orwort
Religiöses Erleben und Erfahren ist eine Eigenart des Menschen, die sein Dasein prägen und sein Handeln ganz wesentlich bestimmen kann. Auch wenn bewußt gelebte und bezeugte Religiosität heute nicht mehr „in“ ist und in der öffentlichen Diskussion mehr und mehr an den Rand gedrängt wird, wächst doch zugleich die Sehnsucht nach Lebensorientierung und Sinnvergewisserung, um den Herausforderungen der Zeit begegnen zu können, und um das eigene Leben zu gestalten und zu einem würdigen und gelungenen Ende zu bringen.
Die Chance dazu sieht William James im „religiösen Appetit des Menschen“, den er mit seinem Werk „Die Vielfalt religiöser Erfahrung“1 mit einer Fülle von Einzelbeispielen und wissenschaftlichen Reflexionen zum Thema auf seine Weise zu stillen versucht. Einige seiner Thesen werden im Folgenden Gegenstand der Betrachtung sein.
Eine religionsphilosophische Auseinandersetzung mit dem Anspruch auf Objektivität hinsichtlich der Gestaltenvielfalt von Erfahrung und der Eigengesetzlichkeit religiöser Erfahrung soll versucht werden anhand des grundlegenden Werkes von Richard Schaeffler2, der Erfahrung als einen dialogischen Vorgang bezeichnet, in dem der Mensch auf den Anspruch der Wirklichkeit mit seinem Anschauen und Denken im Laufe der Geschichte auf unterschiedliche Weise geantwortet hat.
Daß ein Sich-Einlassen auf Religion tatsächlich das Leben des Einzelnen radikal verändern und in ein sinnvolles und sinnstiftendes Dasein verwandeln kann, soll am Beispiel der religiösen Erfahrung des zeitgenössischen Künstlers Johannes Schreiter gezeigt werden. Seine Erkenntnisse und Überlegungen mögen als lebendiger Beitrag und als ganz persönliches Zeugnis von einer immerwährenden über-weltlichen Macht und Göttlichkeit die Lehren von William James und Richard Schaeffler ergänzen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Einleitende Bemerkungen zu Erfahrung und religiöser Erfahrung
2. Konkretisierung der Erfahrung und der religiösen Erfahrung anhand der religionsphilosophischen Thesen Richard Schaefflers
2.1. Zur Theorie der „Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit“
2.1.1. Warum die transzendentalphilosophische Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung heute neu gestellt werden muß
