Bei der "Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" handelt es sich um ein Frühwerk Nietzsches, welches als ein "Seitenstück" zur "Geburt der Tragödie" angekündigt und infolgedessen auch rezipiert worden ist.
Die Verfasserin dieser Arbeit wird nachweisen, dass eine solche Auffassung die Bedeutung von Nietzsches Schrift verfehlt, dass es sich dabei vielmehr um ein selbstständiges und originales Werk handelt, das einerseits auf Prinzipien der neuhumanistischen Bildungstheorie beruht, diese Grundsätze auf einen bestimmten Menschentypus hin vereint, um auf diesem schließlich eine neue Kulturtheorie zu begründen.
Andererseits ist sie vor wissenschaftstheoretischem Hintergrund zu lesen, denn nur ein bestimmter Wissenschaftsbegriff rechtfertigt die "PhG" als eine völlig neue und fruchtbare Theorie für die Altertumswissenschaft, wie die Philologie sich seit ihrem Vertreter Friedrich August Wolf nennt.
Weiterhin stellt Nietzsches Schrift, wie alle seine frühen Werke, eine Kritik an den Methoden des Historischen Positivismus dar. Es wird, vor dem Hintergrund des Methodenstreits der Philologen während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gezeigt werden, dass Nietzsche selbst bei der Bearbeitung und Ausdeutung der Quellen eine andere Methode anwendet und welche.
Letztendlich kann Nietzsches Philosophengeschichte als Gegenentwurf zu den zeitgenössischen gelehrten Philosophiegeschichtsschreibungen gelesen werden, die er zwar aus verschiedenen Gründen, die hier ebenfalls besprochen werden, ablehnt, die ihm jedoch gleichwohl als neuzeitliche Quellen dienen.
Die Verfasserin untersucht auch, welche Quellen Nietzsche für das Philosophenbuch auswählt und verwendet, sowohl die der alten als auch die der neueren Geschichtsschreiber und, erstmals in der Nietzsche-Forschung, an wen genau er seine werkimmanente Kritik richtet.
Inhalt
A. Einleitung
B. Hauptteil
I. Historisch-biographischer Hintergrund
1. „Philologie [ist] ihrem Ursprunge nach und zu allen Zeiten zugleich
Pädagogik gewesen.“
1.0 Philologie zwischen Bildung und Wissenschaft
1.1 Wilhelm v. Humboldt
1 1.1 Neubestimmung des Wissenschaftsbegriffs
1.1.2 Die Grundprinzipien der Bildung: Freiheit, Einsamkeit, Agonalität
1.1.3 Das dreifache Streben des Geistes: Prinzip, Ideal, Idee
1.1.4 Vollständigkeitsprinzip versus Einheitsprinzip
1.2 Friedrich August Wolf
1.2.1 Der Bildungsgedanke in der Klassischen Altertumswissenschaft
1.2.2 Das neue Menschenbild: Selbsttätigkeit und Originalität
1.3 August Boeckh
1.3.1 Bildung auf hermeneutischer Basis: Das Erkennen des Erkannten
1.3.2 Bildung neuer Ideen: Das Erkannte wird Eigenes
1.3.3 Bildung zur Wissenschaft: Individualität als Basis für Kongenialität
1.3.4 Selbstbildung: Kongenialität als Mittel zur Selbsterkenntnis
2. „Methode ist fast zu einem Stichwort geworden.“
2.1 Friedrich Ritschl
2.1.1 Die Textkritische Wende
2.1.2 Ausbildung zur historisch-kritischen Methode
3. „Der Beistand der künstlerisch gearteten Naturen“
3.1 Jakob Burckhardt
3.1.1 Die Antimethode
3.1.2 Gesamt- und Einzelbilder als Sinnbild für das Ideal
II. Quellen
1.0 Alte und neuere Geschichtsschreiber
1.1 Nietzsche in der Auseinandersetzung mit historischen Quellen
1.1.1 Diogenes Laertius
1.2 Nietzsche in der Auseinandersetzung mit den neueren Darstellungen
1.2.1 Eduard Zeller, Heinrich Ritter und Christian August Brandis
III. Die Einzelbilder: Nietzsches Interpretation der vorplatonischen Philosophen
1. Thales: Der Beginn des philosophischen Denkens
2. Anaximander: Der erste, untragische Erklärungsversuch
3. Heraklit: Der Weg von der menschlichen zur göttlichen Anschauung
4. Parmenides: Der Erfinder des reinen Denkens
5. Zenon: Der Erfinder des Argumentierens
6. Anaxagoras: Der Erfinder der Induktion und der Metaphysik der ersten
Ursache
7. Xenophanes: Der Erfinder des Skeptizismus
C. Schlussbetrachtung
D. Literaturangaben
A. Einleitung
Originale Werke werden unbewusst geschaffen. Sie sind unmittelbarer Ausdruck des Geistes, der wiederum nur unmittelbar erfahren werden kann. Ein solches Werk anzukündigen, bevor es fertig gestellt ist, ist mindestens problematisch, da Ankündigung sich immer auf einen bestimmten Zweck richtet. Originale Werke jedoch entstehen zweckfrei. Es kann passieren, dass ein originales Werk entsprechend seiner Ankündigung rezipiert wird und sein tieferer Sinn dadurch verloren geht.
Nietzsches Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (PhG) wurde konzipiert als „Seitenstück“ der Geburt der Tragödie (GT). Als solches wurde es Carl von Gersdorff angekündigt, als solches sollte es von Richard Wagner verstanden werden.[1] Als Nietzsche sein Manuskript schließlich im April 1873 in Bayreuth vorträgt, merkt jener jedoch schnell, dass irgendetwas nicht stimmt und dass es seinen Erwartungen nicht entspricht. Die Reaktion von Wagners Seite ist daher Schweigen.
Die Philosophie der Griechen war ein Projekt, das Nietzsche zunächst ganz unabhängig von den Interessen Wagners verfolgte. Seine Vorliebe für die griechische Philosophie war erwacht, lange bevor er zu Wagner in engeren Kontakt tritt, nämlich während seiner philologischen Studien bei Friedrich Ritschl. Als Altertumskundler gedachte Nietzsche auch ein umfassendes Griechenbuch zu konzipieren, eine Gesamtschau des Hellenentums, in welchem auch die Philosophen ihren besonderen Ort haben sollten. Dass Nietzsches Herz für die Philosophie schlägt, zeigt sich also schon früh und steht seiner philologischen Tätigkeit grundsätzlich nicht im Weg. Viele große Philologen hatten, um in die Tiefe, anstatt in die Breite zu forschen, wie man es der ehemals gelehrten Philologie vorwarf, ihr Spezialgebiet innerhalb der umfangreichen Altertumskunde. So wird Nietzsche während der Zeit seiner Basler Professur am Pädagogium regelmäßig die platonischen Dialoge durcharbeiten und an der Universität sowohl mehrmals Platons Leben und Lehre behandeln als auch Die Vorplatonischen Philosophen lesen. Die Aufzeichnungen darüber werden die Grundlage für das Philosophenbuch bilden.
