücher zur Entwicklungspsychologie (z. B. Oerter & Montada, 2002).
Im Rahmen dieser Arbeit spielt es keine Rolle, wie man den Begriff „geistige Behinderung“ definiert. Auf die Angst bei einzelnen Behinderungen gehe ich nicht ein, weil in der mir zur Verfügung stehenden Literatur entsprechende Untersuchungen gänzlich fehlen und weil letztlich sowieso jedes Kind für sich betrachtet werden muss, wobei aber die Erkenntnisse der allgemeinen Entwicklungspsychologie auch bei Kindern mit einer geistigen Behinderung gelten.
Mich interessieren die gewöhnlichen Ängste der Kinder bis zu Beginn der Pubertät. In der Pubertät selbst intensivieren sich die bisher erlebten Ängste nochmals und es kommen nach und nach erwachsenentypische Ängste hinzu. Mit Angststörungen bei Kindern befasse ich mich nicht, weil es dazu gute Literatur gibt (z. B. Schneider, 2006). Ein kurzer Einblick in die pathologische Angst ist jedoch nötig, damit die normalen Ängste von einer Angststörung unterschieden werden können.
Die Sammlung der Präventions- und Bewältigungsmöglichkeiten ist vor allem als Anregung gedacht und beschränkt sich auf einige allgemein anwendbare Ideen. Es lassen sich beispielsweise keine Anstösse für Ängste finden, die auf einen sexuellen Missbrauch oder auf Kriegserlebnisse zurückgehen. Therapiemöglichkeiten werden ebenfalls keine vorgestellt.
TEIL II GRUNDLAGEN
4 Terminologie
4.1 Affekt, Emotion, Gefühl, Stimmung
4.1.1 Definitionen und Abgrenzungen
Die Begriffe „Affekt“, „Emotion“, „Gefühl“ und „Stimmung“ werden im Alltag und in der Literatur oft synonym verwendet, oft aber auch mehr oder weniger klar voneinander unterschieden. Die uneinheitliche Handhabung dieser und weiterer Begriffe wie „Trieb“, „Instinkt“, „Intuition“, „Gemüt“, „Laune“ usw. verstehe ich im Sinne von Ciompi als Ausdruck der Komplexität des betreffenden Gebiets (Ciompi, 2005, 62). Für die vorliegende Arbeit gelten Affekte gemäss folgender Definition als Oberbegriff:
„Ein Affekt ist eine von inneren oder äußeren Reizen ausgelöste, ganzheitliche psycho-physische Gestimmtheit von unterschiedlicher Qualität, Dauer und Bewusstseinsnähe“ (ebd. 67).
In der Emotion steckt das Wort „Bewegung“, sie wird von Ciompi als kurzfristiger Übergang von einem Affektzustand zu einem andern beschrieben, Gefühl als körperlich spürbarer bewusster Affekt und Stimmung als langdauernde ungerichtete psycho-physische Befindlichkeit (ebd. 68).
Den Affekten gegenüber stehen zwei Denkprozesse, nämlich die Kognition als „das Erfassen und weitere neuronale Verarbeiten von sensorischen Unterschieden und Gemeinsamkeiten beziehungsweise von Varianzen und Invarianzen“ (ebd. 72) und die Logik als „die Art und Weise, wie kognitive Inhalte miteinander verknüpft werden“ (ebd. 78). Diese Denkprozesse beschränken sich keineswegs nur auf die bewusste Ebene. Im Übrigen gehört zum Denken auch die Fähigkeit, Erinnerungen wachzurufen und miteinander oder mit andern Informationen zu vergleichen und zu verbinden.
4.1.2 Funktion
„[…] lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit;
Streit hat seine Zeit, Frieden hat seine Zeit.“
Kohelet 3, 8
Die eben beschriebenen Affekte und Denkprozesse, einschliesslich des Verhaltens, sind in Wirklichkeit untrennbar miteinander verbunden und wirken jederzeit aufeinander ein.[1] Diese Erkenntnis steht im Mittelpunkt von Ciompis Entwurf einer Affektlogik. Grob gesagt haben Affekte dabei eine energetische und eine lenkende Wirkung auf das Denken; d. h., der vorherrschende Affekt sorgt entweder für viel oder für wenig Energie und bestimmt den Fokus der inneren und äusseren Wahrnehmung. Umgekehrt beeinflusst das Denken die Affekte, indem die Denkinhalte zum Reiz für affektive Prozesse werden. Zum Beispiel bewertet ein spielendes Kind eine hinzukommende fremde Person als gefährlich und bekommt dadurch Angst. Die Angst wiederum kann die Wahrnehmung auf diese Person lenken oder aber eine Angstvermeidungsreaktion bewirken, bei der sich das Kind von der Person ab- und dem Spiel zuwendet. Ist das Kind wieder am Spielen, sorgt Interesse für die dazu nötige Energie. Die beiden eben beschriebenen Mechanismen ergeben einen Filter, der, sofern er sinnvoll ist, für eine überlebenswichtige Komplexreduktion sorgt.
Weitere zentrale Erkenntnisse Ciompis lauten, dass man immer in irgendeiner Weise affektiv gestimmt ist und dass man immer nur in einer affektiven Grundstimmung sein kann
(Ciompi, 2005, 69). Auch eine scheinbar normale Gestimmtheit ist nicht frei von Affekten, nur bleiben diese meist weitgehend unbewusst.[2] Im obigen Beispiel kann das Kind nicht gleichzeitig von Interesse am Spiel und von Angst vor der fremden Person erfasst werden. Der Wechsel vom einen zum andern Affekt kann allerdings so schnell erfolgen, dass sich das Kind hin und her gerissen fühlt und während dem Spielen immer wieder einen ängstlichen Blick auf die unbekannte Person wirft.
Menschliches Fühlen, Denken und Verhalten funktioniert gemäss Ciompi nach chaostheoretischen Gesetzen.[3] Ich beschränke mich hier auf die wichtigsten drei:
1. Haben affektlogische Prozesse eine bestimmte Spannung oder Entspannung erreicht, kann es, unter der Wirkung von spezifischen Kontroll- und Ordnungsparametern, zu einem plötzlichen Wechsel zu völlig andersartigen Fühl-, Denk- und Verhaltensmustern kommen. Diese in der Chaostheorie als nichtlineare Phasensprünge bezeichneten Paradigmenwechsel[4] machen die psychischen Vorgänge im Menschen oft so schwer nachvollziehbar (zur Veranschaulichung s. „Der Axtdieb“ unter 17.1).
2. Psychische Vorgänge werden praktisch unberechenbar, wenn kleinste Ursachen in Situationen der kritischen Labilisierung unter Umständen gewaltige Langzeitwirkungen haben – der berühmte Schmetterlingseffekt.
3. Das Gesetz der skalenunabhängigen Selbstähnlichkeit (Ciompi, 2005, 147-152) bezieht sich darauf, dass alle oben beschriebenen Wirkungsweisen der Affekte in allen zeitlichen Dimensionen einerseits einen biologischen, psychischen und sozialen Phänomenbereich haben, anderseits auf individuellen, mikro- und makrosozialen Ebenen zu beobachten sind. So kann Euphorie nicht bloss einen einzelnen Menschen erfassen, sondern auch eine ganze Nation.[5] Dieses Gesetz führt schliesslich zu Ciompis Entwurf einer fraktalen Affektlogik.
