Bertolt Brecht ist neben Shakespeare bis heute einer der meist gespielten Autoren auf den Bühnen der Welt. Bekannt wurde er vor allem mit seiner Theatertheorie des epischen Theaters. Fast jedem ist der Begriff des V-Effektes geläufig. Brecht hat dazu unzählige Veröffentlichungen hervorgebracht, wobei es ihm nicht gelungen ist, den Nebel um die Begriffe Verfremdung, V-Effekt und epische Spielweise völlig zu lichten. Aber nicht nur seine Theatertheorien, sondern auch seine Dramen erregen bis heute Aufsehen in der Öffentlichkeit. Dies liegt an seiner unorthodoxen Darstellungsweise bestimmter Vorgänge auf der Bühne wie der rollende Wagen der Mutter Courage oder das „Spiel im Spiel“ in der Maßnahme. Auch die Inhalte seiner Dramen stoßen auf Widerstand. So wurde die Erschießung eines jungen Genossen durch seine Mitstreiter in dem Stück „Die Maßnahme“ aufs Heftigste diskutiert und verurteilt. Ebenso wird die Unbelehrbarkeit der Courage in „Mutter Courage und ihre Kinder“ kritisiert. Diese Beispiele zeigen, dass Brecht die Zuschauer polarisiert, was auf seine Hinwendung zum Marxismus zurückzuführen ist. Hiermit kann die unterschiedliche Interpretation seiner Werke in Ost- und Westdeutschland begründet werden. Die einen argumentieren mithilfe seiner Dramen für die Richtigkeit des Kommunismus, die anderen legen sie gegen diese aus. Dadurch ist eine umfassende und unvoreingenommene Beleuchtung seiner Stücke erst seit dem Ende des „Kalten Krieges“ möglich geworden. Weiterhin ist durch die Polarisierung, die seine Stücke hervorgerufen haben, erkennbar, dass er Themen aufgreift, die viele Bevölkerungsgruppen anspricht. Es wird klar, dass Brecht seine Dramen als politische Werke ansieht, mit denen er in der Welt etwas erreichen und verändern will. Fraglich ist, welche Ziele er sich dabei gesetzt hat. Des Weiteren ist problematisch, in welcher Art und Weise und mit welchen Inhalten er diese Absichten erzielen möchte. Die Beantwortung dieser Fragen ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Neben einer Abgrenzung des Politischen und des Dramas wird die Lehrstücktheorie und das epische Theater beleuchtet. Die Ergebnisse finden auf folgende Stücke Anwendung: „Die Maßnahme“ steht dabei als authentischstes Beispiel für Brechts Lehrstücktheorie, während „Mutter Courage und ihre Kinder“ und „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ eher dem epischen Theater zugeordnet werden können
Inhaltsverzeichnis
1.0 Einleitung
2.0 Zum Begriff des Politischen und des Dramas
2.1 Zum Begriff des Dramas
2.2 Zum Verhältnis von Drama und Theater
2.3 Zum Begriff des Politischen
2.3.1 Das politische Theater – im engeren Sinne
2.3.2 Das politische Theater – im weiteren Sinne
2.3.3 Das politische Theater – eine dritte Definition im Hinblick auf Brechts Konzeptionen
3.0 Das politische Theater nach Bertolt Brecht
3.1 Eingreifendes Denken und politische Beeinflussung
3.2 Abriss über die Entwicklung des epischen Theaters
3.3 Das epische Theater
3.3.1 Der Weg zum epischen Theater
3.3.2 Der Begriff „Episch“ bei Brecht
3.3.3 Verfremdung und V-Effekt
3.3.3.1 V-Effekte in Dramenbau und Sprache
3.3.3.2 V-Effekte in der Inszenierung
3.3.3.3 V-Effekte in der Spielweise
3.3.4 Das Publikum bei Brecht
3.4 Kritik am politischen Theater nach Brecht
4.0 Politische Dramen B. Brechts
4.1 „Die Maßnahme“
4.1.1 Die Lehrstücktheorie
4.1.1.1 Verschiedene Auffassungen des Lehrstückbegriffs
4.1.1.2 Eingrenzung des Lehrstückbegriffs bei Brecht
4.1.1.3 Die Basisregeln des Lehrstücks und die daraus resultierenden Konsequenzen
4.1.1.4 Das Lehrziel
4.1.2 „Die Maßnahme“ als Lehrstück
4.1.2.1 Formanalyse
4.1.2.2 V-Effekte
4.1.3 „Die Maßnahme“ als politisches Drama
4.1.3.1 Mittel im Klassenkampf
4.1.3.2 Rezipientenkreis
4.1.3.3 Kritiken
4.1.4 Die Lehre vom Einverständnis
4.1.4.1 Die Einheit von Gefühl und Verstand
4.1.4.1.1 Das Mitleid
4.1.4.1.2 Das Gerechtigkeitsgefühl
4.1.4.1.3 Die Ehre
4.1.4.1.4 Das Elend
4.1.4.2 Auslöschung und Individualität
4.1.4.3 Der Kontrollchor und die Agitatoren
4.2 „Mutter Courage und ihre Kinder“
4.2.1 Mutter Courage
4.2.1.1 Krieg und Geschäft
4.2.1.2 Händlerin und Mutter
4.2.2 Die Kinder und die Tugenden
4.2.2.1 Krieg und Selbstlosigkeit: Kattrin
4.2.2.2 Krieg und Heldentum: Eilif
4.2.2.3 Krieg und Redlichkeit: Schweizerkas
4.2.3 Die Randfiguren
4.2.3.1 Der Feldprediger
4.2.3.2 Der Koch
4.2.3.3 Yvette
4.2.4 „Mutter Courage“ als episches Theater
4.2.5 Die Unbelehrbarkeit der Courage
4.3 „Furcht und Elend des Dritten Reiches“
4.3.1 Epsiche Elemente in „Furcht und Elend des Dritten Reiches“
4.3.2 Das Thema des Verrats
4.3.2.1 „Das Kreidekreuz“
4.3.2.2 „Der Spitzel“
4.3.3 Die Thematik des Widerstands: „Volksbefragung“
4.3.4 Die Anpassung
4.3.4.1 „Die jüdische Frau“
4.3.4.2 „Rechtsfindung“
4.3.5 Gewalt und Terror: „Winterhilfe“
5.0 Fazit
6.0 Bibliographie
7.0 Anhang
1.0 Einleitung
Bertolt Brecht ist neben Shakespeare bis heute einer der meist gespielten Autoren auf den Bühnen der Welt. Bekannt wurde er vor allem mit seiner Theatertheorie des epischen Theaters. Fast jedem ist der Begriff des V-Effektes geläufig. Brecht hat dazu unzählige Veröffentlichungen hervorgebracht, wobei es ihm nicht gelungen ist, den Nebel um die Begriffe Verfremdung, V-Effekt und epische Spielweise völlig zu lichten.[1] Aber nicht nur seine Theatertheorien, sondern auch seine Dramen erregen bis heute Aufsehen in der Öffentlichkeit. Dies liegt an seiner unorthodoxen Darstellungsweise bestimmter Vorgänge auf der Bühne wie der rollende Wagen der Mutter Courage oder das „Spiel im Spiel“ in der Maßnahme. Auch die Inhalte seiner Dramen stoßen auf Widerstand. So wurde die Erschießung eines jungen Genossen durch seine Mitstreiter in dem Stück „Die Maßnahme“ aufs Heftigste diskutiert und verurteilt. Ebenso wird die Unbelehrbarkeit der Courage in „Mutter Courage und ihre Kinder“ kritisiert. Diese Beispiele zeigen, dass Brecht die Zuschauer polarisiert, was auf seine Hinwendung zum Marxismus zurückzuführen ist. Hiermit kann die unterschiedliche Interpretation seiner Werke in Ost- und Westdeutschland begründet werden.[2] Die einen argumentieren mithilfe seiner Dramen für die Richtigkeit des Kommunismus, die anderen legen sie gegen diese aus. Dadurch ist eine umfassende und unvoreingenommene Beleuchtung seiner Stücke erst seit dem Ende des „Kalten Krieges“ möglich geworden. Weiterhin ist durch die Polarisierung, die seine Stücke hervorgerufen haben, erkennbar, dass er Themen aufgreift, die viele Bevölkerungsgruppen anspricht. Dies hängt mit Brechts Einstellung zur Kunst zusammen:
Kunst ist in jedem Detail – bei der Darstellung der Liebe ebenso wie bei der des unmittelbaren Kampfes – politische Arbeit, wie anders soll sie uns – die wir nur durch den politischen Kampf existieren können – nützlich sein? Kunst, die keinen Nutzen bringt […] in dem großen Bemühen, die Welt endlich bewohnbar zu machen […], ist keine Kunst.[3] [Hervorhebungen durch die Autorin]
Es wird klar, dass Brecht seine Dramen als politische Werke ansieht, mit denen er in der Welt etwas erreichen und verändern will. Fraglich ist, welche Ziele er sich dabei gesetzt hat. Des Weiteren ist problematisch, in welcher Art und Weise und mit welchen Inhalten er diese Absichten erzielen möchte. Die Beantwortung dieser Fragen ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit.
Dafür wird in Kapitel 2.0 eine Bestimmung der Begriffe „Politisch“ und „Drama“ im Hinblick auf Brechts Verständnis dieser Bezeichnungen vorgenommen. Dadurch wird klar, wie das Politische und das Drama in dieser Arbeit Verwendung finden. Mithilfe der Beleuchtung dieser Abgrenzungen ist es möglich, eine Definition von politischem Theater im Allgemeinen und im Hinblick auf Brecht zu geben. Dies erleichtert das Verständnis der Dramentheorie des epischen Theaters, welches Brechts politisches Theater ist. Dies wird in Kapitel 3.0 erläutert. Zusätzlich wird eine Bestimmung seiner Lehrstücktheorie, die den Weg zum epischen Theater bildet, vorgestellt. Mit seinen speziellen Theaterformen unterstützt er die Vermittlung der politischen Inhalte in seinen Dramen. Die erarbeiteten Ergebnisse werden daraufhin in Kapitel 4.0 auf verschiedene Dramen angewandt. „Die Maßnahme“ steht dabei als authentischstes Beispiel für Brechts Lehrstücktheorie, während „Mutter Courage und ihre Kinder“ und „Furcht und Elend des Dritten Reiches“[4] eher dem epischen Theater zugeordnet werden können. Zusätzlich wird jedes der drei Dramen auf seine politischen Aussagen hin überprüft. Daneben folgen eine Erläuterung der angesprochenen politischen Themen sowie deren Darstellungsweise. Anschließend werden Brechts Stücke auf ihre Aktualität hin beleuchtet und in Vergleich gesetzt.
2.0 Zum Begriff des Politischen und des Dramas
Um den Blick auf die Dramen Bertolt Brechts richten zu können, die in dieser Arbeit diskutiert werden sollen, ist es vonnöten zunächst die Schlüsselbegriffe des gestellten Themas, den Terminus des Politischen und den des Dramas, zu erarbeiten. Diese werden bereits im Hinblick auf Brechts Theorie des epischen Theaters untersucht. Dadurch wird deutlich gemacht, wie die Begriffe Politisch und Drama in der vorliegenden Arbeit zu verstehen sind und wie sie hier Verwendung finden.