Die Zusammenarbeit mit Richard Wagner erfordert aber nun von Nietzsche, dass er seine philologische Arbeit in dessen Dienst stellt, d. h. in den Dienst einer Erneuerung der deutschen Kultur ausgehend vom Wagnerschen Kunstwerk. Gern ist Nietzsche zu dieser „Opfergabe“[2] bereit, und mehr als das, er gibt
für einen Zuschauer, wie Wagner ist, alle Ehrenkränze, die die Gegenwart spenden könnte, Preis; und ihn zu befriedigen reizt [ihn] mehr und höher, als irgend eine andre Macht[3]
und so plant er eine Philosophengeschichte vor kulturhistorischem Hintergrund entweder als Geschenk zu Wagners Geburtstag[4] oder als Festschrift für das Jahr 1874 und Bayreuth.[5] Im Hinblick auf Wagners Interessen empfiehlt es sich, die Kunst weiterhin als „Keimpunkt“ der Kultur zu werten, so dass die PhG nur als „Seitenstück“ zur GT gerechtfertigt erscheint, was bedeutet, ein Stück in untergeordneter Stellung zu dem eigentlichen Hauptstück.[6] Indem Nietzsche die Bedeutung des Philosophen innerhalb einer Kultur aufzeigen will, versucht er seine eigene Rolle neben der Wagners zu bestimmen. Dieses „Gedanken-Ei“[7] lässt ihn sein Manuskript drei Mal umschreiben, bis es schließlich zur letzten Darstellung Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen kommt, deren interne, kulturhistorische Aufgabenstellung wir in den Vorlesungsaufzeichnungen klarer strukturiert vorfinden als im Manuskript:
Wir wollen erstens also nachweisen, dass die Griechen, aus sich heraus, Philosophie treiben mussten und wozu? Zweitens wollen wir zusehen, wie sich der „Philosoph“ unter den Griechen ausnahm, nicht nur wie sich die Philosophie unter ihnen ausnahm. [...] Das führt uns drittens auf das Verhältnis des Philosophen zum Nichtphilosophen, zum Volk. [...] Viertens ist zu betonen die Originalität der Conceptionen, an denen alle Nachwelt ihr Genüge hat. [...] Nun habe ich speziell noch zu erläutern, warum ich die „vorplatonischen“ Philosophen als Gruppe zusammenfasse und nicht etwa die vorsocratischen.[8]
Die Beantwortung dieser Fragen soll uns dazu dienen, die Aufgabe des Philosophen innerhalb einer Kultur zu erleuchten. Dass sich der Blick dabei ausschließlich auf das 6. und 5. Jahrhundert zu richten hat, liegt daran, dass Nietzsche nur hier eine wahre Kultur vorzufinden glaubt, denn
Die Aufgabe, die der Philosoph [...] zu erfüllen hat, ist aus unsern Zuständen und Erlebnissen deshalb nicht rein zu errathen, weil wir keine solche Kultur haben.“ [...] „Habt erst eine Kultur, dann sollt ihr auch erfahren, was die Philosophie will und kann.[9]
Um dem Geist dieser Musterkultur, als Einigungspunkt aller ihrer Erscheinungen, zu begegnen, ist auszugehen vom Sinnfälligen: von der bildenden Kunst, der Skulptur, der Architektur und der Malerei, aber auch von der den Mythos transportierenden Literatur, von der Tragödie und der Musik. Durch sie werden zunächst typisch griechische Denkweisen und Anschauungen vermittelt. Erst danach kann man die wenigen Fragmente der vorplatonischen Philosophen auf diese Denkweisen hin deuten, welche anders nicht zu erraten wären. So glaubt Nietzsche erst nach dem Verfassen der GT „einige Grundeinsichten gewonnen“ zu haben, und nun meint er zu Rohde: „wir beide dürften einmal die bisher so schäbige und mumienhafte Geschichte griechischer Philosophen tüchtig und innerlich erwärmen und erleuchten.“[10] Nur vor dem Hintergrund der Gesamtkultur, also auch dem Staatswesen und der Bildung offenbart sich die Aufgabe der Philosophie:
Sie geht auf Heilung und Reinigung im Großen; der mächtige Lauf der griechischen Kultur soll nicht aufgehalten, furchtbare Gefahren sollen ihr aus dem Weg geräumt werden, der Philosoph schützt und verteidigt seine Heimat. (PhG, 14)
Dennoch stellt sich die Frage, ob die Griechen, als gesundes, instinktsicheres Volk, die Philosophie überhaupt nötig hatten? Nietzsche glaubt nicht wirklich daran, aber gerade deshalb hätten „die Griechen, als die wahrhaft Gesunden, Ein- für Allemal die Philosophie selbst gerechtfertigt, dadurch daß sie [dennoch] philosophiert haben.“ (PhG, 8) So werden wir, und so wurde Wagner, mit einer mehr oder weniger unklar gebliebenen Aufgabe einer nutzfreien Philosophie, auf das Folgende eingestimmt.
Um der Anerkennung Wagners willen, ist Nietzsche also die Anbindung an die GT so wichtig. Diese hatte in Tribschen ehemals große Begeisterung ausgelöst, und er erhofft sich eine ähnliche Reaktion auf das Seitenstück. Jedoch stößt er dabei auf keine geringen Schwierigkeiten, wie man unschwer erkennt, wenn man die Einfälle verfolgt, die er dazu notiert hat: „Die Philosophen des tragischen Zeitalters enthüllen, wie die Tragödie die Welt“[11] Enthüllen meint hier, den Schleier der Maya lüften und die Beschaffenheit der vermeintlich glücklichen Griechenwelt als tragisch oder ungerecht offenzulegen, so dass der Philosoph als „edler Warner“ (PhG, 12) daherkommt. Darauf läßt sich die Leistung des Philosophen jedoch keineswegs beschränken, sodass diese Bestimmung zu kurz greift. Später heißt es:
Wir wollen den Griechen kennen lernen, den Aeschylus als seinen Zuhörer kannte. Diesmal benutzen wir seinen Philosophen, der in jener Zeit dachte.[12] Und: Zuerst Aeschylus geschildert [...], dann den Zuhörer, an den Philosophentypen.[13]
Hier überzeugt zwar die zeitliche Abfolge, doch was meint er mit ‚Zuhörer des Aischylos‘? Parmenides wird gewiss niemandem zuhören, da er Augen und Ohren völlig verschließt, und auch Anaxagoras wäre wohl der Letzte, der Aeschylus zuhören würde; er bevorzugt im Gegenteil den nach Ursachen fragenden Euripides. Anaximander wiederum ist der typische Zuhörer des Sophokles, da bei ihm die Schuldfrage eine wesentliche Rolle spielt. Ein halbes Jahr später versucht es Nietzsche anders:
Sie [die ewigen Typen] zusammen zeigen den Hintergrund des Griechischen, sowie das Resultat der Kunst. Zeitgenossen der Tragödie. Die in den Philosophen zerstreuten Requisiten zur Entstehung der Tragödie.[14]
Hier legt er sich zwar nicht ausdrücklich auf die aischyleische Tragödie fest, jedoch kehrt sich die Abfolge von Kunst und Philosophie um und es entsteht der Eindruck, die Philosophie sei notwendig gewesen, um die Tragödie entstehen zu lassen.[15] Bleibt letztlich noch die Anspielung im Titel des Philosophenbuchs Die Philosophie im tragischen Zeitalter..., die wie wir sehen werden, keineswegs eine tragische Philosophie ist, was auch Nietzsche später in Ecce Homo bewusst werden wird, wenn er sagt, er habe „das Recht, [s]ich selber als den ersten tragischen Philosophen zu verstehen“,[16] denn ihm sei es erstmals gelungen, das Dionysische in philosophisches Pathos[17] umzusetzen, nicht etwa den Vorplatonikern. Somit würde es sich um eine Philosophie handeln, die sich lediglich zur gleichen Zeit entwickelte wie die Tragödie. Insofern hätten tragische Kunst und Philosophie nur den Entstehungszeitpunkt gemeinsam und stünden ansonsten unverbunden und unabhängig Seite an Seite.