Zum Schluss ein Hinweis, der sich auf das Bewusstsein von Fühlen und Denken bezieht: Denken ohne Affekte, wie es die Philosophen der Antike anstrebten[6], ist nicht möglich und wäre auch nicht sinnvoll, obschon uns die Affekte häufig im Weg stehen und in ungewollte Richtungen drängen. Doch es gibt zwei Arten des Denkens, die beide ihre Stärken und Schwächen haben: Rationales Denken, bei dem der Einfluss der Affekte kaum spürbar ist und deshalb fälschlicherweise oft ausgeschlossen wird, hat den Vorteil, dass es nachvollziehbar ist. Wenn es darum geht, sich sehr schnell zu entscheiden oder sehr komplexe Aufgaben zu lösen, stossen wir damit aber bald an Grenzen. In diesen Fällen kann uns eine andere Denkart nützlichere Dienste erweisen. Gemeint ist die Intuition, bei der die Wirkung der Affekte wesentlich und offensichtlich ist, dafür die logische Komponente gerne vergessen geht. Dies passiert, weil intuitive Prozesse zwar äusserst schnell Resultate liefern, dabei jedoch den Lösungsweg im Dunkeln lassen. Das Problem dieses vorrationalen Denkens ist, dass wenige Informationen überinterpretiert und durch die momentane Stimmung und durch Erinnerungen verfälscht werden.[7] Im Gegensatz zu Reflexen können Intuitionen vom Gehirn kontrolliert werden, was bedeutet, dass Bauchgefühle[8] nur Vorschläge darstellen, schliesslich aber das Gehirn entscheiden muss.
4.1.3 Formen
Bei Ciompi lässt sich eine beachtliche Palette von Gefühlen finden, die in fünf Grundgefühle und eine sechste Restgruppe eingeteilt ist.[9] Er beschränkt sich auf Interesse, Angst, Wut, Trauer und Freude als Grundgefühle, weil sich durch EEG-Untersuchungen[10] nur diese eindeutig identifizieren liessen. In der angegebenen Reihenfolge nehmen wir üblicherweise unsere Umwelt wahr, wobei diese eher zirkular als linear zu verstehen ist.
Je nachdem, welches Grundgefühl – oder eher welcher Grundaffekt – nun das Denken und Verhalten prägt, spricht Ciompi von Interesselogik, Angstlogik, Wutlogik, Trauerlogik oder Freudelogik (Ciompi, 2005, 104). Dabei hat jeder Affekt seine bestimmte energetische und lenkende Wirkung auf das Denken und Verhalten. Interesse mobilisiert Energie aufgrund von Lust, Wut aufgrund von Unlust, während Trauer das Energieniveau in Folge einer verlorenen Lust senkt. Die durch Angst freigesetzte Energie kann hemmend oder aktivierend wirken. Freude kann mit Spannung, aber auch mit Entspannung verbunden sein; d. h., sie strebt nach einer lustvollen Homöostase[11] zwischen diesen beiden Polen. In der Angstlogik nimmt das spielende Kind die fremde Person als bedrohlich wahr, in der Freudelogik hingegen würde es vielleicht mit einem Lächeln reagieren. Dieselbe Situation kann also völlig anders interpretiert werden. Weiter ermöglicht jede Affektlogik einen bestimmten Zugang zu Gedächtnisinhalten. In der Angstlogik wird das Kind an frühere schlechte Erfahrungen mit fremden Menschen erinnert, in der Freudelogik würden schöne Erlebnisse wachgerufen. Dies passiert deshalb, weil jede Erinnerung an einen bestimmten Affekt gekoppelt ist.
Daneben liessen sich unzählige weitere Affektlogiken beschreiben. Wichtig ist noch die Alltagslogik, welche die gewöhnliche Art des Fühlens, Denkens und Verhaltens eines Menschen meint, die sich aber von Person zu Person unterscheidet und so jedem Individuum seinen eigenen Charakter gibt (ebd. 104).
4.1.4 Entwicklung
Veränderungen von Atemrhythmus, Herz- und Pulsschlagfrequenz, Körpertonus, motorischen Aktivitäten, Mimik und Stimme als emotionale Reaktionen auf Reize sind schon bei Säuglingen beobachtbar. Doch die Entwicklung von angeborenen Affektprogrammen[12] zu äusserst komplexen Gefühlen beginnt, wie so manch anderes, bereits vor der Geburt.
Ein 12 Wochen alter Fötus trinkt mehr mit Süssstoffen angereichertes Fruchtwasser als solches mit Röntgenkontrastmittel (Senckel, 2000, 27). Das Erkennen des Unterschieds zwischen diesen beiden Reizen ist die kognitive Komponente, die verschiedenen Reaktionen dagegen weisen klar auf eine affektive Komponente hin. Intrauterin ist aber nicht nur die Wahrnehmung und Bewertung der Umwelt bereits möglich, sondern auch die längerfristige Speicherung von Informationen. Wenn ein Neugeborenes anders auf fremde Stimmen reagiert als auf die der Mutter, bedeutet das nämlich, dass die mütterliche Stimme bekannt ist.
Das erste Lächeln ist zwar nur ein Reflex, aber ein Säugling lernt sehr schnell, auch echte Gefühle zu äussern. Den grössten Einfluss hat dabei die Interaktion mit den Bezugspersonen. Das Kind lernt, indem es fremde Gefühle deutet und nachahmt, weiter durch Spiegelungen und je länger je mehr durch die Sprache. Dass die Gefühle der Mutter bereits auf die pränatale Entwicklung einen bedeutenden Einfluss haben, zeigt eine Untersuchung, welche die mütterliche Einstellung mit dem Schwangerschaftsverlauf, dem Geburtsvorgang und dem Verhalten der Säuglinge verglich und dabei signifikante Unterschiede feststellte, etwa dass Neugeborene von gefühlsmässig kühlen Müttern eher apathisch waren (ebd. 29f).
Zu Beginn seines Daseins lässt sich das Kind ausschliesslich von einem Prinzip leiten: was Lust erzeugt, wird gesucht und wiederholt, Unlust vermieden und bekämpft. Durch Erfahrungen lernt dann das Kleinkind beispielsweise, dass das Zertrampeln von Ameisen zwar sehr viel Vergnügen bereitet, aber die danach folgende Schelte der Mutter den ganzen Spass letztlich nicht wert ist. Das Erkennen dieser Kausalität bedeutet eine Ergänzung des Lustprinzips um das Realitätsprinzip. Im weiteren Entwicklungsverlauf wird die Angst vor Strafe verinnerlicht. Doch auch beim Realitätsprinzip und beim Moralitätsprinzip geht es letztlich um Lust und Unlust.[13]
Gefühle entwickeln sich, abhängig vom Denken, vom Bewusstsein und von Umwelteinflüssen, in einem möglicherweise lebenslangen Differenzierungs- und Integrierungsprozess. Am Anfang ist vermutlich nur eine unbewusste Wertung zwischen angenehm – unangenehm, wohl – unwohl oder eben Lust – Unlust möglich. Der Reiz des Süssstoffes im obigen Beispiel ist für den Fötus offensichtlich angenehm; ein Säugling fühlt sich wegen einer zunehmenden Bedürfnisspannung wie Hunger je länger je unwohler und schreit dementsprechend nach Hilfe; das Saugen an der Brust der Mutter, am eigenen Finger oder an einem Gegenstand wird als lustvoll erlebt. Am Schluss stehen möglicherweise die Kenntnis von Hunderten von Gefühlen und die Fähigkeit, diese bei sich und bei andern bewusst wahrzunehmen, gezielt darzustellen, zu beschreiben und zu regulieren.[14]
4.2 Angst
4.2.1 Definition
Der Begriff „Angst“ ist vom lateinischen Wort „angustiae“ (Enge) abgeleitet. Das allein sagt noch so gut wie nichts aus, doch die verschiedenen Vorstellungen darüber reichen insgesamt weit. Das Paradoxe im zusammengesetzten Bild, wie es sich gleich ergibt (s. 4.2.2), mag verwirrend sein, zeigt aber eine typische Eigenschaft der Angst.[15] Während die zahlreichen verwandten Begriffe wie „Schreck“, „Furcht“, „Panik“, „Sorge“, „Ängstlichkeit“ usw. jeweils einen Teilaspekt darstellen, verstehe ich Angst in einem übergeordneten Sinn:
Angst ist die affektive Reaktion auf Bedrohungen und wird durch die An- oder Abwesenheit von äusseren oder inneren Reizen ausgelöst. Dabei müssen weder die Reize noch die Angst selbst bewusst wahrgenommen werden.
