Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland nicht in gleichem Maße gesundheitlich gefährdet sind, sondern die Herkunft und der soziale Status wesentlich über die Höhe des gesundheitlichen Risikos mitbestimmen. Es fehlt in Deutschland bisher sowohl an spezifischen Programmen als auch an Studien, die sich differenziert mit den Wirkungen und der Durchführbarkeit der Programme unter Berücksichtigung der sozialen Lage der Kinder und ihrer Herkunft beschäftigt haben.
Anliegen dieser Arbeit ist es deshalb, die Notwendigkeit einer zielgruppenspezifischen Ausrichtung von schulischen Gesundheitsförderungs- und Präventionsprogrammen, insbesondere für sozial benachteiligte Kinder, nachzuweisen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich daher mit Aspekten der schulischen Gesundheitsförderung und Suchtprävention an Grundschulen in sozialen Brennpunkten. Dabei ist auch zu hinterfragen, ob allen Kindern in gleichem Maße ein niedrigschwelliger Zugang zu den zahlreichen Angeboten möglich ist, oder ob Kinder in sozial deprivierten Lebenslagen, die in besonderer Weise eine Förderung ihrer Gesundheit und den Schutz vor Gesundheitsrisiken benötigen, möglicherweise aufgrund zu hoher Zugangsbarrieren nicht die notwendige Förderung erhalten oder die Förderungsmaßnahmen wegen einer unspezifischen Programmkonzeption ihr Ziel gar nicht erreichen können.
Im Rahmen einer empirischen Untersuchung wird der Versuch unternommen, an ausgewählten Grundschulen in einem sozialen Brennpunkt des Ortsteils Wedding, einem der am meisten sozial belasteten Stadtteile Berlins, die Eignung eines Lebenskompetenzförderungsprogramms für diese Zielgruppe zu überprüfen. Dabei sollen Probleme und Schwachstellen bei der Implementierung des Programms an den Schulen aufgedeckt und der Grad der Konzepttreue erhoben werden, da davon maßgeblich die Programmwirksamkeit beeinflusst wird.
INHALTSVERZEICHNIS
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Ungleiche Chancenverteilung im Kindes- und Jugendalter
2.1.1 Soziale Benachteiligung
2.1.2 Gesundheitliche Benachteiligung
2.1.3 Benachteiligung im deutschen Schulsystem
2.2 Theoretische Aspekte primärer Suchtprävention
2.2.1 Zum Drogen- und Suchtbegriff
2.2.2 Substanzmissbrauch im Kindes- und Jugendalter
2.2.2.1 Zur Dimension des gesundheitlichen Problems
2.2.2.2 Substanzmissbrauch als Entwicklungsaufgabe
2.2.3 Zur Entwicklung und Praxis der Suchtprävention
2.2.4 Primäre Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter
2.2.5 Das Konzept der Lebenskompetenzförderung
2.2.5.1 Begriffsklärung und Einordnung
2.2.5.2 Das Programm „Klasse2000“
2.3 Kompetenzentwicklung im Kindes- und Jugendalter
2.3.1 Grundlegende Kompetenzen
2.3.1.1 Soziale Kompetenz
2.3.1.2 Selbstkompetenz
2.3.1.3 Sach- und Methodenkompetenz
2.3.2 Kompetenzförderung in Familie und Gleichaltrigengruppe
2.4 Die Grundschule als Ort für Gesundheitsförderung und Suchtprävention
2.4.1 Die Grundschule als Bildungsinstitution
2.4.1.1 Die Grundschule von heute – zwischen Anspruch und Wirklichkeit
2.4.1.2 Unterrichtsmethoden
2.4.1.3 Lehrerkompetenzen
2.4.2 Gesundheitsförderung und Primärprävention im Setting Schule
2.5 Forschungsstand zur Wirksamkeit von Lebenskompetenzprogrammen
3 Methodik der empirischen Untersuchung
3.1 Untersuchungsgegenstand
3.2 Untersuchungsziele
3.3 Untersuchungsdesign
3.4 Begründung des Untersuchungsansatzes
3.5 Untersuchungsplan
4 Vorstudie
4.1 Methodisches Vorgehen
4.2 Untersuchungsgebiet
4.3 Untersuchungsfeld/-population
4.4 Erhebungsinstrumente
4.4.1 Gruppengespräche
4.4.2 Telefoninterview/Telefonische Befragung
4.4.3 Nicht-teilnehmende Beobachtungen
4.4.4 Reflexionsjournale
4.5 Auswertung der Vorstudie
4.6 Ergebnisse der Vorstudie
4.6.1 Gruppengespräche
4.6.2 Telefoninterview/Telefonische Befragung
4.6.3 Nicht-teilnehmende Beobachtungen
4.6.4 Reflexionsjournale
4.6.5 Schlussfolgerungen der Vorstudie
4.7 Arbeitshypothesen
5 Leitfadengestützte Experteninterviews
5.1 Forschungsfragen
5.2 Operationalisierung
5.3 Durchführung der Experteninterviews
5.4 Auswertung der Experteninterviews
6 Ergebnisse der Experteninterviews
6.1 Individuelle Gesundheitseinstellungen
6.2 Gesundheitsförderung und Suchtprävention - Rolle der Grundschule
6.3 Persönliche Erfahrungen mit „Klasse2000“
6.4 Konkrete Programmumsetzung
6.5 Zusammenarbeit mit den Gesundheitsförderern
7 Diskussion der Ergebnisse
7.1 Inhaltliche Diskussion
7.2 Diskussion der Konzepte einer ’gesundheitsfördernden Schule’
7.3 Thesen
7.4 Empfehlungen
7.5 Methodendiskussion
8 Fazit
Anhangverzeichnis
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Die 12 Kriterien der WHO für eine gesundheitsfördernde Schule
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Anteil Schüler/innen nichtdeutscher Herkunftssprache
Tabelle 2: Nichtdeutsche Schüler/innen nach Nationalität