Damit sei der äußeren Zwecksetzung genügend Aufmerksamkeit geschenkt, denn die Hauptthese dieser Arbeit wird sein, dass das Philosophenbuch auch als ein von derartigen Zwecken unabhängiges Werk und damit auch unabhängig von der GT zu lesen ist. In diesem Sinne handelt es sich um ein originales Werk, dessen Ursprünglichkeit in Nietzsches Persönlichkeit begründet ist. Diese also muss der Schlüssel sein, der uns den Zugang zu den Vorplatonikern ermöglicht. Um zu erkennen, wie er wurde was er ist, um sich seine geistige Individualität aufzuhellen, hat Nietzsche diese unbewusst auf den griechischen Geist des 6. und 5. Jahrhunderts projiziert und als Ergebnis einen Spiegel in Form dieses Werkes erhalten, indem er sich betrachten kann. Die sich in der griechischen Philosophiegeschichte entwickelnden Denkweisen und Anschauungen sind diejenigen, die sich bei ihm selbst fortschreitend entwickeln, zu einem Teil hat er sie schon überwunden, zu einem anderen Teil wird er sie noch ausprobieren. Er denkt also, ebenfalls unbewusst, schon in Richtung Menschliches, Allzumenschliches (MA) voraus. Nebeneinander existierend und zusammen
hängend bilden die Erkenntnisarten und Sichtweisen seines Geistes den Mikrokosmos des griechischen Geistes, der in den unterschiedlichen Philosophemen zum Ausdruck gelangt, welche er gleichsam als historische Berechtigung seines eigenen Denkens versteht. Mit der Selbsterkenntnis ist das edelste Bedürfnis gestillt, das höchste Bildungsziel erreicht und die Berufung zum Wahrheitssuchenden gefunden, wohlweißlich, dass das Auffinden der Wahrheit außerhalb des für den Menschen Erreichbaren liegt. Jedoch kann sich die Art des Suchens durch Überwinden der vorangehenden Erkenntnisweise entwickeln. Endzweck einer solchen Geschichte der vergeblichen Denkbemühungen kann nur die Wirkung sein, die diese auf die Persönlichkeit hat, womit begründet wäre, dass das Philosophenbuch in einem bildungstheoretischen Kontext zu lesen ist und damit in unmittelbarem Zusammenhang mit einer philologischen Tradition steht, der Nietzsche sich verbunden fühlt, einer Philologie, deren Hauptabsicht die Persönlichkeitsbildung ist. Der erste Teil dieser Arbeit wird sich daher zunächst mit den Begründern dieser von bildungsphilosophischen bzw. neuhumanistischen Ideen geprägten Traditionslinie, welche sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildete, beschäftigen und in diesem Zusammenhang versuchen aufzuzeigen, inwieweit deren Ideen und Prinzipien im Philosophenbuch verwirklicht sind. Vor dem Hintergrund einer wechselhaften Geschichte der Philologie werden auch direkte biographische Einflüsse, wie die methodische Arbeit bei Friedrich Ritschl oder der methodische Einfluss Jakob Burckhardts herausgestellt.
Der zweite Teil der Arbeit will zum einen darauf hinweisen, dass Nietzsches kongenialer Auslegung eine strenge wissenschaftliche Quellenforschung zu Grunde liegt, zum anderen wird hier das Philosophenbuch in den Kontext der damals aktuellen positivistischen Philosophiegeschichten gestellt, wodurch die Unterschiede zu diesen deutlich werden. Der pädagogische Imperativ des Philologen und die kulturhistorischen Absichten des Altertumswissenschaftlers lassen Nietzsche in Intention und Darstellung von den konventionellen Philosophiegeschichten abweichen. Die Professorenphilosophie hält er ohnehin für „Kauzwissenschaft“,[18] da die „großen Kulturzwecke“, wie Bildung und Selbstbildung, nicht „in ihrem Horizont liegen“. In seinem Manuskript versäumt er es nicht, diejenigen anzusprechen, gegen deren Positionen er sich richtet. Da er sie jedoch nicht namentlich nennt, ist hierbei ein Vergleich mit denjenigen Schriften von Nöten, welche er zur Vorbereitung seiner Vorplatonikervorlesung studiert hat. Nach dem neuhumanistischen Wissenschaftsbegriff eines von Humboldt und Boeckh, wie er im ersten Teil geklärt wird, zeichnet gerade das Nietzsche als Wissenschaftler aus, dass am Ende seiner Auseinandersetzung mit den zu vergleichenden Werken eine ganz neue, schöpferische Idee der vorplatonischen Philosophie steht.
Der dritte Teil widmet sich der fortschreitenden Entwicklung der Erkenntnisarten und der Charakterbilder innerhalb der ersten Periode der griechischen Philosophie, so wie sie von Nietzsche verstanden werden und soweit sie im Manuskript behandelt sind. Nietzsches grundsätzliches Verständnis der Antike ist das eines naiven Historismus, d. h. er betrachtet diese zunächst als einen abständlichen, in sich geschlossenen und fremden Gegenstand. Mit Hilfe der Hermeneutik soll dieser Abstand überbrückt werden. Der kongeniale Ausleger Nietzsche ist sich nämlich der Bedeutung nicht nur der Textkritik, sondern auch der Hermeneutik bewusst. Sie ist die Methode, „etwas Überliefertes zu verstehen“, wobei es sich angesichts der „ungeheuren Entfernung und Differenz der Nationalität“ um eine besonders schwierige Aufgabe handelt.
Wir sind nicht aus dem selben Element erwachsen, das hier erklärt werden soll. Wir müssen also mittelst Analogien uns zu nähern versuchen. Insofern ist unser Verstehen des Altertums ein fortwährendes, vielleicht unbewußtes Parallelisieren.[19]
Nietzsche wird Analogien und Parallelen finden zwischen den Vorplatonikern einerseits und Schopenhauer, Kant und Afrikan Spir andererseits. Diese Philosophen werden die Sinnerwartung mitbestimmen, die er an die antiken Überlieferungen richtet. Ebenfalls dem Verstehensprozess dienlich ist die Tendenz zur Vermenschlichung der Geschichte, die sich auch speziell in der Philosophiegeschichte findet. Bisher wurde, wie wir im zweiten Teil der Arbeit sehen, die vorplatonische Periode, als eine Periode der vereinzelt vorgefundenen Prinzipien, gleichgesetzt mit dem menschlichen Alter eines heranwachsenden, in der geistigen Entwicklung noch nicht voll ausgebildeten Menschen, d. h. die vereinzelten Prinzipien konnten noch nicht zur Harmonie geführt werden. In einer anderen Variante werden die sich fortentwickelnden Denkweisen und Anschauungen der griechischen Philosophie in Anlehnung an Johann Barklais Gemälde der menschlichen Charaktere[20] verschiedenen Lebensaltern zugeordnet. Auch hierbei handelt es sich um ein Analogisieren. Nietzsche wird gerade die vorplatonische Periode einmal durch den Zusammenhang anstatt durch die Vereinzelung der Prinzipien charakterisieren, wodurch die Blütezeit der griechischen Philosophie, die der Zeit des reifen Mannes entspricht, vorverlegt wird. Zum anderen sieht er eine fortschreitende Entwicklung der Erkenntnis, wodurch wiederum die Zuordnung zu den verschiedenen Lebensaltern gerechtfertigt scheint. So oder so, das Bild, das er in seinem selbst geschaffenen Spiegel, dem Philosophenbuch, erblickt, zeigt ihm einen Menschen, in dem das volle Potential der vorplatonischen Philosophie, der Stammzelle der Erkenntnis, zum Ausdruck gelangt ist.