Der Schreck wird plötzlich ausgelöst, hat seinen Höhepunkt am Anfang und lässt rasch nach. Er ist im Gegensatz zur Überraschung immer negativ konnotiert. Eng verwandt mit dem Schreck ist die Furcht, welche am besten zur phobischen Angst passt.[16] Die Panik[17] ist eine sich reproduzierende Angst, die meistens mit einem Schreckensmoment beginnt, dann jedoch progressiv verläuft und uns schliesslich derart beherrschen kann, dass ein kontrolliertes Verhalten nicht mehr möglich ist. Sich Sorgen zu machen heisst, gedanklich nach möglichen Bedrohungen zu suchen. Ähnlich, wenn auch unbewusster und ungerichteter, verhält es sich mit der Ängstlichkeit, welche aber auch nur die Bereitschaft zur Angst[18] bezeichnen kann. – So lässt sich der Schreck am ehesten als Emotion bezeichnen, die Panik als Gefühl, die Sorge als Angstlogik, Ängstlichkeit als Stimmung und die Angst selbst als Affekt.
4.2.2 Funktion
„Angst verleiht Flügel.“
Gustave Flaubert
„Zuviel Flattern zerbricht die Flügel.“
aus Arabien[19]
Die Angst soll uns auf Gefahren aufmerksam machen und uns für adäquate Reaktionen vorbereiten. Sie ist dysfunktional, wenn sie in harmlosen Situationen wirkt, in gefährlichen Lagen ausbleibt oder unnütze Antworten erzeugt. Es gibt eine Schwierigkeit, was die Situationseinschätzung betrifft: Angst ist zukunftsgerichtet. Ob tatsächlich eine Gefahr besteht, zeigt sich, wenn überhaupt, erst hinterher. Ein Beispiel: Der Anblick eines Hundes erweckt in vielen Menschen Angst, doch erst wenn der Hund zugebissen hat, wird klar, dass die Angst berechtigt war. Vermeidet man den Kontakt mit dem Hund, bleibt die Frage unbeantwortet. Beisst der Hund bei der Begegnung nicht zu, kann das einerseits daran liegen, dass die Angst unbegründet war, anderseits, dass die Reaktion auf die Angst die drohende Gefahr abwendete.
Der Angstprozess beginnt so, dass eine Situation intuitiv als bedrohlich wahrgenommen wird. Es folgt eine Erhöhung der Aufmerksamkeit und der Reaktionsbereitschaft durch die Aktivierung des Sympathikus. Dabei werden Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet, deren Wirkung sich in den akuten Angstsymptomen zeigt. In diesem Extremzustand würde der Kreislauf früher oder später kollabieren. Damit das nicht passiert, wird, auch wenn die Angst bestehen bleibt, der Parasympathikus aktiviert. Diese zweite Reaktionskette, für die vor allem Kortikosteroide verantwortlich sind, macht sich in gegenteiligen, lähmenden Symptomen bemerkbar. Doch nicht bloss die anhaltende Angst führt zu Passivität, bereits der allererste Effekt kann eine Hemmung, oder eher eine Verkrampfung, sein. Danach folgt im günstigeren Fall eine vermeidende, aggressive oder innovative Verhaltensreaktion, im ungünstigeren Fall eine Panikattacke.
Was uns im ersten Augenblick einmal nach Luft schnappen und erstarren lassen kann („freeze“), ist der Schreck – man denke an Redewendungen wie „starr/steif vor Schreck sein“, „der Schreck fährt durch die Glieder/sitzt in den Knochen“, „vor Schreck wie gelähmt sein“ usw. Dieser Totstellreflex hat für viele Tiere eine überlebenswichtige Funktion. Uns soll er vor allem in Alarmbereitschaft versetzen. Bis der Auslöser der Angst erfasst ist, bleibt die Aufmerksamkeit allgemein erhöht, danach richtet sie sich nur noch auf die Quelle oder lässt nach, wenn sich die Angst als unbegründet erwies. Für diesen ersten Schritt müssen wir aber mindestens ein Stück weit die Kontrolle über die Angst gewinnen. Das ist auch die Voraussetzung, damit wir uns bewusst oder unbewusst entscheiden können, ob wir der Gefahr entkommen wollen („flight“) oder ob wir uns dieser stellen („fight“). Treten wir ihr entgegen, haben wir die Wahl zwischen Aggression und Innovation. Für Ideen brauchen wir allerdings einen klaren Kopf, was nur möglich ist, wenn wir die Angst unterdessen weitgehend zurückdrängen konnten. Geraten wir stattdessen nach dem ersten Schreck in Panik, etwa, weil wir die Bedrohung nicht orten konnten, reagieren wir „kopflos“, d. h. ohne Kontrolle über unser Verhalten.
Abb. 1 zeigt nochmals schematisch, wie es zu einem vermeidenden, aggressiven oder innovativen Verhalten als Reaktion auf die Angst kommt. Während diesem Prozess kann die Angst jederzeit wieder überhand nehmen und bis in eine Panikattacke führen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Mögliche Verhaltensreaktionen auf die Angst
Die beste Reaktion auf die Angst ist im Allgemeinen die Innovation. Die Aggression muss sich auf beliebige Objekte, andere Personen oder gegen die eigene Person richten, wenn die Angstquelle nicht bekannt ist oder aus andern Gründen wie Unvermögen oder inakzeptablen Konsequenzen nicht bekämpft werden kann. Die Vermeidung schränkt das Leben mehr oder weniger stark ein. In manchen Fällen ist ein aggressives oder vermeidendes Verhalten jedoch durchaus angebracht.
Dass die anhaltende Angst je länger je passiver macht, hängt mit dem wachsenden Eindruck zusammen, der Angst wehrlos ausgeliefert zu sein; d. h., man betrachtet sich als unfähig, die bedrohliche Situation unter Kontrolle zu bringen oder wenigstens vorherzusehen. Untersuchungen von Seligman ergaben, dass bei wiederholter Erfahrung von Inkontingenz[20] die Hilflosigkeit generalisiert wird. Etwas salopp gesagt, machen Inkontingenzerfahrungen letztlich dumm, depressiv und passiv (vgl. Seligman, 1999).