Tabelle 3: Ausgewählte unterrichtsrelevante Lehrerkompetenzen nach Kempfert
Tabelle 4: Darstellung der Operationalisierung der Beobachtung
Tabelle 5: Übersicht über die Zusammensetzung der beobachteten Klassen
Tabelle 6: Darstellung der Interviewverläufe
Tabelle 7: Übersicht über die berufliche Tätigkeit der interviewten Lehrkräfte
1 Einleitung
Im Rahmen der aktuell intensiv geführten Diskussion über „Flatrate“-Partys und restriktivere Maßnahmen gegen den exzessiven Alkoholmissbrauch unter Jugendlichen oder die Verbesserung des Nichtraucherschutzes durch ein Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen wird deutlich, dass in der deutschen Gesellschaft zwar einerseits ein großes Gesundheitsbewusstsein vorherrscht, andererseits aber starke wirtschaftliche, politische und lobbyistische Interessen einem umfänglichen Gesundheitsschutz entgegen stehen. Der Konsum legaler Drogen wie Alkohol und Tabak ist in Deutschland überwiegend gesellschaftlich akzeptiert. Hinsichtlich des Tabakkonsums scheint sich langsam ein gesellschaftlicher Wandel zu vollziehen, jedoch sollten Erfolgsmeldungen über die Verringerung des Tabakkonsums von Jugendlichen (vgl. BZgA 2004a) nicht überbewertet werden, denn neue „Einstiegsdrogen“ wie die Wasserpfeife sind dabei, sich unter den Kindern und Jugendlichen zu etablieren (vgl. Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg 2007, BZgA 2007). Darüber hinaus ist der Konsum alkoholischer Getränke über alle Bevölkerungsschichten hinweg fester Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenlebens. So findet sich kaum eine Feier in der Familie, im Freundeskreis, im Kindergarten, in der Schule, am Arbeitsplatz oder im Sportverein, bei der auf Alkohol verzichtet wird; kein Kinderfußballturnier findet ohne Alkohol trinkende und Zigaretten rauchende Eltern am Spielfeldrand statt. Da politisch nur bedingt der Wille dazu vorhanden ist, das Recht des Einzelnen zur freien Entfaltung seiner Person zugunsten der Allgemeinheit und insbesondere der Kinder weiter einzuschränken, besteht die einzige Chance, dieser Tatsache die Selbstverständlichkeit zu nehmen, in einer gesundheitsbewussten Beeinflussung nachfolgender Generationen durch Aufklärung, Toleranz und Förderung der Lebenskompetenz. Die entsprechenden Maßnahmen müssen sehr frühzeitig ansetzen und von Nachhaltigkeit geprägt sein.
Auch wenn die Infektionskrankheiten weitestgehend unter Kontrolle sind und chronische Erkrankungen im Kindesalter noch keine bedeutende Rolle spielen, ist darauf hinzuweisen, dass sich dort bereits Probleme „in den Schnittbereichen zwischen psychischen und körperlichen Anforderungen auf der einen Seite und sozialen und psychischen Umweltbedingungen auf der anderen Seite“ (Hurrelmann et al. 2003: 1) ergeben, wodurch die zunehmende Morbidität im Erwachsenenalter begünstigt wird. Der Gesundheitsstatus der Kinder und Jugendlichen lässt bei einer objektiven Beurteilung bereits erhebliche Defizite erkennen, sodass die gesundheitliche Situation der vermeintlich gesündesten Bevölkerungsgruppe „Anlass zur Unruhe“ (ebd.) gibt.
Kinder und Jugendliche gelten deshalb seit geraumer Zeit zu Recht als Hauptzielgruppe gesundheitsfördernder und primärpräventiver Maßnahmen, womit der bereits 1993 durch die damalige Bundesregierung formulierten programmatischen Forderung nach einer Prioritätensetzung bei der Gesundheitsaufklärung und Gesundheitsförderung Rechnung getragen wird (vgl. BZgA 1998). Von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird für den Einsatz der notwendigen präventiven und gesundheitsfördernden Maßnahmen der Setting-Ansatz empfohlen. Für die Arbeit mit Kinder bietet sich neben dem Kindergarten dabei insbesondere die Grundschule als geeignetes Setting an (vgl. u. a. Kickbusch 2003; Rosenbrock/Gerlinger 2004).
Die besten Präventionserfolge sollen Programme erzielen, die auf der Grundlage der Empfehlungen der WHO auf dem handlungsorientierten Konzept der Lebenskompetenz-förderung beruhen (vgl. Botvin/Kantor 2000; Hanewinkel 2003; Maiwald/Reese 2000; Rooney/Murray 1996).
Zunehmend setzt sich jedoch auch die Erkenntnis durch, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland nicht in gleichem Maße gesundheitlich gefährdet sind, sondern die Herkunft und der soziale Status wesentlich über die Höhe des gesundheitlichen Risikos mitbestimmen (vgl. u. a. Butler 2001, Delekat 2003, Klocke/ Lampert 2005, Lampert et al. 2005, Meinlschmidt 2006, Pochobradsky/Habl/Schleicher 2002, RKI 2006). Demnach sind Kinder unterer sozialer Schichten tendenziell mehr Belastungen ausgesetzt als andere Kinder, was sowohl auf das in der Regel schlechtere Wohnumfeld, in dem sie aufwachsen, als auch in ungesünderen Verhaltensweisen sowie in ihren z. T. geringeren Ressourcen bzw. Bewältigungsstrategien begründet liegt (SVR 2005).
Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse finden jedoch noch nicht ausreichend Niederschlag bei der Schwerpunktsetzung der Gesundheitsförderung und Primärprävention. Durch spezifische Forschungsarbeiten zur Gesundheitsförderung und Suchtprävention in sozialen Brennpunkten konnte nachgewiesen werden, dass für Kinder und Jugendliche in diesen Gebieten „gezielt ausgerichtete Curricula bzw. Suchtpräventionsstrategien bisher kaum erprobt und evaluiert“ sind (Hemme/Schwarz/Dinkelacker 2006).
Es fehlt in Deutschland bisher sowohl an spezifischen Programmen als auch an Studien, die sich differenziert mit den Wirkungen und der Durchführbarkeit der Programme unter Berücksichtigung der sozialen Lage der Kinder und ihrer Herkunft beschäftigt haben (vgl. auch Bühler/Heppekausen 2005).
Anliegen dieser Arbeit ist es deshalb, die Notwendigkeit einer zielgruppenspezifischen Ausrichtung von schulischen Gesundheitsförderungs- und Präventionsprogrammen, insbesondere für sozial benachteiligte Kinder, nachzuweisen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich daher mit Aspekten der schulischen Gesundheitsförderung und Suchtprävention an Grundschulen in sozialen Brennpunkten. Dabei ist auch zu hinterfragen, ob allen Kindern in gleichem Maße ein niedrigschwelliger Zugang zu den zahlreichen Angeboten möglich ist, oder ob Kinder in sozial deprivierten Lebenslagen, die in besonderer Weise eine Förderung ihrer Gesundheit und den Schutz vor Gesundheitsrisiken benötigen, möglicherweise aufgrund zu hoher Zugangsbarrieren nicht die notwendige Förderung erhalten oder die Förderungsmaßnahmen wegen einer unspezifischen Programmkonzeption ihr Ziel gar nicht erreichen können.
Im Rahmen einer empirischen Untersuchung wird der Versuch unternommen, an ausgewählten Grundschulen in einem sozialen Brennpunkt des Ortsteils Wedding, einem der am meisten sozial belasteten Stadtteile Berlins (vgl. Meinlschmidt 2004), die Eignung eines Lebenskompetenzförderungsprogramms für diese Zielgruppe zu überprüfen. Gegenstand der empirischen Untersuchung ist die konkrete Umsetzung des Programms zur Gesundheitsförderung und Suchtvorbeugung in der Grundschule „Klasse2000“ an drei Grundschulen im Quartiersmanagementgebiet A (nachträglich anonymisiert). Dabei sollen Probleme und Schwachstellen bei der Implementierung des Programms an den Schulen aufgedeckt und der Grad der Konzepttreue erhoben werden, da davon maßgeblich die Programmwirksamkeit beeinflusst wird.
„Klasse2000“ gilt als das größte Programm seiner Art in Deutschland und erstreckt sich über einen Zyklus von vier Jahren (1.-4. Klassenstufe). Das suchtpräventive Programm ist ausgerichtet auf die Entwicklung der persönlichen und sozialen Lebenskompetenzen sowie die Stärkung der Persönlichkeit und des Selbstwertgefühls der Kinder. Des Weiteren soll es zur Entwicklung einer positiven Einstellung zur Gesundheit beitragen, damit die Kinder in die Lage versetzt werden, selbst Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen und Süchten jedweder Art zu widerstehen (vgl. Verein Programm Klasse2000 e.V.).
Im Vorfeld der konkreten Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand sind zum besseren Verständnis des Problemhintergrunds und der Ziele der Arbeit noch einige theoretische Vorbetrachtungen notwendig.
Im Kapitel 2.1 soll erörtert werden, in welchem Ausmaß die eingangs unterstellte unterschiedliche Belastungssituation und ungleiche Chancenverteilung eigentlich tatsächlich bestehen und welche Auswirkungen das für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit sich bringt. Es sollen potenzielle Hauptzielgruppen für präventive Maßnahmen identifiziert und der zielgruppenspezifische Handlungsbedarf nachgewiesen werden. Entsprechend dem suchtpräventiven Schwerpunkt des zu untersuchenden Pogramms „Klasse2000“ beschäftigt sich das Kapitel 2.2 mit der Praxis der primären Suchtprävention und geht in diesem Zusammenhang auf die Gefahren des Drogen-konsums, das Risikoverhalten von Kindern und Jugendlichen im Entwicklungsprozess und die Bedeutung von Suchtprävention ein. Darüber hinaus werden das Suchtpräventions-konzept des „Life-Skills“-Ansatzes und das Programm „Klasse2000“ vorgestellt. Um ein besseres Verständnis des „Life-Skills“-Ansatzes herzustellen, wird im Kapitel 2.3 auf die zu fördernden Kompetenzen und die in diesem Zusammenhang wichtigsten Einfluss-faktoren und Sozialisationsbeziehungen näher eingegangen. Kapitel 2.4 stellt die Grundschule als einen besonders geeigneten Ort für Gesundheitsförderung und primäre Suchtprävention mit ihren Aufgaben und Möglichkeiten in das Zentrum. Eingegangen wird dabei auch auf die methodische Gestaltung von Unterricht und die besondere Rolle der Lehrkraft als wichtige, für Kinder in sozial benachteiligten Lebenslagen vielleicht wichtigste, „Förderin“ von Lebenskompetenzen. Im Kapitel 2.5 wird der Forschungsstand zur Wirksamkeit der Lebenskompetenzprogramme diskutiert und daraus der Auftrag und der Bedarf für die empirische Untersuchung abgeleitet. Der Vorstellung der Zielstellungen und der Methodik der empirischen Untersuchung im Kapitel 3 schließt sich die Darstellung des methodischen Vorgehens im Rahmen der explorativen Vorstudie und deren Ergebnisse an. Aus diesen Ergebnissen werden Arbeitshypothesen abgeleitet, die die Grundlage zur Formulierung der Forschungsfragen für die Experteninterviews bilden. Im Kapitel 5 wird das methodische Vorgehen bei der Planung, Durchführung und Auswertung der leitfadengestützten Experteninterviews beschrieben, der sich die Darstellung und anschließende Diskussion der Ergebnisse anschließt. Im Rahmen der Beantwortung der Forschungsfragen werden auf der Grundlage der empirischen Ergebnisse Thesen aufgestellt, die bei der Erarbeitung und Implementierung gesundheitsfördernder und primärpräventiver Maßnahmen im Setting Grundschule Berücksichtigung finden sollten. Eine quantitative Überprüfung dieser (Hypo)Thesen ist durchaus gewünscht. Die Thesen dienen auch dazu, Empfehlungen für die Programminitiatoren und interessierte Lehrkräfte zu geben.