B. Hauptteil
I. Historisch-biographischer Hintergrund
1. „Philologie [ist] ihrem Ursprunge nach und zu allen Zeiten zugleich Pädagogik gewesen.“
1. 0 Philologie zwischen Bildung und Wissenschaft
In der Fragmentschrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen schlägt sich die philologische Tradition der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nieder, welche hauptsächlich durch ihren hohen Bildungsanspruch gekennzeichnet ist. Eine der zahlreichen Disziplinen der Altertumskunde, wie die Philologie sich seit Friedrich August Wolf nennt, ist die Philosophiegeschichte, aber ganz gleich mit welcher der Disziplinen der Philologe sich beschäftigt, dient diese Beschäftigung letztlich nur einem Zweck. Diesem Zweck dient auch Nietzsches Philosophenbuch, nämlich der Bildung und der Selbstbildung.[21] Der pädagogische Anspruch der Philologie ist somit auch in solchen Arbeiten dominierend, bei denen man zunächst gar nicht damit rechnet. Eine zunächst nur lebhafte Philosophiegeschichtsschreibung soll nicht nur bildend auf andere wirken, sondern sie wird auch Zeugnis von Nietzsches eigener „klassischer Bildung“, „formaler Bildung“ und „Bildung zur Wissenschaft“, welche, nach Nietzsche, wenn sie gelungen ist, in einem originalen Werk der Selbsterkenntnis mündet, gewissermaßen dem Gesellenstück einer abgeschlossenen Bildung.[22] Darüber hinaus erlangt seine Beschäftigung mit den archaischen Philosophen einen wissenschaftlichen Wert, indem durch sie eine neue Idee der vorplatonischen Philosophie geschaffen wird.
Oft schien die Philologie aufgrund des sowohl wissenschaftlichen als auch bildenden Anspruchs einen Spagat vollführen zu müssen, womit auch ihr Hauptproblem markiert ist, wie es in der Selbstreflexion des Faches immer wieder auftaucht und immer aufs Neue wieder gelöst werden will. So kennzeichnet Nietzsche die Philologie in seiner Basler Antrittsvorlesung als ein „Aggregat“,[23] da sie „aus mehreren Wissenschaften gewissermaßen geborgt“ und „außerdem noch ein künstlerisches und auf ästhetischem und ethischem Boden imperativisches Element“ in sich birgt, welches zu dem „wissenschaftlichen Gebaren“ in Widerspruch steht. Bei diesem Element handelt es sich um den pädagogischen Imperativ, denn die Philologie ist „ihrem Ursprunge nach und zu allen Zeiten zugleich Pädagogik gewesen.“[24]
Nietzsche versucht sowohl in der Geburt der Tragödie als auch in der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen das Problem der, in ihren Ansprüchen auseinander klaffenden Philologie, zu lösen. Die Schwierigkeiten, die er nach der Veröffentlichung der GT bezüglich der innerdisziplinären Anerkennung, hauptsächlich seiner genialen Auslegungskunst wegen hatte, sind bekannt. Der Grund für diese ist, dass er auch in dieser Schrift eben den alten philologischen Traditionen verbunden ist, zu denen sich so drastisch zu bekennen, er nur den Mut fassen kann, durch die Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit den Basler Kollegen, Männern wie Jacob Burckhardt, Johann Bachofen und Wilhelm Vischer, der ebenso wie Burckhardt Schüler von August Boeckh an der Humboldt Universität war.
Er [Vischer] ist es, der bei uns [in Basel] der Altertumswissenschaft im Geiste Friedrich Wolfs und August Boeckhs eine Stätte geschaffen hat [...] Vor allem aber lernte er von Boeckh die damals neue Auffassung von Wissenschaft [...], daß sie die geschichtliche Erkenntnis der gesamten Tätigkeit, des ganzen Lebens und Wirkens eines Volkes in einem bestimmten Zeitabschnitt sei; daß der Begriff der Philologie mit dem der Geschichte im weitesten Sinne zusammenfalle.[25]
Entscheidend jedoch für die Ignoranz aus dem Fachbereich, die Nietzsche seiner frühen Schrift gegenüber erlebt, ist, dass es inzwischen in der Philologie einen Bruch mit dieser Tradition gegeben hat, den er selbst und auch die Basler Kollegen nicht mit vollzogen haben.[26] Diese Kollegen, zu denen er in seiner Antrittsvorlesung in der Humanistenstadt spricht, pflegen nach wie vor das image einer Philologie, der auch er sich verbunden fühlt, und so darf er nicht vergebens hoffen, mit seiner „Richtung kein Fremdling unter ihnen“[27] zu sein. Neben einem neuhumanistischen Bildungsideal verwirklicht man in Basel den Wissenschaftsbegriff von Wilhelm von Humboldt, an dem Nietzsche auch seine ‚tragischen‘ Philosophen sich orientieren läßt. Die kleine Denkschrift von v. Humboldt Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, welche er 1810 als eine Art Gutachten zur Gründung einer Universität verfasst, soll dies deutlich machen.[28]
1. 1 Wilhelm v. Humboldt
1. 1. 1 Neubestimmung des Wissenschaftsbegriffs
Humboldt kennt nicht den Begriff eines absoluten, harten Wissens, sondern man befindet sich nach ihm immer auf dem Weg zu einer regulativen Idee des Wissens, die das Handeln, in diesem Falle das Forschen bestimmt. Wissenschaft und Wahrheit sind „als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten und unablässig als solche zu suchen.“ Erkenntnis gilt als grundsätzlich unabgeschlossen. Wissen wird subjektiv verarbeitet, um schließlich auf höherem Reflexionsniveau reproduziert zu werden. „Wissenschaft läßt sich nicht wahrhaft vortragen ohne sie jedesmal wieder selbsttätig aufzufassen.“ Eine so verstandene Wissenschaft vollzieht sich aus der Tiefe des Geistes heraus, unter dem das bereits vorhandene Wissen, die Materie, unter die Form der geistigen Einheit gebracht wird. Ein Wissen dagegen, welches bloß „durch Sammeln extensiv aneinandergereiht“ wird, strebt lediglich nach Vollständigkeit. Der Kantianer v. Humboldt versteht diese subjektive Verarbeitung als eine Synthese, bei der das noch zu verarbeitende Wissen unter die subjektive transzendentale Form gebracht wird, wobei sich notwendig formale Bildung vollzieht. Durch dieses selbsttätige Auffassen kann nun Wissen auf originelle Weise reproduziert werden. Da der bildende Wert hierbei im Vordergrund steht, gibt es keinen Anspruch auf objektive Wahrheitsfindung, sondern nur auf die Bildung der Persönlichkeit. „Denn nur die Wissenschaft die aus dem Inneren stammt und ins Innere gepflanzt werden kann, bildet auch den Charakter um.“[...] „Es ist ihr nicht um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln zu tun.“ Das Vollständigkeitsstreben einer Wissenschaft, die sich nicht der Bildung verpflichtet fühlt, sondern ihre Hauptaufgabe darin sieht, innerhalb ihres Gegenstandsbereichs immer neues detaillierteres Wissen bereitzustellen, ist dagegen nur „neugierige Allwisserei“[29] wie Nietzsche es nennen wird, ein Wissen ohne Form, welches keinerlei Bildung bewirken kann. Als Beispiel einer solchen Wissensreproduktion auf Grund selbsttätigen Auffassens von bereits vorhandenem Wissen könnte das Philosophenbuch selbst gelten. Es ist somit Dokumentation von Nietzsches formaler Bildung, die sich sowohl in dem ästhetisch-harmonischen Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen, als auch in der neuen Idee der vorplatonischen Philosophie, welche die äußere Form mit geistigem Inhalt füllt, ausdrückt.
