Für die moderne Gesellschaft kann es nicht ausreichend sein, den formalen Schein zu wahren, es ginge gerecht zu, wenn dies bedeutet, so viele Güter und Mittel wie möglich nach unten zu verteilen.
Es ist im Sinne der Chancengerechtigkeit nicht richtig, dass sich jeder mit seinem Leben zufrieden geben kann, weil es ihm durch Umverteilungen besser geht als ohne, wenn er niemals die Chance hatte seine Ziele verfolgen zu dürfen.
Wenn die Chancengerechtigkeit einen positiven Begriff von Freiheit benutzt, dann vor allem aus dem Grund, dass es für ein Leben in Würde notwendig ist, nicht allein auf Hilfe anderer angewiesen zu sein, sondern die Chance zu erhalten, sein Leben selbstbestimmt zu führen.
Wenn sich bestimmte soziale Ungleichheiten systematisch über Generationen fortpflanzen, dann bedeutet negative Freiheit nichts anderes, als die Verteidigung von Privilegien gegenüber weniger Privilegierten oder allgemeiner gesagt: die Verteidigung eines beliebigen gesellschaftlichen Zustands.
Die „basal equality“ der Chancengerechtigkeit wäre also die Freiheit des Individuums, sich gemäß seiner Wünsche und Fähigkeiten ausleben zu können. Dies wäre eine ungleiche oder anders gesagt komplexe Gleichheit: Eine Form sozialer Kompensation, die berücksichtigt, dass menschliches Wohlbefinden auch jenseits des Materiellen entsteht, aber auch zur Kenntnis nimmt, dass der Selbstverwirklichung Grenzen gesetzt sind. Grenzen, die im Individuum selbst und in der gesellschaftlichen Struktur liegen. Nötig ist also ein differenzierter Ansatz zur Beurteilung menschlichen Wohlbefindens, wie ihn Sen vorschlägt und die Schaffung gerechter gesellschaftlicher Grundstrukturen, wie sie Rawls fordert.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Verteilungsgerechtigkeit und Kompensation
2.1 Warum Verteilen ein Problem der Gerechtigkeit ist
2.1.1 Soziale Ungleichheit
2.1.2 Formen der Verteilungsgerechtigkeit
2.1.3 Bedarfsprinzip
2.1.4 Leistungsprinzip
2.2 Chancen und Gerechtigkeit
2.2.1 Bildung und Einkommen
2.2.2 Vererbte Ungleichheiten – schichtspezifischer Zugang zu Bildung
2.2.3 Gerechtigkeitsvorstellungen der Deutschen
2.2.4 Von der Chancengleichheit zur Chancengerechtigkeit
3. John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“
3.1 Das Ziel der Gerechtigkeit
3.2 Der Urzustand und die Wahl der Grundsätze
3.3 Der Vorrang der Freiheit
3.4 Prinzipien der Verteilung
3.4.1 Ansprüche auf Grundgüter und Existenzminimum
3.5 Die Rolle der Chancengleichheit in der Theorie der Gerechtigkeit
3.6 Rawls und die Chancengerechtigkeit
4. Amartya Sens „Verwirklichungschancen-Ansatz“
4.1 Freiheit und Unterschiedlichkeit von Menschen
4.2 Capabilities and functionings
4.3 Der „evaluative space“ und interpersonale Vergleiche
4.4. Sen und die Chancengerechtigkeit
5. Schluss
6. Literaturverzeichnis
7. Abstract / Zusammenfassung
1. Einleitung
Der Vorsitzende der FDP, Guido Westerwelle, sagte in einer Rede auf dem Dreikönigstreffen der FDP im Januar 2005: „Sozial ist eben nicht die noch so intelligente Verteilung von staatlichen Leistungen. Sozial ist, was Arbeit schafft.“[1] Wird der etwas inhaltsleere Begriff des Sozialen ergänzt durch Begriffe wie Gerechtigkeit oder Solidarität, um die es in dieser Rede auch ging, dann scheint der FDP-Vorsitzende den gesamten Gerechtigkeitsdiskurs der vergangen Jahrzehnte absichtlich oder unabsichtlich auf einmal vom Tisch zu wischen und ihn auf einen kleinen Teilausschnitt zusammenzuschmelzen. Soziale Gerechtigkeit sei demnach ein bloßes Messinstrument gesellschaftlicher Effizienz und eine Gesellschaft dann gerecht, wenn alle oder wenigstens der größte Teil in Lohn und Brot stünden. Dass sich die Frage nach sozialer Gerechtigkeit nicht ganz so einfach beantworten lässt, zeigt schon der Unwille vieler Menschen einen Arbeitsplatz anzunehmen, der nicht ihren Qualifikationen entspricht oder aber beispielsweise die Unzufriedenheit mit einer lediglich befristeten Stelle. Das Gerechtigkeitsempfinden hat also auch etwas mit Zufriedenheit mit der eigenen sozialen Lage zu tun oder allgemeiner gesagt: mit dem Wohlbefinden.
Manche Eltern müssen ihre Kinder über immer längere Zeiträume finanziell unterstützen und bekommen im Alter weniger zurück[2]: die Umkehrung des Generationenvertrags. Ein anderer Aspekt ist also die mangelnde Perspektive, die beklagt wird, denn eine Teilzeitarbeit oder ein bezahltes Praktikum tragen selten zum persönlichen Fortschritt oder sozialen Aufstieg bei. Gerechtigkeit lässt sich nicht nur auf Effizienz reduzieren, sie ist eine moralische Forderung.
Soziale Ungleichheit liegt vor, wenn „Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den wertvollen Gütern einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten.“[3] Aus dem Tatbestand der sozialen Ungleichheit lassen sich dann Gerechtigkeitsforderungen ableiten, wenn systematische Vor- oder Nachteile mit einer sozialen Position verbunden sind. Dass bestimmte Berufe oder Positionen mit mehr oder weniger Gehalt verbunden sind, bedeutet nicht zwangsläufig, dass es auch ungerecht zugeht. Ungerecht wäre es aber, wenn systematische Ungleichheiten z.B. aufgrund des Geschlechts oder der Schichtzugehörigkeit produziert würden.