Angst hat wie andere Affekte eine Halbwertszeit. So wie die Wut schnell verraucht, wenn sie nicht mehr weiter angeheizt wird, lässt auch die Angst automatisch nach, wenn keine Gefahr mehr droht. Während der Schreck in jedem Fall schnell nachlässt oder allenfalls in Panik umschlägt, kann eine ängstliche Gestimmtheit aber über eine sehr lange Zeit bestehen bleiben, obschon es keinen weiteren Grund mehr dafür gibt. In diesem Fall sorgt die Fantasie dafür, dass das Angstniveau weiterhin hochgehalten wird.
Angst zeigt immer eine Bedrohung der Bedürfnisbefriedigung an.[21] Darum sind die Ursachen der Angst bei den Bedürfnissen zu suchen, wobei die Ursachen nicht mit den Auslösern verwechselt werden dürfen. Sobald tatsächlich eine Bedürfnis spannung vorhanden ist, schlägt die Angst in Wut und anschliessend in Trauer um. Ein Kind im Sandkasten bekommt Angst, wenn ein anderes Kind droht, ihm die Schaufel wegzunehmen. Die Angst hält aber nur so lange an, wie es die Schaufel besitzt. Ist diese weg, folgt Wut und danach Trauer, es sei denn, die Wut löst einen erfolgreichen Gegenangriff aus. Nach überwun-
dener Trauer sucht das Kind vielleicht nach einem Ersatzwerkzeug.
Angst ist keine Voraussetzung, um Gefahren erkennen und darauf reagieren zu können. Da sie aber ein intuitives Programm ist, ist sie der Ratio in Bezug auf die Geschwindigkeit weit überlegen. Sie nimmt Bedrohungen wahr und setzt den Körper in Bereitschaft, bevor uns die Gefahr überhaupt bewusst wird. Doch nur darin liegt ihr Sinn und jede weitere Angstentwicklung ist bloss störend.[22] Jedenfalls ist die Angst etwas Existenzielles, ein Charakteristikum der Freiheit, ja des Daseins überhaupt, und wirkt so in allem Denken, Fühlen und Verhalten.[23]
4.2.3 Symptome
Die folgende Liste der akuten Angstsymptome ist weder vollständig noch gehen die einzelnen Merkmale ausschliesslich mit der Angst einher:
schnelle und flache Atmung, hohe Herz-/Pulsschlagfrequenz und hoher Blutdruck
Engegefühl, Brustschmerzen
verstärkte Durchblutung der Extremitäten und/oder des Kopfes,
verminderte Durchblutung der inneren Organe
Schwindel, weiche Knie, Erbleichen, Erröten, Kopfschmerzen
Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, trockener Mund, fehlender Appetit,
Harndrang, Stuhldrang, Einnässen, Einkoten
Schweissausbrüche (z. B. Achselhöhlen, Hände), Kälteschauer
angespannte Muskeln, Gänsehaut, Zittern (z. B. Hände), Krämpfe, allgemeine Erregung
erhöhte Reaktionsbereitschaft und -geschwindigkeit
angespannte Mimik (ausführlich beschrieben in Izard, 1981, 406-408)
weit aufgerissene Augen mit erweiterten Pupillen,
allgemeine Reizsensibilität, aber auch Wahrnehmungseinschränkungen
Weil die meisten Symptome unangenehm sind, ist man versucht, sie direkt zu bekämpfen, ohne überhaupt nach ihrem Sinn zu fragen. Um auf Bedrohungen reagieren zu können, braucht der Körper Sauerstoff. Dabei werden die Extremitäten gegenüber dem Gehirn oft bevorzugt, besonders im ersten Moment. Diese Bevorzugung kann uns beispielsweise helfen, einen entgegenfliegenden Gegenstand reflexartig abzuwehren, bevor uns hätte klar werden können, was passiert. Anderseits könnten wir damit direkt in die Gefahr hineinlaufen, etwa, wenn uns das Hupen eines Autos erschreckt. Da der Schreck aber eher lähmt, ist diese Verhaltensweise weniger wahrscheinlich. Weiter schützen wir uns, indem wir uns klein und unscheinbar machen. Das erklärt, warum die Atmung nicht nur schnell ist, sondern auch flach, und wie es zu einem Engegefühl kommen kann. In bedrohlichen Situati-
onen ist die Verdauung kein Thema, es sei denn, der Körper möchte überflüssigen Ballast loswerden. Mit der Unterbrechung der Verdauungstätigkeit wird auch die Speichelproduktion eingestellt, was die Mundtrockenheit erklärt. Weil mit erhöhter Muskelaktivität zu rechnen ist, wird der Körper durch Schwitzen abgekühlt, wobei es kurzfristig zu einem Kälteempfinden kommen kann. Muskelverhärtungen schützen vor Verletzungen und das Zittern hängt mit der erhöhten Reaktionsbereitschaft zusammen. Die vielen, schnell ablaufenden Prozesse im Körper können zu weiteren Symptomen wie Kopf- und Bauchschmerzen führen.
Die Affinität mit der Stresssymptomatik ist unübersehbar und deswegen fällt es der Angst leicht, sich hinter dem Stress zu verbergen. Wir sprechen deshalb lieber von Stress statt von Angst, weil Stress in unserer Gesellschaft etwas völlig Normales, Angst dagegen ein Tabu ist.[24]
4.2.4 Formen
Es gibt viele Möglichkeiten, um die verschiedenen Ängste der Menschen zu klassifizieren.[25] Eine Grenze lässt sich zwischen Furcht und Angst ziehen, wobei sich Furcht nach Kierkegaard auf etwas Bestimmtes bezieht, Angst hingegen ungerichtet ist (Kierkegaard, 2005, 42). Doch weil sich hinter der Furcht vor Objekten ganz andere Ängste verbergen können[26] und weil die Quelle einer diffusen Angst nicht für immer verborgen bleiben muss, verzichte ich auf diese Unterscheidung. Zudem werden die beiden Begriffe in der Alltagssprache meistens gleich verwendet. Ebenso unpraktisch ist eine Einteilung in reale und irreale oder objektive und subjektive Ängste, da sich alle Ängste auf die ungewisse Zukunft beziehen und man deshalb oft gar nicht im Voraus wissen kann, welche Gefahr echt ist und welche nicht. Ausserdem ist die Angst selbst immer real. Besser ist eine Trennung zwischen Ängsten, die sich auf die Aussenwelt beziehen und solchen, die psychische Vorgänge betreffen. So kann man sich einerseits vor Hagelschäden am Auto ängstigen, anderseits vor Triebregungen.[27]
Schwarzer unterscheidet zwischen Existenzangst, sozialer Angst und Leistungsangst. Existenzangst bezieht sich auf den Körper, soziale Angst auf die Beziehungen und Leistungsangst auf Aufgaben, die man sich selbst stellt oder die andere oder das Leben als solches verlangen (Sörensen, 1993, 66). Zwar lassen sich alle Kinderängste diesen drei Formen zuordnen, doch abgesehen davon, dass hiermit mehrere Ängste zusammengefasst werden können, hat diese Einteilung für meine Arbeit keine Bedeutung.
Vielversprechender scheinen mir die folgenden, von Riemann definierten Grundformen der Angst:
1. Die Angst vor der Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt
2. Die Angst vor der Selbstwerdung, als Ungeborgenheit und Isolierung erlebt
3. Die Angst vor der Wandlung, als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt
4. Die Angst vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt
(Riemann, 1992, 15).