1. 1. 2 Die Grundprinzipien der Bildung: Freiheit, Einsamkeit und Agonalität
Nur unter Voraussetzung dieser Prinzipien lässt sich v. Humboldts Idee verwirklichen. Persönlichkeitsbildung als Endziel der Wissenschaft kann nur erreicht werden, wenn der Mensch völlig frei forschen kann von staatlichen oder anderen äußeren Zwecksetzungen, wie materiellen Zwängen oder egoistischen Motiven. Damit reagierte man auf die Verzweckung des Menschen durch die Einflussnahme des Staates auf die Bildung, die hauptsächlich Beamte, Lehrer und Soldaten hervorzubringen hatte. Die heutige akademische Freiheit bedeutet noch immer, zumindest als Idee, Freiheit von wirtschaftlichen Interessen, aber auch Freiheit von Zwecken wie Berufswahl, Existenzsicherung, sowie jeder Art von Nützlichkeit. Das Prinzip der Freiheit garantiert ungebundene Erkenntnis, Erkenntnis frei von jeder Art von Fessel. Eine solche Fessel kann auch der Eigennutz darstellen. Friedrich August Wolf nennt es daher das Prinzip der „Eigennutzlosigkeit“[30] und dieses bildet zusammen mit dem Prinzip der Einsamkeit die Grundlage der Bildung. Dementsprechend findet es in Schriften dieser Bildungstradition stets zu Anfang Erwähnung, wie in den Enzyklopädien, so auch in Nietzsches Bildungsvorträgen, aber auch im Philosophenbuch selbst: Der erste Denker Thales, der durch seine einschränkende Erkenntnisweise Bildung ermöglichen wird,
ist nicht klug, wenn man klug den nennt, der in seinen eigenen Angelegenheiten das Gute herausfindet; Aristoteles sagt mit Recht „das was Thales und Anaxagoras wissen, wird man ungewöhnlich, erstaunlich, schwierig, göttlich nennen, aber unnütz, weil es ihnen nicht um die menschlichen Güter zu thun war.“ (PhG, 20)
Die Denkergebnisse, die Werke der jüngsten „schöpferischen Meister“ (PhG, 19) gelten als Ausdruck ihrer absoluten Freiheit, welche sich darin äußert, dass sie ausschließlich dem Erkennen verpflichtet sind. Dagegen ist „alles moderne Philosophieren politisch und polizeilich, durch Regierung Kirchen Akademien Sitten Moden Feigheiten der Menschen auf den gelehrten Anschein beschränkt.“ Die einzig wahre Erkenntnis, die dabei gefunden werden kann, lautet: „es war einmal“ (PhG, 16). Nietzsche hat selbst, die hier appellierten Prinzipien schon früh gelebt. Während seiner Zeit als Pförtner befreit er sich, ebenso wie ehemals Wolf selbst, von den, von außen an ihn heran getragenen, Anforderungen des Lehrplans, aus Angst vor Verflachung seiner eigenen Bildung, gründet darum die ‚Germania‘, den Verein, über den er im ersten Bildungsvortrag spricht. Selbsttätig werden hier eigene Werke geschaffen, um die Bildungstriebe zu reizen. Nietzsche, zu dieser Zeit besonders beeindruckt vom Prometheus-Stoff und von den Sagen des Ostgotenkönigs Ermanarich, versucht diese Stoffe zu binden und überwältigen, indem er sie in subjektiv-künstlerische Formen des Gedichts oder eines Musikstücks bringt.[31]
Die Einsamkeit leitet sich ab aus der Besonderheit der wissenschaftlichen Tätigkeit. Im Gegensatz zu anderen Tätigkeiten, wie beispielsweise die gemeinsame arbeitsteilige Herstellung von Produkten, muss Wissenschaft als Prozess aus dem Inneren Selbst jedes Einzelnen vollzogen werden. Es ist die natürliche Eigenschaft des Wissens, das jeder es einsam vollziehen muss, die natürliche Eigenschaft der Wahrheit, dass die Suche nach ihr eine einsame ist. Die Begeisterung dafür jedoch, so Humboldt, entsteht agonal, „aus der gelungenen Tätigkeit der Anderen“. Das Ziel ist nicht die bloße Nachahmung (imitatio), wie noch bei Winckelmann, sondern das Übertreffen, das Überwinden (aemulatio) des älteren Erkenntnisstandes. So entsteht ein „sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken“, ein Zusammenwirken, wie das von Nietzsches Kontinuum der großen Menschen, welches so die Entwicklung des Einzelnen aber auch die Entwicklung der gesamten Menschheitsgeschichte bewirkt. Es gehört mit zu Nietzsches Grundeinstellungen, dass das zunächst nachahmenswerte Vorbild immer überwunden werden muss. So wird er in der Fröhlichen Wissenschaft (FW) sagen: „Ach, Freunde! Wir müssen auch die Griechen überwinden!“[32] 1872 jedoch sind sie noch seine persönlichen Vorbilder, welche die Grundprinzipien der Bildung befolgen:
Zwischen ihrem Denken und ihrem Charakter herrscht strenge Notwendigkeit. Es fehlt für sie jede Convention, weil es damals keinen Philosophen- und Gelehrtenstand gab. Sie alle sind in großartiger Einsamkeit als die Einzigen, die damals [frei] nur der Erkenntnis lebten. Sie alle besitzen die tugendhafte Energie der Alten, durch die sie alle späteren übertreffen, ihre eigene Form zu finden... (PhG, 11)
Die häufigen Dispute der Basler mit der Berliner Schule um Theodor Mommsen und später auch Ulrich Willamowitz-Moellendorff, werden nicht zuletzt wegen deren Verletzung dieser Prinzipien geführt. Hier herrscht ein Verständnis von Wissenschaft, welches sich an der modernen Arbeitswelt orientiert, d. h. man leitet eine großbetriebliche Organisation, in welcher es auf Arbeitsteilung, Gruppenarbeit und Spezialisierung ankommt. Wissenschaftliche Arbeit wird zu einem Bereich des Lebensnotwendigen, zur Brotarbeit herabgewürdigt, wobei der Einzelne nur noch die Rolle eines Rädchens im Gesamtgetriebe spielt, anstatt der des selbst produzierenden Geistes.
1. 1. 3 Das dreifache Streben des Geistes: Prinzip, Ideal, Idee
Wenn man Wissenschaft nicht aus der Tiefe des Geistes heraus schafft, sondern glaubt, sie könne „durch Sammeln extensiv aneinandergereiht werden“ zu einer deutungslosen Oberfläche „so ist alles unwiederbringlich und auf ewig verloren; verloren für die Wissenschaft [...]“ Um dies zu verhindern, so v. Humboldt, „braucht man nur ein dreifaches Streben des Geistes rege und lebendig zu erhalten“:
1) Einmal alles aus einem ursprünglichen Prinzip abzuleiten, (wodurch die Erklärungen z. B. von mechanischen zu dynamischen, organischen und endlich psychischen im weitesten Verstande gesteigert werden)
2) ferner alles einem Ideal zuzubilden
3) endlich jenes Prinzip und dies Ideal in eine Idee zu verknüpfen [...]
Philosophie und Kunst sind es, in welchen sich ein solches Streben am meisten und abgesondertsten ausspricht.“
Allerdings sei von ihnen „wenig zu hoffen, wenn ihr Geist nicht [...] in die anderen Zweige der Erkenntnis und Gattungen der Forschung übergeht.“, wie beispielsweise in die Philologie.
Im Philosophenbuch wird bereits im ersten Abschnitt dieser Dreierschritt erkennbar: Ursprüngliche Prinzipien, Grundprinzipien sind Freiheit und Einsamkeit, welche angespornt durch das agonale Prinzip zur Wirkung gelangen. Letzteres wirkt innerhalb gesellschaftlicher Schichten bzw. Gruppen, nicht über diese hinaus.[33] Wie die Dichter unterliegen auch die Philosophen dem agon, worauf die Wettkampfmetaphern (PhG, 10) hinweisen.
Das Ideal, dem Nietzsche alles zubildet, ist hier der reine Typ des Philosophen. (PhG, 12) Entsprechend kennt er den Künstlertypus oder den Eroberertypus.
Die Idee, in der Prinzip und Ideal verknüpft werden, ist die Kultur, nicht wie bei
von Humboldt die Wissenschaft, in deren „Sonnensystem“ die Philosophie als ein „Hauptgestirn“ leuchtet. (PhG, 13)Die Erklärungsart, die Nietzsche zu diesem Zeitpunkt noch verwendet, ist die organische.