Für die soziale Situation in Deutschland lassen sich wenigstens zwei Aspekte festhalten: 1. Bildung ist das entscheidende Gut für Wohlstand in Deutschland und 2. Der Zugang zu Bildung in Deutschland hängt stark von der sozialen Herkunft ab. Ein fairer Wettbewerb um die Verteilung sozialer Vor- und Nachteile liegt in Deutschland nicht vor.
In Umfragen bestätigen die Deutschen, dass ihnen dieser Umstand intuitiv bewusst ist. Eine Mehrheit wünscht sich mehr Chancengleichheit und eine Verteilung gemäß dem Leistungsprinzip.
Gerechtigkeit ist nicht nur eine Frage des Outputs. Es genügt nicht Menschen in irgendeine Art von Arbeit zu bringen, sie müssen das Gefühl haben, selbstbestimmt zu handeln und für ihre Leistungen belohnt zu werden.
Aus diesen Ergebnissen folgt, dass soziale Ungerechtigkeit durch ein Prinzip angegangen werden sollte, das den Menschen die Möglichkeit einräumt ihre Fähigkeiten und Vorstellungen zu realisieren. Dieses Prinzip soll Chancengerechtigkeit genannt werden. Der Chancengerechtigkeitsbegriff ist eine Reinterpretation des von Sylvia Ruschin verwendeten Begriffs[4]:
Chancengerechtigkeit bedeutet 1. die Maximierung der relativen Chancen aller (Chancenprinzip), also die Bereitstellung auf die persönlichen Fähigkeiten zugeschnittener Angebote, auch wenn dies 2. den Wohlstand einzelner Personen oder Gruppen mindern sollte (Solidaritäts- oder Generationenprinzip) und 3. Ungleichverteilung durch einen fairen Wettbewerb zu legitimieren (Leistungsprinzip).
Chancengerechtigkeit enthält also zwangsläufig eine positive Bestimmung des Freiheitsbegriffs: die tatsächliche Möglichkeit sich gemäß seiner Fähigkeiten verwirklichen zu können. Chancengerechte Ergebnisse können nur durch diese Voraussetzung erzielt werden. Ein negativer Freiheitsbegriff, der in seiner Wirkung als ein Abwehr- oder Verteidigungsrecht von Eigentumsverteilungen oder bestehenden sozialen Verhältnissen verstanden wird, kann dem Prinzip gerechter Chancenverteilungen nicht genügen. Der Begriff der Chancengerechtigkeit verfolgt die Idee jeder Person eine gerechte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen.
Das Hauptziel dieser Arbeit ist es, den hier verwendeten Gerechtigkeitsbegriff an zwei populären Gerechtigkeitstheorien der Gegenwart zu messen.
Wird sich mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit beschäftigt so ist dies heute ohne Bezug auf John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ fast unmöglich. Wolfgang Kersting ist sogar der Ansicht, dass Rawls der erste politische Philosoph seit Aristoteles ist, der sich wieder ernsthaft dem Problem der sozialen Gerechtigkeit gewidmet hat.[5] Ob diese Aussage nun zutrifft oder nicht, John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ galt schon zu seinen Lebzeiten als Klassiker. Für John Rawls geht es um die Herstellung einer gerechten Grundstruktur der Gesellschaft, also gerechter Verfahren, die zu gerechten Ergebnissen führen. Ungleichheiten sind nur gemäß seinem berühmten „Differenzprinzip“ zuzulassen, welches fordert, die Lage der am wenigsten Begünstigten einer Gesellschaft zu verbessern. Seine Idee fairer Chancengleichheit folgt diesem Prinzip.
Ein anderer Ansatz für gerechte Verteilungen stammt von dem Nobelpreisträger Amartya Sen. Sein „capability approach“ nimmt seinen Ausgang in der Kritik an den etablierten Gerechtigkeitstheorien vor allem utilitaristischer Prägung und eben ausdrücklich der Theorie von John Rawls. Nach Sen können gerechte Ergebnisse nicht aufgrund einer (Gleich-)Verteilung von Einkommen oder Ressourcen, wie z.B. die Grundgüter bei Rawls, erzielt werden. Für eine Beurteilung der Lebenssituation von Personen müssen ihre tatsächlichen Freiheiten, bestimmte, für eine gesellschaftliche Teilhabe relevante, Fähigkeiten auszubilden, betrachtet werden.
Nach dem ein Begriff von Chancengerechtigkeit expliziert wurde, ist die Frage, mit der sich hier beschäftigt werden soll:
Genügen die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls und der Verwirklichungschancen-Ansatz von Amartya Sen dem Begriff der Chancengerechtigkeit?
Also die Frage ob sich mit den Konzeptionen John Rawls und Amartya Sens soziale Kompensationen rechtfertigen lassen, die sich im Sinne der Chancengerechtigkeit ergeben.
John Rawls Prinzip fairer Chancen führt häufig zu kontraintuitiven Ergebnissen und kann keine der Forderungen gerechter Chancen erschöpfend bedienen. Für Rawls ist es wichtiger den Lebensstandard (im Sinne des Besitzes bestimmter materieller Güter) der „worst-off“ zu verbessern, als ihren Möglichkeitsraum, bestimmte soziale Positionen einzunehmen, zu vergrößern. Es ist nach Rawls gerecht, wenn die am wenigsten Begünstigten geringere Chancen haben, falls sie von den Leistungen der Begünstigten profitieren.