2.2.1. Das responsorische Geschehen
2.2.2. Das „Ereignis“
2.2.3. Der antizipatorische Charakter
2.3. Die Eigengesetzlichkeit einer Welt der religiösen Erfahrung
2.3.1. Subjektives Erlebnis, Interpretation oder objektiv gültige Erfahrung?
2.3.2. Das Zur-Antwort-Herausgefordert-Sein und die neue Weltsicht
2.3.3. Von „numinoser Freiheit“, „protologischem Kontext“ und „eschatologischer Hoffnung“ - Begrifflichkeiten religiöser Erfahrung
2.4. Mystik als „Grenzfall“ religiöser Erfahrung
2.5. Fazit
3. Spezifizierung der religiösen Erfahrung als individuell- lebensgeschichtliches Ereignis durch William James
3.1. James´ Prinzipien und Thesen bezüglich religiöser Erfahrung
3.1.1. Die Bedeutung von Existenzurteil und Werturteil mit Bezug auf religiöse Erfahrung
3.2. Charakteristika religiöser Erfahrung
3.2.1. Das In-Beziehung-Sein mit dem Göttlichen
3.2.2. Die „Früchte der Erkenntnis“
3.3. Psychologie und Psychopathologie religiösen Erlebens
3.3.1. Die besondere religiöse Bereitschaft der „Zweimal-Geborenen“
3.3.2. Das „subliminale Bewußtsein“ als psychologischer Aspekt religiöser Erfahrung
3.3.3. „Gefühl“ und „Verhalten“ als „Stromkreis der Religion“
3.3.4. Das „transmarginale Feld“ als psychologischer Deutungsbegriff für den Wahrheitsgehalt einer religiösen Erfahrung
3.4. Fazit
4. Kunst als Sinnbild religiöser Erfahrung - Zum religiösen und künstlerischen Lebensweg Johannes Schreiters
4.1. Zur Person
4.2. Das „Ereignis“
4.3. Die Antwort des Menschen
4.4. Die Antwort des Künstlers: Dem Unnennbaren Gestalt geben
Schlußbemerkung
Literaturverzeichnis
Vorwort
Religiöses Erleben und Erfahren ist eine Eigenart des Menschen, die sein Dasein prägen und sein Handeln ganz wesentlich bestimmen kann. Auch wenn bewußt gelebte und bezeugte Religiosität heute nicht mehr „in“ ist und in der öffentlichen Diskussion mehr und mehr an den Rand gedrängt wird, wächst doch zugleich die Sehnsucht nach Lebensorientierung und Sinnvergewisserung, um den Herausforderungen der Zeit begegnen zu können, und um das eigene Leben zu gestalten und zu einem würdigen und gelungenen Ende zu bringen.
Die Chance dazu sieht William James im „religiösen Appetit des Menschen“, den er mit seinem Werk „Die Vielfalt religiöser Erfahrung“[1] mit einer Fülle von Einzelbeispielen und wissenschaftlichen Reflexionen zum Thema auf seine Weise zu stillen versucht. Einige seiner Thesen werden im Folgenden Gegenstand der Betrachtung sein.
Eine religionsphilosophische Auseinandersetzung mit dem Anspruch auf Objektivität hinsichtlich der Gestaltenvielfalt von Erfahrung und der Eigengesetzlichkeit religiöser Erfahrung soll versucht werden anhand des grundlegenden Werkes von Richard Schaeffler[2], der Erfahrung als einen dialogischen Vorgang bezeichnet, in dem der Mensch auf den Anspruch der Wirklichkeit mit seinem Anschauen und Denken im Laufe der Geschichte auf unterschiedliche Weise geantwortet hat.
Daß ein Sich-Einlassen auf Religion tatsächlich das Leben des Einzelnen radikal verändern und in ein sinnvolles und sinnstiftendes Dasein verwandeln kann, soll am Beispiel der religiösen Erfahrung des zeitgenössischen Künstlers Johannes Schreiter gezeigt werden. Seine Erkenntnisse und Überlegungen mögen als lebendiger Beitrag und als ganz persönliches Zeugnis von einer immerwährenden über-weltlichen Macht und Göttlichkeit die Lehren von William James und Richard Schaeffler ergänzen.
1. Einleitende Bemerkungen zu Erfahrung und religiöser Erfahrung
Jeder Mensch kann täglich die Erfahrung machen, daß es neben den Dingen, die er in der Außenwelt sehen und berühren kann, noch andere Dinge gibt, die nur in seiner Innenwelt präsent sind. Dieses Innen vermittelt ihm eine Welt von Bildern und Gefühlen, von Gedanken und Ideen, die er als ebenso wirklich und direkt wahrnehmbar empfindet, wie die real existierende Welt. Die Wahrnehmungen aus der einen Welt scheinen dabei die der anderen zu beeinflussen und zu ergänzen, und so pendelt der Mensch zwischen einem Innen und einem Außen, ohne sich im allgemeinen darüber Gedanken zu machen. Und doch handelt es sich bei diesem Innen und Außen um zwei grundverschiedene Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Erkenntniswelten, um zwei Seiten des Bewußtseins und um zwei Arten von Realität.