1. 1. 4 Vollständigkeitsprinzip versus Einheitsprinzip
Beide Prinzipien müssen nicht notwendig in Gegensatz zueinander stehen:
Wird aber endlich in höheren wissenschaftlichen Anstalten das Prinzip herrschend: Wissenschaft als solche zu suchen, so braucht nicht mehr für irgendetwas anderes einzeln gesorgt zu werden. Es fehlt alsdann weder an Einheit noch an Vollständigkeit, die eine sucht die andere von selbst, und beide setzen sich von selbst, worin das Geheimnis jeder guten wissenschaftlichen Methode besteht, in die richtige Wechselwirkung.
Auch die Faktensammler der positivistischen Philosophiegeschichtsschreibung, mit denen Nietzsche sich auseinandersetzen muss und die sich in ihrer Methodik, nämlich dem strengen Nachweis ihrer Thesen an Quellen, an den Historischen Positivismus eines Theodor Mommsen anlehnen, versuchen diese Forderung zu beherzigen. In Teil II dieser Arbeit, werden wir sehen, wie ihnen die Synthese gelingt und wie das Prinzip, nach dem geordnet wird, über die Zusammenstellung der Tatsachen, in diesem Falle der vorplatonischen Philosophen, entscheidet. Die Wahl des jeweiligen Prinzips gründet sich dabei letztlich doch immer auf ein subjektives Urteil, sodass es zu unterschiedlichen Einteilungen und unterschiedlichen Bewertungen kommt. Insgesamt liegt aber das Hauptgewicht beim Detail.
1. 2 Friedrich August Wolf
1. 2. 1 Der Bildungsgedanke in der Klassischen Altertumswissenschaft
Man kann von einem Einschnitt in der Geschichte der Philologie um 1800 sprechen. Hierbei handelt es sich um eine historische Phase, in der die gelehrte Philologie erkennt, dass sie sich an einem neuen Bildungs- und Wissenschaftsbegriff orientieren muss.[34] Der universale Wissenschaftsbegriff von v. Humboldt wird von August Boeckh in der Philologie umgesetzt werden. Zuvor wollen wir uns aber dessen Lehrer „dem großartigen Friedrich August Wolf“[35] zuwenden, welchem der große Verdienst zukommt, die Philologie von einer Hilfswissenschaft[36] „zu der Würde einer wohlgeordneten philosophisch-historischen Wissenschaft emporzuheben“.[37] Mit der Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Werth gelingt es Wolf als erstem, eine Einheitskonzeption zu schaffen, durch welche die verschiedenen Aufgabenfelder und Wissensbereiche, die Aggregate der Philologie, strukturiert und einem einzigen „Hauptzweck“ zugeführt werden, die Bildung des moralischen Menschen. Denn nicht das Wissen der Alten kann der Zweck sein, da dieses anachronistisch ist.[38] Was die Philologie, „die sich hauptsächlich mit der moralischen Seite der Menschheit beschäftigt“[39] von nun an nur noch an den Griechen interessiert, sind die Gegenstände, die zur Bildung des Charakters taugen, die Persönlichkeiten selbst. „Den Menschen sucht zunächst der Mensch; ihn strebt er [...] in allen seinen Umgebungen zu erkennen.“[40] Dementsprechend wird Nietzsche sagen: „An Systemen, die widerlegt sind, kann uns nur noch das Persönliche interessieren.“ (PhG, 7) Das Erkenntnisziel der Altertumswissenschaft ist also „Die Kenntnis der altertümlichen Menschheit selbst“, nicht hingegen die Kenntnis der klassischen Texte, wie bisher. Diese besitzen nur den Wert von Quellen, durch die hindurch der antike Mensch in all seinen Umgebungen auszumachen ist. Die Formel des ‚Klassischen‘ wird nicht aufgegeben, sondern ihr Geltungsbereich erweitert von den Texten auf das griechische Volk, das nun zum klassischen Volk wird, das Altertum wird zum klassischen Altertum, die Begegnung mit ihm und seinen klassischen Menschen soll zur Bewusstmachung, Entfaltung und Vervollkommnung der eigenen Kräfte führen. Erkannt wird nicht ein Volk neben anderen Völkern, sondern vielmehr die Natur, das Wesen oder die „reinen Typen“ (PhG, 13) des idealen Menschen, des idealen Volkes mit einer idealen Kultur und die Bedingungen unter denen diese möglich wurden. Somit sprechen wir hier nicht von historischer, sondern von philosophischer Erkenntnis, die zur klassischen Bildung führt. So verknüpft Wolf Philologie als Wissenschaft mit dem klassischen Bildungsgedanken in dem Begriff der Altertumswissenschaft. In diesem vereinigendem Sinne, meint auch Nietzsche, dass „die klassische Philologie nichts als die endliche Vollendung ihres eigensten Wesens“ ist.[41] Aus seiner zeitlichen Perspektive, nämlich nach der textkritischen Wende, ist der Gegensatz zwischen Bildung und Wissenschaft erneut aufgebrochen und deren Vereinigung für Nietzsche zu einem wieder zu erstrebenden Ziel geworden.
1. 2. 2 Das neue Menschenbild: Selbsttätigkeit und Originalität
Zu Lebzeiten Wolfs war es die Aufgabe der Bildung, und damit Aufgabe der pädagogisch orientierten Philologie, ein neues Menschenbild zu schaffen. Sie steht im Zusammenhang mit den Reformbewegungen in Preußen nach der Niederlage in den napoleonischen Kriegen. Preußische Untertanen sollen im Zuge einer Nationalerziehung zu mündigen und selbsttätigen Bürgern gemacht werden. Selbsttätigkeit und Originalität werden zu vordringlichen Bildungszielen. Dabei orientiert man sich an dem von Winckelmann erstmals entdeckten humanum der Griechen, Inbegriff für die individuelle Person. In ihr müssen die nach Rousseau im Menschen angelegten Kräfte bzw. Fähigkeiten harmonisch, d. h. nicht vernunftlastig, ausgebildet sein. Der ideale Mensch besitzt das Wahre, das Gute und das Schöne zu gleichen Teilen. Dazu muss die Klassische Altertumswissenschaft den ganzen Umfang griechischer Schöpferkraft in den Blick nehmen, einschließlich der Kunst. Die Vorstellung des sog. „schöpferischen Humanismus“[42] ist die, dass nur harmonisch ausgebildete Kräfte dazu drängen, selbsttätig etwas Originales zu schaffen, sich in (Kunst)werken auszudrücken. Originalität jedoch ist nur gewährleistet, wenn der Genius in keiner Weise determiniert ist, weder durch kausale Bestimmungen, noch durch Konventionen, noch durch bestimmte äußere Zwecke. Die Römer waren daher in den Augen mancher Neuhumanisten keine freien, selbsttätigen Schöpfer, da sie die griechische Kultur in deren Augen nur fortgeführt haben. Allein an den Griechen lasse sich ursprüngliche Schaffensgewalt erfahren. Wolf erkennt den Grund für die Originalität der Griechen in dem schon erwähnten „Grundsatz eigennutzloser Beschäftigung seiner höheren Kräfte“, welchem sie ihre höhere Geisteskultur verdanken, während bloß zivilisierte Völker wie Hebräer, Ägypter und Perser für den Griechen barbari sind, da sie „nur mit den Bedingungen eines Sicherheit, Ordnung und Bequemlichkeit bedürfenden Lebens fleißig beschäftigt“[43] sind, wozu sie zwar durchaus „edlere Erfindungen“ gebrauchen, nie jedoch in den Ruf „erhabener Weisheit“ gelangen. Eine solche Zivilisation „braucht hingegen weder, noch schafft sie Litteratur“, höchstens bringt sie materielle Erfindungen hervor. Eine wahre Kultur, im Gegensatz zu einer bloßen Zivilisation, bringt dagegen geistige Erfindungen hervor, so wie die Griechen des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr.: „Sie erfanden nämlich die typischen Philosophenköpfe, und die ganze Nachwelt hat nichts wesentliches mehr hinzu erfunden.“ (PhG, 11)
1. 3 August Boeckh
1. 3. 1 Bildung auf hermeneutischer Basis: Das Erkennen des Erkannten
Wolf wurde von seinem Schüler August Boeckh, dem Großmeister der Philologie, durch dessen Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaft, ein umfangreiches und streng systematisches Werk, bei weitem übertroffen. Es kann hier kein Vergleich der beiden Enzyklopädien vorgenommen werden, nur soviel sei gesagt: Boeckh lehnt eine Bezeichnung der Disziplin ab, die sich von ihrem Gegenstand, dem Altertum ableitet. Er bestimmt sie durch ihre Hauptaufgabe, die wiederum aus dem Begriff abzuleiten ist, nämlich „das Erkennen des vom menschlichen Geist Producirten, d. h. des Erkannten“.[44] Der Philologe muss keine neuen naturwissenschaftlichen oder andere Theorien entwerfen können, aber er muss in der Lage sein, die alten zu verstehen, um sie von Korruptelen und Missverständnissen zu reinigen. Eine ausführliche Verstehenstheorie ist daher als Basis für philologische Arbeit erforderlich. Hier wird es Boeckh zu Gute kommen, dass er auch Schüler Schleiermachers war, dessen Hermeneutik er mit eigenen Gedanken verbindet und ihr eine systematische Form gibt. Wenn auch die Bildung nicht mehr oberste Priorität in der Philologie zu haben scheint, denn das, so Boeckh, „muß alle Wissenschaft [...] thun“,[45] also auch die, die sich nicht mit dem klassischen Altertum beschäftigt, so führt doch das Erkennen dessen, was die Menschheit erkannt hat, zur Bildung „der Vernunft, d. h. der Sittlichkeit und der ästhetischen und der spekulativen Erkenntnis“[46] und diese gehören „vorzüglich“ zur Humanität. Bildung vollzieht sich also auf hermeneutischer Basis.