Amartya Sens Verwirklichungschancen-Ansatz kritisiert u.a. dieses Prinzip der Güterverteilungen. Menschen sind nach Sen mit sehr unterschiedlichen persönlichen Eigenschaften ausgestattet und leben in sehr unterschiedlichen sozialen und natürlichen Umgebungen. Dies kann ihre Fähigkeiten soziale Güter in Wohlbefinden umzuwandeln stark einschränken. Ein Aspekt der nach Sen von Rawls Differenzprinzip vernachlässigt wird. Für gerechte Verteilungen müssen bestimmte Menschen oder Gruppen in verschiedenster Weise gefördert, d.h. beispielsweise mit unterschiedlichen Güterbündeln ausgestattet werden, um ihre Möglichkeiten und Ziele zu verwirklichen. Sens Ansatz lässt sich weitesgehend mit dem Begriff der Chancengerechtigkeit vereinbaren. Allerdings muss beachtet werden, dass Sen keine vollständige Theorie der Gerechtigkeit zur Verfügung stellt. Es fehlen explizite normative Kriterien zur Messung von Ungerechtigkeit.
Geht es Rawls um die möglichst gleiche Ausstattung von Grundgütern, um jeder Person die formale Chance zu geben, ein gutes Leben zu führen, so ist bei Sen eine möglichst spezifische, d.h. ungleiche, Verteilung von Gütern wichtig um jedem die gleiche (substantielle) Chance einzuräumen, sich gemäß seinen Fähigkeiten zu verwirklichen.
Damit hat die Würde des Individuums, ihre Möglichkeit selbstbestimmt zu leben, bei Sen einen höheren Rang als bei Rawls. Soziale Kompensation bedeutet für Sen Hilfe zur Selbsthilfe.
Auch wenn Rawls Bedeutung für die Gerechtigkeitsdebatte nicht hoch genug bewertet werden kann, sind seit Erscheinen der Theorie der Gerechtigkeit nunmehr drei Jahrzehnte vergangen. Sens „capability approach“ weist trotz theoretischer Schwächen in die richtige Richtung, indem er Gerechtigkeit als Freiheit versteht. Es ist im Sinne der Chancengerechtigkeit nicht richtig, dass sich jeder mit seinem Leben zufrieden geben kann, weil es ihm durch Umverteilungen besser geht als ohne, wenn er niemals die Chance hatte seine Ziele verfolgen zu dürfen.
2. Verteilungsgerechtigkeit und Kompensation
2.1 Warum Verteilen ein Problem der Gerechtigkeit ist
In den Sozialwissenschaften ist es üblich die Gesellschaft in Klassen, Schichten oder Millieus einzuteilen. Diese Einteilungen sollen ausdrücken, dass die Mitglieder einer Gesellschaft einen jeweils unterschiedlich großen Anteil an den von der Gesellschaft produzierten Gütern bekommen haben oder einen unterschiedlichen Lebensstil pflegen. Eine Grundforderung der Gerechtigkeit ist es, jedem zukommen zu lassen, was ihm gebührt oder ihn so zu behandeln, wie er es verdient, wobei die Umstände und Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen entscheidend sind.[6] Der Tatbestand der sozialen Ungleichheit wird also dann zum Problem der Gerechtigkeit, wenn die Verteilung der gesellschaftlichen Güter nicht nach einem gerechten Prinzip erfolgt, das bestimmt, wieviel jemandem verdientermaßen zusteht. Es steht dabei nicht von vornherein fest, was als ein gerechtes Prinzip der Verteilung angesehen werden soll und auch welche Güter als relevant für die gesellschaftliche Verteilung gelten, ist abhängig von den jeweiligen Wertvorstellungen und Rahmenbedingungen einer Gesellschaft. Im Folgenden soll der Problemkreis der Verteilungsgerechtigkeit eingegrenzt, einige bekannte Formen der Verteilungsgerechtigkeit angesprochen und in Zusammenhang mit den tatsächlichen gesellschaftlichern Gegebenheiten in Deutschland und den Gerechtigkeitsvorstellungen der Deutschen gebracht werden, um schlussendlich einen Begriff für eine möglichst gerechte Verteilung zu bilden. Dieser Begriff soll Chancengerechtigkeit genannt werden.
2.1.1 Soziale Ungleichheit
Soziale Ungleichheit ist in soziologischer Hinsicht mehr als nur die einfache Feststellung, dass bestimmte Menschen in einer Gesellschaft von einem gewissen Gut weniger oder mehr besitzen als andere. Für den Tatbestand der sozialen Ungleichheit muss Regelmäßigkeit vorliegen.
Stefan Hradil definiert soziale Ungleichheit folgendermaßen:
„Wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den wertvollen Gütern einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten.“[7]
Es geht also darum, dass bestimmte Menschen aufgrund ihrer sozialen Position auf systematische Weise Vorteile oder (negativ formuliert) Nachteile erhalten. Des Weiteren taucht in dieser Definition der Begriff des wertvollen Gutes auf, so dass geklärt werden muss, was ein Gut ist und was es wertvoll macht. Soziale Güter sind Annehmlichkeiten und Vorteile, die aus dem gemeinsamen Zusammenwirken resultieren[8] und je „mehr die einzelnen von diesen Gütern besitzen, desto günstiger sind ihre Lebensbedingungen.“[9] Es sind also Dinge, die aus der gesellschaftlichen Kooperation entstehen und für das Leben des Einzelnen von besonderer Bedeutung sind. Was genau die wertvollen Güter sind, hängt von den jeweiligen Gegebenheiten einer Gesellschaft ab. Es könnten z.B. Geld, Gesundheit oder Bildung sein. Wenn diese Güter wesentlich den gesellschaftlichen Erfolg oder Misserfolg bestimmen, dann ist entscheidend, wie und auf welche Weise sie auf die Gesellschaftsmitglieder verteilt sind. Absolute Ungleichheit liegt vor, wenn ein Mensch mehr als ein anderer besitzt und ist damit nichts weiter als eine einfache Feststellung.[10] Dagegen bedeutet relative Ungleichheit, dass ein Mensch mehr besitzt, als ihm gemäß bestimmten Verteilungskriterien zusteht.[11] Relative Ungleichheit scheint bereits auf ein Gerechtigkeits- und Verteilungsproblem hinzudeuten, denn sie enthält bereits eine Ungerechtigkeitsvorstellung, nämlich dass jemand mehr bekommen könnte, als ihm legitimerweise zusteht und sie enthält das Wort „Verteilungskriterium“, was darauf hinweist, dass soziale Güter auf eine bestimmte Weise verteilt werden müssen. Zusammen mit dem Punkt der „Regelmäßigkeit“ impliziert der Begriff der sozialen Ungleichheit deutlich Gerechtigkeitsforderungen, wobei entscheidend ist, dass sich die regelmäßige, systematische Benachteiligung auf die Korrelation der Verteilung mit bestimmten Merkmalen bezieht.[12] Die Tatsache, dass an bestimmte Berufe mehr oder weniger Gehalt geknüpft ist, muss nicht zwangsläufig auf Ungerechtigkeit hinweisen. Ungerecht wäre es aber, wenn systematische Ungleichheiten z.B. aufgrund des Geschlechts oder der Schichtzugehörigkeit produziert werden würden.