2.1 Zum Begriff des Dramas
Die Ursprünge des Dramas liegen im fünften Jahrhundert v. Chr. in der griechischen Antike.[5] Das Hauptkennzeichen der genannten Theaterform wird nach Aristoteles, der eine eigene Dramentheorie die „Poetik“ aufstellte, hauptsächlich durch die Darstellung der Handlung mit Dialogen gekennzeichnet. Er teilte das Drama in zwei wesentliche Gattungen: die Tragödie und die Komödie. Bei Ersterer wird häufig das Scheitern eines Helden dargestellt, wogegen in der Komödie ein innerer Konflikt oder eine äußere Verwicklung humorvoll gelöst wird. Diese Formen entwickelten sich im weiteren Verlauf der Jahrhunderte zu der Tragikomödie, zum Schauspiel und zum Lustspiel.
Nach den Bemühungen Aristoteles versuchten verschiedene Wissenschaftler wie F. Hédelin d’Aubignac mit seiner Literatur „La pratique du thèâtre“, N. Boileau-Despréaux mit „L’art poètique“ oder G. E. Lessing mit seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ ein Regelwerk für das Drama und seine verschiedenen Formen zu entwickeln. Dieses untersteht jedoch einem stetigen Wandel, sodass sich neuere Formen wie das „Theater des Absurden“ herausbildeten, die nicht den jeweiligen Regelwerken der oben genannten Wissenschaftler entsprechen.[6] Daher existieren zum Terminus Drama viele verschiedene Definitionsversuche, die den Begriff dennoch in seiner Gesamtheit nicht umfassen.
Hier werden im Folgenden verschiedene Abgrenzungsversuche vorgestellt, um eine Sammlung geeigneter Kriterien zu erstellen, die die Verwendung des Dramenbegriffs in dieser Arbeit charakterisieren. Nach Robert Petsch bezeichnet Drama
die durch Rede und Spiel auf der Bühne unmittelbar vergegenwärtigte und zur stärksten Teilnahme (ja zum Personenaustausch zwischen den Zuschauern und den Figuren) herausfordernde Darstellung eines bewegten, unter dauernden Umschlägen zu einem bedeutenden Ziele aufsteigenden Vorganges.[7]
In dieser Definition werden zum einen die unvermittelte Präsentation und die Plurimedialität des dramatischen Textes als Kriterien für das Drama herausgestellt, zum anderen wird der Dramenbegriff durch die zusätzlichen Bestimmungen auf bestimmte historische Texte reduziert. Der Forderung nach einer identifikatorischen Wirkung des Dramas steht beispielsweise die Dramentheorie Bertolt Brechts mit seinem epischen Theater völlig entgegen[8], sodass Stücke Brechts nicht unter dieser Definition von Drama subsumiert werden können. Weiterhin ist es Theaterstücken mit einer anti-idealistischen Ideologie oder trivialen Stücken nicht möglich, das Prädikat des Dramas zu erhalten, weil diese nicht zur Bildung bestimmter Wertnormen, also ,,zu einem bedeutenden Ziele aufsteigenden Vorganges“,[9] aufrufen. Damit handelt es sich nachweislich um eine normativ wertende Gattungsbezeichnung und ist als Dramenbegriff für diese Arbeit nicht geeignet.
Die Große Sowjet-Enzyklopädie nennt einen anderen Definitionsversuch. Diese beschreibt das Drama als eine „Literaturgattung, die für die Bühne bestimmt ist und in unmittelbare Handlung, im Konflikt zwischen Charakteren, den Kampf entgegengesetzter gesellschaftlicher Kräfte ausdrückt“.[10] Dieser Dramenbegriff füllt das Kriterium des Konflikts mit gesellschaftlichen Inhalten, aufgrund derer wiederum eine normativ wertende Forderung ausgelöst wird. Demnach dürften nur Stücke als Drama bezeichnet werden, die eine direkte Konfliktstruktur aufweisen oder inhaltlich unmittelbar auf die realen gesellschaftlichen Verhältnisse verweisen. Nach dieser Definition könnte ein großer Teil der dramatischen Weltliteratur nicht mehr als Dramen betitelt werden.[11] Weiterhin tritt in dieser Terminusabgrenzung das Drama als plurimedialer Text in den Hintergrund, wobei die rein schriftliche Fixierung in den Vordergrund gerückt wird. Hierdurch wird die Zielrichtung des Dramas, nämlich die Aufführung auf dem Theater und dessen besondere Kommunikationssituation, ausgeklammert.
Anhand der beiden Definitionsversuche wird deutlich, dass es schwierig ist, eine einheitliche Abgrenzung des Terminus Drama zu finden. In dieser Arbeit wird daher ein eigenes Verständnis des Begriffs benutzt, der sich an die beiden erläuterten Definitionen anlehnt. Drama wird demzufolge als eine literarische Form verstanden, deren Hauptmerkmal der Dialog zwischen verschiedenen Figuren ist, wobei aber auch Monologe, Chöre, lyrische Einlagen oder epische Einschübe vorhanden sein können, die die jeweilige Dramenform unterschiedlich stark bestimmen.[12] Darüber hinaus besteht der Sinn und Zweck des Dramas darin, eine szenische Realisierung im Theater zu erfahren. Das Theater, als Ort an dem Dramen aufgeführt werden, beinhaltet eine besondere Kommunikationssituation für die Zuschauer, womit die Plurimedialität des dramatischen Textes herausgestellt wird.[13] Folglich sind der Text und die einzelnen Aufführungen voneinander zu unterscheiden, da Dramenaufführungen oft unbewusste oder bewusst gewollte Rückkoppelungseffekte beim Publikum auslösen können. Dies wird durch die dargestellte Gestik und Mimik der Schauspieler auf der Bühne und das Bühnenbild erreicht. Demnach ist der Dramenbegriff dieser Arbeit von dem des Lesedramas zu differenzieren, welches sich nur an den Leser als Adressaten und nicht an ein Publikum wendet. Infolgedessen schließt das Drama auch immer das Theater mit seiner besonderen Kommunikationssituation mit ein und kann somit als Theater mit Textgrundlage gesehen werden.[14] Dieses Verhältnis von Drama und Theater benötigt eine genauere Betrachtung, die in Punkt 2.2 näher erläutert wird.
2.2 Zum Verhältnis von Drama und Theater
Zwischen dem schriftlich fixierten Text eines Dramas und den jeweiligen Aufführungen besteht eine Trennlinie. So bietet die jeweils vorliegende Fassung mit seinen Haupt[15] - und Nebentexten[16] dem Regisseur und allen an der Produktion einer Aufführung beteiligten genügend Freiräume für eigene Interpretationen. Dieser Umstand führt zu unterschiedlichen Inszenierungen, welche wiederum verschieden auf die Zuschauer einwirken. Die Unterscheidung von Drama und Theater spiegelt sich auch in der Forschung wider. Um Erstere kümmert sich die Literaturwissenschaft, indem sie sich speziell auf den vor ihr liegenden Text bezieht und somit das reale Wirkungsfeld, das Theater, ausklammert. Dieses überlässt sie der Theaterwissenschaft, die einzig das theatrale Ereignis in ihren Blickpunkt zieht. Beide Ansätze für sich genommen greifen an sich zu kurz. So sind zweifellos Epochen vorhanden, in denen ein neuartig formuliertes Drama eine Neuorientierung des Theaters nach sich zieht. Ein Beispiel liefert das bürgerliche Trauerspiel im 18. Jahrhundert, dem eine neue Darbietungsform folgte, die sich von dem höfisch-klassizistischen Theater abgrenzte, bei dem der Fürst auf der Vorderbühne platziert wurde. Dies führte beim bürgerlichen Trauerspiel zu einer örtlichen Trennung von Zuschauer und Bühne. Hieran wird die Notwendigkeit des Dramas als Textgrundlage für das Theater deutlich, das neue Theaterformen nach sich ziehen kann. Dennoch lassen sich auch Gegenbeispiele finden, die trotzdem eine Verbindung von Drama und Theater unterstreichen. Dies sind beispielsweise die Experimente von Erwin Piscator in Richtung eines politischen Theaters in der Weimarer Republik, der, aufgrund eines Mangels an fortschrittlicher Dramatik, den technischen Apparat einer Bühnenvorstellung um Filmeinspielungen oder Bildprojektionen erweiterte. Pisators Neuerungen des Theaters finden ihren Ursprung in einem Mangel an geeigneten Theatertexten, wodurch wiederum deutlich wird, dass das Verhältnis von Drama und Theater dialektisch verschränkt ist.[17]
Daher bildet das Drama die Textgrundlage für die zu spielende Handlung auf dem Theater. Das heißt, dass es immer auf die szenische Umsetzung im Theater ausgerichtet ist. Erst dadurch kann es zu einer Interaktion von Bühne und Publikum kommen, die die Intention des szenisch-theatralischen Textes noch stärker hervorbringt. Die Begriffe Drama und Theater können daher nahezu gleichgesetzt werden, wodurch Drama als Theater mit Textgrundlage gesehen werden kann.[18] Dennoch dürfen ihre Unterschiede, wie die besondere Kommunikationssituation nicht außer Acht gelassen werden. Bertolt Brecht löst dieses Phänomen, indem sich bei ihm die Fachausdrücke Drama und Theater im epischen Theater auflösen. Diese spezielle Form von Theater entwickelte er aus seiner sozialistischen Dramatik, sodass ,,die nicht-aristotelische Dramatik das epische Theater zu ihrer Voraussetzung [hat], wie umgekehrt das epische Theater jene Dramatik zu der seinen“.[19]
Im Folgenden soll der Begriff des Politischen im Allgemeinen geklärt werden und wie er in dieser vorliegenden Arbeit verwendet wird. Dabei lehnt sich die Erklärung an den Terminus des politischen Theaters an, um eine genauere Differenzierung zu ermöglichen und das Verständnis dieses schwer abgrenzbaren Begriffs zu erleichtern. Weiterhin ist politisches Theater unter dem Aspekt der Dramendefinition in dieser Arbeit zu subsumieren, wonach dessen Eigenschaften ebenso für das politische Drama gelten. Zusätzlich wird diese allgemeine Abgrenzung durchgeführt, um die bestehenden Unterschiede zu Brecht darzustellen und um dadurch das Besondere des politischen Theaters nach seiner Theorie und damit auch das Besondere an seinen politischen Dramen kenntlich zu machen.
2.3 Zum Begriff des Politischen
Über das Politische bestehen ebenso wie beim Drama viele verschiedene Definitionen. So kann es als ein Widerstreit zweier verschiedener Pole verstanden werden, wobei es vor allem durch die Existenz eines Gegners, eines Gegensatzes zum Eigenen, als politisch definiert wird.[20] Von einem solchen Politikbegriff entfernt sich diese Arbeit jedoch, da beispielsweise Darstellungen vorhandener Gesellschaftsprobleme nicht erfasst werden könnten.
In einem anderen Verständnis wird das Politische nach N. Machiavelli und Thomas Hobbes ,,auf das Phänomen der Durchsetzung des Machtwillens reduziert und somit instrumentalisiert“.[21] Dieses Empfinden von Politik liefert ein negatives Konnotat, sodass politische Aktivitäten mit einem dubiosen oder schmutzigen Geschäft in Verbindung gebracht werden. Politik steht demnach in einem Gegensatz zur Kunst, welche das Edle und Schöne vertritt. Es erfolgt eine Trennung von Politik und künstlerischem Schaffen und daher auch von Politik und Theater, die den Bürger, der in einer sozial und politisch aktiven Umwelt agiert, als Adressaten verliert.[22] Dieses Politikverständnis stimmt deshalb nicht mit dem Begriff des Politischen in dieser Arbeit überein. Daher muss eine andere Begriffsabgrenzung gefunden werden, die diesen Terminus speziell im Hinblick auf Dramen festlegt. Aus diesem Grund wird im Folgenden zusätzlich auf das politische Theater eingegangen.