Das Außen kennzeichnen wir mit Begriffen wie „materiell“, „objektiv“, „analytisch“ oder „naturalistisch“ und meinen damit das quantitativ Beobachtbare und Meßbare der uns umgebenden empirischen Welt. Dies ist eine Betrachtungsweise, wie sie auch Ken Wilber als die grundlegende Betrachtungsweise der Menschen der west-lichen Hemisphäre bezeichnet.[3]
Das Innen dagegen erscheint als subjektiv, bizarr, gefühlsbetont, ungeordnet, bild-haft und farbig, und es sind Gedanken, Träume, Wünsche, Ängste, Hoffnungen und Erinnerungen, die in unserem Bewußtsein auftauchen. Es sind Eindrücke, die uns direkt in unserem Menschsein berühren und uns Erfahrungen wie Freude, Trauer, Liebe oder Schmerz auf eine ganz subjektive und unmittelbare Weise vermitteln. Diese direkte Art der unmittelbaren Wahrnehmung und Erfahrung ist uns allen jederzeit zugänglich, taucht plötzlich in uns auf oder ist uns einfach gegeben. Doch die Bedeutung, die wir den inneren Informationen zumessen, scheint vom jeweiligen Erleben abzuhängen und bestimmt die Qualität unserer Erfahrung. So beschreibt Ronald Laing, daß wir beim Musikhören zwar um die Quantität der Noten und Tonhöhen wissen können, aber in der „dramatischen, dynamischen Struktur der Melodie“, die uns anspricht und auf die wir mit „einer augenblicklichen sympatischen Resonanz“ antworten und mittönend zu ihr in Verbindung treten, die qualitative Bedeutung der Musik für uns erkennen.[4]
Beide Erfahrungsweisen, die des empirisch und objektiv Meßbaren wie die des unmittelbar und subjektiv Wahrnehmbaren, weisen auf die Realitäten unseres Lebens hin. Es ist zwar eine nützliche Unterscheidung, die Welt dualistisch in objektive und subjektiveTatsachen einzuteilen. Die objektivierende Weltbetrachtung hat die Wissenschaft zu ungeahnten Höchstleistungen inspiriert und sicherlich in vielen Bereichen unseres Lebens segensreich gewirkt. Sie hat aber auch Bomben und Raketen hervorgebracht und ein Zerstörungspotential geschaffen, mit dem die Menschheit durchaus in der Lage ist, den eigenen Lebensraum und sich selbst zu zerstören. In dieser verwissenschaftlichten Welt hat der Mensch in seinem Sosein kaum mehr einen Platz, denn die „wissenschaftliche objektive Welt ist nicht die Welt des realen Lebens. Sie ist ein äußerst kompliziertes Kunstprodukt, geschaf-fen in vielfältigen Operationen, die die unmittelbare Erfahrung in ihrer ganzen scheinbaren Unzuverlässigkeit aus ihrer Gedankenfolge wirkungsvoll und wirksam ausschließt“.[5]
Das, was unsere Lebensqualität aber ausmacht, was unserem Leben Bedeutung gibt und die Art und Weise unseres Seins im menschlichen Miteinander charakterisiert, scheint mehr in dem präsent zu sein, was in unseren inneren Erfahrungen zum Ausdruck kommt. Mitgefühl und Freundschaft, Liebe und Haß, Hoffnung, Vertrauen oder Verzweiflung erschüttern das menschliche Herz tiefer, als jede noch so erstaunliche und überzeugende wissenschaftliche Erkenntnis dies je vermag.