2.1.2 Formen der Verteilungsgerechtigkeit
Wir stellen uns vor, jemand habe Geburtstag. Traditionell gibt es bei so einem Anlass einen Geburtstagskuchen. Dieser Kuchen soll nun unter den anwesenden Gästen verteilt werden. Dem Geburtstagskind kommt die Aufgabe zu, diesen Kuchen in einzelne Stücke zu schneiden, diese Stücke unter seinen Gästen zu verteilen und auch ein Stück für sich zu behalten. Die schwere Frage, vor der das Geburtstagskind steht, ist, wie eine gerechte Verteilung dieses Kuchens aussehen könnte. Das Geburtstagskind könnte sich entscheiden jedem Gast und sich selbt ein gleich großes Stück zu geben, er könnte sich selbst aber auch ein größeres Stück geben, als Geburtstagskind hätte er möglicherweise auch das Recht dazu. Vielleicht überlegt er sich auch, welcher seiner Gäste den größten Hunger hat oder welcher Gast so einen Kuchen am liebsten mag und er wird diesem ein entsprechend größeres Stück geben. Zuletzt könnte er sich überlegen, demjenigen das größte Stück zu geben, der ihm das schönste Geschenk gemacht hat.
Dieses kleine Beispiel illustriert wichtige Ausprägungen der Verteilungsgerechtigkeit. Es könnte sein, dass eine Gleichverteilung besonders gerecht ist, vielleicht ist auch eine Verteilung nach Status gerecht (in diesem Beispiel das Besondere des Geburtstagskind-Seins). Das Geburtstagskind könnte aber auch nach den Bedürfnissen seiner Gäste verteilen oder demjenigen, der in seinen Augen die größte Leistung erbracht hat (ihm das schönste Geschenk gemacht zu machen), das größte Stück geben.
Eine Verteilung nach Status scheint zwar in dem Geburtstagsbeispiel nicht abwegig, zumindest würde es in diesem Beispiel für wenig Aufregung sorgen. Grundsätzlich würde eine solche Verteilung in allen öffentlichen Bereichen moderner demokratischer Gesellschaften aber abgelehnt werden. Natürlich könnte hier eingewandt werden, dass es noch zahlreiche Königshäuser in Europa gibt, die einen priviligierten Status genießen oder aber dass Prominente mit überwiegend öffentlicher Akzeptanz privilegiert behandelt werden, nur um einige Beispiele zu nennen. Diese Überlegungen sind hier aber nicht zielführend und können als Sonderfälle angesehen werden. Sie werden im Folgenden nicht weiter thematisiert.
Interessanter ist die Vorstellung einer generellen Gleichverteilung, also dass gesellschaftliche Güter unabhängig vom individuellen Anteil an ihrer Erzeugung gleich verteilt werden sollten. Die formale Gleichheit vor dem Gesetz ist ein rechtsstaatlicher Grundsatz. In Fragen der Verteilungsgerechtigkeit können Gleichheitsforderungen aber zu ernsthaften Problemen führen.
In aristotelischer Tradition kann zwischen einer ausgleichenden und einer verteilenden Gerechtigkeit unterschieden werden. Bei ersterer geht es um Ausgleichs- oder Entschädigungsforderungen, die aus einem Rechtsbruch oder aus einem zwischen Menschen geschlossenen Vertrag resultieren. Unter der Perspektive der ausgleichenden Gerechtigkeit begegnen sich „Rechtspersonen[...]unter der Perspektive völliger Gleichheit“ und es darf „allein Delikt und Vertragsinhalt für die Bemessung der Entschädigungs- und Ausgleichshöhe von Bedeutung“ sein.[13] Justitia muss blind sein und darf nicht in Ansehung der Person entscheiden. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist heute wohl ein allgemein anerkannter und weitgehend unproblematischer Grundsatz. Hans Kelsen weist allerdings darauf hin, dass die Formel „Gleichheit vor dem Gesetz“ mehr oder weniger leer ist, da sie „nichts anderes [bedeutet], als daß die rechtsanwendenden Organe keine Unterschiede machen sollen, die das anzuwendende Recht nicht selbst macht.“[14] Mit anderen Worten: Sie lässt das Inklusionsproblem ungelöst. Zu Zeiten Aristoteles’ waren eben nur die freien männlichen Bürger Rechtspersonen und es dauerte bekanntermaßen sehr lange, bevor auch Frauen oder Kinder unter den Gleichheitsgrundsatz fielen. Heute wird bereits diskutiert inwieweit die Grundrechte auf bestimmte Tierarten ausgeweitet werden könnten.[15]
Bei der verteilenden Gerechtigkeit muss Justitia „genau hinblicken“[16] Hier geht es darum gesellschaftlich erzeugte Güter zu verteilen und zwar nach den legitimen Ansprüchen der Gesellschaftsmitglieder. Eine Gleichverteilung ist für Aristoteles nicht automatisch gerecht, vielmehr muss nach einem bestimmten Kriterium differenziert werden. Als Kriterium macht Aristoteles die Verdienstlichkeit oder Würdigkeit aus.[17] Damit wird auf ein Grundproblem der Verteilungsgerechtigkeit hingewiesen: Wer in einer bestimmten Gesellschaft als besonders würdig angesehen wird oder was als Verdienst gilt, hängt eben von der jeweiligen Gesellschaft ab. Dieser Umstand lässt Hans Kelsen zu dem deprimierenden Urteil kommen, dass so etwas wie objektive oder absolute Gerechtigkeit ein „irrationales Ideal“ sei.[18]