Riemann macht deutlich, dass es unmöglich ist, angstfrei zu leben:
„Alle möglichen Ängste sind letztlich immer Varianten dieser vier Grundängste und hängen mit den vier Grundimpulsen zusammen, die ebenfalls zu unserem Dasein gehören und sich auch paarweise ergänzen und widersprechen: Als Streben nach Selbstbewahrung und Absonderung, mit dem Gegenstreben nach Selbsthingabe und Zugehörigkeit; und anderseits als Streben nach Dauer und Sicherheit, mit dem Gegenstreben nach Wandlung und Risiko. Zu jeder Strebung gehört die Angst vor der Gegenstrebung. Und doch […] scheint eine lebendige Ordnung nur möglich zu sein, wenn wir eine Gleichgewichtigkeit zwischen diesen antinomischen Impulsen zu leben versuchen. Eine solche Gleichgewichtigkeit bedeutet indessen nicht etwas Statisches, wie man meinen könnte, sondern sie ist voll ungemeiner innerer Dynamik, weil sie nie etwas Erreichtes, sondern etwas immer wieder Herzustellendes ist“ (ebd. 15f).
Das Ziel im Umgang mit Angst sieht folgendermassen aus:
„Wenn es jemanden gäbe, der sowohl die Angst vor der Hingabe in echtem Sinne verarbeitet hätte, und sich in liebendem Vertrauen dem Leben und den Mitmenschen öffnen könnte; der zugleich seine Individualität in freier, souveräner Weise zu leben wagte, ohne die Angst, aus schützenden Geborgenheiten zu fallen; der weiterhin die Angst vor der Vergänglichkeit angenommen hätte, und dennoch die Strecke seines Lebens fruchtbar und sinnvoll zu gestalten vermöge; und der schließlich die Ordnungen und Gesetze unserer Welt und unseres Lebens auf sich nähme, im Bewußtsein ihrer Notwenigkeit und Unausweichlichkeit, ohne die Angst, durch sie in seiner Freiheit zu sehr beschnitten zu werden – wenn es einen solchen Menschen gäbe, wir würden ihm zweifellos die höchste Reife und Menschlichkeit zuerkennen müssen. Aber wenn wir uns dem auch nur eingeschränkt nähern können, erscheint es doch als wesentlich, überhaupt das Bild einer vollen Menschlichkeit und Reife als Zielvorstellung zu haben; sie ist keine von Menschen erdachte Ideologie, sondern eine Entsprechung der großen Ordnungen des Weltsystems auf unserer menschlichen Ebene“ (ebd. 211f).
Eine besondere Form ist die Angstlust („thrill“)[28]. Um sie zu erleben, bringt man sich sogar absichtlich in Gefahr – scheinbar, aber auch ganz real. Auf jeden Fall muss die dabei erlebte Angst mit der Zuversicht verbunden sein, dass man wieder heil aus der Situation herauskommt. Begreiflich wird dieses Phänomen, wenn man bedenkt, dass der Mensch nicht primär nach Entspannung, sondern nach Homöostase strebt. Ausserdem ist Entspannung nur möglich, wenn ein gewisses Mass an Spannung vorhanden ist. Die Entspannung ist umso lustvoller, je grösser die vorangehende Spannung war.[29] Das erklärt die Faszination von Horrorfilmen, Geisterbahnen, Mutproben bei Initiationsriten und dergleichen. Während Fang- und Versteckspielen kann es bei den Verfolgten und Gesuchten nicht nur aufgrund der körperlichen Anstrengung zu Herzklopfen kommen, sondern auch wegen der Angst, erwischt zu werden. Solche Spiele kommen übrigens nicht bloss bei Kindern vor. Ich konnte einmal eine vierköpfige Fuchsfamilie beobachten, welche auf einem von der Sonne beschienenen Wiesenhang über zwanzig Minuten Fangen spielte, was vermutlich nicht nur dem Training diente, da sie einen sehr vergnügten Eindruck machten.
Die bereits beschriebene Funktionalität bringt uns schliesslich zur Trennung von normalen und pathologischen Ängsten. Davon handelt das nächste Kapitel und fortfolgend werde ich mich den Ängsten in der Entwicklung des Kindes nähern.
4.2.5 Störungen
Angststörungen definiert Angenendt so:
„Unter Angststörungen wird eine Gruppe von Störungen zusammengefasst, die durch exzessive Angstreaktionen bei gleichzeitigem Fehlen akuter externaler Gefahren und Bedrohungen charakterisiert sind. Die Abgrenzung gegenüber der ‚normalen’ Angst ergibt sich dabei nicht aus den unmittelbaren Reaktionsformen, d. h. die physiologischen, emotionalen, kognitiven und verhaltensbezogenen Merkmale sind bei ‚normale’ und ‚pathologischen’ Ängsten ähnlich. Unterschiedlich sind vielmehr Auslöser, Intensität, Dauer, Angemessenheit sowie die Folgen der Angstreaktionen“ (Angenendt, 2002, 119).
Wird eine Stadt über Wochen bombardiert, haben ihre Bewohner allen Grund zu grosser und ständiger Angst. In diesem Fall ist die Angst nicht krankhaft, höchstens krankmachend. Intensität und Dauer der Angst sind daher nicht ausschlaggebend für die Diagnose „Angststörung“. Entscheidend sind die Fragen, ob die Angst angemessen ist und welche Folgen sie hat. Inwieweit Betroffene unter der Angst leiden und in ihrem Alltag eingeschränkt werden, hängt von ihrem Umgang mit der Angst ab. Dazu Herzka: „Bei der pathologischen Entwicklung sind nicht Angst, Unsicherheit und Zweifel als solche abnorm, sondern es fehlen die Voraussetzungen, um mit Angst und Zweifel umzugehen, um beides auch ertragen zu lernen“ (Herzka, 1991, 92).
Hier die wichtigsten Angststörungen nach der ICD-10 (International Classification of Diseases):
Agoraphobie
Soziale Phobie
Spezifische (echte) Phobien
Panikstörungen
Generalisierte Angststörung (GAS) (Angenendt, 2002, 119).
Mindestens für die Phobien ist es kennzeichnend, dass die Betroffenen selbst wissen, wie übertrieben ihre Angst ist. Bei Panikstörungen und bei der GAS ist der Auslöser nicht bekannt.[30]
Abb. 2 veranschaulicht in einem Wertequadrat[31], dass nicht nur übermässige Ängste beachtet werden müssen, sondern auch ein Zuwenig an Angst (modifiziert nach Schmid, 2003, 55).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Wertequadrat der Angst
4.2.6 Entwicklung
„Der Mensch, in Wehen geboren, muß in Ängsten leben und in Schmerzen sterben!“
Kapitän Ahab in „Moby Dick“ von Herman Melville (S. 667)
Während der Schwangerschaft ist das neue Lebewesen in der Regel ganz geborgen und mit allem versorgt. Das ermöglicht ihm, der Welt grundsätzlich mit Neugierde und Vertrauen zu begegnen. Damit sich aber aus dem Vertrauen nicht Leichtsinn entwickelt, muss die Angst erlernt werden. Dafür braucht natürlich niemand zu sorgen, denn, so Schmid: „Das naive Vertrauen zerbricht zwangsläufig an den Erfahrungen des Lebens, in welchem nichts wirklich Bestand hat“ (Schmid, 2003, 48). Aufgrund dessen beschreibt Schmid drei Stufen des Angsterlebens:
1. naive Angstlosigkeit
2. Daseinsangst
3. Existenzangst
Auf der Stufe der naiven Angstlosigkeit gibt es noch keine Vorstellung von vitalen Bedrohungen und der Frage nach dem Sinn des Seins. Die Daseinsangst umfasst alle Überlegungen, welche die Gefährdung des Körpers betreffen. Die Existenzangst ist die Angst vor dem Verlust von Lebenssinn (ebd. 50f).
