Diese Arbeit hat zum Ziel, sich mit den fantastischen und mythischen Elementen aus dem ersten Band der Harry-Potter-Reihe auseinanderzusetzen. Es soll auf die Gattungsmerkmale der fantastischen Literatur eingegangen und untersucht werden, was fantastische Literatur ausmacht und ob der Roman unter dieses Genre zu fassen ist. Des Weiteren soll gezeigt werden, dass sowohl verschiedene Elemente als auch Figuren aus dem Roman ganz entschieden von mythischen Traditionen beeinflusst wurden.
Es stehen folgende Fragen im Vordergrund: Ist der Text von Rowling ein fantastischer? Welche literarischen Vorbilder verwendet Rowling in ihrem Roman, welche Charakterzüge und Eigenschaften übernimmt sie? Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu weit zu fassen, findet bei der Analyse im Wesentlichen eine Beschränkung auf den ersten Band der Harry-Potter-Reihe "Harry Potter und der Stein der Weisen" statt.
Der erste Teil der Arbeit widmet sich der Analyse des Romans und umfasst sechs Kapitel. Zu Beginn wird der Inhalt des ersten Harry-Potter-Bandes "Harry Potter und der Stein der Weisen" zusammengefasst. Im dritten Kapitel werden verschiedene Termini des Genres fantastische Literatur bestimmt. Im Anschluss daran wird der Roman im vierten Kapitel auf die Gattungsmerkmale der fantastischen Literatur untersucht und schließlich analysiert, welchen Genres Harry Potter zugeordnet werden kann.
Das vierte Kapitel wird mit einem Bezug auf die elf Aspekte des literarischen Lernens nach Kaspar Spinner abgeschlossen. Im fünften Kapitel werden verschiedene mythische Aspekte aus dem Roman herausgearbeitet und am Ende des Kapitels erneut auf die elf Aspekte des literarischen Lernens nach Kaspar Spinner eingegangen. Dies ist notwendig, da sie im zweiten Teil der Arbeit nochmals aufgegriffen werden. Im zweiten Teil der Arbeit wird erforscht, ob der Roman das Potenzial hat als Klassenlektüre für die Leseförderung zu dienen. Anschließend wird bezugnehmend auf die Aspekte von Spinner eine mögliche Unterrichtsstunde vorgestellt. Am Ende der Arbeit erfolgt das Fazit.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik
1.2 Ziel der Arbeit
1.3 Aufbau der Arbeit
2. Harry Potter und der Stein der Weisen
2.1 Zusammenfassung des Werks
3. Begrifflichkeiten
3.1 Fantasie
3.2 Fiktionalität
3.3 Fantastik und fantastische Literatur
4. Harry Potter als Gattungshybrid
4.1 Klassifizierung von Harry Potter als fantastische Kinder- und Jugendliteratur
4.2 Harry Potter als Abenteuerroman
4.3 Harry Potter als „School Story“ und Entwicklungsroman
4.4 Elemente des Märchens in Harry Potter
4.5 Zwischenfazit
4.6 Bezug auf den zehnten Aspekt des literarischen Lernens nach Spinner (2006)
5. Mythisches Erz ählen in Harry Potter
5.1 Das göttliche Kind in Harry Potter
5.2 Gegensatz zwischen Gut und Böse
5.3 Auftauchen mythischer Elemente und Figuren in Harry Potter
5.3.1 Die Zentauren
5.3.2 Der dreiköpfige Hund
5.3.3 Argus Filch
5.3.4 Albus Dumbledore als Interpretation des Merlins
5.4 Zwischenfazit
6. Didaktische Vermittlung
6.1 „Harry Potter und der Stein der Weisen“ als Lesefördermöglichkeit
6.2 Praxisbeispiel
7. Fazit
8. Anhang
1. Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik
„Er wird berühmt werden – eine Legende -, es würde mich nicht wundern, wenn der heutige Tag in Zukunft Harry-Potter-Tag heißt – ganze Bücher wird man über Harry schreiben – jedes Kind auf der Welt wird seinen Namen kennen!“ (HP1, 19) Ob Joanne K. Rowling es wohl bewusst war, dass sich diese Worte eines Tages verwirklichen würden? – Vermutlich nicht. Der Erfolg der Geschichte uber den Zauberschuler Harry aus Hogwarts war bei Weitem nicht zu erwarten.1 Als der erste Band der Roman-Reihe im Juni 1997 vom englischen Bloomsbury Verlag mit gerade mal 1000 Exemplaren erschien, glaubten nicht einmal die Verantwortlichen daran, dass es ein erfolgreicher Roman werden würde.2 Doch es bewies sich das Gegenteil. Das Buch, dem niemand eine große Zukunft vorausgesagt hatte, verkaufte sich überraschend gut. Im Rahmen einer Versteigerung kaufte der amerikanische Kinderbuchverlag Scholastic für mehr als 100.000£ die Rechte des ersten Bandes „Harry Potter und der Stein der Weisen“. Damit war der Stein ins Rollen gebracht und der Roman auf dem Weg, ein Bestseller zu werden.3 In schneller Folge erschienen auch die weiteren sechs Bände. Rowlings siebenbändige Romanreihe wurde mittlerweile in 65 Sprachen übersetzt und weltweit wurden über 450 Millionen Exemplare verkauft.4 Die Verkaufszahlen in Deutschland im Juni 2009 lagen bei etwa 30 Millionen.5 Die Verfilmung der Romane von Warner Bros ist ein weiterer Erfolg für sich. Sie wurden bereits für zwölf Oskars nominiert und erhielten zahlreiche Auszeichnungen.6
Doch was macht die Geschichte eines Jungen, der zaubern kann, so erfolgreich? Zum einen könnte es der junge Zauberer mit einer blitzförmigen Narbe sein, der im Gegensatz zu seinen kindlichen Schwächen eine starke magische Kraft besitzt, zum anderen auch die fantastische Schreibweise der Autorin. Die Welt in Harry Potter ist in komplexen Bildern dargestellt: Mit lebendigen Gemäldefiguren und Fabelwesen, welche aus den verschiedenen Traditionen des Fantastischen entstammen und kreativ zusammengestellt wurden.7 Laut Himmelsbach (2012) macht möglicherweise auch dies die Faszination von Harry Potter aus, da der/die Leser/in auf diese Art und Weise immer wiederkehrende Elemente als „wandlungsfähiges Spielmaterial“8 sieht und in mehreren anderen Büchern wiederfinden kann. Rowlings gesamte geschaffene Welt um Hogwarts, Harry und seine Freunde ist aus verschiedensten literarischen Traditionen entsprungen: Die Romane basieren auf Bildern und Symbolen aus Märchen oder der griechischen Mythologie, aber auch religiöse Parallelen lassen sich finden. So bietet dieses Werk eine literarische Untersuchung auf verschiedene Elemente aus der Fantastik oder der griechischen Mythologie. Aber auch Gattungsmerkmale aus Märchen lassen sich darin wiederfinden.