Das Forum zur Behandlung hermeneutischer Fragen ist in der ersten Jahrhunderthälfte durch die Einführungen in das Studium des Altertums, die sog. Enzyklopädien, gegeben. Sowohl dem Verstehen als auch der Auslegung lag die Vorstellung zugrunde, dass alle Überreste des Altertums, sowohl die schriftlichen als auch die nicht-schriftlichen, als Einzelerscheinungen Ausdruck eines ‚großen Geistes‘ waren und somit dessen Schaffensprodukte. Dabei konnte es sich um den Geist eines Autors, einer Epoche oder den eines Volkes handeln. Der Begriff ‚griechischer Geist‘ schließt alle diese Möglichkeiten ein. Im Hinblick auf ihn sollen alle Reliquien gedeutet werden, was für den Lehrer bedeutet, das geistige Auge des Studenten schärfen zu müssen. Für den Altphilologen sind hauptsächlich fragmentarische Schriften die Bruchstücke der sinnlichen Erscheinungen des Geistes, daher richtet Boeckh sein Interesse ausschließlich auf die Literaturen. Jedoch ist der Geist nicht an der Textoberfläche zu finden, sondern ihm ist nur über den Sinn beizukommen. Dadurch ergibt sich für den Philologen eine schwierige Situation, da der Sinn sich nämlich nur aus dem ganzen Sprachdenkmal erfassen lässt.[47] Der Philologe hat es aber in den seltensten Fällen mit vollständigen Werken zu tun, meist nur mit Einzelfragmenten. Er hat daher gar keine andere Wahl, als den Sinn zu erahnen bzw. zu imaginieren, sodass es der Intuition (intuitus = Anschauung) und der Einbildungskraft bedarf. Auch Wolf sah dieses Problem: „Nun wird hie und da eine Kühnheit notwendig“ [...] Nur in einem „höhern Flug“ kann „das Verlorene aus dem Zusammenhange des Uebriggebliebenen“ hervorgezogen werden.[48] Nur die Anschauung „läßt uns in das Altertum recht umfassende Blicke tun“. „Keinesfalls dürfen in Zeitaltern, die in gleichem Maaße reich an großen Gestalten wie an umfassenden Ideen sind, mitgeteilte Kenntnisse die Stelle unmittelbarer Anschauung vertreten.“[49] Imaginiert werden (imago = Bild) kann beispielsweise ein moralischer bzw. amoralischer Sinn, wie bei Nietzsches Heraklitdeutung oder ein pessimistischer Sinn wie bei Anaximander usw., auf welchen hin dann die vorfindlichen Fragmente gedeutet werden. Dabei muss man auch bereit sein, das erscheinende Einzelne zu missachten, den buchstäblichen Sinn (sensus litteraris) gegebenenfalls umzudeuten (sensus allegoricus), sowie Nietzsche es tut, wenn er ‚sapiens‘ mit ‚der Schmeckende‘ übersetzt (PhG, 20), in einem erkenntnisbeschränkenden Sinn. Ein einziges Wort wird somit zum Mal einer Denkweise, die aus dem imaginierten Ganzen des Werkes, durch dessen Sinn der Geist seine Ideen mitteilt, erahnt wird. In diesem Sinne ist Nietzsche zu verstehen, wenn er von einer Philologie spricht „in der alles Einzelne und Vereinzelte als etwas Verwerfliches verdampft und nur das Ganze und Einheitliche bestehen bleibt.“[50] Der Philologe bewegt sich von der Erscheinung des bruchstückhaften Textes zum ersten Einigungspunkt, dem idealen Geist des Autors. Hat er diesen aber erst einmal erfasst, kann er ihn durch ein einziges Fragment, einen einzigen Ausspruch, ja durch ein einziges Wort darstellen, d. h. er bewegt sich in einem hermeneutischen Zirkel vom Einzelnen zum Ganzen und wieder zurück zum Einzelnen. Bei Thales wird Nietzsche beispielsweise ein einziger Ausspruch genügen ‚Alles ist Wasser‘ um uns dessen Idee darzulegen. Auch bei den anderen Philosophen bedarf es nur einer vergleichsweise geringen Auswahl ihrer Fragmente. Um den Geist des Autors anschauen zu können, ist es zunächst notwendig, den äußeren Menschen kennen zu lernen, da wer den Menschen nicht kennt, die Lehre nicht versteht. Das Denken als theoretisches Handeln ist das Ideale, das Innere und nur, so Boeckh, über das praktische Handeln, das Leben als das Reale, das Äußere zu erkennen. Daher werden in der Antike die doxographi nie ohne die bios behandelt und daher sind auch für Nietzsche die „drei Anekdoten“, aus denen es möglich ist, „das Bild eines Menschen zu geben“ (PhG, 7: zweite Vorrede) so wichtig.
1. 3. 2 Bildung neuer Ideen: Das Erkannte wird Eigenes
Bei Boeckh findet man zum Sinn durch vier Interpretationsweisen, welche nur zusammen angewendet, d. h. nur in gegenseitiger Abhängigkeit ein richtiges Verständnis garantieren. Es sind diese die grammatische, die historische, die generische und die individuelle Interpretation. Jedoch sind damit die Möglichkeiten des Verstehens noch nicht erschöpft. Boeckh hält es nämlich für bedenklich, wenn sich das Selbstverständnis der Philologie auf das Organon Kritik und Auslegungskunst beschränkt.
Philologie verzichtet nicht auf alles eigene Denken [...] wenn ihr Ziel die Erkenntnis von Ideen sein soll; denn fremde Ideen sind für mich keine. Es ist also zunächst die Forderung diese, das Fremde als Eigenwerdendes zu reproduzieren [...].[51]
[...]
[1] Brief an v. Gersdorff vom 2. März 1873.
[2] Brief an Rohde vom 11. April 1872.
[3] Brief an Rohde vom 25. Oktober 1872.