Es ist also notwendig, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen unserer Innen- und unserer Außenwelt zu finden. So gilt es als geistig gesund, mit der Außenwelt in Kontakt zu sein. Ronald Laing meint: „Wir sind sozial darauf trainiert, die totale Versenkung in den äußeren Raum und die äußere Zeit für normal und gesund zu halten. Versenkung in den inneren Raum und die innere Zeit gilt als antisozialer Rückzug, als Abweichung, als krankhaft, per se pathologisch und gewissermaßen diskreditierend“.[6] Aber ebenso sehen wir es als geistig gesund an, den Unterschied
zwischen richtig und falsch oder gut und böse zu kennen. Jede Einseitigkeit ist Zeichen einer Entfremdung des Menschen entweder von sich selbst oder von der ihn umgebenden Welt. Und nachdem der Schwerpunkt der Betrachtungen zumindest im Westen über lange Zeit fast ausschließlich dem Erforschen und Beobachten des Außen galt, scheint es nun notwendig und an der Zeit, den Blick auch wieder auf das Innen des Menschen zu lenken und den Geheimnissen seines Welterlebens und Welterfahrens nachzuspüren. „Der neuen Undurchdringlichkeit der Lebenswelt soll durch intensive, aber überschaubare Erfahrungswelten begegnet werden“, so greift Dietmar Mieth ein Zitat von Jürgen Habermas auf und meint weiter: „Insbesondere die religiöse Erfahrung stellt mit der Zunahme der Resignation gegenüber dem einerseits unaufhaltsamen und andererseits immer zweideutiger werdenden Fortschritt von Wissenschaft, Technik und Ökonomie einen Zufluchtsort dar, an dem die Menschen alte Geborgenheiten neu zu entdecken scheinen“.[7]
Was also ist nun Erfahrung? Welches sind ihre Strukturen und Elemente? Und was kennzeichnet besonders die religiöse Erfahrung?
2. Konkretisierung der Erfahrung und der religiösen Erfahrung anhand der religionsphilosophischen Thesen Richard Schaefflers
In einführenden Erläuterungen zu seinem umfassenden Werk schreibt Richard Schaeffler, daß Erfahrung insofern als ein dialogischer Vorgang angesehen werden kann, als der Mensch auf den Anspruch der Wirklichkeit durch sein Anschauen und Denken auf individuell-subjektive Weise antwortet. Die Folge dieser je eigenen Antwort ist eine „Vielfalt von Antwortformen, aus der die Vielfalt von Erfahrungsweisen hervorgeht“, die sich in einem geschichtlichen Prozeß entfalten, der „in den verschiedenen Kulturen auf je spezifische Weise“ verläuft.[8] Jede Theorie aber, welche „diese spezifisch strukturierten Erfahrungswelten wie beziehungslose Größen interpretiert“, muß unzulänglich bleiben. Es bedarf also ordnender Elemente, um sowohl dieser „Gestaltverschiedenheit“ als auch „ihrer gegenseitigen Durchdringung“ gerecht zu werden und dabei den „Anspruch auf Objektivität“ angesichts dieser strukturell verschiedenen Eigengesetzlichkeiten von Erfahrung einzulösen.[9]
Dazu empfiehlt Schaeffler, „an den regulativen Ideen der Einheit des Ich und der geordneten Ganzheit der allumfassenden einen Welt festzuhalten“ und greift damit letztlich auf die zwei grundlegenden Arten des In-Der-Welt-Seins zurück, das Innen und Außen der Welterfahrung des Menschen, wie sie oben angedeutet und von vielen Autoren immer wieder beschrieben wurden. Über diese „Zielvorstellungen von Ich und Welt“ sollen sich dann „Inhalte einer in transzendentaler Hinsicht notwendigen Hoffnung“ ergeben, „die sich in Postulaten des theoretischen Vernunftgebrauchs ausspricht.[10]
Aus diesem anspruchsvollen Programm Schaefflers soll allerdings im wesentlichen nur auf die für das Thema dieser Arbeit relevant erscheinenden Kapitel[11] Bezug genommen werden.