Am Schluss wird mit einem Fazit der Erkenntnisgewinn der Arbeit zusammenfassend dargestellt.
2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Ungleiche Chancenverteilung im Kindes- und Jugendalter
Bevor eine eingehende Auseinandersetzung mit den möglichen und erforderlichen Maßnahmen zur Prävention gesundheitsgefährdenden Verhaltens möglich ist, sollten die Lebensbedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche heute aufwachsen, analysiert werden. Im Kontext dieser Arbeit wird es als notwendig angesehen, eben nicht nur auf die Verhaltensdimension einzugehen, sondern in stärkerem Maße auch auf die Verhältnisse, in denen die Entwicklungsprozesse und die Herausbildung von Verhaltensweisen stattfinden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht alle Kinder und Jugendlichen über gleiche Chancen in ihrem Entwicklungsprozess verfügen. Die Benachteiligungen erstrecken sich dabei vom sozialen über den gesundheitlichen bis zum Bildungsbereich und bedingen in der Regel einander. Da sich eine echte Chancengleichheit im Erwachsenenalter nicht mehr herstellen lässt, sollte dieses Problem so früh wie möglich Beachtung finden.
Die Thematisierung einer zielgruppenspezifischeren Ausrichtung von Gesundheits-förderungs- und Präventionsangeboten in der Grundschule ist vor allem vor dem Hintergrund relevant, dass sich in Großstädten wie Berlin zunehmend Gebiete entwickeln, in denen die sozialen und gesundheitlichen Probleme konzentriert auftreten und die üblicherweise vorhandene soziale Heterogenität der Einwohnerschaft verloren gegangen ist (vgl. u. a. Meinlschmidt 2004). Die Grundschulen in diesen so genannten sozialen Brennpunkten haben es aufgrund des Prinzips der wohnortnahen Versorgung daher mit einer sehr homogenen und überdurchschnittlich sozial benachteiligten Schülerschaft, geprägt durch einen überproportional hohen Migrantenanteil und somit anderen Problemen zu tun als Schulen mit intakten Einzugsgebieten (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport, Kap. 4.3).
Mit den nachfolgenden theoretischen Erörterungen sollen daher die Dimensionen der Benachteiligung von Kindern erörtert und die Hauptzielgruppen für präventive Maßnahmen identifiziert werden, um den Handlungsbedarf zu belegen.
Um Benachteiligungen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und soziale Ungleichheit belegen zu können, bedient man sich gewöhnlich des Indikators „sozio-ökonomischer Status“ oder auch „Sozialstatus“. Für Kinder wird dieser zumeist über die Ausbildung, den beruflichen Status und/oder das Einkommen der Eltern definiert, da sie noch keine abgeschlossene Ausbildung und keinen Beruf vorweisen können und keinen oder nur einen unbedeutenden Beitrag zum Haushaltseinkommen leisten (Mielck 2000).
2.1.1 Soziale Benachteiligung
Die Lebensbedingungen unter denen Kinder aufwachsen sind heute vielfältiger denn je und können unter bestimmten Umständen zur Belastung werden und die Entwicklung negativ beeinflussen. So ergeben sich für viele Kinder Belastungen aus der kurzzeitigen oder längerfristigen Arbeitslosigkeit der Eltern, der Tatsache, dass sich die Eltern scheiden lassen oder bei Migranten u. U. aus einer sehr traditionsbewussten Erziehung im Elternhaus (vor allem bei Mädchen). Während in den Medien Bilder von „materiellem Überfluss“, einer „Vervielfachung der Bildungsangebote“ und der „Machbarkeit von Karrieren“ präsentiert werden, wächst die Zahl derer, die unter Armut, Perspektivverlust und Ohnmacht leiden (Hauck-Bühler 2004, 431). Für viele Kinder bedeutet das eine Beeinträchtigung der Bildungschancen und eine Einschränkung der Lebensperspektiven. Der vielfach propagierte „Schonraum für Entwicklung und eine differenzierende Förderung“ (ebd.) existiert nahezu nicht. Kindliches Leben in unserer Gesellschaft wird daher „immer unkindlicher“ (ebd.).
Unbestritten gilt als sozial benachteiligt, wer arm ist. Nach der heute wohl gebräuchlichsten Armutsdefinition gelten Einzelpersonen, Familien und Haushalte als arm, „die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“ (Butterwegge et al. 2004: 17). Das bedeutet „die Ausgrenzung von einem als Minimum akzeptierten Lebensstandard“ (ebd.). Die Marke von 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens wurde in der Europäischen Union mittlerweile verbindlich als Armutsschwelle festgelegt.