2.3.1 Das politische Theater - im engeren Sinne
Eine eng gefasste Definition betrachtet nur jene Stücke als politisch, die von aktuellen politischen Fragen oder von politischen Vorgängen im Zusammenhang mit einer staatlichen Institution handeln. Diese Begriffsbestimmung stellt eine funktionale Abgrenzung dar, die politisches Theater auf Stücke von oppositionellen Gruppen oder im Extremfall auf Propagandastücke beschränkt.[23] Bei Letzterem ist jedoch eine Modifikation vorzunehmen, da nicht alle Literaturwissenschaftler diese These unterstützen. Melchinger spricht Propagandastücken das Prädikat des politischen Theaters ab, mit der Begründung, dass diese in ihrer gesellschaftlichen Funktion stabilisierend wirken und somit nicht auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet sind.[24] Um eine solche Veränderung der Verhältnisse herbeizuführen, ist es nötig, den Zuschauern zunächst die jeweiligen Zustände vor Augen zu führen. Mit dieser Aussage ist jedoch nicht eine inhaltliche Reduzierung des Theaters auf tagespolitische Themen gemeint. Ein solches politisches Theater kann nicht funktionieren, weil immer die Gefahr besteht, dass nur der gesellschaftliche Diskurs, den die Öffentlichkeit bereits erörtert, wiedergegeben wird.[25] Weiterhin würde der langwierige Produktionsprozess wie das Schreiben, Drucken, Planen des Theaterabends und die langwierigen Proben dafür sorgen, dass tagespolitisch gegenwärtige Geschehnisse bereits ihre Aktualität verloren hätten und somit nur noch das Stück an sich ohne jegliche Intention bleiben würde.[26]
2.3.2 Das politische Theater – im weiteren Sinne
Aus den oben genannten Gründen ist es nötig, einen weiter gefassten Begriff des Politischen ins Auge zu fassen. Tynan stellt die These auf, dass jede menschliche Tätigkeit, auch wenn es sich nur um Zigaretten holen handelt, soziale und politische Aspekte beinhaltet.[27] Ebenso wird eine Dramenproduktion nicht unbedingt unmittelbar politisch beeinflusst. Dennoch wirken auf den Entstehungsprozess und die Inszenierung soziale Einflüsse ein. Es kann daher gesagt werden, dass ,,das Politische ihm eingeschrieben [ist], durch und durch, unabhängig von seinen Intentionen“.[28] Dieser Aussage steht die Feststellung Goethes entgegen, dass Politik und Poesie und damit die Kunst nicht zueinander passen würden. Die Kunst solle im Gegensatz zur Politik tendenz- und zweckfrei bleiben. Der Grund dafür liegt darin, dass, nach Goethes Auffassung, das politische Themengebiet den unbefangenen und freien Blick des Künstlers trübe, weil dieser sich einer Partei hingeben müsse und damit in seinem Geiste nicht mehr frei sei.[29] Im freiwilligen Verzicht eines Autors auf eine Alternative sieht ebenfalls Norbert Kohlhase die Gefahr, dass die politischen Formeln die Oberhand in der Literatur gewinnen. Seiner Ansicht nach kann ,,Reine Parteilichkeit [..] zur Parteitheologie“[30] werden. Dieser Auffassung steht die Meinung Thomas Manns entgegen, der davon ausgeht, dass ein Dichter außerstande ist, „das Unlösliche zu lösen und die Verbindung aufzuheben, die zwischen Kunst und Politik, Geist und Politik unweigerlich besteht. Hier wirkt einfach die Totalität des Menschlichen, die sich auf keine Weise verleugnen läßt“.[31] Dieses Menschliche beinhaltet das Leben in einer politischen Gemeinschaft und damit einhergehend die kommunikativen und sozialen Beziehungen untereinander. Jeder Schaffensprozess eines Dramas und des Theaters wird von sozialen und politischen Bedingungen angefüllt, da auch der Autor in dieser Gemeinschaft agiert. Somit ist jedes Theater politisch.[32] Dies gilt vor allem auch für Theaterformen wie das absurde Theater, das für sich beansprucht völlig unpolitisch zu sein. Denn selbst das Schweigen über Politik wird von der Öffentlichkeit aufgenommen und als eine Äußerung im negativen Sinne über dieses Themengebiet verstanden: „Selbst die Poesie des Absurden, das sich ihm zu entziehen scheint, bestätigt das Politische des Theaters“.[33] Nach dieser Auffassung von politischem Theater und dem Begriff des Politischen kann darunter jedes Theaterstück und jedes Drama gefasst werden. Dem Vorwurf der parteilichen Stellungnahme entzieht es sich dadurch, dass es sich um ein Kunstprodukt auf der Bühne handelt. Jenes ermöglicht, das Politische dort aufzudecken, wo es sonst vom schablonisierten Diskurs öffentlicher Themenzentriertheit nicht vermutet wird.[34] Damit wirkt es wie eine gebrochene Linse, die die Wünsche und Bedürfnisse einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit deutlich macht.[35] Brecht drückte dies treffender aus: ,,Kunst ist in jedem Detail – bei der Darstellung der Liebe ebenso wie bei der des unmittelbaren Kampfes – politische Arbeit, wie anders soll sie uns – die wir nur durch den politischen Kampf existieren können – nützlich sein?“.[36]
2.3.3 Das politische Theater – eine dritte Definition im Hinblick auf Brechts Konzeptionen
Da dieses Verständnis des Politischen sehr weit gefasst ist, bedarf es einiger Einschränkungen. Diese Arbeit schließt sich der Meinung Ismayrs an und spricht erst da von politischen Dramen, „wo die thematisierte Realität als veränderbar erscheint, wo die Intention (Tendenz) zur Veränderung der politischen Verhältnisse bzw. des moralisch-politischen Bewusstseins erkennbar wird – und sei es in der Negation“.[37] Dabei kann das Kriterium der Intention beziehungsweise der Tendenz nur als Richtwert verstanden werden, da die Absicht des Künstlers durchaus durch die Art der Aufführung und der Regieführung verfälscht werden kann. Ismayr unterscheidet weiterhin von der Tendenz des politischen Theaters her zwei Grundtypen: das ethisch-politische Theater, das nach Lessing als moralisch politische Anstalt bezeichnet wird, und das revolutionäre Lehrtheater, das von Bertolt Brecht geprägt wurde. Diese Unterscheidung bleibt nach Torben Ibs fragwürdig, da Ismayrs Trennung darauf beruht, dass die moralische Schaubühne im Sinne Lessings den Menschen ändern, Brechts Theater den Menschen zum Handeln bringen will. Eine Änderung des Menschen führe aber nach Lessing und Schiller ebenso zu einer Änderung ihrer Handlungen, wodurch beide Stilrichtungen dasselbe Ziel erreichen wollten. Brecht habe demnach mit seinen Lehrstücken und dem epischen Theater lediglich eine neue Ästhetik in das herrschende Theatermodell gebracht.[38] Eindeutig ist jedoch, dass Brecht ,,für ein total politisches Theater votierte“.[39] Er versuchte, Kunst und gesellschaftliche Praxis miteinander zu verknüpfen und dadurch seine Theorie vom „Eingreifenden Denken“ zu manifestieren. Als Ergebnis seines eigenen Empfindens von politischem Theater und mit seiner Hinwendung zum Marxismus entsteht sein episches Theater.
3.0 Das politische Theater nach Bertolt Brecht
Den aussagekräftigsten Satz, der Brechts politisches Theater am passendsten beschreibt, hat er selbst geäußert: „Ich wollte auf das Theater den Satz anwenden, daß es nicht nur darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern“.[40] Ausgangspunkt für diese Absicht bildet die Konzeption des eingreifenden Denkens, die schließlich zu seinen Theatertheorien führt. Diese stellen seine Art des politischen Theaters dar.
3.1 Eingreifendes Denken und politische Beeinflussung
Brechts Theaterkonzeptionen sind durch die Hinwendung zum Marxismus geprägt. Sie ermöglichte ihm eine neue Qualität seiner Stücke. Beeinflusst wurde er dabei vor allem durch die Theorien von Hegel und Marx, die ihm von seinen Bekannten Karl Korsch, Fritz Sternberg und Ernst Bloch näher gebracht wurden.[41] Damit begannen seine Überlegungen zu der Kategorie des „Eingreifenden Denkens“. Diese Zielsetzung entstand in den frühen dreißiger Jahren. Um sie verstehen zu können, muss zunächst die widersprüchliche Verbindung von „Eingreifen“ und „Denken“ beleuchtet werden. Unter „Denken“ wird eine Distanzierung von Subjekt zum Objekt verstanden. Es beschreibt eine Verbindung zu einem Objekt oder einem Ereignis, das analysiert und auf Logik überprüft wird. „Eingreifen“ ist das Gegenteil von „Denken“, da es eine Handlung charakterisiert, die vom Subjekt ausgeht. In Brechts Sinne meint das „Eingreifen“ eine Verhaltensweise, die auf das Objekt oder das Ereignis einwirkt, wodurch die Änderung der Welt möglich wird. Während in der Realität Kreativität von der Zuspitzung der Widersprüche am Leben gehalten wird, also durch dynamische Vorgänge, versucht Brecht durch „Eingreifendes Denken“ von einer solchen Dynamik zu distanzieren. Seine Konzeption ist eine Einstellung, die nach Erkenntnis und Bewusstwerdung der Wirklichkeit und der gesellschaftlichen Verhältnisse verlangt: „Erkannt zu haben, daß das Denken was nützen müsse, ist die erste Erkenntnis“.[42] Als Folge dieser Erkenntnisse soll es zu Anwendung und Wirkung in der Realität kommen. Dies versucht Brecht mit besonderen ästhetischen Formen hervorzubringen.[43] Dazu benutzt er zunächst seine andersartige Theorie der Lehrstücke, die den Weg zu einer spezielleren Form, das epische Theater, ebnen. Darin produziert er Widersprüche, die die Passivität des Publikums durchbrechen sollen und die umgebenden Verhältnisse beleuchten. Seiner Meinung nach ist eingreifendes Denken nur möglich, „wenn es [das Individuum] um sich selbst und das Verhalten der Umwelt Bescheid weiß. Aussichtsreich nur, wenn es imstand ist, die Umwelt zu beeinflussen“.[44] Somit versucht er in seinem politischen Theater, das Epische, diese Determinanten hervorzurufen: die Erkenntnis über die Realität und das Bewusstwerden von Handlungsmöglichkeiten. Das politische Theater Bertolt Brechts ist demnach in dem epischen Theater und den Lehrstücken zu finden.
3.2 Abriss über die Phasen der Entwicklung des epischen Theaters
Brecht leitet von seinen Erfahrungen mit der Theaterpraxis ein theoretisches Modell ab, das unter dem Namen des „epischen Theaters“ bekannt geworden ist. Dieses entwickelte sich in verschiedenen Phasen, die hier in Kürze dargestellt werden sollen.