2.1. Zur Theorie der „Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit“
Grundsätzlich gilt, daß die Inhalte von Erfahrung nicht vorhersehbar sind, daß sie der Form nach aber Gesetzmäßigkeiten folgen, die in einer Logik formuliert werden können. Zudem setzt Erfahrung einen Kontext voraus, der Erfahrung erst möglich macht und in dem die Gesetze der Form beschlossen liegen. Die Struktur dieses Kontextes muß Schaeffler zufolge heute aber Erfahrungsinhalte zulassen, die ein Zerbrechen der starren Form und einen veränderten Neuaufbau erlauben. Nur so kann Erfahrung offen bleiben für „das Unvorhersehbare, Erstaunliche und zugleich Lehrreiche darin“.[12] Daraus ergeben sich aber Fragen an die Vernunft.
Um ein „Wechselspiel von Struktur und Inhalt“ von Erfahrung zu beschreiben, „reicht das Erklärungsmodell der traditionellen, durch Kant begründeten Transzendentalphilosophie nicht aus. Es besagte, daß Erfahrung daraus entstehe, daß die unveränderlichen Regeln des Denkens, die in einer Logik beschrieben werden,( ) auf den amorphen Stoff von Sinnesreizen angewendet werden“[13]. In diesem Zusammenhang verweist Schaeffler auf die von Kant selbst entdeckte „Lücke“ im System der Transzendentalphilosophie: Bei der Frage, von welcher Art der Widerstand ist, auf den die Vernunft bei der Erfüllung ihrer Aufgaben stößt, zeigt sich lt. Schaeffler das Problem der „stets lauernden Gefahr einer Selbstzer-störung der Vernunft“ und die Notwendigkeit, „die Vernunft vom Zwang zu solcher Selbstzerstörung“ zu befreien. Eine Antwort hierauf sei aber nur in einer geschicht-lichen Betrachtung der Vernunft zu finden, jener „Geschichte der reinen Vernunft“, die Kant zwar angedeutet, aber nie ausgeführt hat.[14] Die Begriffe, Urteilsfunktionen und Ideen der Vernunft bleiben, nach Schaeffler, im Laufe der Geschichte immer dieselben[15], im Gegensatz zu einem Wechsel der Vernunft-Einstellungen, die auch Kant noch nannte. Das bislang ungelöste Problem sieht Schaeffler darin, daß man „das Verhältnis zwischen den Anschauungs- und Denkformen auf der einen Seite, den Erfahrungsinhalten auf der anderen als ein einseitiges Bestimmungsverhältnis gedacht hat: die Formen des Anschauens und Denkens bestimmen die Gegen-stände der Erfahrung, ohne ihrerseits durch sie bestimmt zu werden“[16].
Schaeffler setzt dem nun den Begriff der „Erfahrung als Dialog“, und zwar als einen „Dialog mit der Wirklichkeit“ entgegen, denn der Mensch als Subjekt der Erfahrung versucht auf die ihm begegnende Wirklichkeit durch „Akte des Anschauens und Denkens“ zu antworten und daraus „entsteht erst die Möglichkeit, daß Gegenstände uns mit dem Anspruch auf Maßgeblichkeit für unser theoretisches und praktisches Urteil, also auf Objektivität, begegnen“[17].
2.1.1. Warum die transzendentalphilosophische Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung heute neu gestellt werden muß
Richard Schaeffler konstatiert, daß heutzutage „immer mehr Menschen die Fähig-
keit zur Erfahrung verlieren und stattdessen, in Mechanismen des Selbstbestätigung befangen,(...) `erfahrungsblind´ geworden sind“[18]. Infolgedessen kann auch nicht mehr, wie noch zu Kants Zeiten, davon ausgegangen werden, daß ein „wohlgeordneter Kontext“ die Grundlage für die Möglichkeit von Erfahrung ist, weil ein solcher dem heutigen Problembewußtsein in einer nachmetaphysichen, säkularisierten und verwissenschaftlichten Welt nicht mehr entspricht. Das Problem liegt darin, daß die Wesenseinheit von Erfahrung im geschichtlichen Prozeß in eine Wesensvielheit von Erfahrungsweisen zerfallen ist, und so kann Schaeffler ergänzen: „Wir rechnen heute, im Unterschied zu Kant, mit einer Mehrzahl strukturverschiedener Erfahrungsweisen und sehen die Gefahr, daß die Einübung in eine von ihnen, (z. B. die wissenschaftliche Empirie) die Fähigkeit zum Vollzug anderer Er-fahrungsweisen vermindert“[19]. Können aber demnach überhaupt noch Möglichkeiten benannt werden, unter denen Erfahrung gelingt?