1.2 Ziel der Arbeit
Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, sich mit den fantastischen und mythischen Elementen aus dem ersten Band der Harry-Potter-Reihe auseinanderzusetzen. Es soll auf die Gattungsmerkmale der fantastischen Literatur eingegangen und untersucht werden, was fantastische Literatur ausmacht und ob der Roman unter dieses Genre zu fassen ist. Des Weiteren soll gezeigt werden, dass sowohl verschiedene Elemente als auch Figuren aus dem Roman ganz entschieden von mythischen Traditionen beeinflusst wurden. Es stehen folgende Fragen im Vordergrund: Ist der Text von Rowling ein fantastischer? Welche literarischen Vorbilder verwendet Rowling in ihrem Roman, welche Charakterzüge und Eigenschaften übernimmt sie?
Um den Rahmen dieser wissenschaftlichen Arbeit nicht zu weit zu fassen, findet bei der Analyse im Wesentlichen eine Beschränkung auf den ersten Band der Harry-Potter-Reihe „Harry Potter und der Stein der Weisen“ statt.
1.3 Aufbau der Arbeit
Der erste Teil der Arbeit widmet sich der Analyse des Romans und umfasst sechs Kapitel. Zu Beginn wird der Inhalt des ersten Harry-Potter-Bandes „Harry Potter und der Stein der Weisen“ zusammengefasst. Im dritten Kapitel werden verschiedene Termini des Genres fantastische Literatur bestimmt. Im Anschluss daran wird der Roman im vierten Kapitel auf die Gattungsmerkmale der fantastischen Literatur untersucht und schließlich analysiert, welchen Genres Harry Potter zugeordnet werden kann. Das vierte Kapitel wird mit einem Bezug auf die elf Aspekte des literarischen Lernens nach Kaspar Spinner abgeschlossen. Im fünften Kapitel werden verschiedene mythische Aspekte aus dem Roman herausgearbeitet und am Ende des Kapitels erneut auf die elf Aspekte des literarischen Lernens nach Kaspar Spinner eingegangen. Dies ist notwendig, da sie im zweiten Teil der Arbeit nochmals aufgegriffen werden.
Im zweiten Teil der Arbeit wird erforscht, ob der Roman das Potenzial hat als Klassenlektüre für die Leseförderung zu dienen. Anschließend wird bezugnehmend auf die Aspekte von Spinner eine mögliche Unterrichtsstunde vorgestellt. Am Ende der Arbeit erfolgt das Fazit.
In der vorliegenden Arbeit wird eine geschlechtergerechte Sprache verwendet (z.B.: der/die Leser/in, der/die Schüler/in, die Schüler/innen).
2. Harry Potter und der Stein der Weisen
Diese Arbeit bezieht sich auf den ersten Band der Harry-Potter-Buchreihe: „Harry Potter und der Stein der Weisen“. Im Folgenden wird eine kurze Zusammenfassung dargestellt, die notwendig ist, um die Gliederungspunkte mit dem Inhalt des Werkes verknüpfen zu können.
2.1 Zusammenfassung des Werks
Das Waisenkind Harry wird im Alter von 15 Monaten von Albus Dumbledore, dem Schulleiter der Zauberschule Hogwarts, vor dem Haus seiner Tante Petunia Dursley abgelegt. Die Kindheit von Harry ist alles andere als glücklich und sorglos. So hat er z. B. kein Zimmer, sondern schläft in einem Schrank unter der Treppe, wird keinesfalls als Familienmitglied behandelt und muss die ubergroßen „abgelegten Klamotten“ (HP1, 26) von seinem verwöhnten und übergewichtigen Cousin Dudley tragen. Der unerwünschte Harry wird sowohl von seinem Cousin als auch von seiner Tante und seinem Onkel Vernon schlecht behandelt.9
Doch Harry wächst mit einem Geheimnis auf: er ist das Kind von den berühmten Zauberern Lili und James Potter. Beide sind ein Jahr nach Harrys Geburt von Lord Voldemort, dem mächtigen Schwarzmagier, getötet worden. Nur Harry hat den Angriff wie durch ein Wunder überlebt. Voldemorts Versuch auch Harry zu töten, scheitert; der kleine junge trägt lediglich eine blitzförmige Narbe auf der Stirn davon. Lord Voldemort, der zu dieser Zeit die gesamte Zauberwelt in Furcht und Schreck versetzte, verliert seine Macht und verschwindet.10
Kurze Zeit vor Harrys elftem Geburtstag bekommen die Dursleys Briefe aus Hogwarts zugestellt, die die Aufnahme von Harry in der Zauberschule bestätigen. Damit Harry nichts von dem Geheimnis erfährt, möchten die Dursleys auf keinen Fall, dass er die Briefe liest und greifen deshalb zu drastischen Maßnahmen. Sie nageln den Briefschlitz zu und als die Briefflut noch immer nicht aufhört, flüchten sie sogar auf eine Insel (vgl. HP1, 47). Dies ist ein Wendepunkt in der Geschichte, denn auf der Insel kommen zwar keine Briefe an, aber sie bekommen um Mitternacht an Harrys elftem Geburtstag, Besuch von Hagrid, dem Wildhüter von Hogwarts. Dieser gratuliert Harry zum Geburtstag, uberreicht ihm ein Schokokuchen und „händigt trotz der Proteste von Vernon Dursley, Harry, endlich seinen Brief aus“.11 Als Hagrid mitbekommt, dass Harry nichts von der magischen Zaubererwelt weiß, erzählt er ihm von seiner Identität als Zauberer und davon, dass seine Eltern von einem bösen Zauberer getötet wurde.