Mit der von Amartya Sen in Reaktion auf John Rawls angestoßenen “Equality-of-what?“-Debatte[19] wurde die Frage nach der gerechten Verteilung wieder umgedreht und nicht mehr nach einem Differenzierungskriterium gesucht, also danach gefragt, was legitimerweise ungleich verteilt werden muss, sondern die Frage aufgeworfen, was gleich verteilt werden sollte. Dies führte auch zu einem Streit zwischen Egalitaristen und Nicht-Egalitaristen über den Wert der Gleichheit an sich.[20] Auch wenn einige Argumente noch thematisiert werden müssen, ist eine ausführliche Darstellung der Debatte in dem hier gesetzten Rahmen nicht möglich. Festgehalten wird: Eine Gleichverteilung der Einkommen, des Wohlstands oder des Glücks stellt keine gerechte Verteilung dar. Es sollte intuitiv einsehbar sein, dass eine Gleichverteilung der Einkommen individuell erbrachte Leistungen unberücksichtigt lässt und dass beispielsweise eine Gleichverteilung von Glück praktisch unmöglich ist, da sich erstens die Vorstellungen von Glück bei jedem Menschen unterscheiden und zweitens die jeweiligen Vorstellungen eine jeweils unterschiedlich große Menge an gesellschaftlichen Gütern benötigen, was das Ziel der Gleichheit von vornherein wieder konterkarieren würde. Einige Argumente sollen, wie gesagt, noch vorgestellt werden. Es wird also angenommen, dass Gleichheit ein äußerst problematisches Kriterium für Gerechtigkeit sein kann, zumindest in der Sphäre der verteilenden oder sozialen Gerechtigkeit.
Damit verbleiben noch wenigstens zwei Prinzipien der Verteilung, die ebenfalls sowohl im wissenschaftlichen Diskurs als auch in der öffentlichen Meinung noch eine Rolle spielen. Das Leistungs- bzw. Verdienstprinzip oder die Verteilung nach Bedürfnissen.
2.1.3 Bedarfsprinzip
Als prominentes Beispiel für Bedarfsgerechtigkeit darf wohl Karl Marx’ Forderung gelten: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen.[21] Der ursprüngliche Grund für diese Forderung lag wohl in der Sorge, dass ein übermäßig harter Arbeitsprozess für einen Arbeiter mit geringeren körperlichen Fähigkeiten eine zu hohe Belastung darstellt. Es sollte darauf geachtet werden, was „ihm nach seinen natürlichen Anlagen zugemutet werden darf“[22]. Besser sei es daher, ihm soziale Güter nach seinen Bedürfnissen zuzuteilen. Es scheint zunächst auch intuitiv einsehbar, dass z.B. das Bedürfnis nach einem guten Leben ein durchaus berechtigter Wunsch ist, schließlich haben dieses Bedürfnis wohl die meisten. Eine Verteilung nach Wünschen oder Bedürfnissen führt allerdings zu einer Reihe von Problemen, wenn es zu einem generellen Prinzip gemacht werden soll. Nun kann z.B. der Wunsch nach körperlicher Unversehrtheit ein durchaus berechtigtes Anliegen sein, dem eine gerechte Gesellschaft nachkommen sollte. Doch schon die allgemeinere Formulierung frei von Schmerzen sein zu wollen, führt zu umfangreichen Problemen. Es scheint undenkbar z.B. ein einklagbares Recht darauf zu haben, frei von Liebeskummer zu sein oder einem Boxer nach dem Ringkampf die Möglichkeit zu geben, Ansprüche an seinen Gegner zu stellen, obwohl dieser ihm zweifellos beträchtliche Schmerzen zugefügt haben mag. Doch davon abgesehen ist es ein großes Problem mit ausgefallenen oder bösartigen Wünschen umzugehen. Es ist fraglich, ob es gerecht ist, dass jeder Mensch einen Sportwagen bekommen sollte, wenn er es wünscht, während andere mit einem Kleinwagen zufrieden sind. „A welfare egalitarian must[...]provide the epicure with a higher income than the person of modest taste, since otherwise the latter might be satisfied while the former is distraught.”[23] Es geht also bei einer Verteilung nach Bedürfnissen, nicht nur darum einem Gehbehinderten den möglicherweise berechtigten Wunsch nach einer Gehhilfe zu erfüllen, sondern vor allem um die Frage, wo die Grenze zu ziehen ist, also wann es sich um einen unberechtigten Wunsch handelt. Bei einer Verteilung nach dem Bedarfsprinzip kann man ausgefallene Wünsche im Sinne der so verstandenen Gerechtigkeit nur schwer ausschließen. Wenn die Bedürfnisbefriedigung als Gerechtigkeitskriterium gilt, dann wäre es gerecht einer „unersättlichen“ Person mehr gesellschaftliche Güter zuzuteilen als einer eher genügsamen. Ein anderes Problem neben den ausgefallenen Bedürfnissen, sind diskriminierende Wünsche. „Jemand möchte vielleicht nicht, daß Schwarze in seine Nachbarschaft ziehen [...] weil andere sie nicht mögen und deshalb sein Haus an Wert verlieren würde.“[24] Obwohl diese Person nicht rassistisch motiviert ist, sondern eher ökonomische Interessen hat, führt dieser anscheinend wohlüberlegte und berechtigte Wunsch zu kontraintuitiven Ergebnissen. John Rawls Kritik am Utilitarismus richtet sich u.a. auf diesen Aspekt.[25] Nun könnten derartige Wünsche auch ausgeschlossen werden oder es könnte zumindest versucht werden, die Wünsche in eine Rangordnung zu bringen. Doch auch das ist wenig aussichtsreich, denn „woher wissen wir, ob Liebe, Dichten oder Kegeln wertvoller sein soll, wenn sie nicht an einem einzigen übergeordneten Wert [...] gemessen werden können?“[26] Das schon angesprochene Kriterienproblem bliebe also bestehen.