Zur Klärung dieser Frage läßt Schaeffler einen Durchgang durch die Philosophie-geschichte folgen. Dabei stellt er u. a. fest, daß in den dialektischen Systemen des Deutschen Idealismus aus der Frage Kants, „welchen Strukturen unser Anschauen und Denken folgen muß, wenn es ihm gelingen soll, aus dem Material sinnenhafter Eindrücke die Gegenstände der Erfahrung aufzubauen“, die Frage nach einem obersten Prinzip wurde - oder bei Hegel die Frage nach dem Geist -, mit dessen Hilfe das erkennende Subjekt auf jeder Stufe seiner Entwicklung, entsprechend den dialektischen Gesetzmäßigkeiten, seinen Weg „über die Entäußerung und Entfremdung zur Selbstfindung bzw. zur Selbstproduktion“ finden kann.[20]
Dieses Zu-Sich-Selbst-Finden wurde von nachdialektischen Philosophen als die „Gefahr einer Systemverfangenheit“ kritisiert, weil der Mensch in den dialektischen Systemen das Andere - bei Kierkegaard Gott als das ganz Andere - „immer nur als `das Andere seiner selbst´“ erkennt und „es nicht in seiner Fremdheit und seinem Eigenstand“ erfaßt.[21] Kierkegaard vermochte denn auch nur noch im Paradoxen und Absurden, das den Menschen existentiell verändert und „alle Formen seines Anschauens und Denkens aufsprengt“, die allein befreiende Erfahrung aus der dialektischen Selbst- und Systemverfangenheit zu sehen. Gleichzeitig aber mußte dieses Ereignis das „Bewußtsein endgültig in jene Einsamkeit treiben, die für das Existenzverständnis von Kierkegaard und Camus charakteristisch ist“[22].
Auch die nachfolgenden Theorien des 19. und 20. Jahrhunderts vermochten Schaeffler zufolge keine überzeugenden Thesen etwa gegen die „Selbstimmunisierung der Wissenschaft“ oder „die Übermacht der ökonomisch bedingten Interessen“ mit ihrer je eigenen systembedingten Erfahrungsunfähigkeit zu entwickeln und so den Menschen vor den Gefahren „der Selbstbestätigungsmechanismen, der Dialogverweigerung und damit der Gesellschaftsentfremdung und des Realitätsverlustes“ zu bewahren.[23] Dies werde nur durch den „Eintritt in die geschichtlich unabschließbare Bewegung des Dialogs“ möglich, einem dialogischen Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit, „das es gestattet, den Anspruch der Wirklichkeit als den `je größeren´, der die menschliche Antwortsuche immer schon überbietet, dennoch in diesen Antworten und durch sie zur Sprache zu bringen“[24].
2.2. Strukturmomente im Prozeß einer dialogischen Theorie der Erfahrung
Wenn Schaeffler den Anspruch der Wirklichkeit als einen „je größeren“ bezeichnet, dann weist er damit zugleich auf den uns zur Antwort fordernden „Anderen“ hin, den Kierkegaard Gott nannte und den auch Schaeffler so nennen wird. Mit Gott tritt aber auch die Wahrheit als „Differenz zwischen Anspruch und Antwort“ zutage, eine Wahrheit, die auch „stets größer ist als unser Wissen von ihr“ und die sich als „ein inneres Moment dieses Wissens selbst Geltung verschaffen“ muß.[25]
2.2.1. Das responsorische Geschehen
Der blaue Himmel mit seinen Wolkenformationen über uns und etwa einer singenden Lerche dazwischen gehört zu den alltäglich möglichen Wahrnehmungen des Menschen. Daß wir jedoch in einem Sich-Verlieren in diesem Farben- und Formenspiel Weite und Freiheit erfahren können, ist eine nicht alltägliche Erkenntnis, in der sich aber das für uns qualitativ Bedeutsame des mit den Sinnen Wahrgenommenen ausdrückt. Insofern tritt in der Wahrnehmung eine Möglichkeitsbedingung für Erfahrung zutage, aber liegt darin auch schon das Eigentliche der Erfahrung verborgen?