Hagrid macht Harry, die für ihn völlig unbekannte Zauberwelt bekannt. In der magischen Winkelgasse 12 besorgt Harry zusammen mit Hagrid die wichtigsten Zauberutensilien für die Schule: wie z. B. einen Zauberstab, eine Uniform, ein Spitzhut und eine Schneeeule, die Harry Hedwig nennt.13
Als der Tag der Abreise nach Hogwarts gekommen war, ist allein schon die Reise zur Schule ein sehr spannendes Erlebnis für Harry, da er um den Hogwarts-Express 14 nehmen zu können, zuerst das magische Gleis 93/4 finden muss. Das Gleis 9 ¾ ist ein Zwischengleis, das für Muggels (normale Menschen ohne Zauberkräfte) unsichtbar ist. Nachdem er das Gleis endlich gefunden hat, steigt er auch schon in den Zug ein. Bereits auf der Zugfahrt lernt Harry seine zukünftigen Freunde Hermine Granger und Ron Weasley kennen, mit denen er seine magischen Abenteuer erleben wird.15
In Hogwarts angekommen wird Harry einem der vier Häuser16, dem Haus Gryffindor, welches auch seine Eltern besucht haben, durch den sprechenden Hut17 zugewiesen.18 Bereits zu Beginn entstehen Konfrontationen zwischen Harry und dem arroganten Zauberschüler Draco Malfoy aus dem Haus Slytherin. Slytherin ist das Haus, das die meisten bösen Zauberer, u.a. Lord Voldemort, hervorgebracht hat (vgl. HP1, 118). Während der ersten Besenflug-Übungsstunde entdeckt die Hauslehrerin von Gryffindor Professor McGonagall Harrys sportliches Talent, wodurch er von nun an in der Quidditch19 -Mannschaft seines Hauses mitspielen darf.
Eines Tages sind Harry und seine zwei Freunde Ron und Hermine auf der Flucht vor dem gemeinen Schulhausmeister Argus Filch und stoßen auf den großen dreiköpfigen Hund Fluffy. Fluffy ist der Hund des Halbriesen Hagrid und bewacht etwas sehr Wertvolles. Nach dem die drei Freunde lange erforscht haben, was der Hund bewachen könnte, wissen sie, dass es sich um den magischen Stein der Weisen handelt. Dieser soll auf Anweisung des Schulleiters Albus Dumbledore in der Schule, im verbotenen Gang des dritten Stocks, aufbewahrt und bewacht werden (vgl. HP1, 176). Der Stein der Weisen hat die Besonderheit, dass er Gold erzeugen und die Person, die ihn besitzt, unsterblich machen kann. Da Harry und seine Freunde von Anfang an den Verdacht haben, dass Professor Snape 20 ein Anhänger von Lord Voldemort ist, sind sie stark davon überzeugt, dass er den Stein der Weisen stehlen und an Lord Voldemort übergeben will, damit dieser unsterblich wird. Daher machen sie sich selbst auf den Weg zum Versteck des Steins, bevor ihnen jemand zuvorkommen kann, um diesen selbst zu finden. Der Kerker, in dem der Stein versteckt ist, weist mehrere Hindernisse auf, die Harry und seine Freunde Ron und Hermine meistern müssen. Am Ziel angekommen begegnet Harry Qurinus Quirrell, einem Professor für das Fach Verteidigungen gegen die dunklen Künste. In dem Moment wird Harry klar, dass es nicht Professor Snape war, der den Stein stehlen wollte, sondern Quirrell. Im Laufe des Dialogs zwischen Professor Quirrel und Harry stellt sich heraus, dass Lord Voldemort Professor Quirrells Körper als Wirt zum Überleben nutzt und als Erscheinung auf seinem Hinterkopf hervortritt. Es kommt zu einem Kampf zwischen diesen beiden. Im Kampf kann Voldemort/Quirrell Harry nicht berühren, ohne schreckliche Schmerzen und schlimme Brandlasen auf der Haut zu erleiden (vgl. HP1, 317). Harry gewinnt somit den Kampf und übergibt den Stein der Weisen an Dumbledore. Er verhindert dadurch, dass Voldemort durch den Stein seine frühere Stärke wiedererlangt und unsterblich wird.21
3. Begrifflichkeiten
Um sich in dieser Arbeit orientieren zu können, müssen zunächst die verschiedenen Termini (Fantasie, Fiktionalität und Fantastik) des Genres „fantastische Literatur“ geklärt und gegenübergestellt werden. Sie sind nicht identisch und gehören nicht dem gleichen Bezugssystem an.22 Folglich werden diese näher erläutert.
An dieser Stelle ist anzumerken, dass in dieser Arbeit das Graphem F statt dem mehrgliederigen Graphem Ph für die Begriffe Fantasie, Fantastik und fantastische Literatur verwendet wird.
3.1 Fantasie
Die Fantasie ist ein kognitives Vermögen des Menschen. Unter einem kognitiven Vermögen ist die Vorstellungskraft zu verstehen, d. h. das Vermögen, sich einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart anschaulich vorstellen zu können. Als Synonym für Vorstellungkraft ist der Begriff Fantasie dem Bereich der philosophischen Erkenntnistheorie zuzuordnen. Die gängige Bedeutung des Begriffs Fantasie als „schöpferisches Vermögen, Voraussetzung fur Kreativität und innovatives Verhalten“23 ist der Psychologie zugeordnet. So kann davon ausgegangen werden, dass die kognitive Fähigkeit der Grundstein jedes fantastischen Werks ist und notwendig ist, um fantastische Literatur zu verstehen und sich auf den fantastischen Text einzulassen.24
3.2 Fiktionalität
Der Begriff Fiktionalität wird als literaturtheoretischer Grundbegriff genutzt. Er bezieht sich sowohl auf realistische als auch auf fantastische Literatur. Der Begriff dient zur Unterscheidung zwischen Gebrauchstexten und literarischen Texten. Gebrauchstexte sind pragmatisch und literarische Texte sind fiktional.25
Während pragmatische Texte den Sprecher und Hörer auf Wahrheit und Aufrichtigkeit verpflichten, sodass Sachverhalte nach dem Kriterium richtig/falsch beurteilt werden können, geht es in fiktionalen Texten um den sog. Fiktionsvertrag. Der Vertrag beinhaltet einen beabsichtigten Verzicht auf Ungläubigkeit in Bezug auf die „Als-ob-Welt“, die der fiktionale Text dem Leser präsentiert. Es bleibt festzuhalten, dass der/die Leser/in hierbei auf das Hinterfragen der Glaubwürdigkeit des Inhalts verzichten muss.26
3.3 Fantastik und fantastische Literatur
Sowie die Epik, Lyrik und Dramatik ist auch Fantastik ein Begriff der literaturwissenschaftlichen Gattungslehre. Um ihn näher zu bestimmen, ist es erforderlich zwischen dem Fantastischen als ein künstlerisches und literarisches Darstellungsmittel und der Fantastik als literarischem Genre zu unterscheiden. So ist zu beachten, dass nicht jeder Text, der etwas Fantastisches enthält, auch sofort dem Genre der Fantastik zugeordnet werden kann.27
Laut dem deutschen Literaturwissenschaftler Gerhard Haas (1982) geht es bei dem Fantastischen um die stofflich-motivische Komponente fantastischer Texte. Darunter sind Figuren oder Motive zu verstehen, die von der Wahrscheinlichkeit einer bestimmten historisch-sozialen Erfahrungswirklichkeit abweichen. In der literarischen Darstellung werden diese Elemente (Figuren, Zustände oder Handlungen) so miteinander verknüpft, wie das in der empirischen Wirklichkeit nicht oder noch nicht möglich wäre. So erscheint in der Darstellung das Unmögliche als möglich und eine die Grenzen empirischer Wirklichkeit überschreitende, künstlerische Welt wird aufgebaut.28 Als Beispiel kann eine auf dem Wasser schwimmende Lokomotive (Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer) oder das verkaufte Lachen eines Kindes (Timm Thaler oder das verkaufte Lachen) dienen. In beiden Beispielen handelt es sich um Elemente, die der empirisch wahrnehmbaren Welt des/der Lesers/in widersprechen und somit in der Realität nicht oder noch nicht möglich sind.