2.1.4 Leistungsprinzip
Nach dem Leistungsprinzip soll jeder, vereinfacht gesagt, bekommen, was er verdient. Eine erbrachte Leistung soll also in dem Maße belohnt werden, „die der aufgewandten Dauer, Mühe und Qualifikation der Arbeitstätigkeit entspricht.“[27] Für das Leistungsprinzip sind also zwei Indikatoren von besonderer Bedeutung, einerseits der Aufwand oder die Härte der Arbeit und andererseits die Ausbildung. Entsprechend unterscheidet Heinz Heckhausen zwei Ausprägungen des Leistungsprinzips[28], nämlich das Funktionalitäts- und das Entschädigungsprinzip. Das Funktionalitätsprinzip ist ein fähigkeitszentrierter Ansatz, bei dem vor allem die Ausbildung, die Folgewirkungen der Tätigkeit (Gewinn oder Kosten) und der relative Beitrag zum arbeitsteiligen Zustandekommen von Aufgabenzielen belohnt werden soll. Hier zählen in erster Linie die Qualifikation oder die daraus resultierenden Fähigkeiten. Dagegen verfolgt das Entschädigungsprinzip einen anstrengungszentrierten Ansatz, bei dem Ausdauer und Kräfteaufwand belohnt werden soll. Was zählt ist also nicht die relative Größe der erreichte Produktionsmenge, sondern die Anstrengung, die beim erarbeiten dieser Menge aufgebracht werden musste. Dies entspricht weitesgehend der Formel, dass sich „harte Arbeit lohnen soll“. John Rawls unterteilt das Leistungsprinzip in ähnlicher Weise, nämlich in den Ausprägungen „Jedem nach seiner Ausbildung“ oder „Jedem nach seinem Einsatz.“[29]
Damit gibt das Leistungsprinzip zwei Verteilungskriterien vor, nämlich Bildung und Aufwand. Es können keine unberechtigten oder übermäßigen Erwartungen an die Verteilung gesellschaftlicher Güter gestellt werden, da jeder nach seinem relativen Anteil belohnt wird, den er selbst erarbeitet hat. Natürlich stehen die beiden Ausprägungen des Leistungsprinzips in gewisser Weise miteinander in Konkurrenz. Es ist nicht von vornherein klar, ob eher die Bildung oder der Einsatz belohnt werden sollte. Für Matt Cavanagh ist das Leistungsprinzip vor allem der Idee des Wettbewerbs verpflichtet, dabei ist es eher sekundär, ob „people should be given jobs as a reward for something they have done” oder „in recognition of what they are like “, weil es einfach darum geht, dass „the best person should always get the job.“[30] Es darf aber nicht vergessen werden, dass Menschen mit physischen oder psychischen Einschränkungen im Wettbewerb weniger Chancen haben oder sogar ganz davon ausgeschlossen sind. Es lässt sich unabhängig davon aber behaupten, dass das Leistungsprinzip zu gerechteren oder wenigstens weniger problematischen Verteilungen führt, als eine einfache Gleichverteilung oder eine Verteilung nach Bedürfnissen. Diese Aussage gilt allerdings nur in Verbindung mit einer gewichtigen Einschränkung: jeder muss die gleichen Chancen haben, an einem gerechten Wettbewerb um die gesellschaftlichen Güter teilnehmen zu können. Gemäß der Definition von sozialer Ungleichheit, darf die eigene Stellung im sozialen Beziehungsgefüge nicht zu systematischen Vor- oder Nachteilen führen. Ist dies aber der Fall, so handelt es sich nicht mehr um einen fairen Wettbewerb. Das Leistungsprinzip würde ohne gleiche Chancen nur noch eingeschränkt die Leistung und zu einem großen Teil den Status bzw. gesellschaftliche Prädispositionen belohnen. Das Leistungsprinzip, verstanden als fairer Wettbewerb, impliziert aber bereits die Forderung nach Chancengleichheit. Der Begriff, der die Verbindung von Leistungsprinzip und Chancengleichheit am besten ausdrückt, ist die Chancengerechtigkeit. Dieser Begriff soll im Folgenden expliziert werden.
2.2 Chancen und Gerechtigkeit
Im vergangenen Abschnitt wurden normative Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit behandelt. Nun sollen diesen Aspekten auch empirische Aussagen und Analysen hinzugefügt werden, um den Begriff der Chancengerechtigkeit auf eine einigermaßen feste Grundlage zu stellen. Das Schlagwort der „Informationsgesellschaft“ ist keine leere Hülse, es lässt sich tatsächlich eine Verbindung zwischen Bildung und gesellschaftlichem Erfolg herstellen. Bildung ist ein (wenn nicht das) ausschlaggebende Gut, um im gesellschaftlichen Wettbewerb zu bestehen. Entsprechend müssen die Chancen auf Bildung egalisiert werden, um einen fairen Wettbewerb zu schaffen. Deshalb ist es auch notwendig die wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen der sozialen Herkunft, hier am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, aufzuzeigen, um den Handlungsbedarf zu verdeutlichen. Außerdem soll die Untersuchung der Gerechtigkeitsvorstellungen der Deutschen zeigen, dass erstens ein Problembewusstsein existiert und zweitens die Vorstellungen in Richtung gleicher Chancen weisen. Daran angeschlossen ist eine Analyse der Wirkungen einer generationenabhängigen Chancengleichheits-Konzeption. Letztendlich soll dadurch der Chancengerechtigkeitsbegriff herausgearbeitet werden.