Um mit Schaeffler zu sprechen, kann uns die Wahrnehmung z. B. von blauem Himmel und Wolken hellsichtig und hellhörig machen und zu der Einsicht führen, daß es im Spiel der Naturereignisse mehr zu sehen und zu hören gibt, als vielleicht momentan erfaßt werden kann.[26] Die äußerlich mit den Sinnen wahrgenommenen Naturgegebenheiten von Himmel und Wolken und die innerlich wahrgenommene Erkenntnis von Weite und Freiheit bezeichnet auch Schaeffler als zwei spezifische Weisen, „wie wir durch unseren Gesichts- und Gehörssinn die uns begegnende Wirklichkeit beantworten und in dieser Antwort erst für uns sichtbar bzw. hörbar machen. Beschreibt man die Wahrnehmung so, dann läßt sich an diesem Vorgang ablesen: Alles Wahrnehmen ist Antwort in der Form responsorischen Gestaltens: Wir bringen durch die Art, wie wir unsere Wahrnehmungswelt gestalten, z. B. indem wir sie zu einer Welt der leuchtenden und gefärbten, der tönenden und der schweigenden Wahrnehmungsgegenstände werden lassen, die uns umgebende Wirklichkeit erst in diejenige Gestalt, in der sie sich uns anschaulich-sinnenhaft zu zeigen vermag.“[27]
Zur Erfahrung wird dieses Gestalten aber erst dadurch, daß wir in einem zweiten Schritt den Bedeutungsgehalt erfassen, der in dem Wahrgenommenen enthalten ist. D. h., zu der bloßen Anschauung muß das Denken hinzukommen, „denn auch Erfahrung ist kein bloßes Hinnehmen von Eindrücken, freilich auch kein schöpferisches Erfinden, sondern eine neue Stufe responsorischen Gestaltens, nun begleitet von der Frage: Worin besteht die Maßgeblichkeit des wahrgenommenen Gegenstandes, sofern sie nicht nur für mich gilt und nicht nur unter meinen besonderen Beobachtungsbedingungen in Erscheinung tritt, sondern auch andere Subjekte, die anderen Erkenntnisbedingungen unterliegen, in ihren Anspruch nimmt?“[28]
Die Maßgeblichkeit oder Bedeutung eines wahrgenommenen Gegenstandes erschließt sich dem Beobachter lt. Schaeffler nach neuzeitlichem Verständnis da-durch, „daß die gleichen Dinge, von verschiedenen Standorten aus gesehen, sich uns auf unterschiedliche Weise zeigen“ und wir ihren Wahrheitsgehalt und damit auch ihre objektive Gültigkeit durch Reflexion und Beurteilung des Wahrgenommenen innerhalb eines bestimmten Kontextes erkennen. Mittels Konstruktion und Interpretation wird uns die „Wahrheit der Dinge“ in unserem Inneren „als gemeinsamer Grund“ neu bewußt und durch unsere Urteilskraft jene „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ und damit eine Allgemeingültigkeit hergestellt, welche der Entfremdung und dem Realitätsverlust des Individuums entgegenwirken kann.[29] Die Erfahrung von Freiheit im blauen Himmel über uns erfahren wir also durch aufeinander aufbauende Akte von Wahrnehmen und Denken in einem wechselseitigen, kommunikativen Geschehen, und vielleicht auch durch einen „Akt der Gnade“, wie im Falle der religiösen Erfahrung noch zu fragen sein wird.