Die Geburt ist für alle Kinder ein mehr oder weniger extremes Erlebnis und wird von Symptomen begleitet, die genau auf die der Angst passen. Diese allein beweisen jedoch noch nicht die Anwesenheit von Angst, denn sie könnten auch bloss ein Ausdruck von Stress sein.[32] Es gibt insofern keine eindeutige Antwort auf die Frage, wann ein Mensch zum ersten Mal Angst erlebt. Voraussetzung für die Angstentwicklung ist eine negative Erwartung, welche sich durch die Wahrnehmung und Speicherung entsprechender Ereignisse bilden kann. Die Geburt ist sicher nicht die erste unerfreuliche Erfahrung, wenn man zum Beispiel bedenkt, dass das Kind selber den Impuls für die Wehen gibt, woraus man schliessen kann, dass es im Mutterleib nicht mehr angenehm ist und es deshalb raus will (s. auch 4.1.4). Welche Eindrücke die prä- und perinatalen Erfahrungen beim Kind hinterlassen, ist, wenn überhaupt, zwar nur sehr schwer festzustellen, aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass die Angstentwicklung erst bei der Geburt beginnt. Dementsprechend finde ich es fragwürdig, wenn man die Geburt wie Rank als Trauma mit „ungeheuren seelischen Folgen für die gesamte Entwicklung der Menschheit“ betrachtet (Rank, 1988, 21). Dagegen spricht auch S. Freuds Hinweis, dass die Angst nicht unmittelbar nach der Geburt am stärksten ist, sondern erst später hervortritt (Freud S., 2004, 80). Trotzdem war S. Freud der Meinung, dass in der Geburt der Ursprung der Angst liegt (ebd. 81). Jedenfalls zeigen Phänomene wie Häuschenspiele[33], dass das Thema der Geburt, nämlich die Trennung von der Mutter, die Kinder weiterhin begleitet.
Gemäss Du Bois ist der Säugling während den ersten 10 Wochen relativ unempfindlich gegen äussere Reize (Du Bois, 2007, 43). Danach reagiert er, indem er seinen Kopf abwendet (Flucht), schreit (Aggression) oder sich durch orale Stimulierung beruhigt (Innovation). Doch selbst diese angeborenen Reaktionsmuster sind kein Beweis für Angst, denn sonst müsste auch die Schnecke Angst empfinden, wenn sie auf Gefahren reagiert, indem sie sich in ihr Haus zurückzieht. Um Angst zu haben, fehlt es wahrscheinlich beiden an der Fähigkeit, sich die Zukunft auszumalen und Erwartungen an sie zu richten.
Ich habe weder die Symptome noch die Verhaltensreaktionen als Beweis für Angst gelten lassen. Ist echte Angst erst möglich, wenn sich das Kind etwas vorzustellen beginnt? Ganz unberechtigt ist diese Frage nicht. Immerhin weisen einige Autoren darauf hin, dass Angst erst etwa ab dem 6. Lebensmonat beobachtbar ist (z. B. Ekman, 1988; 129, Wildermuth, 2006, 12). Wenn ein Säugling wegen Koliken schreit, ist das wahrscheinlich keine Reaktion auf die Angst, sondern eine auf den Schmerz; Lärm macht nicht unbedingt Angst, sondern genauso gut wütend. Aber es würde zu weit gehen, wenn man die Angst vor dem Stadium der Objektkonstanz[34] oder gar vor der Überwindung der sensumotorischen Phase[35] völlig ausschliesst. S. Freud vermutet, dass beim Säugling einiges zusammenfliesst, was später gesondert wird (Freud S., 2004, 111). Vielleicht ist es nun doch hilfreich, im Sinne der differenziellen Emotionstheorie von Izard zwischen Furcht und Angst zu unterscheiden, wonach die Angst eine Kombination aus Furcht und andern fundamentalen Emotionen ist (Izard, 1981, 428f). Anderseits genügt es zu wissen, dass die Angst zu den komplexeren Affekten zählt und verschiedene Aspekte beinhalten kann (s. 4.2.1). Wenn ein Säugling von einem Hund plötzlich angebellt wird, erschrickt er wahrscheinlich nur, ohne Angst davor zu haben, d. h. ohne sich Sorgen zu machen, dass der Hund ihm mehr als das antun könnte. Der Schreck kann allerdings so intensiv sein, dass der Säugling trotzdem sehr heftig reagiert.
Wir befinden uns bereits mitten in der Entwicklung des Kindes, in der ständig neue Ängste auftauchen und alte verschwinden. Weil laut Du Bois die Instinktbindung beim Menschen weitgehend verloren gegangen ist, ist seine Angst weder an bestimmte Auslöser noch an bestimmte Reaktionsmuster gebunden (Du Bois, 2007, 13). Doch x-beliebig tauchen die einzelnen Ängste nicht auf, denn, so S. Freud: „Bei welchen Gelegenheiten, d. h. vor welchen Objekten und in welchen Situationen die Angst auftritt, wird natürlich zum großen Teil von dem Stande unseres Wissens und von unserem Machtgefühl gegen die Außenwelt abhängen“ (Freud S., 2003, 376). Auch Ismael in Melvilles „Moby Dick“ erkennt: „Unwissenheit erzeugt Angst“ (Melville, 2001, 63). Wenn man versteht, wie Blitz und Donner entstehen und dass der Blitzableiter am Haus einen verlässlichen Schutz bietet, braucht man sich drinnen nicht mehr vor Gewittern zu fürchten und kann stattdessen das Naturschauspiel geniessen. Damit ist aber nur die Hälfte gesagt, denn auch Wissen erzeugt Angst. Einem Neugeborenen ist noch nicht bekannt, dass sein Körper verwundbar ist, und schon gar nicht, dass es sterben kann. Da jedoch nicht die Angstfreiheit, sondern die Entwicklung der Kinder das oberste Ziel ist, erweisen wir ihnen keinen guten Dienst, wenn wir ihnen Wissen, welches Angst machen kann, grundsätzlich vorenthalten, insbesondere deshalb, weil sie gemäss S. Freud wenig Realangst mitbringen (Freud S., 2003, 389). Das schliesst nicht aus, für die Aufklärung einen geeigneten Zeitpunkt auszusuchen. Dieser lässt sich am besten ausfindig machen, indem wir auf die kindlichen Verhaltensweisen wie Fragen und Spiele achten, die andeuten, welche Themen bei ihnen gerade aktuell sind. Gleichzeitig mit der Wissensvermittlung müssen wir den Kindern aber auch zeigen, wie sie mit Gefahren und Ängsten umgehen können. Bei all dem müssen wir aufpassen, dass wir nicht unsere eigenen übermässigen Ängste auf die Kinder übertragen.
Angstfreiheit ist vielleicht erst wieder im Angesicht des Todes möglich, wenn man mit seinem Leben abgeschlossen hat, also frei von Erwartungen an sich und an andere ist, nichts mehr zu verlieren hat und keine Angst vor dem empfindet, was kommt.