Abschließend ist zu sagen, dass von literarischer Fantastik erst dann die Rede ist, wenn das Fantastische zu einem dominanten, die Gesamtstruktur eines literarischen Textes prägenden Merkmal geworden ist. Bei sprechenden Tieren in einer Fabel beispielsweise handelt es sich zweifellos um ein fantastisches Element. Um zu entscheiden, ob Texte, die ein solches Element enthalten, auch tatsächlich zum literarischen Genre der Fantastik gehören, muss zuerst festgestellt werden, welche Funktionen dieses Element für den Gesamtzusammenhang des Textes hat, d. h. für den strukturellen Aufbau und seine Intention.29 Daraus ergibt sich, dass dieses Element, auch handlungskonstituierendes Element genannt, so bedeutsam für die Handlung des literarischen Textes sein muss, dass ohne ihn die Handlung in dieser Art gar nicht existieren würde. Das Element soll die ganze Geschichte wie ein roter Faden durchziehen.
4. Harry Potter als Gattungshybrid
In den vorherigen Kapiteln wurden die für den weiteren Verlauf der Arbeit relevanten Begriffe definiert. Im Weiteren wird der Frage nachgegangen, welchem Genre das Werk zuzuordnen ist.
Häufig ist die Antwort darauf, dass das Werk „[...] zur [f]antastischen Kinder- und Jugendliteratur“30 gehört.
„Harry Potter und der Stein der Weisen“ ist aufgrund seiner überwiegend jugendlichen Protagonisten in erster Linie ein Kinder- und Jugendroman, in dem fantastische Elemente, wie ein Umhang, der unsichtbar macht oder auch Harry, der ein Zauberer ist, vorkommen und in der realen Welt so nicht zu finden sind. Hier ist jedoch hervorzuheben, dass es nicht einfach ist, Rowlings Roman ausschließlich der Fantastik zuzuordnen. Grundsätzlich ist das Genre der fantastischen Literatur mit den Nachbarformen Märchen, Mythos, Legende oder Fabel verwandt.31 Auch in dem Roman kommen Elemente von einem Märchen vor, aber auch mythische Elemente, wie Zentauren, der dreiköpfige Hund Fluffy (Keberos) und mythische Namen, wie z. B. Hermine (Hermione) Granger, Argus Filch, Minerva McGonagall. Einige der genannten mythischen Elemente werden in einem weiteren Kapitel näher erläutert.
Doch neben diesen fantastischen, märchenhaften und mythischen Zügen lässt sich der Roman auch weiteren Genres zuordnen. Die Autorin J. K. Rowling verwendet auch Merkmale von Abenteuerromanen sowie Internats- und Adoleszens- bzw. Entwicklungsromanen. In den folgenden Kapiteln wird untersucht, ob und warum „Harry Potter und der Stein der Weisen“ einem bestimmten Genre zugeordnet werden kann. Für eine genaue Einordnung des Werks in die verschiedenen Genres, werden teilweise neben dem ersten Band auch die weiteren Bände (2–7) in die Untersuchung mit einbezogen werden.