In Auswertung der für Deutschland verfügbaren Zahlen über Armutsquoten lässt sich feststellen, dass vor allem die Quote armer Kinder deutlich angestiegen ist. Die Quote für Frauen im Alter zwischen 18 und 40 Jahren, also in der Phase der Kinderbetreuung, ist fast doppelt so hoch wie die von Männern. Beziehen die Mütter Sozialhilfe, so gilt das selbstverständlich auch für die Kinder (Beisenherz 2002: 30 ff). Laut Klocke und Lampert (2005: 9) waren im Jahr 2002 13-20% der unter 18-Jährigen in den alten und 15-17% in den neuen Bundesländern durch Armut bedroht.
Auch wenn die Zahlen zur Kinderarmut in Deutschland stark differieren, so ist es unbestritten, „dass sich die relative ökonomische Situation einer wachsenden und quantitativ beachtlichen Anzahl von Kindern in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren deutlich verschlechtert hat“ (a.a.O.: 34). Als direkt oder indirekt Betroffene sind Kinder die zentrale Personengruppe in der neuen Armutsdiskussion.
Die Folgen kindlicher Armutserfahrungen sind noch nicht umfassend bekannt. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass u. a. „die Selbstachtung als Grundgut sozialer Gerechtigkeit“ tangiert ist und unter den Bedingungen sozialer Ungleichheit die Bildungs- bzw. Chancengleichheit leiden (Butterwegge et al. 2004: 35). Die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern armer Menschen werden in drastischer Weise beschnitten (Balluseck 2002).
Die Kinderarmutsdiskussion wurde durch die Formulierung der Millenniumsziele, die auf dem so genannten UN-Millenniumsgipfel der Staats- und Regierungschefs im September 2000 beschlossen wurden, neu belebt. Fünf der acht Entwicklungsziele beziehen sich direkt auf die Verbesserung der Lage von Kindern oder nutzen kindbezogene Indikatoren (a.a.O. 51f). Das im Kontext dieser Arbeit vorrangig zu betrachtende Ziel lautet: „universelle Grundschulbildung erreichen“.
In den kontinentalen Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland konzentriert sich die Armut vor allem auf Familien mit Kindern und hier vor allem auf Alleinerziehende und ihre Kinder. Die wachsende Zahl allein erziehender Frauen ist eine der markantesten demografischen Veränderung in Deutschland. Mütterhaushalten fehlt häufig ein zweites Einkommen, um die Haushaltskosten decken zu können. Während lediglich 10 % der Frauen mit Kindern 1996 voll erwerbstätig waren, lag die Quote bei Frauen ohne Kinder bei 39,1%. Kinderbetreuung und Vollzeitbeschäftigung sind noch immer nicht in ausreichendem Maße miteinander vereinbar (Beisenherz.2002: 54f).
Im Jahr 2003 war jeder vierte Haushalt von allein erziehenden Müttern von Sozialhilfe abhängig (Klocke/Lampert 2005: 10, vgl. auch Butterwegge et al. 2004). In Berlin erhöhte sich der Anteil Alleinerziehender mit Kindern unter 18 Jahren zwischen 1999 und 2004 von 37% auf 46% (Quelle: Statistisches Landesamt Berlin – Mikrozensus 2004).
Eine künftig noch stärker zu beachtende von Armut bedrohte Gruppe stellen Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund dar. Das Sozialhilferisiko ausländischer Kinder im Vergleich zu Kindern mit deutscher Nationalität war 2003 in Deutschland mehr als doppelt so hoch (Klocke/Lampert 2005: 10).
Familiäre und kindliche Armutslagen sind jedoch nicht allein durch das Einkommens-niveau, sondern auch durch die Wohnsituation, den Bildungsstatus der Eltern, die soziale Eingebundenheit oder Isoliertheit der Familie, Erwerbslosigkeit oder eine prekäre Erwerbssituation geprägt. Darüber hinaus haben auch das Wohnumfeld und seine soziale Infrastruktur Einfluss auf das kindliche Alltagsleben. Besonders problematisch ist die Tatsache, dass sich in Großstädten wie Berlin immer mehr Sozialräume[1] herausbilden, in denen die Armut die übergreifende Gemeinsamkeit der Bewohner ist, was die Gefahr einer Abspaltung dieser Subkulturen von der Mehrheitsgesellschaft begünstigt (Balluseck 2002). Dieser Prozess wird durch die in Berlin seit langem zu beobachtenden Wanderungsbewegungen verstärkt. Junge erwerbstätige deutsche Eltern mit höherem Einkommen verlassen systematisch die problematischen Innenstadtbereiche. Die frei werdenden Wohnungen werden vor allem von Zuwandererfamilien mit geringen Einkommen, häufig aus Transferleistungen, bezogen, sodass eine Konzentration von „Ausgegrenzten“ und „Verlierern“ des sozioökonomischen Wandels die Folge ist. Die Kinder und Jugendlichen wachsen in diesen Quartieren in einer sehr eingeschränkten Erfahrungswelt und mit erhöhten gesundheitlichen Risiken auf (a.a.O.: 65).
Neben den erheblichen Auswirkungen materieller Verarmung auf das familiäre Beziehungsgefüge und damit auf die Eltern-Kind-Beziehung sowie das elterliche Erziehungsverhalten ist zu berücksichtigen, dass auch außerfamiliäre Einflussfaktoren die Reaktionen der Kinder auf ökonomische Deprivation prägen können. Dazu zählen insbesondere die Sozialbeziehungen der Kinder mit Gleichaltrigen mit ihren Auswirkungen „auf das subjektive Erleben der materiellen Benachteiligung (z.B. in Form von Stigmatisierung oder Differenzierung)“( Butterwegge et al. 2004: 75).
Auch Klocke und Lampert (2005) erkennen in der Auseinanderentwicklung der Lebens-bedingungen die Gefahr von nachhaltigen Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Gesundheit sozial benachteiligter Kinder.