Kurz zusammengefasst sind unangenehme Erlebnisse und deren Vorwegnahme die Voraussetzung für Angst. Der Affekt entwickelt sich also erst allmählich, indem er sich – abhängig vom Wissen und Können und von sozialen Einflüssen – mehr und mehr ausdifferenziert und in das Denken und Verhalten integriert wird. Wann ein Kind zum ersten Mal bewusst Angst empfindet, lässt sich nicht genau sagen. Ein wichtiger Entwicklungsschritt erfolgt aber dann, wenn sich das Vorstellungsvermögen ausbildet, welches ermöglicht, dass sich die Angst auf die Zukunft richten kann.
5 Angst bei Kindern mit geistiger Behinderung
Weil sich Kinder mit einer geistigen Behinderung noch mehr voneinander unterscheiden als normal behinderte, kann ich an dieser Stelle lediglich einige allgemeine Bemerkungen anbringen.
Prinzipiell verläuft ihre Entwicklung wie bei nichtbehinderten Kindern, nur langsamer und früher an Grenzen stossend. Senckel weist darauf hin, dass die Erkenntnisse der allgemeinen Psychologie, insbesondere der Entwicklungspsychologie, tatsächlich allgemein gelten, also auch für Menschen mit einer geistigen Behinderung (Senckel, 2000, 17). Der grosse Unterschied besteht darin, dass ihr Entwicklungstand in den einzelnen Bereichen wie Motorik, Wahrnehmung, Kognition, Sozialverhalten usw. trotz der gegenseitigen Abhängigkeit dieser Bereiche im Vergleich mit normal behinderten Menschen meist sehr verschieden ist. Indem wir allzu gerne unsere induktive Denkfähigkeit nutzen, übersehen wir die Diskrepanzen jedoch häufig und kommen dadurch zu Fehleinschätzungen. Beispielsweise überschätzen wir ein Kind, weil wir uns von seinem umfangreichen Wortschatz täuschen lassen und deshalb nicht sehen, dass es einfache Zusammenhänge nicht begreift. Oder wir lassen uns von seinen motorischen Einschränkungen blenden und übersehen so seine weit reichenden Kompetenzen und Wirkungen im sozialen Bereich. Doch wenn wir die einzelnen Bereiche auseinander halten und über die Altersangaben hinwegsehen, können wir uns am üblichen Entwicklungsverlauf orientieren, denn die Reihenfolge der einzelnen Schritte und Phasen ist in der Regel dieselbe. Allerdings darf das Alter nicht völlig un-berücksichtigt bleiben, denn egal, auf welcher Entwicklungsstufe sich ein Mensch befindet, drückt sein Alter immer Lebenserfahrung aus und hat eine gesellschaftliche Bedeutung. So ist nicht die Reife, sondern das Alter das entscheidende Kriterium fürs Erwachsensein.
Über die Ängste von Kindern mit einer geistigen Behinderung gibt es kaum epidemiologische Forschungen. Eine Prävalenz lässt sich oft nur anhand von Reaktionen eruieren, da diese Kinder selten in der Lage sind, ihre Ängste selbst zu benennen. Neben den üblichen Symptomen können sich ihre Ängste aufgrund der eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten auch in andern Verhaltensauffälligkeiten äussern. Gemäss Theunissen weisen 10 bis 40 % aller Menschen mit einer geistigen Behinderung Verhaltensauffälligkeiten auf (Theunissen, 2005, 50). Nun sind Verhaltensauffälligkeiten aber normabhängig und können verschiedene Ursachen haben.
Meyer kommt in einer Studie zum Schluss, „dass Lehrer 37,6 % ihrer geistig behinderten Schüler eine starke Angstbereitschaft zuschreiben, wobei bei 10 % der Schüler die Angst als therapiebedürftig eingeschätzt wird“ (Luxen, 2003, 246). In einer andern Untersuchung diagnostizierte Emerson bei 8,7 % der Kinder mit einer geistigen Behinderung eine Angststörung, während die Häufigkeit bei nichtbehinderten Kindern weniger als halb so gross war (Sarimski, 2005, 126f). Es gibt allerdings zahlreiche Studien, die bei nichtbehinderten Jugendlichen eine Häufigkeit von 10 % feststellten (Schneider, 2004, 95-97; Felder & Herzka, 2000, 175). Im Übrigen nimmt die Häufigkeit von psychischen Störungen mit zunehmender Behinderung zu (Sarimski, 2005, 126; Felder & Herzka, 2000, 124). Daraus lässt sich jedoch nicht unbedingt schliessen, dass bei schwereren Behinderungen auch Ängste häufiger sind, da manche Ängste entwicklungsbedingt nur bei Kindern mit leichteren kognitiven Beeinträchtigungen möglich sind.
Geschlechtsspezifische Unterschiede können aus Untersuchungen von normal behinderten Kindern abgeleitet werden, die sich aber meistens nur auf Angststörungen beziehen. Eine Studie von Schellhas zeigt, dass die allgemeine Ängstlichkeit im Alter von 7 Jahren bei Mädchen und Jungen gleich hoch ist. Doch danach nimmt die Ängstlichkeit der Mädchen signifikant zu, während sie bei den Jungen zuerst abnimmt und erst im Alter von 9 Jahren ungefähr gleich stark ansteigt wie bei den Mädchen, allerdings auf einem tieferen Niveau. Die Abweichung lässt sich teilweise durch eine ungleich starke Angstabwehr erklären (Schellhas, 1993, 112-117). Gemäss Schneider weisen Mädchen 2- bis 4-mal höhere Raten von Angststörungen auf als Jungen. Sie referiert sowohl die biologischen als auch die psychosozialen Erklärungsansätze, plädiert aber – meiner Meinung nach zu Recht – eher für die Geschlechtsrollenhypothese (Schneider, 2004, 63f).
[...]
[1] Ob am Anfang der Affekt, der Gedanke oder gar eine körperliche Veränderung steht, ist eine Huhn-oder-Ei-Frage und für diese Arbeit irrelevant. Deshalb verzichte ich darauf, die verschiedenen Affekttheorien von James, Schachter usw. zu referieren.
[2] Folglich werden auch alle unsere Handlungen von Affekten beeinflusst. Im Gegensatz dazu bedeutet „Affekthandlung“ in der Umgangssprache, dass die betroffene Person aufgrund einer starken Erregung keine oder nur eine eingeschränkte Kontrolle über ihr Verhalten hat.
[3] „Chaostheorie“ ist die „Theorie der nichtlinearen Dynamik komplexer Systeme“ (ebd. 132).
[4] Vgl. Kuhn, 2003.
[5] S. Schilderung eines Fussballländerspiels (ebd. 245).
[6] Von Chrysippos, dem dritten Schulhaupt der Stoa, stammt die Wendung „Der Weise ist ohne Affekt“ (zitiert nach Hengelbrock, 1971, Sp. 90).
[7] Vgl. Ernst, 2003.
[8] Das Resultat eines intuitiven Vorgangs bezeichnen wir auch als Bauchgefühl. Doch erst seit einigen Jahren gibt es eine Erklärung dafür. Es hat sich nämlich gezeigt, dass sich im Bauch mehr Nervenzellen befinden als im gesamten Rückenmark und neunzig Prozent der Nervenstränge zwischen Bauch und Gehirn von unten nach oben führen (Luczak, 2000). Der Bauch kann darum als Hilfshirn bezeichnet werden.