2.2.1 Bildung und Einkommen
Die Höhe des Bildungsabschlusses vergrößert die Chancen überhaupt einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. So sind 11,5 und. 9 % der Bundesbürger ohne beruflichen Abschluss bzw. mit Lehr- oder Anlernausbildung arbeitslos, während es nur 4,4 % der Menschen mit Fachhochschul- oder Hochschulabschluss sind.[31] Verwunderlich ist es deshalb nicht, dass sich die Höhe des Einkommens nach dem Bildungsgrad richtet. Das mittlere Bruto-Monatseinkommen männlicher vollzeitbeschäftigter Westdeutscher mit Fachhochschul- oder Hochschulabschluss liegt bei 4000 Euro, während das von Ungelernten bei unter 2500 Euro liegt (bei Männern mit Berufsausbildung liegt es nur unwessentlich höher bei ca. 2800 Euro).[32]
Diese Ergebnisse entsprechen wohl weitesgehend den Erwartungen, wenn man das Leistungsprinzip in der Form „Jedem nach seiner Ausbildung“ zugrundelegt. In Deutschland wird das Einkommen anscheinend entsprechend diesem Prinzip verteilt. Allerdings müsste es wohl etwas eingeschränkt werden, denn während der Abstand zwischen denjenigen ohne und denjenigen mit Berufsausbildung relativ gering ist, ist dagegen der Abstand von Männern mit Berufsausbildung und Männern mit Fachschul- oder Hochschulbildung deutlich größer. Hochschulausbildung scheint deutlich mehr Gewicht zu haben als Berufsausbildung. Für ostdeutsche Frauen lassen sich übrigens die geringsten Auswirkungen der Bildung auf das Einkommen messen. Bei ungelernten Frauen und Frauen mit Berufsausbildung beträgt das mittlere Bruto-Monatseinkommen ca. 1300 Euro bzw. knapp 1500 Euro, bei den ostdeutschen Frauen mit Fachhochschulabschluss bei etwas unter 2500 Euro, mit Universitätsabschluss bei knapp über 2500 Euro.[33] Das Geschlecht scheint also einen deutlich größeren Einfluss auf das Einkommen insgesamt zu haben. Trotzdem gilt innerhalb der Klasse der ostdeutschen Frauen, dass sich das Einkommen nach dem Bildungsgrad richtet, wenn auch nicht so stark, wie bei den westdeutschen Männern.
Es soll also angenommen werden, dass der Bildunggrad ein verlässliches Indiz für die Höhe des Einkommens darstellt. Geschlechtsspezifische Vor- und Nachteile sollen im Weiteren keine Rolle spielen.
Dass die Bildung in starkem Maße über die Einkommensverteilung entscheidet, ist zunächst im Sinne des Leistungsprinzips in seiner Ausprägung „Jedem nach seiner Ausbildung“. Relevant für die eingeführte Definition von sozialer Ungleichheit ist nun, wie die Chancen auf Bildung verteilt werden. Gibt es hier eine Ungleichverteilung, liegt soziale Ungerechtigkeit vor.
2.2.2 Vererbte Ungleichheiten – schichtspezifischer Zugang zu Bildung
Von vererbten Ungleichheiten kann dann gesprochen werden, wenn der Beruf, die Bildung und/oder das Einkommen der Eltern den Zugang zur Bildung ihrer Kinder weitgehend bestimmt.
Kinder aus der Arbeiterschicht sind mehrheitlich Haupt- und Realschüler, nur 25% von ihnen erhalten eine Gymnasialempfehlung. Dagegen erhalten im Durchschnitt über alle Schichten 50% der Kinder eine Empfehlung für das Gymnasium. Arbeiterkinder sind also deutlich unterrepräsentiert.[34] Noch deutlicher wird der Abstand, wenn man sich den Hochschulbesuch ansieht. Von 1982 bis 2000 stieg die Zahl der studierenden Arbeiterkinder zwar von 9 auf 12 %, im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der studierenden Beamtenkinder aber von 46 auf 73%.[35] Die Bildungsexpansion ist an den Arbeiterkindern also weitgehend vorbeigegangen. Entgegen der Vorstellung einer fortschreitenden Gesellschaft, muss konstatiert werden, dass die Chancen für die am wenigsten Begünstigten relativ gesehen sogar immer schlechter werden.
Eine HIS-Studie[36] zeigt den Zusammenhang zwischen der Bildung des Vaters und den Bildungschancen seiner Kinder. 86% der Kinder eines Vaters mit Hochschulempfehlung besuchen die gymnasiale Oberstufe, dagegen schaffen es nur 37% der Nachkommen eines Hauptschülers in die Klasse 11 des Gymnasiums. Bei den Vätern mit Mittlerer Reife, kommen immerhin 55% der Kinder in die Oberstufe.
Auch wenn Aufstiegschancen für Haupt- und Realschulkinder durchaus gegeben sind, so ist der Abstand zu den Kindern der Väter mit Abitur doch offensichtlich.
Die soziale Herkunft entscheidet in Deutschland also in starkem Maße über den Zugang zur Bildung, in etwas schwächerem Maße wird die Bildung des Vaters auf die Kinder vererbt.
Zusammengefasst bedeutet das: 1. Bildung ist das entscheidende Gut für Wohlstand in Deutschland und 2. Der Zugang zu Bildung in Deutschland hängt von der sozialen Herkunft ab. Daraus folgt: Ein fairer Wettbewerb liegt in Deutschland nicht vor.
2.2.3 Gerechtigkeitsvorstellungen der Deutschen
Die Deutschen zeigen in Umfragen eine besondere Sensibilität für die oben aufgezeigten Tatsachen, ihre Empfindungen stimmen weitesgehend mit den Resultaten der objektiven Sozialforschung überein.