[4] Brief an v. Gersdorff vom 2. März 1873.
[5] Brief an Rohde vom 20./21. November 1872.
[6] In der Einleitung des Vorlesungsmanuskripts lesen wir in einer Anmerkung: „Kann eine Philosophie der Keimpunkt einer Cultur werden? Nein.“
[7] Brief an Rohde vom 7. Dezember 1872.
[8] Friedrich Nietzsche: Vorlesungsaufzeichnungen Die vorplatonischen Philosophen. In: Otto Crusius; Wilhelm Nestle (Hrsg.): Nietzsche’s Werke Band XIX. Dritte Abteilung. Band III. Philologica. S. 127ff.
[9] Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. S. 13 u. 16 (Reclam-Ausgabe). Alle weiteren Zitate hieraus werden wegen der Häufigkeit direkt im Text vermerkt.
[10] Brief an Rohde vom 21. Dezember 1871.
[11] Nachgelassene Fragmente: Frg. 21 [16].
[12] Ebd.: Frg. 21 [21].
[13] Ebd.: Frg. 21 [24].
[14] Nachgelassene Fragmente: Frg. 23 [21].
[15] In den nachgelassenen Fragmenten befinden sich weitere Notizen. Sie alle deuten auf die Schwierigkeiten hin, die Nietzsche dabei hatte, die Philosophie zur Kunst in Analogie zu setzen.
[16] Friedrich Nietzsche: Ecce Homo. In: G. Colli; M. Montinari (Hrsg.): KSA. Bd. 6. S. 312.
[17] Der Begriff ‚philosophisches Pathos‘ entwickelt seine Bedeutung in der Weise, in der Nietzsche von der schopenhauerschen Erkenntnisform inspiriert ist, um sie am Ende um einen Aspekt zu erweitern, durch welchen er sich gleichsam von Schopenhauer abgrenzen wird. In der ersten Vorrede bedeutet ‚Pathos der Wahrheit‘ Leidenschaft für die Art von Wahrheit, die im wahrsten Sinne des Wortes Leiden schafft. Das ‚philosophische Pathos‘, wie er es im Fall Wagner definiert, bezeichnet die Erkenntnismethode der Vorplatoniker hpts. vor Parmenides; hier Kontemplation mit Hilfe der Musik: „Hat man bemerkt, wie die Musik den Geist frei macht? Dem Gedanken Flügel gibt? Daß man umso mehr Philosoph wird, je mehr man Musiker wird? – Der graue Himmel der Abstraktion wie von Blitzen durchzuckt; das Licht stark genug für alles Filigran der Dinge; die großen Probleme nahe zum Greifen; die Welt wie von einem Berge aus überblickt. – Ich definiere eben das philosophische Pathos.“ ( Schlechta, II, 906). In Ecce Homo wird er davon sprechen, die unangenehme Wahrheit zu erkennen und zugleich freudig anzuerkennen, die Lust am Werden selbst zu sein, „die selbst noch die Lust am Vernichten in sich schließt“. (Schlechta, II, 1110) Derart zu philosophieren, bedeutet, das Dionysische in philosophisches Pathos zu überführen.
[18] Brief an Paul Deussen vom Oktober 1868.
[19] Friedrich Nietzsche: Enzyclopädie der klassischen Philologie und Einführung in das Studium derselben. In: Fritz Bornmann (Hrsg.): KGA. Zweite Abteilung. Dritter Band. S. 373.
[20] Nietzsches Bibliothek, S. 17: Johann Barklai: Geschichte der menschlichen Charaktere gehörte auch zu Nietzsches Bibliotheksbestand. Angespielt wird hier auf das Kapitel: Charaktere nach Lebensaltern.
[21] Als Übersicht der Disziplinen kann das Inhaltsverzeichnis von August Boeckhs Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften dienen.
[22] Wie die drei Bildungsarten zusammenhängen und wie sie Nietzsches Ansicht nach zueinander in Widerspruch stehen, siehe Karl Schlechta (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Bd. III. S. 205.
[23] Diese Formel geht auf Hegel zurück. Er nimmt sie als Rechtfertigung, um sich nicht mit der Philologie beschäftigen zu müssen. Anstelle der geforderten systematischen Einheit des Fachs, sei sie nur ein „bloßes Aggregat von Kenntnissen“ aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen. G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1807). S. 61.
[24] Karl Schlechta (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Bd. III. S. 157.
[25] Bernhard Wyss: Wilhelm Vischer-Bilfinger und das philologische Seminar in Basel. Zit. n. Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche. Bd. I. S. 307.
[26] Siehe dazu: James Whitman: Nietzsche in the magisterial tradition. In: Journal of the History of Ideas. Bd. 47 (1986). S. 453-468.
[27] Karl Schlechta (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Bd. III. S. 174.
[28] Wilhelm v. Humboldt: Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin. In: Ernst Müller (Hrsg.): Gelegentliche Gedanken über Universitäten. S. 273-283. Die folgenden Zitate stammen, wenn sie nicht anders gekennzeichnet sind, aus dieser Denkschrift von v. Humboldt.
[29] Nachgelassene Fragmente: Frg.: 19 [15].
[30] Friedrich August Wolf: Darstellung der Altertumswissenschaft. S. 20.
[31] Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche. Bd. I. S. 86ff.
[32] Karl Schlechta (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Bd. II. FW 340. S. 569.
[33] Nachzulesen in Nietzsches Homers Wettkampf.
[34] Die Krise der gelehrten Philologie macht sich zunächst im Schulunterricht bemerkbar. Siehe dazu: Detlev Kopp, Nikolaus Wegmann: Die deutsche Philologie, die Schule und die klassische Philologie. In: DVjs für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Bd. 61 (1987). S. 123-151.
Der gelehrten Philologie fehlte aber auch der Wissenschaftsstatus, da sie nur eine Kompilation von Wissen liefern konnte. Siehe dazu: Nikolaus Wegmann: Was heißt einen ‚klassischen Text‘ lesen? In: Jürgen Fohrmann (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. S. 334-441.
[35] Karl Schlechta (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Bd. III. S. 210.
[36] Die Philologie war, ebenso wie die Philosophie, zur Zeit der großen Fakultäten Theologie, Jurisprudenz und Medizin deren Hilfswissenschaft. Siehe dazu: Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. S. 7-39.
[37] Friedrich August Wolf: Darstellung der Altertumswissenschaft. S. 5.
[38] Friedrich August Wolf: Darstellung der Altertumswissenschaft. S. 84.
[39] Ebd.: S. 15.
[40] Ebd.: S. 24ff.
[41] Karl Schlechta (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Bd. III. S. 161.
[42] Ada Hentschke, Ulrich Muhlack: Einführung in die Geschichte der klassischen Philologie. S. 84. Der Unterschied des Humanismus zum Neuhumanismus wird hier durch den Gegensatz des ‚christlich-rhetorischen‘ zum ‚schöpferischen‘ Humannismus gekennzeichnet.
[43] Friedrich August Wolf: Darstellung der Altertumswissenschaft. S. 16.
[44] August Boeckh: Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaft. S. 10.
[45] Ebd.: S. 9.
[46] August Boeckh: Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. S. 14.
[47] Burckhardt wird in seinen Vorlesungen auch ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Werke ganz zu lesen sind und nicht etwa als Belege für eine spezielle Frage nachgeschlagen werden. „Denkmäler besieht man auch ganz, und die Quellen sind Denkmäler.“ Jakob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte. Bd. I. S. 12.
[48] Christian August Wolf: Darstellung der Altertumswissenschaft. S. 106.
[49] Ebd.: S. 109.
[50] Karl Schlechta (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Bd. III. S. 174.
[51] August Boeckh: Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. S. 20.
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- MA Gabriele C. Johann (Autor:in), 2004, Nietzsches Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen im bildungs- und wissenschaftstheoretischen Kontext, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88057
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