Helmert at al. (2000) sehen es als gesellschaftspolitische Aufgabe zu verhindern, dass soziale Ungleichheiten in einem gesellschaftlichen Teilbereich zwangsläufig zu sozialen Ungleichheiten in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen führen. Die anzustrebende soziale Chancengleichheit meint „gleiche Chancen hinsichtlich der gesellschaftlichen Teilhabe bezogen etwa auf das Bildungs- und Gesundheitswesen“ (a.a.O.: 18).
2.1.2 Gesundheitliche Benachteiligung
Unbestritten können Armut und soziale Benachteiligung auch gravierende Auswirkungen auf das Wohlbefinden und den Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen haben. Vor allem die Einschulungsuntersuchungen durch die Gesundheitsämter der Kommunen belegen erhebliche Entwicklungsverzögerungen wie Hör-, Seh- oder Sprachstörungen, wie intellektuelle oder auch physische Entwicklungsrückstände bzw. gesundheitliche Beeinträchtigungen wie Adipositas, bei sozial benachteiligten Kindern.
So zeigen die Ergebnisse der Einschulungsuntersuchungen in Berlin für das Jahr 2004 (Meinlschmidt 2006) hinsichtlich der sprachlichen entwicklungsdiagnostischen Parameter[2] deutliche Schichtunterschiede. Die Befunde sind demnach bei Kindern der unteren sozialen Schicht wesentlich häufiger „auffällig“ bzw. „schlecht“ als bei Kindern der mittleren und vor allem gegenüber Kindern der oberen sozialen Schicht. Die grammatikalischen Fähigkeiten waren beispielsweise bei Kindern der unteren sozialen Schicht bei 24% „auffällig“ und bei 5% „schlecht“, hingegen bei Kindern der oberen Schicht lediglich bei 8% „auffällig“ und bei 1% „schlecht“. Auch hinsichtlich der Ausprägung von Übergewicht und Adipositas (12%) bzw. 5%)[3] zeigen sich die schichtspezifischen Unterschiede. Kinder deutscher Herkunft aus der unteren sozialen Schicht sind demnach etwa doppelt so häufig übergewichtig oder adipös wie Kinder der oberen sozialen Schicht. Bei den Kindern türkischer Herkunft[4] zeigen sich diese Unterschiede nicht. Das deutet bei einer deutlich höheren Prävalenz (23%) auf kulturelle und nicht auf sozioökonomische Ursachen für das Entstehen von Übergewicht in dieser Gruppe hin.
Unter den Kindern nichtdeutscher Herkunft stellten sich bei den Einschulungs-untersuchungen in Berlin vor allem die erheblichen Sprachdefizite als Problem heraus. Demnach verfügen lediglich 56% dieser Kinder über gute oder sehr gute deutsche Sprach-kenntnisse, die zu einer entsprechenden Teilhabe am schulischen Lernprozess befähigen. Besonders gravierend ist die Ausgangssituation der Kinder türkischer Herkunft, da die Hälfte von ihnen fehlerhafte bzw. unzureichende Deutschkenntnisse aufweist.
Ein besonders großes Gesundheitsrisiko ergibt sich aus der sehr hohen Rauchexposition in den Elternhäusern. In jeder zweiten Berliner Familie des Einschulungsjahrgangs 2004 wird von mindestens einem Elternteil geraucht. Auch hier zeigen sich deutliche schichtspezifische Unterschiede. Demnach leben doppelt so viele Kinder der unteren sozialen Schicht in Raucherhaushalten wie Kinder der oberen sozialen Schicht (a.a.O.).
Ein weiteres Indiz für die gesundheitliche Benachteiligung von Kindern unterer sozialer Schichten ist die Inanspruchnahme der regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen, die von der Ober- zur Unterschicht durchgängig abnimmt (a.a.O., RKI 2006). Vor allem Kinder und Jugendliche aus Familien mit Migrationshintergrund nehmen seltener an Früherkennungs-untersuchungen teil (RKI 2006: 70f).
In Auswertung der Ergebnisse der KiGGS-Studie (a.a.O.) wird hinsichtlich der Mund-hygiene auf ein risikovolles Verhalten vor allem von Kindern aus Familien mit niedrigem Sozialstatus bzw. mit Migrationshintergrund hingewiesen.
Auch im Rahmen der Brandenburger Einschulungsuntersuchungen 2002 (Böhm et al. 2003) konnten schichtspezifische Unterschiede sowohl bezüglich Seh- und Sprach-störungen als auch hinsichtlich psychomotorischer oder emotionaler und sozialer Störungen nachgewiesen werden. Als erheblich stellten sich dabei vor allem die Unterschiede hinsichtlich der Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung heraus.
In Auswertung der HBSC-Jugendgesundheitsstudie 2002 im Auftrag der WHO wurde festgestellt, dass sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche über einen schlechteren Gesundheitszustand und ein höheres Maß an psychosomatischen Beschwerden klagen als Kinder und Jugendliche mit einem höheren sozialen Status (Ravens-Sieberer/Thomas 2003). Diese Aussagen werden auch durch die aktuell vorliegenden Ergebnisse der KiGGS-Studie (RKI 2006: 45) gestützt, wonach Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem Sozialstatus ein größeres Risiko aufweisen, unter einem oder mehreren psychischen Problemen zu leiden als Kinder aus Familien mit mittlerem oder hohem Sozialstatus. Das trifft insbesondere auch auf Kinder mit Migrationshintergrund zu.