Bei der Frage, ob die Chancengleichheit in Deutschland verwirklicht ist (Abb. 1), sind sich Ost- und Westdeutsche insofern einig, dass beide diese Frage mehrheitlich verneinen. Die befragten Ostdeutschen sind allerdings nur zu 20% der der Meinung, die Chancengleichheit in Deutschland sei verwirklicht, während in Westdeutschland immerhin 40% dieser Aussage zustimmen können. Entsprechend ist eine deutliche Mehrheit in Ost und West (wobei auch hier wieder die Ostdeutschen zu einem größeren Teil zustimmen) der Meinung, dass der eigene Verdienst eher von externen, unfreiwilligen Faktoren abhängt.
Eine große Mehrheit der Deutschen ist der Meinung, dass materielle Unterschiede bei gleichen Chancen gerechtfertigt sind, sie scheinen also einem System von Leistungsanreizen durch Einkommensunterschiede grundsätzlich zuzustimmen.
[...]
[1] Westerwelle, Guido, Rede beim Dreikönigstreffen der FDP, http://www.guido-westerwelle.de/rede.php?id=2005-01-06, Stuttgart 2005.
[2] Nolte, Paul, Soziale Gerechtigkeit in neuen Spannungslinien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 37/2005, Frankfurt a.M. 2005, S. 22.
[3] Hradil, Stefan, Soziale Ungleichheit in Deutschland, 7. Aufl., Opladen 1999, S. 26.
[4] Ruschin, Sylvia, Chancengleichheit in der Wissensgesellschaft, Münster 2004, S. 97, 98.
[5] Vgl. Kersting, Wolfgang, Gleiche gleich und Ungleiche ungleich – Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, in: Dornheim, Andreas, Winfried Franzen u.a. (Hg.), Gerechtigkeit – Interdisziplinäre Grundlagen, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 46-77.
[6] Koller, Peter, Soziale Gleichheit und Gerechtigkeit, in: Hans-Peter Müller/Bernd Wegener (Hg.), Soziale Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit, Opladen 1995, S. 53.
[7] Hradil, Stefan, Soziale Ungleichheit in Deutschland, 7. Aufl., Opladen 1999, S. 26.
[8] Koller, Peter, Soziale Gleichheit und Gerechtigkeit, in: Hans-Peter Müller/Bernd Wegener (Hg.), Soziale Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit, Opladen 1995, S. 59.
[9] Hradil, Stefan, Soziale Ungleichheit in Deutschland, 7. Aufl., Opladen 1999, S. 24.
[10] Hradil, Stefan, Soziale Ungleichheit in Deutschland, 7. Aufl., Opladen 1999, S. 24.
[11] Hradil, Stefan, Soziale Ungleichheit in Deutschland, 7. Aufl., Opladen 1999, S. 25.
[12] Hradil, Stefan, Soziale Ungleichheit in Deutschland, 7. Aufl., Opladen 1999, S. 26.
[13] Kersting, Wolfgang, Gleiche gleich und Ungleiche ungleich – Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, in: Dornheim, Andreas, Winfried Franzen u.a. (Hg.), Gerechtigkeit – Interdisziplinäre Grundlagen, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 46.
[14] Kelsen, Hans, Was ist Gerechtigkeit?, Stuttgart 2000, S. 35.
[15] Vgl u.a. Ott, Konrad/ Ralf Döring, Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit, Marburg 2004, S. 165-168.
[16] Kersting, Wolfgang, Gleiche gleich und Ungleiche ungleich – Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, in: Dornheim, Andreas, Winfried Franzen u.a. (Hg.), Gerechtigkeit – Interdisziplinäre Grundlagen, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 47.
[17] Kersting, Wolfgang, Gleiche gleich und Ungleiche ungleich – Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, in: Dornheim, Andreas, Winfried Franzen u.a. (Hg.), Gerechtigkeit – Interdisziplinäre Grundlagen, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 48.
[18] Kelsen, Hans, Was ist Gerechtigkeit?, Stuttgart 2000, S. 49.
[19] Vgl. Sen, Amartya, Equality of What?, in: The Tanner Lectures on Human Values, Stanford 1979.
[20] Vgl. u.a. Krebs, Angelika, Gleichheit oder Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 2000.
[21] Kelsen, Hans, Was ist Gerechtigkeit?, Stuttgart 2000, S. 36.
[22] Kelsen, Hans, Was ist Gerechtigkeit?, Stuttgart 2000, S. 37.
[23] Cohen, Gerald A., Equality of What? On Welfare, Goods, and Capabilities, in: Nussbaum, Martha/ Amartya Sen (Hg.), The Quality of Life, New York 1993, S. 12.
[24] Kymlicka, Will, Politische Philosophie heute, Frankfurt a.M./ New York 1997, S. 34.
[25] Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1979, S. 49.
[26] Kymlicka, Will, Politische Philosophie heute, Frankfurt a.M./ New York 1997, S. 24.
[27] Heckhausen, Heinz, Leistung und Chancengleichheit, Göttingen 1974, S. 58.
[28] Vgl. Heckhausen, Heinz, Leistung und Chancengleichheit, Göttingen 1974, S. 58-62.
[29] Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1979, S. 341.
[30] Cavanagh, Matt, Against Equality of Opportunity, New York 2002, S. 33.
[31] Konsortium Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland - Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration, Bielefeld 2006, S. 182.
[32] Konsortium Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland - Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration, Bielefeld 2006, S. 184.
[33] Konsortium Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland - Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration, Bielefeld 2006, S. 184.
[34] Statistisches Bundesamt (Hg.), Datenreport 2004 – Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Bonn 2005, S.495
[35] Statistisches Bundesamt (Hg.), Datenreport 2004 – Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Bonn 2005, S.497
[36] Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.), Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2003 - 17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System, http://www.sozialerhebung.de/results_17/kap/03.%20Bildungsbeteiligung_Soz17.pdf
- Citar trabajo
- Markus Fischer (Autor), 2007, Soziale Kompensation mit Hinblick auf Chancengerechtigkeit im Vergleich zwischen John Rawls 'Theorie der Gerechtigkeit' und Amartya Sens 'Verwirklichungschancen-Ansatz', Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88154
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