Die ersten systematischen Äußerungen zu seiner Vorstellung von Theater liefern Anmerkungen, die er in den Jahren 1930 bis 1932 zu folgenden Stücken abfasste: „Dreigroschenoper“, „Mann ist Mann“, „Die Mutter“ und zu der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. In diesen Texten wertet er seine Erfahrungen aus, die er mit den Inszenierungen seiner Stücke gemacht hat. Der letztgenannten Anmerkung zur Oper fällt dabei ein besonderes Gewicht zu, da in dieser die Akzentverschiebungen, welche vom dramatischen zum epischen Theater erfolgen, deutlich gemacht werden. Weiterhin ist erkennbar, dass Brecht versucht, das Lehrhafte eines Theaterstücks in den Vordergrund zu stellen, wobei jedoch der Unterhaltungsaspekt in den Hintergrund treten soll. Er möchte aus „dem Genußmittel den Lehrgegenstand“[45] entwickeln.[46] Brecht, der bereits zu dieser Zeit als ein Kenner des Marxismus gilt, beabsichtigt „dem Theater eine gesellschaftsändernde Funktion zu geben“.[47]
Der Autor sieht dabei keinen Gegensatz zwischen der Belehrung und der Unterhaltung im Theater. Er beurteilt das Lernen an sich als Genuss, wodurch er an seinen Absichten festhält, das Genussmittel Theater in einen Lehrgegenstand zu überführen. Diese Meinung differenziert er in seiner Arbeit „Über Experimentelles Theater“, in der er das Vergnügen am Lernen von der jeweiligen Klassenlage und somit von der politischen Haltung des Zuschauers abhängig macht. Dabei soll die politische Haltung durch Provokation in den Stücken vom Theaterbesucher eingenommen werden, wodurch gleichzeitig der Kunstgenuss gesteigert wird. Das Publikum, das sich mit seiner Klasse in der Gesellschaft identifiziert, ist interessiert am Lernen und daher durchaus fähig einen Lerngegenstand zu genießen. Demnach kommt es zu ,,einer Verschmelzung der beiden Funktionen Unterhaltung und der Belehrung“.[48]
Eine weitere Entwicklungsstufe wird im Jahre 1948 gleichzeitig mit Brechts Arbeit „Kleines Organon für das Theater“ erreicht, die erstmalig in komplexer Form seine theoretischen Überlegungen für das epische Theater fixiert. Bereits im Vorwort schränkt er seine zuvor postulierte Meinung über Theater als Lehrgegenstand ein:
Widerrufen wir also, wohl zum allgemeinen Bedauern, unsere Absicht, aus dem Reich des Wohlgefälligen zu emigrieren, und bekunden wir, zu noch allgemeinerem Bedauern, nunmehr die Absicht, uns in diesem Reich niederzulassen.[49]
Diese Äußerung ist allerdings nicht mit einer Abkehr Brechts von seinem politischen Theater gleichzusetzen, sondern zielt in eine ganz andere Richtung. Er schränkt seine Aussage, indem er fortfährt: „Behandeln wir das Theater als Stätte der Unterhaltung, wie es sich in seiner Ästhetik gehört und untersuchen wir, welche Art der Unterhaltung uns zusagt“.[50] Fraglich ist daher, welche Art der Unterhaltung nach Meinung Brechts seinem Publikum zusagt. Es wird deutlich, dass es sich in diesen Darstellungen keinesfalls um Gegensätze zu den oben erläuterten handelt, sondern um eine Differenzierung seiner Bemerkungen. Die Unterhaltung und die Freude, welche der Zuschauer aus seinem Theaterbesuch mitnehmen soll, sieht Brecht in dem „Gefühl der Freude über eine neue Erkenntnis, über eine Erweiterung seines Wissens“.[51]
Im Jahre 1953 veröffentlicht Brecht die Abfassung „Die Dialektik auf dem Theater“, was eine Erweiterung seiner bisherigen theoretischen Schriften darstellt. Besonderes Augemerk liegt hierbei auf dem Gegensatz von Vernunft und Gefühl, welcher nach Brecht zu einer großen Produktivität führen kann:
Die aufsteigende neue Klasse hingegen und jene, die mit ihr zusammen kämpfen, haben es mit Vernunft und Gefühl in großem, produktivem Widerspruch zu tun. Uns drängen die Gefühle zu äußerster Anspannung der Vernunft, und die Vernunft reinigt unsere Gefühle.[52]
Zusätzlich steht Brechts Theater dem Illusions- und Identifizierungstheater von Stanislawskys, welches von der kommunistischen Obrigkeit bevorzugt wurde, entgegen. Brecht versucht durch seine Neuveröffentlichung sein episches Theaters als das wahre marxistische Theater durchzusetzen, sodass ihm eine Umbenennung in dialektisches Theater nötig erscheint[53]: „Episches Theater ist für diese Darbietungen wohl die Voraussetzung, jedoch erschließt es noch nicht allein die Produktivität und Änderbarkeit der Gesellschaft, aus welchen Quellen sie das Hauptvergnügen schöpfen müssen.[54] Im Vordergrund steht demnach die Aufdeckung von Widersprüchlichkeiten, wodurch gewährleistet wird, dass Veränderbarkeit sichtbar gemacht wird und Veränderungen möglich sind.[55]
Anhand der aufgeführten Veränderungen in Brechts Theorie des Theaters und den zunächst sporadischen Arbeiten zu diesem Thema wie die Anmerkungen zu den verschiedenen Stücken wird deutlich, dass sich der Regisseur und Autor zunehmend mit konkreteren und umfassenderen Ausführungen befasste. Dies liegt nicht an irgendwelchen neuen theoretischen Erwägungen seinerseits, sondern in der Notwendigkeit, seine Theorie über das Theater an den sich ändernden Fluss der Praxis anzupassen. Dabei ist erkennbar, dass Brecht dafür auf seine praktischen Erfahrungen, die er durch seine Inszenierungen erhielt, zurückgriff und somit seine Theatertheorie als Wechselwirkung von Theorie und Praxis verstand.[56] Daher sollten Brechts schriftlich fixierte Vorstellungen über das epische Theater nicht als fest geltende Regeln betrachtet werden, die nicht überschritten werden dürfen, sondern als eine Richtschnur, wie sein Theater funktionieren könnte. Viele Kritiker warfen Brecht und seinen Inszenierungen unbegründet vor, dass er sich als Regisseur nicht an seine eigenen Regeln des epischen Theaters halten würde.[57] Diesen Umstand erläutert Brecht, indem er den Zusammenhang von Praxis und Theorie hervorhebt:
Mein Fehler. Diese Beschreibungen und viele der Beurteilungen gelten nicht dem Theater, das ich mache, sondern dem Theater, das sich für meine Kritiker aus der Lektüre meiner Traktate ergibt […]. Ich versündige mich, zumindest in der Theorie, gegen den ehernen Satz, übrigens einen meiner Lieblingssätze, daß der Pudding sich beim Essen beweist […]. Meine ganzen Theorien sind überhaupt viel naiver, als man denkt und – als meine Ausdrucksweise vermuten lässt.[58]
Unter den dargestellten Gesichtspunkten sollen die im Folgenden erläuterten Formen und Mittel des epischen Theaters betrachtet werden, als ,,erklärende Rationalisierungen seiner Praxis [und] nicht [als] aprioristische Prinzipien, die er seiner Praxis zugrunde gelegt hätte“.[59]
3.3 Das epische Theater
Wie bereits in dem vorangegangenen Kapitel deutlich wurde, hat Brecht seine Theorie im Laufe der Jahre in Abhängigkeit von der Theaterpraxis verfeinert und differenziert. Im nachstehenden Kapitel wird ein Überblick über das Theater der 20er Jahre gegeben und die Gründe aufgezeigt, warum Brecht sich mit dieser Darstellungsform nicht abfinden konnte.
3.3.1 Der Weg zum epischen Theater
Das Theater der 20er Jahre sieht Brecht als einen Widerspruch der Spielarten. So werden in diesen Jahren einerseits klassische Stücke formalistisch mit einem neuen Stil aufgeputzt, andererseits neue Stücke nach der herkömmlichen Art auf die Bühne gebracht;[60] ein Theater also, in dem sich übertrieben pompöse, aber inhaltlich tote Klassikeraufführungen mit leblosen exakten Abbildungen des Alltagslebens, die in melodramatischer oder komödienartiger Form vorgetragen werden, abwechseln. Jenes Theater schwankt zwischen lächerlicher Unterhaltung und aufdringlicher Moralmission. Zusätzlich spielt in den 20er Jahren das Ansehen des Theaters in der Gesellschaft eine bedeutende Rolle. Ein Theaterbesuch kommt einer gesellschaftlichen Verpflichtung nach, mit der die Menschen ihre Bildung unter Beweis stellen können. Es handelt sich um eine nach außen sichtbare Symbolhandlung, die den Menschen des sozialen Umfeldes zeigen soll, dass der Theatergänger ein gebildeter Mensch ist.[61] Dieses Prestigedenken in der Gesellschaft spiegeln die Eintrittspreise wider, die so hoch sind, dass sie sich nur das höhere Bürgertum leisten kann. Das Proletariat muss auf Wander- oder Volksbühnen zurückgreifen, um sich einen Theaterabend leisten zu können.[62] Gegen diese genannten Missstände lehnt sich Brecht auf. Die Anfänge seiner Kritik lassen sich in den Augsburger Theaterkritiken finden, in denen er hauptsächlich die Geschäftsleitung und deren finanziellen Mitteleinsatz beanstandet. Weiterhin bemängelt er, dass es kaum Stücke gibt, die die Probleme der Zeit widerspiegeln, wobei vor allem die Klassiker nicht zeitgemäß dargestellt werden.[63] Brecht beginnt Mitte der 20er Jahre sich wie ein Rebell gegen diese für ihn unhaltbaren Zustände zu wehren. Dabei richtet sich seine Kritik zusätzlich gegen die naturalistische Spielweise seiner Jugendzeit, da er mit dieser einen toten Theaterbetrieb, wie er ihn in Augsburg erlebt hatte, assoziiert. Dem Naturalismus ist eine getreue Nachahmung der Wirklichkeit zu Eigen,[64] sodass er versucht, die Differenz zwischen Kunst und Wirklichkeit aufzuheben. Ein weiterer bedeutender Kritikpunkt Brechts ist die Darstellung des Milieus, das als unveränderlich geschildert wird.[65]