4.1 Klassifizierung von Harry Potter als fantastische Kinder- und Jugendliteratur
Das Grundthema und der Handlungsort des Romans ist eine magische, fantastische Welt, die sich klar von der Welt der Nichtmagier, der sogenannten Muggel abtrennt. Es kommen fantastische Elemente und Figuren vor, die als die wichtigsten Merkmale einer fantastischen Erzählung gelten. Hierzu zählen fantastische Gegenstände, wie der Zauberstab, der Zauberspiegel oder die Flugbesen. Darüber hinaus sind auch fantastische Figuren und Fabelwesen wie Hauselfen, Drachen, Riesen oder Einhörner in dem Roman wiederzufinden.32
Die fantastische Kinder- und Jugendliteratur kann erst ab dem 18. Jahrhundert als eigenständiges Genre betrachtet werden. Im Zuge der Romantik wurde, vor allem durch die Werke von Rousseau, wie etwa Emil oder Über die Erziehung (1762), die Kindheit als eigenständige Lebensphase anerkannt. Es wurde hervorgehoben, dass Kinder auf eine eigene Art denken, sehen und fühlen.33
Im Gegensatz zu Deutschland ist die fantastische Kinder- und Jugendliteratur in Großbritannien, dem Geburtsort der Harry-Potter-Romane, deutlich gefestigter und ausgeprägter, da dort eine höhere Akzeptanz und Gelassenheit gegenüber fantastischen Motiven in der Literatur vorherrscht.34 In Deutschland entwickeln sich erst ab den späten 1960er-Jahren ein größeres Bewusstsein und mehr Akzeptanz gegenüber diesem ‚unbeliebten Kind’ in der Literatur.35
Viele Forscher sind der Meinung, dass die fantastische Literatur ihre Wurzeln in den Märchen hat. Man könnte die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, die zahlreichen Märchen von Hans Christian Andersen sowie das Kunst- bzw. Wirklichkeitsmärchen nach E.T.A. Hoffmann als die Anfänge der fantastischen Literatur bezeichnen.36 Insbesondere das Wirklichkeitsmärchen nach E.T.A. Hoffmann ist bedeutsam, denn „es scheint, dass E.T.A. Hoffman der Autor ist, der dieses Genre in die Kinder- und Jugendliteratur eingefuhrt hat.“37 Wie in klassischen Märchen spielen auch die Märchen der Brüder Grimm und Hans Christian Andersens in einer geschlossenen Welt. Die geschlossene Welt bezeichnet die imaginäre, fantastische Märchenwelt, die dem/der Leser/in und den Figuren aus der Geschichte als einzige Welt in der Handlung bekannt ist. Für sie existiert keine andere Welt, außer dieser. Der/die Leser/in wird in eine fantastische Welt entführt, in der das Wunderbare, Fantastische hingenommen und akzeptiert wird, ohne daran zu zweifeln. E.T.A. Hoffmann geht einen Schritt weiter und vermischt diese fantastische Welt mit der realistischen Welt, sodass ein Dualismus zwischen zwei verschiedenen Welten entsteht. Auf der einen Seite gibt es die offene, auf der anderen Seite die geschlossene Welt. Die offene Welt stellt eine für den/die Leser/in empirisch wahrnehmbare, bekannte Umgebung dar. Das Fantastische bricht somit in die gewohnte, reale Alltagswelt ein, sodass es zu einem Dualismus zweier Welten kommt, welches bis dahin in der Literatur nicht existiert und bis heute noch bestehen bleibt. Ab dem Zeitpunkt verwendeten viele Autoren diesen Dualismus und es kam zu einem Boom der fantastischen Kinder- und Jugendbücher. Einige dieser Bücher, die bis heute noch einen wichtigen Platz in der Literaturgeschichte einnehmen, sind z.B.: Timm Thaler oder das verkaufte Lachen (James Krüss, 1962) oder Pippi Langstrumpf (Astrid Lindgren, 1954, 1969). In beiden Werken bricht eine fantastische Figur in die dem/der Leser/in bekannten Umgebung (reale Welt) ein und bringt somit das Fantastische in die Geschichte. Zu den Vertretern der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur zählen Otfried Preußler, Michael Ende und James Krüss, die auch die Großen Drei genannt werden.38 Fantastische Kinder- und Jugendliteratur ist durch den „Einbruch des Wunderbaren, fantastisch-märchenhaften Geschehens in die Wirklichkeit“39 sowie einen Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Wunderwelt gekennzeichnet.40 Es gibt unterschiedliche Merkmale und Definitionen, die fantastische Literatur auszeichnen. Im Folgenden wird auf den minimalistischen Ansatz des bulgarischen Literaturtheoretiker Tzevan Todorov eingegangen.
Todorov geht davon aus, dass das Fantastische die Unschlüssigkeit ist, die ein Mensch empfindet, der nur die naturlichen Gesetze kennt „und sich einem Ereignis gegenubersieht, das den Anschein des Übernaturlichen hat“41. Besonders wichtig ist, dass sich diese Unschlüssigkeit auf den impliziten, d. h. vom Autor vorausgesetzten Leser/in bezieht42. So setzt Todorovs Ansatz keinesfalls voraus, dass der Hauptprotagonist der Handlung eine Unschlüssigkeit auf übernatürliche, fantastische Vorgänge empfindet. Es geht hierbei nur um den/die unvoreingenommene/n Leser/in. Für Dzanic 2015: 40f. Himmelsbach 2012: 172. Vgl. Himmelsbach 2012: 172. Himmelsbach 2012: 172. Vgl. Himmelsbach 2012: 172.
Todorov ist von Fantastik erst dann die Rede, wenn die Unschlüssigkeit des/der Lesers/in bis zum Ende der Handlung bestehen bleibt. In anderen Worten kann gesagt werden, dass es sich bei Todorov dann um eine fantastische Literatur handelt, wenn der Konflikt zwischen dem zunächst vorgestellten realen Weltbild, welches auch das des/der Lesers/in ist, und Ereignissen, die sich nicht innerhalb dieses Weltbilds erklären lassen, bis zum Ende der Handlung nicht aufgelöst werden.43
Es ist jedoch festzuhalten, dass in vielen als fantastisch eingeordneten Texten diese Unschlüssigkeit aufgelöst wird44, weshalb viele Texte von Todorovs Ansatz ausgeschlossen würden und schließlich anderen Gattungen zugeordnet werden müssten. Wird der Harry-Potter-Roman untersucht, dann ist hervorzuheben, dass er nach Todorov nicht als rein fantastischer Text gelten würde, weil die fantastische, magische Welt der Zauberer, die den Gesetzten der Realität widerspricht, vom impliziten Leser nicht infrage gestellt wird. Im Roman wird die magische Welt nicht so beschrieben, als würde diese Welt nur in der Fantasie von Harry existieren, wie etwa als Sinnestäuschung oder als ein Traum von ihm, sondern es wird die Existenz der wunderbaren, fantastischen Parallelwelt auf der Ebene der textimmanenten Kommunikation anerkannt. Dementsprechend handelt Harry Potter eher von einer fantastischen Geschichte, die der Realität eine Welt mit übernatürlichen Gesetzmäßigkeiten präsentiert. Aus diesem Grund wird der von Todorov eingeführte Fantastik-Begriff erweitert, indem der Unschlüssigkeit des/der Lesers/in keine Beachtung geschenkt wird, sondern nur die Existenz von zwei Welten oder Wirklichkeiten als entscheidendes Merkmal der fantastischen Literatur gesehen wird:45
„Es kann dann von Fantastik gesprochen werden, wenn zwei Handlungsebenen46 erkennbar werden, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen.“47 Diese zwei Handlungsebenen werden im Folgenden anhand der Zwei-Welten-Struktur nach J.R.R. Tolkien nahegebracht.