[9] Über den Katalog der Grundgefühle herrscht keine Einigkeit. Izard zum Beispiel zählt Interesse-Erregung, Freude, Überraschung, Kummer-Schmerz, Zorn, Ekel, Geringschätzung, Furcht, Scham und Schuld zu den fundamentalen Emotionen (Izard, 1981, 108-115).
[10] Die Elektroenzephalographie (EEG) macht die elektrischen Aktivitäten des Gehirns sichtbar.
[11] „Homöostase“ meint hier ein ausgleichender Zustand, der sich zwar tendenziell in der Mitte befindet, aber je nach vorangehender Situation auch nahe beim Gegenpol liegen kann. Beispielsweise möchten wir uns nach einer langen Wanderung nur noch hinlegen – bei einem Beinbruch hingegen sehnen wir uns je länger je mehr nach Bewegung.
[12] Vgl. Ekman, 1988, 21 u. 23.
[13] Basiert auf S. Freuds psychoanalytischem Persönlichkeitsmodell mit den Instanzen Es, Ich und Über-Ich (Hobmair, 2003, 109-111).
[14] Vgl. die emotionalen Schlüsselfertigkeiten nach Saarni (Petermann, 2003, 13f).
[15] Als formale Kennzeichen der Angstlogik nennt Ciompi Beweglichkeit und Tempo, aber auch Hemmung (Ciompi, 2005, 105).
[16] Deimos (Schreck) und Phobos (Furcht) sind in der griechischen Mythologie Söhne des Kriegsgottes Ares und der Liebesgöttin Aphrodite. Von Phobos ist der Begriff „Phobie“ abgeleitet (www.wikipedia.de, „Phobos (Mythologie)“).
[17] Wurde der griechische Hirtengott Pan in der Mittagsstunde gestört, pflegte er die Schafherde durch schreckliche Laute davonzujagen (ebd., „Pan (Mythologie)“).
[18] Die Unterscheidung zwischen Angst als Zustand („anxiety state“) und Angst als Wesenszug („anxiety trait“) geht auf Spielberger zurück (Sörensen, 1993, 6-8).
[19] Beide Zitate lassen sich unter www.aphorismen.de finden.
[20] „Inkontingenz“ bedeutet in diesem Zusammenhang die Unmöglichkeit, dass das eigene Verhalten einen Einfluss auf ein bestimmtes Ereignis hat.
[21] S. Freud spricht im gleichen Sinn von der Gefahr der Unbefriedigung, des Anwachsens einer Bedürfnisspannung, gegen die der Mensch ohnmächtig ist (Freud S., 2004, 81).
[22] Das sieht auch S. Freud so, der darauf hinweist, dass übermässige Angst jede Aktion lähmt. Auf die Frage nach der Zweckmässigkeit der Angst gibt er folgende Antwort: „Je mehr sich die Angstentwicklung auf einen bloßen Ansatz, auf ein Signal einschränkt, desto ungestörter vollzieht sich die Umsetzung der Angstbereitschaft in Aktion, desto zweckmäßiger gestaltet sich der ganze Ablauf“ (Freud S., 2003, 377).
[23] Nach Kierkegaard liegt die Angst in der Möglichkeit, sie ist „der Schwindel der Freiheit“ (Kierkegaard, 2005, 64). Gemäss Heidegger ist das Wovor der Angst „das In-der-Welt-sein als solches“ (Heidegger, 1986, 186).
[24] Durch die Unterscheidung zwischen Eustress und Disstress zeigt sich die positive Seite des Stresses viel deutlicher als die bei der Angst.
[25] Vgl. „Angst. Facetten eines Urgefühls“, das Autorenbeiträge zu diversen Angstformen enthält (Schultz, 1995).
[26] Schmid nimmt an, dass jede Angst drei Komponenten enthält, nämlich ein Anteil von berechtigter Furcht, ein Anteil von Furcht, die durch eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung einer negativen Erfahrung entstanden ist und ein Anteil von phobischer Furcht, welche eine auf Objekte und Situationen fixierte diffuse Lebensangst ausdrückt. Für jede Komponente empfiehlt sich ein anderer Umgang (Schmid, 2003, 71-73).
[27] Dies entspricht S. Freuds Unterscheidung zwischen Realangst und neurotischer Angst (Freud S., 2005b, 86). Er schreibt an anderer Stelle, dass die äussere Gefahr verinnerlicht werden muss, um bedeutsam zu werden, und dass die neurotische Angst durchaus real begründet ist, sofern der Trieb real ist (Freud S., 2004, 109). Zu erwähnen ist noch die Angst vor dem Über-Ich, das Schuld- oder Schamgefühle hervorrufen kann.
[28] Vgl. Balint, 1991.
[29] Ich habe den Eindruck, dass diese Tatsachen an heilpädagogischen Schulen häufig ausser Acht gelassen werden und dass man sich deswegen allzu oft krampfhaft um Entspannung bemüht. In diesem Sinne müssen auch all die Präventions- und Interventionskampagnen (z. B. Petermann & Petermann, 2005) hinterfragt werden, die nur auf die „Vernunft“ appellieren und keine Möglichkeit bieten, das Bedürfnis nach „Unvernunft“ auszuleben.
[30] Definitionen zu den einzelnen Störungen lassen sich bei Angenendt finden (Angenendt, 2002, 120-123).
[31] Vgl. Helwig, 1951.
[32] Vielleicht unterstellen wir den Kindern während der Geburt deshalb gerne Angst, weil wir ahnen, dass bei uns hinter dem, was wir als Stress bezeichnen, oft Angst steht.
[33] Zulliger beschreibt dazu einen eindrücklichen Fall (Zulliger, 1966, 11-13).
[34] „Objektkonstanz“ meint die Erkenntnis, dass Objekte auch dann existieren, wenn man sie nicht sieht. Sie entwickelt sich zwischen dem 6. und 8. Lebensmonat. Hat ein Säugling diese Stufe erreicht, reagiert er mit Weinen, wenn ihm sein Lieblingsspielzeug weggenommen wird, denn er vermisst es nun. Vorher galt: Aus den Augen, aus dem Sinn (eigene Notizen aus dem Psychologieunterricht).
[35] In seinem kognitiven Entwicklungsmodell unterscheidet Piaget vier Hauptstadien: 1. sensumotorische Phase mit sechs Abschnitten (bis zum 2. Lebensjahr), 2. präoperationale Phase mit zwei Abschnitten (2. bis 6./7. Lebensjahr), 3. konkret-operationale Phase (6./7. bis 11./12. Lebensjahr), 4. formal-operationale Phase (ab dem 11./12. Lebensjahr). Mit der Fähigkeit, probeweise im Kopf zu handeln, schafft der Säugling etwa ab dem 18. Lebensmonat den Übergang von der sensumotorischen Phase zum präoperationalen Denken. Erst jetzt kann der Weg eines Objekts gedanklich verfolgt werden, was als „Objektpermanenz“ bezeichnet wird. Versteckt man das Lieblingsspielzeug des Säuglings hinter seinem Rücken, fängt er nicht zu weinen an, sondern dreht sich um (eigene Zusammenfassung aus dem Psychologieunterricht).
- Citar trabajo
- Manuel Beusch (Autor), 2007, Angst bei Kindern mit geistiger Behinderung, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88294
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