2.1.3 Benachteiligung im deutschen Schulsystem
Da es im Kontext der Arbeit um Gesundheitsförderung und Prävention im Setting Schule und hier speziell um die Kompetenzförderung geht, sollte auch eine Beurteilung der Chancen im deutschen Bildungssystem vorgenommen werden. Dabei ist festzustellen, dass die Ergebnisse der PISA-Studie eine im internationalen Vergleich extrem deutliche Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen Lagen belegen (Ehmke et al. 2004, Baumert/Schümer 2001, Baumert/Trautwein/Artelt 2003, Schümer 2004). Der enge Zusammenhang von Schichtzugehörigkeit und Lebenslage mit Bildungsbeteiligung und Schulerfolg konnte in zahlreichen Studien immer wieder nachgewiesen werden (vgl. Expertise von Helsper/Hummrich 2005). Das spiegelt sich u. a. in den Ergebnissen der PISA-Studie 2003 wieder, wonach ca. 44,7% aller 15-Jährigen an Hauptschulen, jedoch nur 5,6% der Jugendlichen an Gymnasien aus dem unteren Viertel der sozialen Lage kommen (Ehmke et al. 2004: 244f).
Ähnlich stellt sich die Datenlage hinsichtlich der Schulabschlusswünsche der Eltern dar. Nach einer repräsentativen Befragung des Instituts für Schulentwicklungsforschung wünschen sich 70% der Beamteneltern, jedoch nur 24% der Arbeitereltern, dass ihr Kind einen gymnasialen Schulabschluss erwirbt (IFS 2002). Als nachgewiesen gilt ebenso, dass Kinder aus Arbeiterfamilien höhere Leistungen erbringen müssen, um von der Grundschule eine Gymnasialempfehlung zu bekommen, als Kinder aus Familien der höheren sozialen Lagen (Bos et al. 2004; Helsper/Hummrich 2005).
Ausreichend Belege finden sich auch für die drastischen sozialen Unterschiede bezüglich der sprachlichen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzentwicklung der 15-Jährigen in der Bundesrepublik (Baumert/Schümer 2001, Baumert/Trautwein/Artelt 2003). Diesbezüglich weisen die Ergebnisse der IGLU-Studie darauf hin, dass diese Unterschiede z. B. in der Lesekompetenz bereits zum Ende der Grundschulzeit vorhanden sind (Bos et al. 2004).
Die Bildungsbenachteiligung betrifft nachweislich besonders Kinder aus Migrantenfamilien, die sowohl in der Lese- als auch in der Sachkompetenz unterdurch-schnittlich abschneiden (Baumert/Schümer 2001, Helsper/Hummrich 2005, Prenzel et al. 2004). Demnach besuchen 50% der jugendlichen Migranten aus reinen Zuwanderer-familien die Hauptschule und lediglich 15% das Gymnasium (Baumert/Schümer 2001: 373). Baumert und Schümer (2001) sehen jedoch nicht in der nationalen oder kulturellen Herkunft, sondern vor allem in der sprachlichen Kompetenz den ausschlaggebenden Faktor für den Bildungserfolg (vgl. auch Helsper/Hummrich 2005).
Die im Rahmen der Berliner Einschulungsuntersuchungen festgestellten Sprachdefizite vor allem bei der größten Gruppe von Kindern mit Migrationshintergrund, den Kindern türkischer Herkunft, ist daher besonders alarmierend. Das ist vor allem vor dem Hinter-grund eines überproportional hohen Anteils von Schüler/innen mit Migrationshintergrund (vorrangig türkischer Herkunft) an den Grundschulen im Untersuchungsgebiet von Bedeutung.
Zusammenfassend lässt sich einschätzen, dass eine z. T. erhebliche Chancenungleichheit für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, speziell auch in Berlin, besteht. Diese Chancenungleichheit ergibt sich für viele Kinder oft schon per Geburt aufgrund der sozialen Stellung der Eltern und verstärkt sich im Lebensverlauf eher noch. Betroffen sind in besonderem Maße Kinder von allein erziehenden Eltern (insbesondere Müttern) sowie Kinder mit Migrationshintergrund. Ungleiche Chancenverteilung basiert auf sozialer Benachteiligung, die sowohl gesundheitliche Benachteiligungen als auch die Benachteiligung im Bildungsgang mit sich bringt. Der Gesundheitszustand und die Gesundheitsprognose wie auch die Bildungsvoraussetzungen und -chancen von Kindern aus Elternhäusern mit niedrigem sozioökonomischen Status sind deutlich schlechter gegenüber Kindern aus Familien mit mittlerem oder höherem sozioökonomischen Status. Vor allem Kinder mit Migrationshintergrund, die überproportional der unteren sozialen Schicht zugerechnet werden müssen (insbesondere türkischer und arabischer Herkunft), sind größeren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt und weisen einen schlechteren Gesundheitszustand auf als Kinder deutscher Herkunft und bedürfen somit, wie auch sozial benachteiligte Kinder deutscher Herkunft (insbesondere mit allein erziehenden Müttern), einer stärkeren gesundheitlichen Förderung und Vorsorge.
Bei der Planung von Interventionsmaßnahmen für Grundschulen ist zu berücksichtigen, dass sich die vorgenannten Probleme in den sozialen Brennpunkten noch verstärken, wodurch sich dort ein erhöhter Präventionsbedarf ergibt und die Zusammensetzung der Bevölkerung[5] eine spezifische Ansprache und spezielle Konzeptionen erfordert. Mit dem Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ und der Einrichtung der Quartiersmanagement-gebiete wird seit einigen Jahren versucht, dem „Abgleiten“ dieser Sozialräume entgegenzuwirken. Ziel ist es dabei vor allem, die Wohn- und Lebensbedingungen in diesen Stadtteilen zu verbessern und die Lebenschancen der Bevölkerung zu erhöhen. Das Thema Gesundheit zählt dabei als Querschnittsthema und ist in allen Belangen zu berücksichtigen (Bundestransferstelle Soziale Stadt).