Die zeitgenössische Forschung zur fantastischen Kinder- und Jugendliteratur befasst sich heute mit der sogenannten Zwei–Welten–Struktur, die ein Hauptcharakteristikum in diesem Genre darstellt. J. R. R. Tolkien (1938), einer der größten Autoren fantastischer Literatur, sprach schon sehr fruh uber eine „primary world“ und „secondary world“. Die Zwei–Welten–Struktur besagt, dass der realen Welt (primary world) eine neue phantastische Welt (secondary world) direkt gegenübergestellt wird. Hierbei ist zu beachten, dass in dieser sekundären, fantastischen Welt ebenfalls geregelte Ordnungen, d. h. Gesetze und Regeln, herrschen.48 Wichtig ist, dass diese Welt in sich geschlossen, kohärent und logisch sein muss. Erfüllt ein Roman diese Kriterien, so entsteht nach Tolkien (1938) beim Leser der sogenannte „Secondary Belief“. Unter „Secondary Belief“ ist Folgendes zu verstehen: Es muss ein Glauben an die Wahrhaftigkeit der vorgestellten fantastischen Welt seitens des/der Lesers/in gegeben sein und der/die Leser/in muss in die Geschehnisse eintauchen und miterleben können, damit der Erfolg eines Romans gesichert ist. 49 Quidditch. Statt sich über die neuesten Automodelle auszutauschen, unterhalten sie sich über Rennbesen.50 Aus den eben genannten Punkten wird deutlich, dass Rowling die Forderung nach Kohärenz und Logik erfüllt. Durch die Parallele zur realen Welt fällt es dem/der Leser/in leichter, an die Wahrhaftigkeit der magischen Welt zu glauben und in die Geschichte einzutauchen, sodass der sogenannte „Secondary Belief“ seitens des/der Lesers/in von Anfang an gegeben ist. Dies ist der erste Beweis dafür, dass der Roman in das Genre der Fantastik eingeordnet werden kann. An dieser Stelle ist hinzuzufügen, dass diese beiden Welten unterschiedlich aufeinander einwirken und zueinanderstehen können. Es gibt drei verschiedene Möglichkeiten: Entweder treten Figuren oder Gestalten aus einer ‚anderen’, fantastischen Welt in eine reale ein, so wie etwa in Karrlson vom Dach (1975), ein „hubschrauberähnlich fliegendes Wesen“51 vor dem Fenster eines ‚ganz gewöhnlichen’ Hauses erscheint und mit dem ‚ganz gewöhnlichen’ Kind Lillebror in Kontakt tritt, oder so wie in Alice im Wunderland (1865) eine Figur aus der alltäglich-realen Welt in die sogenannte fantastische Welt eintritt: Die Figur Alice folgt einem Kaninchen und wird von der realen Welt in das fantastische Wunderland geführt. Zuletzt besteht auch noch die Möglichkeit, dass die reale Alltagswelt des/der Lesers/in vollkommen ausgeblendet ist und die geschlossene, fantastische Welt der einzige Schauplatz der fantastischen Handlung ist, wie z. B. in Tolkiens Herr der Ringe (1955).52 Der Harry-Potter-Roman ist offensichtlich der zweiten Möglichkeit zuzuordnen. In „Harry Potter und der Stein der Weisen“ dient die reale Welt der Muggel als Rahmen für die fantastische Handlung, denn der Band setzt bei Harrys Pflegefamilie, den Dursleys ein und kehrt am Ende des Schuljahres wieder dorthin zurück.53 Somit sind beide Welten miteinander verflochten, sodass Figuren und Wesen aus beiden Welten in die jeweils andere gelangen können.54 Es kommt zu einer gegenseitigen Durchdringung von der realen Erfahrungswelt (Muggel-Welt) und der magischen Welt (Welt der Zauberer).55 Dies trägt dazu bei, dass der/die Leser/in die Existenz und Gesetzmäßigkeiten beider Welten unhinterfragt akzeptiert.56 Bereits zu Beginn des ersten Bandes wird die Interaktion beider Welten sehr deutlich: als Hagrid mit Harry auf dem Arm auf einem riesigen, fliegenden Motorrad auf der Straße, genauer gesagt im Ligusterweg 4 in London, landet, um den kleinen Harry Professor Dumbledore zu übergeben, damit er ihn In „Harry Potter und der Stein der Weisen“ sind diese zwei Welten wie folgt zu betrachten: Harry wird in der Muggel-Welt, also in der nicht-magischen Welt, von seiner Tante Petunia und seinem Onkel Vernon großgezogen und weiß vorerst nichts von der Existenz der zweiten, magischen Zauberwelt. Erst im Alter von 11 Jahren erfährt er von dem Halbriesen Hagrid, dass es sie gibt und seine Eltern auch von dort stammen (vgl. HP1, 58–59). Durch Hagrid begegnet Harry zum ersten Mal der magischen Welt. Er lernt verschiedene Durchgänge, wie z. B. das Gleis 93/4 (vgl. HP1, 104) oder die Winkelgasse (vgl. HP1, 80) kennen, die in die magische Welt führen. Auch Läden, in denen Waren für Zauberer/innen verkauft werden (z. B. ein Zauberstab) sind für Harry neu. Nach seiner Einschulung in die Zauberschule Hogwarts fällt ihm auf, dass auch in dieser Welt feste Regeln und Strukturen existieren, an die er sich halten muss. Dazu zählen z. B. feste Verbote: Der Besuch des verbotenen Waldes, das Betreten des Korridors im dritten Stock oder das Zaubern in den Pausen auf den Gängen (vgl. HP1, 139) ist nicht erlaubt. Werden die Regeln missachtet, dann wird man bestraft, wie Professor McGonagall am ersten Schultag auch deutlich macht:
„Während ihrer Zeit in Hogwarts holen sie mit ihren großen Leistungen Punkte für das Haus, doch wenn sie die Regeln verletzen, werden ihrem Haus Punkte abgezogen.“ (HP1, 126) Es ist festzustellen, dass die fantastische Welt und die Muggel-Welt, die auch der gewohnten Umgebung des Lesers entspricht, Parallele aufweisen. Die Zauberer/innen sind Menschen sehr ähnlich und beschäftigen sich auch mit menschenähnlichen Dingen. Sie gehen zur Schule oder zur Arbeit und belegen zwar keine klassischen Unterrichtsfächer wie beispielsweise Mathematik, aber verschiedene Zaubereifächer. Außerdem interessieren sie sich auch für Sport. Während sich die Menschen (Muggel) für Fußball oder Basketball interessieren, haben die Zauberer ein großes Interesse an vor der Haustür der Dursleys ablegt (vgl. HP1, 19). Ein anderes Mal, am 11. Geburtstag von Harry, übergibt Hagrid Harry persönlich den Brief von Hogwarts (vgl. HP1, 54–69). Auch bevor die Zauberschüler auf das Gleis 9¾ kommen, sind sie noch am Bahnhof in King’s Cross (London), einer Stadt in der Muggel-Welt und verabschieden sich von ihren Eltern (vgl. HP1, 100–105).