Das größte Missfallen jedoch erregt bei Brecht die durch den Naturalismus gesteigerte Illusion auf der Bühne, das Illusionstheater. Die Illusion steht dabei als Voraussetzung für die Einfühlung des Zuschauers. Diese geht poetologisch auf Aristoteles zurück, der mithilfe der Mimesis, der Nachahmung, die Katharsis, die seelische Läuterung, herbeiführen wollte. Das Publikum soll sich durch die getreue Abbildung der Wirklichkeit und die starke Suggestions- und Verwandlungskraft des Schauspielers in den tragischen Helden einfühlen und sich mit ihm identifizieren. Mittels des Durchlebens von Furcht und Mitleid sollen die Zuschauer zu besseren Mensch erzogen werden, die damit befähigt sind, gesellschaftliche Konflikte außerhalb des Theaters zu lösen.[66] Diese Art von Theater passt nach Brechts Meinung nicht mit den Fragen der Zeit überein: „Unsere ganze Art zu genießen beginnt unzeitgemäß zu werden“.[67] Mit der Urbanisierung und der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ergibt sich ein neues wissenschaftliches Zeitalter. Brecht spricht dem Eindringen der Wissenschaft in das menschliche Denken, Handeln und Verhalten eine große Bedeutung zu. Für ihn kennzeichnet diese neue Ära den modernen Menschen als neugierig, skeptisch, forschungsfreudig und kritisch. Nach Brecht sollten sich das Drama und das Theater diesem neuen Charakterbild anpassen und sich nicht weiter damit beschäftigen, seine forschungsfreudigen Zuschauer mit Illusionstheater „einzulullen“. Es müsste der Versuch unternommen werden, das Theater auf das Niveau der Wissenschaft zu bringen.[68]
Um diesem Ziel näher zu kommen, entwickelt Brecht das epische Theater. Impulsgeber für diese neue Theaterform in Brechts Nähe ist der deutsche Regisseur Erwin Piscator, der neben Brecht zu den bedeutendsten Vertretern des politischen Theaters gezählt wird. Auf ihn gehen zahlreiche bühnentechnische Erneuerungen wie der reichliche Einsatz von Bildprojektionen, Filmeinspielungen oder neuartiger Gerüstkonstruktionen zurück. Zusätzlich erzielt er mit Kontrastierungstechniken scharfe politische Effekte, wodurch er zum Vorreiter des politischen Massentheaters in der Weimarer Republik avancierte.[69] Für ihn als Sozialist ist das Theater ein Mittel, um die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse kritisieren zu können und die Gesellschaft von morgen vorzubreiten. Piscator stellt sein Theater dem Dienst des Klassenkampfes zur Verfügung. Er will die Welt verändern und verbessern.[70]
Die Zusammenarbeit mit Piscator öffnet Brecht die Augen. Er will ebenso wie sein Kollege ein Theater entwickeln, das die Belange der Zeit aufgreift, die vorherrschenden Verhältnisse darstellt und Lösungsmöglichkeiten aufzeigt. Zu den ersten Versuchen seines neuen Theaterverständnisses können Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre die Lehrstücke gezählt werden. Diese sollen, wie bereits der Name andeutet, bestimmte Lehren an seine Adressaten weitergeben.[71] Da Brecht sich zu dieser Zeit bereits mit dem Marxismus beschäftigt, handelt es sich bei diesen Lehren meist um proletarisch-revolutionäre Inhalte,[72] sodass er das Theater als pädagogisches Forum benutzt.[73]
Sein Theater soll, ebenso wie bei Piscator, als Mittel im Klassenkampf eingesetzt werden und eine gesellschaftsändernde Funktion innehaben. Der Unterschied zu seinem Kollegen besteht darin, dass Brecht eine Änderung des Theaters nicht nur durch neuartige Bühneneffekte herbeiführen möchte, von denen er meint, dass diese nur provisorisch sind und demnach eine längere Zeit nicht überdauern können, sondern durch eine revolutionäre Theaterkunst.[74] Um diese erreichen zu können, muss nach Brecht das Theater der 20er Jahre eine radikale Änderung erfahren.[75] Nach seiner Meinung lässt die Einfühlung des Publikums in das Schicksal des tragischen Helden im Illusionstheater den Zuschauer jeweils nur so viel sehen und empfinden, wie der Held sieht und empfindet. Somit sind deren Gefühle und Erkenntnisse denen des Helden im Stück gleichgestellt. Dies ist Brecht aber nicht genug. Er will, dass seine Theaterbesucher das Verhalten der Protagonisten beurteilen und ihnen klar wird, dass ein Mensch seinem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert, sondern von den änderbaren Verhältnissen abhängig ist.[76] Dabei muss erkennbar sein, dass die Vorgänge auf der Bühne veränderlich und in Veränderung befindlich sind.[77] Die Zuschauer besitzen dabei dieselbe Pflicht wie Schöffen in einem Gerichtssaal, die so objektiv wie möglich und ohne Partei zu ergreifen zu einer Entscheidung und somit zu einem Urteil über die gesehene Handlung kommen. Er will durch seine Theaterform den Theaterbesucher aktiv an dem Stück teilnehmen lassen, indem er ihn zum kritischen Mitdenken auffordert. Für dieses Mitdenken ist ein klarer Kopf vonnöten, der es demjenigen erlaubt mit ausreichendem Abstand einen Sachverhalt betrachten zu können. Dies ist jedoch beim Illusionstheater nicht möglich, da sich der Zuschauer in den Helden hineinversetzt und die Geschehnisse des Stücks nur mit dessen Augen sieht. Somit ist er kein kritischer Beobachter mehr, sondern ein voreingenommener Teilnehmer, der den Gesamtzusammenhang einer Angelegenheit nicht mehr überblicken und demnach keine Erkenntnis aus dem Stück ziehen kann. Brechts Lösung des Problems besteht darin, dass er versucht, auf die Illusion wirklicher Vorgänge zu verzichten.[78] Wie dies zu bewerkstelligen ist, erforscht er in seiner Theatertheorie, dem epischen Theater.
3.3.2 Der Begriff „Episch“ bei Brecht
Die Kunstform des Illusionstheaters im Gegensatz zu den neuzeitlichen Geschehnissen im Zusammenhang mit dem neuen wissenschaftlichen Zeitalter führen bei Brecht zu der Erkenntnis, dass die Darstellung zeitgenössischer Stoffe mit der alten dramatischen Form des Theaters nicht umgesetzt werden kann. Er kommt zu dem Schluss, dass passend zu den neuen Inhalten eine neue Theaterform entwickelt werden müsste.[79] Dementsprechend äußert Brecht bereits im Jahre 1926: „wenn man sieht, daß unsere heutige Welt nicht mehr ins Drama paßt, dann paßt das Drama eben nicht mehr in die Welt“.[80] Im weiteren Verlauf stellt Brecht die Theorie des epischen Theaters auf.[81] Der Begriff des Epischen ist nicht unter gattungsästhetischen Gesichtspunkten zu subsumieren, weshalb er von der „Epik“[82] unterschieden werden muss. Gleichzeitig ist Brechts Terminus der Gattungsbezeichnung Epik angelehnt.
Das Epische ist auf sämtliche Gattungen anwendbar, sodass Brecht diesen in Verbindung mit dem Drama bringt. Im Zusammenhang mit der Ablehnung des Illusionstheaters versucht Brecht der Identifizierung der Zuschauer mit dem tragischen Helden in Wechselwirkung mit dem eingeschränkten Erkenntniswert des Theaterbesuchs entgegenzuwirken, indem er die Illusion jeglicher Vorgänge auf der Bühne im Keim erstickt. Dem Publikum muss der Unterschied zwischen der Wirklichkeit und dem gespielten Geschehen auf der Bühne deutlich gemacht werden. Es soll sich der Tatsache bewusst sein, dass es sich in einem Theater befindet und einem Bericht zuhört. Infolgedessen tritt an „die Stelle des Dramas mit seiner Rekonstruktion von Vorgängen, als wären sie gegenwärtig, […] eine epische Form, ein Bericht über historische Ereignisse“.[83] Dies bringt mit sich, dass das Drama auf das Dramatische verzichtet, womit die Spannung, die die Vorgänge auf der Bühne beinhalten, entweder zurückgestellt oder diese gänzlich eingestellt wird.[84]
Brecht kennzeichnet die Akzentverschiebungen, die die Änderung von der dramatischen Form des Theaters zum Epischen Theater mit sich bringt in den „Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“.[85] Dabei wird betont, dass es sich bei der tabellarischen Auflistung keinesfalls um absolute Gegensätze handelt, sondern lediglich um Gewichtsverschiebungen. Des Weiteren kann „innerhalb eines Mitteilungsvorganges das gefühlsmäßig Suggestive oder das rein rationell Überredende bevorzugt werden“[86] können. Diese Bemerkung wurde jedoch häufig ignoriert, sodass Brecht vorgeworfen wurde, in seinem epischen Theater keine Emotionen zuzulassen. Er baue ausschließlich auf gefühlslosen Rationalismus. Diese Behauptung stimmt allerdings nicht mit Brechts Theatertheorie überein, da sie sich nicht gegen Emotionen ausspricht. Er fordert sehr wohl Emotionen, möchte diese aber nicht durch die Einfühlung hervorrufen, sondern durch Erkenntnisvermittlung.[87]
Anhand der gegenübergesetzten Merkmale der dramatischen Form und der epischen Form des Theaters wird deutlich, dass Brecht mit dem Begriff des Epischen
eine kritische Beobachtung, das Wecken von Aktivität (im gesellschaftlichen Verhalten, im Aufdecken von Widersprüchen), Erkenntnis- und Kenntnisvermittlung, Abkehr vom Schicksalhaften, Hinwendung zum veränderlichen und verändernden Menschen, Betonung seiner Produktivität und seiner gesellschaftsbestimmenden Macht[88]
verbindet. Durch den Verzicht auf jegliche Art von Spannung und den Versuch eine Identifizierung des Zuschauers mit dem Helden zu vermeiden, will er eine Distanz des Publikums zu den gespielten Geschehnissen und eine kritische Haltung der Theaterbesucher erzeugen. Zu den epischen Mitteln, die diese Zielsetzung erreichen, gehören für ihn ein auktorialer Erzähler, Titel und Inhaltsangaben, Prolog und Epilog und vieles mehr, was in den nachfolgenden Kapiteln dargestellt wird.[89] Zusammenfassend können die genannten Beispiele als undramatische Elemente bezeichnet werden, die dazu beitragen, die oben erläuterten Assoziationen herbeizuführen. Brecht prägt daraufhin in diesem Zusammenhang den Begriff der Verfremdung. Die Grundlage dieses Ausdrucks und dessen Bedeutung werden im nachfolgenden Kapitel näher beleuchtet.