2.2.2. Das „Ereignis“
Das responsorische Geschehen enthält als „inneres Moment“ der Erfahrung das „Ereignis“, das dem Geschehen vorausliegt und das Schaeffler zunächst und damit noch einmal auf Kierkegaard rückverweisend als „den speziellen Inhalt der Paradoxie-Erfahrung“ bezeichnet, „die den, der sie macht, auf unvorhersehbare Weise überfällt, bisher bewährte Orientierungskontexte zerstört und dadurch die ‘Fremd-heit’ des Wirklichen offenbar macht“.[30]
Doch weiter bezeichnet Schaeffler das Ereignis als „ein Moment, das in jeder Erfahrung enthalten ist, sofern sich in jeder Erfahrung der je größere Anspruch der Wirklichkeit meldet, der das Subjekt der Unzulänglichkeit und Überbietungsbedürftigkeit der gegebenen Antwort überführt und ihm bewußt macht, daß es an der Wirklichkeit, deren Anspruch es zu beanworten versucht, mehr und anderes zu erfahren gibt, als in den jeweils entwickelten Formen des Anschauens und Denkens Platz findet. Durch das so verstandene Ereignis wird der, der die Erfahrung macht, für eine Verwandlung seiner Anschauungs- und Denkformen geöffnet“[31]. Das Ereignis fordert also zur Suche nach neuen, noch unbekannten Erfahrensweisen und nach neuen Arten des Anschauens und Denkens heraus.
[...]
[1] William James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur. Übersetzt von Eilert Herms und Christian Stahlhut und mit einem Vorwort von Peter Sloterdijk.
Frankfurt a. M., Insel-Tb., 1997. Im Folgenden abgekürzt mit: VrE, Seitenzahl.
[2] Richard Schaeffler: Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit. Eine Untersuchung zur Logik der Erfahrung. Freiburg-München, 1995. Im Folgenden abgekürzt mit: EDW, Seitenzahl.
[3] Ken Wilber: Vom Tier zu den Göttern. Die große Kette des Seins. Freiburg, Herder-Spektrum, 1997.
[4] Ronald D. Laing: Die Stimme der Erfahrung. Erfahrung, Wissenschaft und Psychiatrie. Köln, 1983, S. 15f.
[5] Ebd., S. 22.
[6] Ronald D. Laing: Phänomenologie der Erfahrung. Frankfurt/Main, 1969, S. 114.
[7] Walter Haug und Dietmar Mieth (Hg.): Religiöse Erfahrung. Historische Modelle und christliche Tradition. München, 1992, S. 1.
[8] EDW, Vorspann „Der Autor über sein Buch“, ohne Seitenangabe.
[9] Ebd.
[10] Ebd.
[11] Gemeint sind die Kap. „Umrißzeichnung einer dialogischen Theorie der Erfahrung“/Zweiter Teil, I, 1-4 und „Der Aufbau einer Welt der religiösen Erfahrung“/Zweiter Teil, III, 1-6.
[12] EDW, S. 23ff.
[13] EDW, S. 24.
[14] EDW, S. 30.
[15] EDW, S. 30.
[16] EDW, S .30.
[17] EDW, S. 24.
[18] EDW, S. 40.
[19] EDW, S. 40/41.
[20] EDW, S. 69f.
[21] EDW, S. 70.
[22] EDW, S. 70.
[23] EDW, S. 70ff.
[24] EDW, S. 95.
[25] EDW, S. 95.
[26] EDW, S. 301f.
[27] EDW, S. 300.
[28] EDW, S. 303.
[29] EDW, S. 306f.
[30] EDW, S. 318.
[31] EDW, S. 318/319.
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