Der vorgestellte Ansatz von Tolkien (1938) wurde von weiteren Autoren und Forschern als Grundlage genutzt und erweitert. Die russisch-schwedische Anglistin Maria Nikolajeva hat die Zwei-Welten-Struktur noch mal expliziter ausgebaut und somit weitere Sekundärwelten erschaffen, die sie so erklärt:
Die „geschlossene sekundäre Welt" (closed world) ist strukturell eine Sekundärwelt57 ohne jeglichen Kontakt mit der Primärwelt58 ; es gibt nur wenige Beispiele hierfür wie J. R. R Tolkiens „Der kleine Hobbit“ oder „Der Herr der Ringe“.59
Kontrastierend hierzu handelt es sich bei der „offenen sekundären Welt" (open world) um eine ausformulierte, räumlich-zeitlich abgetrennte Sekundärwelt, die auf irgendeine Art und Weise Kontakt zur Primärwelt hat. Somit kommt in der Handlung sowohl die fantastische als auch die reale Welt vor. In der Regel wird der Übergang zwischen der primären und der sekundären Welt dargestellt und beide Welten deutlich voneinander abgegrenzt.60 Auch in dem ersten Harry-Potter- Band treffen beide Welten aufeinander, wie zum Beispiel an der Stelle, wo der mächtige Zauberer Albus Dumbledore in London, in der Welt der Dursleys erscheint:
„Einen Mann wie diesen hatte man im Ligusterweg noch nie gesehen. Er war groß, dunn und sehr alt, jedenfalls der silbernen Farbe seines Haares und Bartes nach zu schließen, die beide so lang waren, dass sie in einem Gurtel hätten stecken können.“ (HP1, 13) Ein anderes Beispiel ist z. B. die Textstelle, wo Professor McGonagall sich in der Muggel-Welt in eine Katze verwandelt und auf Professor Dumbledore wartet:
„Dumbledore [...] machte sich auf den Weg die Straße entlang [...] wo er sich auf die Mauer neben die Katze setzte. Er sah sie nicht an, doch nach einer Weil sprach er mit ihr. „Was fur eine Überraschung, Sie hier zu sehen, Professor McGonagall.“ Mit einem Lächeln wandte er sich zur Seite, doch die Tigerkatze war verschwunden. Statt ihr lächelte er einer ziemlich ernst dreinblickenden Frau mit Brille zu [...]“ (HP1, 14) Dagegen ist kritisch einzuwenden, dass eine klare Abgrenzung der beiden Welten nicht gegeben ist. Eindeutige Zugänge wie die Winkelgasse oder das Gleis 93/4 sind zwar aufzufinden, jedoch können, wie bereits oben zu sehen ist, fantastische Figuren auch ohne diese Zugänge zu nutzen, von der fantastischen Welt in die reale Welt übergehen. Daher ist der Roman nicht klar in die offene Sekundärwelt einzuordnen. Zudem ist der Begriff zwei Welten (Muggle-Welt vs. fantastische Welt) nicht wortwörtlich zu nehmen, denn beide Welten befinden sich im selben Land, auf derselben Welt und auf ein und derselben Erde. Während die Muggel die fantastische Seite der Welt nicht wahrnehmen, sind den Zauberern beide Welten bewusst und sie können sich darin frei bewegen. Diese Erscheinung kann als die Existenz von zwei verschiedenen Realitäten in der gleichen Welt bezeichnet werden.61
Im Modell der „implizierten sekundären Welt“ (implied world) wird die Sekundärwelt im Text nicht als solche dargestellt, sie ist aber in der Primärwelt präsent, zum Beispiel in Form einer einzelnen Figur. Eine fantastische Figur kommt von ’irgendwo’ und tritt in die real dargestellte primäre Welt ein und bringt die Fantastik in die Geschichte. Ein Beispiel wäre Paul Maars Buch Das Sams oder Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf.62
„Harry Potter und der Stein der Weisen“ wird neben der „fantastischen Literatur“ auch in den aus der britischen Literaturtradition stammenden Begriff der „Fantasy“-Literatur zugeordnet. Anders als in Deutschland wird in Großbritannien die Existenz von zwei gegensätzlichen Welten nicht als ein Kriterium für fantastische Literatur angesehen, sodass auch Texte, die sich nur auf die Darstellung einer fantastischen Welt konzentrieren, oft als „Fantasy“- Literatur bezeichnet werden. So sind sowohl „echte“ „Fantasy“-Literatur als auch die Gattungen Horror, Science Fiction oder Märchen als Subgenre63 der fantastischen Literatur zu verstehen.64 Dabei kann, je nachdem, wie detailliert die Wunderwelten in der Handlung dargestellt werden, zwischen High Fantasy oder Heroic Fantasy unterschieden werden. Diese Arbeit beschränkt sich auf den Begriff der High Fantasy.
„Im Abenteuer der High Fantasy muss ein singulärer Held auf einer Suche sich im Kampf mit den Mächten des Bösen bewähren und seine Welt „retten“.65 In dem ersten Band wird auch eine magische Welt entworfen, die der Held retten muss. Harry stieß bisher noch nie auf eine solche Welt. Dies macht sich auch beim ersten Anblick von Hogwarts deutlich:
„Harry hatte von einem so fremdartigen und wundervollen Ort noch nicht einmal geträumt. Tausende [...] von Kerzen erleuchteten ihn, über den vier langen Tischen schwebend [.] Die Tische waren mit schimmernden Goldtellern und -kelchen gedeckt [.]“ (HP1, 124f.)
Diese Szene stellt die erste Begegnung von Harry mit der Zauberschule Hogwarts dar. Hogwarts steht für Harrys Ursprung, da auch seine Eltern auf dieser Schule waren. Als Held der Geschichte hat Harry die Aufgabe, seine Welt zu beschützen bzw. retten, indem er gegen den bösen Magier Lord Voldemort kämpft.