3.3.3 Verfremdung und V-Effekt
Um zu verhindern, dass sich der Zuschauer in den Helden des Stücks hineinversetzt und damit keine neue Erkenntnis aus der Theateraufführung zieht, benutzt Brecht das Mittel der Verfremdung. Dieses macht es möglich, dem Menschen bewusst zu machen, dass er nicht aufgrund vorauszusehender, unveränderbarer Verhältnisse so handelt, wie er handelt. Ihm werden die spezifischen Umstände gezeigt, die dafür verantwortlich sind, warum eine Person in einer bestimmten Situation so agiert, wie in dem jeweiligen Bühnenspiel dargestellt. Um dies bewerkstelligen zu können, müssen der Dramatiker und der Schauspieler historisieren. Das heißt, Vorgänge aus vorhergehenden Epochen auf die Bühne bringen, auf die der Betrachter den zeitlich überholten kritischen Blick der nachfolgenden Generation werfen kann. Das bedeutet, dass der Zuschauer das Geschehen des Stücks als ein einzigartiges Erlebnis in der Geschichte erkennt, indem er die dargestellten Vorgänge aus einer Distanz heraus beobachtet und aufhört, diese als selbstverständlich anzusehen.[90] Die Historisierung erschwert damit dem Publikum, sich in die Figuren auf der Bühne einzuleben.[91] Weiterhin wird ihm gezeigt, dass die Erlebnisse einer vorangegangenen Epoche vergänglich sind. Durch die Historisierung können dem Zuschauer historische Belege vorgelegt werden, die ihm die Veränderbarkeit menschlicher Verhältnisse bewusst machen. Bezogen auf die Gegenwart des Theaterbesuchers führt dies zu folgendem Schluss:
Die vergangenen Ereignisse historisch vorgeführt zu erhalten, schafft bei ihm […] ein Bewusstsein, daß die gegenwärtigen Verhältnisse, in denen er lebt, auch nicht von (ewiger) Dauer sind, wie dies ihm (möglicherweise) von denen, die sich ihre Herrschaft erhalten wollen, weisgemacht wird.[92]
Das Mittel, das bei der Zielerfüllung von Historisierung benötigt wird und die gewünschte Wirkung hervorbringt, ist die Verfremdung.[93]
Brecht hat den Begriff der Verfremdung seit 1936 mehrfach definiert. Als Kernaussage lässt sich jedoch erkennen, dass sie das Ziel innehat, „das Gewohnte als das Ungewöhnliche, das Übliche als das Befremdende, das Selbstverständliche als das lange nicht Geänderte und daher Änderungsbedürftige zu sehen“.[94] Der Zuschauer soll den fremden Blick entwickeln, um genügend Abstand und Distanz aufzubringen, damit er die Vorgänge auf der Bühne beurteilen kann. Dem Publikum erscheint die Welt widersprüchlich und veränderbar. Gewohntes wird in Frage gestellt und kritisch neu überdacht, sodass gesellschaftliche Strukturen in das Blickfeld des Theaterbesuchers geraten. Durch das Theater wird das Augenmerk des Zuschauers auf die menschliche Gesellschaft gerichtet, wodurch die Verfremdung zum didaktischen Prinzip wird.[95] Brecht will dem Publikum seiner Stücke eine Hilfestellung geben, damit sie zum Wesen der gesellschaftlichen Verhältnisse vordringen können. Dadurch erreicht sein Theater die Qualität, die es für den Klassenkampf benutzbar macht. Es nimmt eine praktisch-kritische Haltung gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit ein.[96]
Das Mittel, das Brecht zur Erreichung der Verfremdung einsetzt, wird von ihm Verfremdungseffekt genannt, ist jedoch unter dem Kürzel V-Effekt zu einem größeren Bekanntheitsgrad gelangt. Aufgrund der Vielzahl verschiedener Verfremdungseffekte lässt sich eine Einteilung in drei Bereiche erkennen, die aber ineinander übergehen: beim Schreiben, beim Inszenieren und beim Darstellen.[97] Eine Erläuterung der möglichen V-Effekte wird in den Kapiteln 3.3.3.1, 3.3.3.2 und 3.3.3.3 vorgestellt.
3.3.3.1 V-Effekte in Dramenbau und Sprache
Das epische Theater verzichtet bewusst auf einen spannungsgeladenen Dramenaufbau, um dem jeweiligen Stück die Illusionswirkung zu nehmen. Meist handelt es sich im Gegensatz zum typischen Drama, das in fünf Akte und mehrere Szenen aufgeteilt ist, um lose und episodisch zusammengefügte Auftritte. Damit verliert sich der dynamisch ansteigende Fluss zu einem Höhepunkt. Während sich im konventionell gebauten Drama der Sinn des Stücks aus dem Zusammenhang erschließt, kann im epischen Theater jede Szene für sich alleine stehen. Der Gesamteindruck entspricht so einer Montage verschiedener einzelner Auftritte, wie sie im Varieté oder in einem Zirkus zu sehen sind, und ergibt damit einen V-Effekt. Der Zuschauer erhält den Eindruck, dass es sich bei dem dargestellten Bühnengeschehen um eine Aneinanderreihung von Bildern handelt. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit nur einzelne Szenen aufzuführen, wobei jede von ihnen einen eigenen Sinn innehat.[98] Mithilfe der Montagetechnik bleibt die Struktur des Dramas nach Brecht für die Darstellung von Widersprüchen offen.[99]
Ähnliche Funktionen übernehmen sowohl Prolog als auch Epilog des Stücks. Beide beinhalten als V-Effekt die Möglichkeit, dem Theaterbesucher nochmals bewusst zu machen, dass das folgende oder bereits erfolgte Bühnengeschehen ein Theaterstück ist und es sich nicht um eine Abbildung der Wirklichkeit handelt. Zusätzlich kann Ersteres eingesetzt werden, um die jeweilige Gattung zu begründen, um den Inhalt des Geschehens als ein wissenschaftliches Experiment zu kennzeichnen oder um den Autor vorzustellen. Der Epilog ist im Stande, das Ende des Stücks zu kommentieren oder den Zuschauer dazu aufzufordern, das im Theater Gelernte in der Wirklichkeit in die Tat umzusetzen.[100]
Einen weiteren V-Effekt stellt der auktoriale Erzähler als episches Mittel dar. Dieser macht anhand seiner Sprache, seiner Haltung oder als Sänger deutlich, dass es sich bei ihm um einen Erzähler beziehungsweise einen Berichterstatter handelt, der das Publikum durch das Drama führt. Damit ist es möglich, ein logisches Zeitgefüge aufzuheben, da er den Handlungsstrang nach seinem Belieben aufbauen kann. Er darf eine neue Reihenfolge der Handlungen festlegen, indem er auf Geschehnisse vor- oder zurückgreift. Infolgedessen ist der einsträngige Handlungsablauf wie im typischen Drama nicht vorhanden, wodurch die Zuschauer distanziert den Bühnenauftritten folgen müssen, um den Gesamtzusammenhang zu verstehen. Weiterhin ist der Erzähler im Stande, die Zuschauer zu einer anderen Betrachtungsperspektive der vorgeführten Begebenheiten zu bringen, womit sie wiederum dazu angehalten werden, eine kritische Haltung einzunehmen.[101]
Einen weiteren wichtigen Faktor der Verfremdung nehmen die Lieder und Songs des Stückes ein. Lieder werden in der dramatischen Form des Theaters nur genutzt, um die Handlung zu unterstützen. Ihr Einsatz rechtfertigt sich ausschließlich dann, wenn sie sich aus der Handlung ergeben und zum Dargestellten passen; beispielsweise wenn ein Liebhaber seiner Geliebten ein Ständchen bringt.[102] Brecht besteht dagegen in seiner Form des Theaters auf eine Trennung der Elemente, das heißt, dass die Lieder oder Songs eine eigene Funktion besitzen und für sich selbstständig verantwortlich sind. Sie dienen nicht mehr dem Text als Untermauerung, sondern unterstützen oder widersprechen der Handlung aus ihrer eigenen Meinung heraus.[103] Weiterhin ist durch den Gesang eine Spiegelung von vorgeführter Handlung und Kommentierung des Geschehens möglich, wenn der Wechsel vom Vorgang zum lyrischen Vortrag nicht kaschiert, sondern deutlich gemacht wird. Damit kommt es zu einer
Kommentierung und Stellungnahme der Künste: das Lied resümiert die vorangegangene Handlung […], es kommentiert sie, es reflektiert sie; es ist nicht dazu da >Stimmung< zu verbreiten, es stellt vielmehr eine andere Haltung und ein anderes Verhalten aus, das in Korrespondenz und Konkurrenz zum dramatischen Geschehen tritt.[104]
Des Weiteren können mit den Liedern bestehende Widersprüche zwischen Handlung und Gedanken oder Emotionen und Einsichten der Figuren dargestellt werden. Diese halten den Zuschauer weiterhin dazu an, aktiv an den Vorgängen teilzunehmen und eine kritische Haltung einzunehmen. Brecht trennt die Lieder und Songs, die eine eigene Meinung verkörpern sollen, von der Musik und dem Bühnenbild[105]. Hiermit ergibt sich eine Trennung der Elemente. Damit kommt es nicht wie im Sinne Wagners zu einem Gesamtkunstwerk des Stücks, sondern zu der Darstellung eines Geschehens, zu dem jede Kunstform ihre eigene Meinung vertritt. Dadurch wird eine differenzierte Gesamtwirkung erreicht, die auch dem Zuschauer einen differenzierten Blick auf die Aufführung ermöglicht. Ein Auslassen von Liedern oder Songs bei Inszenierungen von Brechts Stücken würde also zu einer Verfälschung führen und einen wichtigen V-Effekt ausklammern.[106]
Ähnlich verhält es sich bei der Musik für die Stücke, die hauptsächlich in Zusammenarbeit mit den Komponisten Paul Dessau, Hanns Eisler und Kurt Weill entstand. Dabei wurde oft auf volkstümliche Melodien zurückgegriffen, welche sich weitgehend von proletarischer Tonkunst und offizieller Parteimusik der KPD unterschied. Durch die Verbindung moderner Musiktechniken und der Aneignung volkstümlicher Melodien werden Widersprüche deutlich, die als V-Effekt den Zweck erfüllen, den Zuschauer von der Illusion fernzuhalten. Ebenso wie bei den Liedern und Songs besitzt die Musik die Möglichkeit, die Handlung zu untermauern oder diese zu kommentieren, wobei sie selbstständig nach ihrer Meinung über die Vorgänge auf der Bühne agiert. Damit ordnet sie sich der Forderung Brechts nach einer Trennung der Elemente unter, wodurch gewährleistet ist, dass die Musik nicht zu bloßer Situationsmusik wie beispielsweise im Film verkümmert. Sie ist nicht dafür komponiert worden, um die Handlung nur zu untermalen oder das Wort unhörbar zu machen, sondern
das Wort soll verstehbar bleiben und also eine dramatische Funktion erfüllen, die Musik soll Selbstständigkeit haben, sich nicht dem Wort unterordnen, sondern ihm eine bestimmte Haltung (>Gestus<) verleihen, seine Bedeutung bewusst machen, kommentieren und relativieren.[107]
Auf diese Weise wird Musik nicht mehr dazu benutzt, Gefühlsregungen der Figuren zu stützen, sondern um auf einen gesellschaftlichen Gestus und somit auch auf ein politisches Verhalten hinzuweisen. Brecht empfindet daher die Tonkunst als ein dem Text gleichberechtigtes Element, das das Stück in seinem Fluss unterbricht und den vorgeführten Inhalt dialektisch in Frage stellt. Deswegen zerstört die Musik die immer wieder aufkommende Illusion aufgeführter Vorgänge, sodass der Zuschauer seinen fremden Blick und die kritische Haltung zu dem Inhalt des Stücks bewahren kann.[108]
Weitere V-Effekte lassen sich in den Regieanweisungen des Stückes finden. Beispielsweise kann der Schauspieler aufgefordert werden, das Publikum direkt anzusprechen. Dadurch wird den Theaterbesuchern nochmals deutlich gemacht, dass es sich um eine Aufführung handelt und die Person auf der Bühne ein Schauspieler ist. Zusätzlich können unvermittelte sprachliche Kontraste erzeugt werden, indem Zitate beispielsweise aus der Bibel in das Stück von einem Sprecher eingespeist oder rhythmisierte Verse gegen den gewohnten Rhythmus benutzt werden.[109] Weiterhin können Massenschicksale wie eine Hungersnot[110] durch die Ablösung von der zwanghaften Illusion eindrucksvoller und einfacher dargestellt werden, indem etwa Chöre auftreten oder eine Projektion deutlich macht, dass es sich bei dem gezeigten Vorgang keineswegs um ein Einzelschicksal handelt. Auch die Hauptprotagonisten werden nicht als allgemeingültige Wesen gekennzeichnet, sondern widersprüchlich charakterisiert. Es soll deutlich werden, dass ihr Verhalten von den sozialen Verhältnissen abhängig ist. Da diese Verhältnisse eine Änderung erfahren können, erkennt der Zuschauer, dass auch die Handlungsweise des Protagonisten änderbar ist. Dem Publikum werden dadurch neue Lösungsmöglichkeiten eines Problems angeboten, die er als Erkenntnis mit in die wirkliche Welt tragen kann.[111] Diese V-Effekte schlagen den Zuschauer aus dem Bann der Illusion heraus. Es wird eine Erkenntnis erweiternde Vorstellung möglich, die bereits im Dramenbau und in der Sprache von dem Autor angelegt ist.