Weitere Merkmale der High Fantasy sind ein der Queste-Struktur 66 verpflichtetes Handlungsschema, episches Erzählen sowie fantastische Elemente unterschiedlicher rassischer Herkunft (z. B. Zwerge, Trolle oder Riesen), die magische Fähigkeiten aufweisen.67 „Rowling ubernimmt von der High Fantasy v. a. das Setting, das mit Fantasiewesen aus verschiedenen Traditionen gut ausgestattet ist, das Motiv der Suche und den großen Kampf zwischen Gut und Böse als Mittelpunkt und verwendet die magische Welt besonders im Hinblick auf das Komikpotential, das sie mit sich bringt.“68 So bedient sie sich an verschiedenen fantastischen Elementen unterschiedlicher rassischer Herkunft, wie man sie z. B. aus der griechischen Mythologie kennt: Phönix, Zentauren, der dreiköpfige Hund (Kerberos), Einhörner oder auch aus der nordischen Mythologie: Trolle und Elfen. Andere fantastische Elemente wie Drachen oder lebendige Gemäldefiguren kommen ebenfalls vor.
[...]
1 Vgl. Bak 2004: 61.
2 Vgl. Melchior 2013: 4.
3 Vgl. Bak 2004: 61.
4 Vgl. Melchior 2013: 3.
5 Vgl. Babenhauserheide 2018: 18.
6 Vgl. Walk 2017.
7 Vgl. Melchior 2013: 4.
8 Himmelsbach 2012: 182.
9 Vgl. Bak 2004: 73.
10 Vgl. ebd.
11 harry-potter.fandom o. J.
12 Die Winkelgasse ist eine Gasse in London, in der verschiedene Zauberläden und auch die Zaubererbank Gringotts zu finden sind. Der Eintritt in diese Gasse ist nur für Zauberkundige möglich. Sie betreten die Gasse von der Muggel-Welt aus durch den Hinterhof der Kneipe „Zum Tropfenden Kessel“ (vgl. Schneidewind 2000: 412).
13 Vgl. Spinner/Standke 2016: 352.
14 Als Hogwarts-Express wird der Zug bezeichnet, der von Gleis 9 ¾ die Zauberschüler/innen am Ferienende oder Schuljahresanfang zum Internat Hogwarts bringt (vgl. Schneidewind 2000: 175).
15 Vgl. Spinner/Standke 2016: 352.
16 Die Zauberschule Hogwarts ist in vier Häuser eingeteilt: Gryffindor, Hufflepuff, Rawenclaw und Slytherin. In diesen Häusern haben die Schüler/innen ihre Schlafsäle und einen Gemeinschaftsraum, in dem sie sich aufhalten können (vgl. Schneidewind 2000: 160).
17 Der sprechende Hut ist ein äußerst schmutziger Spitzhut, der bei jeder Einführungsfeier die 11-jährigen Erstklässler in Hogwarts auf die Häuser verteilt.
18 Spinner/Standke 2016: 352.
19 Quidditch ist die bekannteste Sportart in der Zauberwelt und wird auf Besen fliegend hoch oben in der Luft gespielt. Es ist wie Basketball auf Besen mit sechs Körben und vier verschiedenen Bällen (vgl. HP1, 89).
20 Lehrer fur das Fach „Zaubertrankkunde“.
21 Vgl. Spinner/Standke 2016: 353.
22 Vgl. Rank in Knobloch u. a. 2006: 11. Rank in Knobloch u. a. 2006: 11. Vgl. ebd. Vgl. Rank in Knobloch u. a. 2006: 12.
23 Vgl. Rank in Knobloch u. a. 2006: 12. Vgl. ebd.: 13.
24 Vgl. Rank in Knobloch u. a. 2006: 12. Vgl. ebd. 13.
25 Vgl. Kolbuch 2010: 6. Vgl. Kolbuch 2010: 6.
26 Vgl. Bak 2004: 94
27 Vgl. planet-wissen 2019.
28 Vgl. Haas in Fährmann u. a. 2001: 11.
29 Vgl. Melchior 2013: 9.
30 Vgl. Dzanic 2015: 40.
31 Vgl. Dzanic 2015: 40.
32 Ebd.
33 Ebd.
34 Ebd.
35 Ebd.
36 Ebd.
37 Ebd.
38 Ebd.
39 Ebd.
40 Ebd.
41 Ebd.
42 Ebd.
43 Vgl. Himmelsbach 2012: 173.
44 Ebd.
45 Vgl. Himmelsbach 2012: 173f.
46 Zum einen geht es um eine der Realität entsprechenden Handlung, zum anderen um eine, die der Realität widerspricht.
47 Himmelsbach 2012: 173.
48 Vgl. Melchior 2013: 10.
49 Vgl. Duttler 2007: 38f.
50 Vgl. Himmelsbach 2012: 180.
51 Vgl. Haas in Fährmann u. a. 2001: 18.
52 Haas in Fährmann u. a. 2001: 17ff.
53 Melchior 2013: 11.
54 Himmelsbach 2012: 176.
55 Vgl. Klingberg 1974: 226.
56 Vgl. ebd.: 227.
57 Unter einer Sekundärwelt wird die Welt des Wunderbaren, Fantastischen verstanden.
58 Unter einer Primärwelt ist die reale, für den/die Leser/in empirisch wahrnehmbare Welt zu verstehen.
59 Vgl. Knobloch 2006: 88ff.
60 Vgl. ebd.
61 Melchior 2013: 10.
62 Vgl. Knobloch 2006: 88ff.
63 Meistens werden Genres noch weiter spezifiziert, diese nennt man Subgenres.
64 Himmelsbach 2012: 178.
65 Emmer in Garbe u. a. 2006: 37.
66 Als „Queste“ wird „eine dem Helden oft schicksalhaft vorgegebene, umfassende Aufgabe oder Bestimmung, die er im Rahmen der Handlung erfullen muss“ (Himmelsbach 2012: S.178) bezeichnet.
67 Himmelsbach 2012: 178.
68 Emmer in Garbe u. a. 2006: 39.
- Citar trabajo
- Berna Kartal (Autor), 2020, Fantastische Literatur erkennen und literarisches Lernen nach Kaspar Spinner. Mystische Aspekte in "Harry Potter und der Stein der Weisen" (Deutsch 6. Klasse), Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/882472
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