3.3.3.2 V-Effekte in der Inszenierung
V-Effekte sind auch auf der Ebene der Inszenierung möglich. Ein wichtiger Faktor stellt dabei das Bühnenbild mit seinen verschiedenen künstlerischen Gelegenheiten dar. So ist ein V-Effekt, der zur Verfremdung genutzt werden kann, in dem epischen Mittel von Titeln und Inhaltsangaben zu finden. Diese werden dem Zuschauer meist durch Projektionen auf einer Leinwand oder dem Bühnenvorhang präsentiert. Häufig beinhalten diese Textprojektionen Informationen über den weiteren Verlauf des Stückes, sodass die Spannung aufgelöst wird und das Publikum sich auf die Art der Handlungsdarstellung, die Haltung der Handelnden sowie die Entscheidungen der Figuren konzentrieren kann. Weiterhin können die Textprojektionen dazu genutzt werden, die dramatische Darstellung zu kommentieren, die Theaterbesucher zur Reflexion über das gerade Gesehene aufzufordern oder ihnen Informationen über das dramatische Geschehen hinausgehende zukommen zu lassen, die die Handlung selbst nicht mitteilen kann.[112]
Des Weiteren sind die Titel oder Inhaltsangaben im Stande, Widersprüche zwischen Textaussage und Handlung hervorzurufen, die dafür sorgen, die Aufmerksamkeit des Zuschauers aufrecht zu erhalten und dessen kritischen Blick zu gewährleisten. Als V-Effekt erfüllt diese Literarisierung des Theaters ein Ziel gesellschaftlicher Art: Sie soll „dem Zuschauer helfen, seinen Geist frei und beweglich zu halten, damit er sich nicht in den dargestellten Vorgängen verliert, sondern sie übersehen kann“.[113]
Hieran wird deutlich, dass das epische Theater sehr wohl von den technischen Neuerungen seiner Zeit profitiert. Dennoch bleibt der Einsatz von Technik im Vergleich zu Piscator eher bescheiden. Brecht beschränkt sich hauptsächlich auf eine Projektion für Titel, Zwischentitel und Bühnenbilder oder auf kurze Filmeinspielungen. Dabei ist zu bemerken, dass die Technologie nicht dafür genutzt wird, um die Illusion zu verstärken, sondern um die Episierung der Bühne und somit die Verfremdung hervorzuheben.[114] Dies zeigt sich ebenfalls in der Benutzung von Beleuchtungstechnik. Das Epische Theater ist eindeutig gegen Beleuchtungseffekte, die eine bestimmte Art von Stimmung und Atmosphäre erschaffen.[115] Es will die Bühne in hellem Licht erscheinen lassen, um den Zuschauer daran zu erinnern, dass er sich in einem Theater befindet:
Gib uns doch Licht auf die Bühne, Beleuchter! […] Die schummrige Dämmerung/Schläfert ein./Wir aber brauchen der Zuschauer Wachheit, ja Wachsamkeit./Laß sie/In der Helle träumen![116]
Der Verzicht auf Beleuchtungseffekte macht es nötig, andere Mittel zur Anzeige von zeitlichen Veränderungen auf der Bühne zu verwenden. Dadurch entstehen nochmals V-Effekte, die den Zuschauer in die Wirklichkeit zurückholen. So wird etwa das Kommen der Nacht durch Requisiten wie einer Mondscheibe angedeutet, ohne dass die Intensität des Lichtes gedämpft wird. Um dem Publikum verstärkt zu verdeutlichen, dass diese sich in einem Theater befinden und die Vorstellung keine Widerspiegelung der Wirklichkeit ist, sollen die Lichtquellen selbst sichtbar bleiben.[117] Brecht begründet dies mit der Feststellung, dass bei einer Sportveranstaltung wie einem Boxkampf auch kein Besucher fordern würde, die Lampen zu verdecken.[118] Gleiches gilt für die Stellung der Musiker. Diese werden für jedermann sichtbar auf der Bühne platziert, da nicht versucht wird, eine Illusion zu schaffen.
Weitere V-Effekte ergeben sich aus der Art des Bühnenbaus. So wird bewusst auf Interieur und Atmosphäre verzichtet. Die Innenausstattungen sind meist nur angedeutet, müssen aber einen besonderen Zweck erfüllen: „Er [Der Bühnenbauer] verfährt dabei groß, ohne durch unwesentliches Detail oder Zierat von der Aussage abzulenken, die eine künstlerische und denkerische Aussage ist“.[119] Damit dürfen die Bühnengegenstände nicht nur ein Abklatsch der Wirklichkeit sein, sondern sie müssen auch verstanden werden. Dabei fällt dem Bühnenbild durch die Trennung der Elemente ebenso eine selbstständige Funktion wie den Liedern und der Musik zu. Es muss seine eigene Meinung über das Bühnengeschehen an den Zuschauer herantragen und somit historische und politische Erkenntnisse vermitteln.[120] Brecht kennzeichnet die Stellung des Bühnenbildes folgendermaßen:
Wie der Musiker seine Freiheit zurückbekommt, indem er nicht mehr Stimmungen schaffen muß, die es dem Publikum erleichtern, sich haltlos den Vorgängen auf der Bühne hinzugeben, so bekommt der Bühnenbildner viel Freiheit, wenn er beim Aufbau der Schauplätze nicht mehr die Illusion des Raumes oder einer Gegend erzielen muß. Da genügen Andeutungen, freilich müssen sie mehr geschichtlich oder gesellschaftlich Interessantes aussagen, als es die aktuale Umgebung tut.[121]
Damit einhergehend wird die Bühne zum Schauplatz von Widersprüchen, wobei sie sich im Theater nach Brecht „nicht mehr [als] >Die Bretter, die die Welt bedeuten< [darstellt] […], sondern [sich als] einen günstigen Ausstellungsraum“[122] offenbart. Dieses Zitat Benjamins schildert die Schlichtheit Brechtscher Bühnenbilder.
Ebenso wird in der Inszenierung der Vorhang eingesetzt. Brecht führt eine neue Variante in Form einer halbhohen, „leicht flatternden Gardine“[123] ein, die dem Publikum verdeutlicht, dass der Zuschauerraum mit der Bühne verbunden ist und nicht von ihr durch einen schweren Samtvorhang getrennt wird. Dadurch fühlt sich der Zuschauer nicht länger als ein ungern gesehener Voyeur, der ein Geschehen beobachtet, das eigentlich nicht für seine Augen bestimmt ist, sondern durch die Möglichkeit des Mitdenkens als aktiv beteiligter Besucher. Auch wenn Brechts Stücke häufig gänzlich ohne Vorhang gespielt werden, so verzichtet er dennoch nicht auf seine Gardine. Sie erfüllt für ihn noch einen zweiten Zweck, die Theaterbesucher sollen die Vorbereitungen der nächsten Szene bemerken. So bleibt sowohl Spannung vorhanden als auch die Arbeit der Bühnentechniker nicht verborgen. Damit besitzt die Gardine bei Brecht eine widersprüchliche Funktion:
Wie sie einerseits Bühne und Zuschauerraum verbindet, eine Beziehung zwischen beiden herstellt, so trennt sie andererseits auch Bühne und Zuschauerraum ab und macht bewusst, daß auf der Bühne ein eingeübtes Spiel agiert wird.[124]
Der Vorhang fungiert daher in beiden Richtungen als V-Effekt, indem er dem Publikum den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Kunst deutlich vor Augen hält.
[...]
[1] Esslin, Martin: Brecht. Das Paradox des politischen Dichters. Frankfurt am Main und Bonn 1962, S. 176 ff.
[2] Hill, Claude: Bertolt Brecht. München 1978, S. 64 f.
[3] Wekwerth, Manfred: Theater in Veränderung. Berlin 1960, S. 81.
[4] Bei diesem Stück ist die Gattungsfrage problematisch. Vgl. hierzu Kapitel 4.3.1.
[5] Leschig, Gregor/Lützenkirchen, H.-Georg: Der Volksbühnenpreis für politisches Theater. Hintergrund und Auswahlkriterien. Köln 2007, S. 3 f.
[6] Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG: Meyers Lexikon Online.
URL: http:/lexikon.meyers.de/meyers/Drama_(Sachbegriffe), 17.10.2007.
[7] Petsch, Robert: Wesen und Formen des Dramas. Allgemeine Dramaturgie. Halle 1945, S. 4.
[8] Hierauf wird in Kapitel 3.0 näher eingegangen.
[9] Petsch, Wesen und Formen, S. 4.
[10] Zit. in: Münz, Rudolf: Vom Wesen des Dramas: Umrisse einer Theater- und Dramentheorie. Halle 1964, S. 77.
[11] Vgl. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. 3. Aufl., München 1982, S. 30 f.
[12] Vgl. Spörl, Uwe: Basislexikon Literaturwissenschaftliche Terminologie. URL: http://www.fernuni-hagen.de/EUROL/termini/welcome.html, 16.10.2007.
[13] Vgl. Pfister, Das Drama, S. 30.
[14] Vgl. Schweikle, Günther/Schweikle, Irmgard (Hrsg.): Metzler-Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen. 2. überarb. Aufl., Stuttgart 1990, S. 191 f.
[15] gesprochene Repliken der Dramenfiguren. In: Pfister, Das Drama, S. 35.
[16] Sprachliche Textsegmente, die in der Bühnenrealisierung nicht gesprochen werden wie Dramentitel, Widmungsschriften, Personenverzeichnis, oder Bühnenanweisungen. In: Pfister, 1982, S. 35.
[17] Vgl. Geiger, Heinz/Haarmann, Hermann: Aspekte des Dramas. Opladen 1978, S. 7 f.
[18] Vgl. Geiger/Haarmann, Aspekte, S. 7 ff.
[19] Ebenda, S. 9.
[20] Vgl. Schmitt, Carl: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin 1963, S. 8.
[21] Ismayr, Wolfgang: Das politische Theater in Westdeutschland. 2. Aufl., Königstein/Ts. 1985, S. 9.
[22] Vgl. Ismayr, Das politische Theater, S. 9 ff.
[23] Vgl. Silberman, Marc: Die Tradition des politischen Theaters in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, 23-24/2006, S. 13.
[24] Vgl. Melchinger, Siegfried: Geschichte des politischen Theaters. Hannover 1971, S. 18.
[25] Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten. In: Theater der Zeit, Recherchen, 12. Berlin 2002, S. 17.
[26] Ebenda, S. 13.
[27] Vgl. Ismayr, Das politische Theater, S. 4.
[28] Lehmann, Das politische Schreiben, S. 14.
[29] Vgl. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. Conrad Höfer/Ludwig Geiger, Leipzig 1913, S. 408 ff.
[30] Kohlhase, Norbert: Dichtung und politische Moral. Eine Gegenüberstellung von Brecht und Camus. München 1965, S. 222.
[31] Mann, Thomas: Der Künstler und die Gesellschaft. In: Thomas Mann/Hans Buergin (Hrsg.): Werke. Das essayistische Werk. Taschenbuchausgabe in 8 Bänden. Bd 3, Frankfurt am Main 1968, S. 346.
[32] Vgl. Ismayr, Das politische Theater, S. 3 ff.
[33] Frisch, Max: Der Autor und das Theater. In: Max Frisch: Öffentlichkeit als Partner. Frankfurt am Main 1967, S. 70 ff.
[34] Vgl. Leschig/Lützenkirchen, Der Volksbühnenpreis, S. 6.
[35] Vgl. Silberman, Die Tradition, S. 13.
[36] Zit in: Ismayr, Das politische Theater, S. 4.
[37] Ebenda, S. 11.
[38] Vgl. Ibs, Torben: Theater und Politik. Versuch über die Kategorie des Politischen im und auf dem Theater. Leipzig 2004, S. 18.
[39] Ismayr, Das politische Theater, S. 4.
[40] Brecht, Bertolt: Gespräch auf der Probe. In: Siegfried Unseld (Hrsg.): Bertolt Brecht. Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik. Bd. 41, Frankfurt am Main 1957, S. 285.
[41] Vgl. Völker, Bertolt Brecht. Eine Biographie. München und Wien, S. 159.
[42] Brecht, Bertolt: Wer braucht eine Weltanschauung? In: Elisabeth Hauptmann in Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag (Hrsg.): Bertolt Brecht. Gesammelte Werke. Schriften zur Politik und Gesellschaft. Über eingreifendes Denken. Bd. 20, Frankfurt am Main 1967, S. 158.
[43] Vgl. Silberman, Die Tradition, S. 15.
[44] Brecht, Bertolt: Das Denken als ein Verhalten. In: Elisabeth Hauptmann in Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag (Hrsg.): Bertolt Brecht. Gesammelte Werke. Schriften zur Politik und Gesellschaft. Über eingreifendes Denken. Bd. 20, Frankfurt am Main 1967, S. 168.
[45] Brecht, Bertolt: Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. (1930) In: Elisabeth Hauptmann in Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag (Hrsg.): Gesammelte Werke. Schriften zum Theater 3. Bd. 17, Zürich 1975, S. 1016.
[46] Vgl. Hecht, Werner/Bunge, Hans-Joachim/Rülicke-Weiler, Käthe: Bertolt Brecht. Sein Leben und Werk. Westberlin 1969, S. 278 ff.
[47] Ebenda, S. 282.
[48] Brecht, Bertolt: Über experimentelles Theater. In: Werner Hecht (Hrsg.): Bertolt Brecht. Über experimentelles Theater. Frankfurt am Main 1970, S. 103.
[49] Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater. In: Elisabeth Hauptmann in Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag (Hrsg.): Bertolt Brecht. Gesammelte Werke. Schriften zum Theater 2, Bd. 16. Zürich 1975, S. 662.
[50] Ebenda, S. 663.
[51] Esslin, Brecht, S. 186 f.
[52] Brecht, Bertolt: Die Dialektik auf dem Theater. In: Elisabeth Hauptmann in Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag (Hrsg.): Bertolt Brecht. Gesammelte Werke. Schriften zum Theater. Bd. 16, Zürich 1975, S. 927.
[53] Vgl. Esslin, Brecht, S. 211.
[54] Brecht, Die Dialektik auf dem Theater. S. 924.
[55] Vgl. Knopf, Jan: Brecht-Handbuch. Theater. Eine Ästhetik der Widersprüche. Stuttgart 1986, S. 465 f.
[56] Vgl. Hecht/Bunge/Rülicke-Weiler, Bertolt Brecht, S. 323.
[57] Vgl. Esslin, Brecht, S. 176 ff.
[58] Brecht, Gespräch auf der Probe, S. 285.
[59] Esslin, Brecht, S. 178.
[60] Vgl. Knopf, Brecht-Handbuch, S. 417 f.
[61] Vgl. Esslin, Brecht, S. 178 f.
[62] Vgl. Hill, Bertolt Brecht, S. 153 f.
[63] Hecht, Werner: Brechts Weg zum epischen Theater. Beitrag zur Entwicklung des epischen Theaters 1918 bis 1933. Berlin 1962, S. 11 ff.
[64] Vgl. Esslin, Brecht, S. 179.
[65] Vgl. Knof, Brecht-Handbuch, S. 386.
[66] Vgl. Haarmann, Herrmann/Walach, Dagmar: Brechts Theater – Theater als Wissenschaft. In: Reiner Steinweg: Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussionen, Erfahrungen. Frankfurt am Main 1976, S. 261.
[67] Brecht, Kleines Organon, S. 667.
[68] Vgl. Hill, Bertolt Brecht, S. 152 ff.
[69] Vgl. Ismayr, Das politische Theater, 21 ff.
[70] Vgl. Piscator, Erwin: Das politische Theater. In: Ders.: Erwin Piscator. Theater der Auseinandersetzung. Ausgewählte Schriften und Reden, S. 13 f.
[71] Eine genauere Erläuterung der Lehrstücktheorie nimmt Kapitel 4.1.1 vor.
[72] Vgl. Mittenzwei, Werner: Die Spur der Brechtschen Lehrstück-Theorie. Gedanken zur neueren Lehrstück-Interpretation. In: Reiner Steinweg (Hrsg.): Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussionen, Erfahrungen. Frankfurt am Main 1976, S. 228 f.
[73] Hill, Bertolt Brecht, S. 60.
[74] Vgl. Völker, Bertolt Brecht, S. 129 ff.
[75] Vgl. Hecht/Bunge/Rülicke Weiler, Bertolt Brecht, S. 280 ff.
[76] Vgl. ebenda, S. 330.
[77] Vgl. ebenda, S. 297.
[78] Vgl. Esslin, Brecht, S. 181 ff.
[79] Vgl. Knopf, Brecht-Hanbuch, S. 394 f.
[80] Hauptmann, Elisabeth: Notizen über Brechts Arbeit 1926. In: Sinn und Form. 2. Sonderheft Bertolt Brecht. S. 243.
[81] Piscator behauptet Urheber dieses Ausdrucks zu sein. Diese Auffassung wird jedoch von Jan Knopf widerlegt. Vor allem für die Meinung Knopfs spricht die Tatsache, dass der Begriff des Epischen bei Piscator dem des ,,dramatischen Romans“ gleichgestellt wird. Näheres dazu, siehe: Knopf, Brecht-Handbuch, S. 394 f.
[82] allgemeinste Sammelbezeichnung für jede Art fiktiver Erzählung in Versen oder Prosa, eine der literarischen Grundgattungen, von der neueren Poetik im Anschluss an Goethe […] oft eingestuft als die mittlere der drei >Naturformen der Poesie<, als die klar erzählende […]. In: Schweikle/ Schweickle, Metzler Literatur Lexikon. Begriffe, S. 128.
[83] Esslin, Brecht, S. 184.
[84] Knopf, Brecht-Handbuch, S. 396.
[85] Die Gegenüberstellung der Merkmale „Dramatische Form des Theaters“ und „Epische Form des Theaters“ findet sich im Anhang dieser Diplomarbeit.
[86] Brecht, Anmerkungen zur Oper, S. 1009.
[87] Hill, Bertolt Brecht, S. 153 ff.
[88] Kopf, Brecht-Handbuch, S. 396.
[89] Vgl. Knopf, Brecht-Handbuch, S. 394 ff.
[90] Vgl. Hill, Bertolt Brecht, S. 152 f.
[91] Vgl. Brecht, Kleines Organon, S. 678.
[92] Knopf, Brecht-Handbuch, S. 386.
[93] Vgl. Gerz, Raimund: Bertolt Brecht und der Faschismus. In den Parabelstücken „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“, „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ und „Turandot oder der Kongreß der Weißwäscher“. Rekonstruktion einer Versuchsreihe. Bonn 1983, S. 36.
[94] Karasek, Hellmuth: Bertolt Brecht. Der jüngste Fall eines Theaterklassikers. München 1978, S. 105.
[95] Vgl. Schweikle/Schweikle, Metzler, S. 486.
[96] Vgl. Haarmann/Wallach, Brechts Theater, S. 261 f.
[97] Vgl. Rülicke-Weiler, Käthe: Die Dramaturgie Brechts. Theater als Mittel der Veränderung. Westberlin 1966, S. 57.
[98] Vgl. Esslin, Brecht, S. 188.
[99] Claas, Herbert: Die politische Ästhetik Bertolt Brechts vom Baal zum Caesar. Frankfurt am Main 1977, S. 50.
[100] Vgl. Knopf, Brecht-Handbuch, S. 397.
[101] Vgl. Knopf, Brecht-Handbuch, S. 397.
[102] Vgl. ebenda, S. 390.
[103] Vgl. Hecht/Bunge/Rülicke-Weiler, Bertolt Brecht, S. 285 f.
[104] Knopf, Brecht-Handbuch, S. 390.
[105] Nähere Erläuterung in Kapitel 3.3.3.2
[106] Vgl. Knopf, Brecht-Handbuch, S. 390 f.
[107] Ebenda, S. 391.
[108] Vgl. Esslin, Brecht, S. 189.
[109] Vgl. Schweikle/Schweikle, Metzler, S. 486.
[110] Bei einer Inszenierung von „Mutter Courage“ wurde Statistiken über vorhandene Ressourcen und benötigte Ressourcen auf die Bühne projiziert.
[111] Vgl. Esslin, Brecht, S. 167 ff.
[112] Vgl. Knopf, Brecht-Handbuch, S. 396 f.
[113] Hecht/Bunge/Rülicke-Weiler, Bertolt Brecht, S. 294.
[114] Vgl. Knopf, Brecht-Handbuch, S. 397 f.
[115] Vgl. Brecht, Bertolt: Die Sichtbarkeit der Lichtquellen. In: Siegfried Unseld (Hrsg.): Bertolt Brecht. Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik, Bd. 41, Frankfurt am Main, S. 261.
[116] Brecht, Bertolt: Die Beleuchtung. In: Siegfried Unseld (Hrsg.): Bertolt Brecht. Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik. Bd. 41, Frankfurt am Main, S. 260 f.
[117] Vgl. ebenda, S. 262.
[118] Vgl. Esslin, Brecht, S. 199 f.
[119] Brecht, Bertolt: Der Bühnenbau des epischen Theaters. In: Siegfried Unseld (Hrsg.): Bertolt Brecht, Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik. Bd. 41, Frankfurt am Main, S. 257.
[120] Vgl, Hecht/Bunge/Rülicke-Weiler, Bertolt Brecht, S. 289 ff.
[121] Brecht, Kleines Organon, S. 697 f.
[122] Benjamin, Walter: Was ist das epische Theater? Eine Studie zu Brecht. In: Walter Benjamin/Rolf Tiedemann (Hrsg.): Versuche über Brecht. 3. Aufl., Frankfurt am Main 1971, S. 8.
[123] Brecht, Bertolt: Die Vorhänge. In: Siegfried Unseld (Hrsg.): Bertolt Brecht. Schriften zum Theater. Über eine nicht aristotelische Dramatik. Bd. 41, Frankfurt am Main, S. 260.
[124] Knopf, Brecht-Handbuch, S. 399.
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- Maria-Carina Holz (Author), 2007, Politische Dramen Bertolt Brechts, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87561
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