2.2 Theoretische Aspekte primärer Suchtprävention
Im Kontext der Bewertung der Implementierung eines suchtpräventiven Programms wie „Klasse2000“ ist die Auseinandersetzung mit der Thematik „Suchtprävention“ und den entsprechenden Fachtermini unumgänglich. Nachfolgend soll daher neben der Klärung relevanter Begrifflichkeiten vor allem auch auf die Entstehung von Suchtverhalten näher eingegangen werden, da davon die Wahl der geeigneten präventiven Maßnahmen maßgeblich abhängt. Die Strategie des Vorbeugens lässt sich auf nahezu alle gesellschaft-lichen Bereiche und gesundheitlichen Risiken anwenden. Ein besonderes Augenmerk kommt dabei jedoch der Vorbeugung des Gebrauchs von Drogen zu, da durch diesen die größten gesundheitlichen und psychischen Beeinträchtigungen zu erwarten sind. Vorbeugung setzt jedoch einen ausreichenden wissenschaftlichen Kenntnisstand voraus, der durch die nachfolgenden Ausführungen widergespiegelt werden soll.
„Vorbeugen ist immer ein lebendiger Prozess, nie statisch oder punktuell“ (Kaufmann 2001: 15).
2.2.1 Zum Drogen- und Suchtbegriff
Was verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff „Droge“?
„Drogen nennt man alle pflanzlichen, synthetischen oder halbsynthetischen Stoffe, von denen eine seelische und/oder körperliche Wirkung ausgeht“ (Priebe et al. 1994: 23). Dabei erfolgt eine Unterscheidung von legalen Drogen, wie z.B. Alkohol, Nikotin, bestimmte Medikamente, die in der Regel jedem ohne gesetzliche Strafen zugänglich sind, und illegalen Drogen, wie z.B. Heroin, Kokain oder Haschisch sowie Designerdrogen, die gemäß Betäubungsmittelgesetz weder gehandelt noch konsumiert werden dürfen (ebd.).
In der Fachsprache wird auch von psychotropen Substanzen gesprochen. So genannte psychotrope Substanzen, die sowohl pflanzlicher als auch chemisch-synthetischer Herkunft sein können, rufen beim Menschen durch ihre Wirkung auf das Zentralnervensystem bestimmte Stimmungs-, Gefühls- und Wahrnehmungsveränderungen hervor, die vom Normalzustand abweichen und zunehmend Missbrauch und Abhängigkeit bewirken können (vgl. Freyberger/Stieglitz 1996; Petermann et al. 1997).
Abhängigkeiten können jedoch auch nicht stoffgebunden auftreten. Wir finden Sie u. a. als Arbeits-, Ess-, Liebes- oder auch Fernsehsucht oder beim Glücks- bzw. Computerspiel in Form der Spielsucht. Als Droge kommt daher alles in Betracht, was zum Wiederholungszwang und schließlich zu psychischer und physischer Abhängigkeit führen kann. Abhängigkeit äußert sich demnach in einem Verhalten, bei dem die Aufnahme der Droge gegenüber anderen Verhaltensweisen eine größere Bedeutung erlangt. Unter Missbrauch ist demnach grundsätzlich „der andauernde oder gelegentliche übermäßige Drogengebrauch zu verstehen“ (Petermann et. al. 1997: 18).
2.2.2 Substanzmissbrauch im Kindes- und Jugendalter
2.2.2.1 Zur Dimension des gesundheitlichen Problems
Um die Dimension des Substanzmissbrauchs von Kindern- und Jugendlichen zu veranschaulichen, wird zumeist auf die beiden häufigsten Substanzen zurückgegriffen, den Alkohol und den Tabak, da hierfür die Datenlage am ergiebigsten ist.
Der Tabakkonsum gilt dabei als eines der größten individuell vermeidbaren Gesund-heitsrisiken überhaupt. Auf das Rauchen sind in Deutschland mehr Todesfälle zurück-zuführen als auf Aids, Alkohol, illegale Drogen, Verkehrsunfälle, Morde und Selbstmorde zusammen. Die Hälfte aller Todesfälle tritt bereits im mittleren Lebensalter zwischen 35 und 69 Jahren ein. Das hat zur Folge, dass jährlich bis zu 1,5 Millionen Lebensjahre vernichtet werden (BMGS 2005b, DKFZ 2002). Im Zigarettenrauch konnten bisher mehr als 4.000 verschiedene chemische Bestandteile nachgewiesen werden, von denen mehr als 40 Krebs erregend sind. Für mehr als 40 Krankheiten ist der Tabakkonsum eine bedeutende Ursache. Rund 90% aller Lungenkrebsfälle sind auf das Rauchen zurück-zuführen (BfGe 2005 nach DKFZ). Tabakrauch gilt als der gefährlichste und am weitesten verbreitete Innenraumschadstoff. Er wurde als eindeutig Krebs erregend in die oberste der fünf Gefährdungsstufen für gesundheitsschädliche Arbeitsstoffe eingestuft (BZgA 2004), wodurch die Gefahr des Passivkonsums für Kinder und Jugendliche in Raucherhaushalten verdeutlicht wird.
Jedoch darf auch der Konsum von Alkohol auf keinen Fall verharmlost werden, da es sich dabei nicht um ein gewöhnliches Konsumgut handelt, wie sich aus der gesellschaftlichen Akzeptanz ableiten ließe, sondern um eine ebenfalls toxische Droge (vgl. Babor et al. 2005). Der frühzeitige bzw. übermäßige Konsum kann zu erheblichen und z. T. irreversiblen gesundheitlichen Schädigungen führen, bis hin zur psychischen und physischen Abhängigkeit und stellt für den kindlichen oder jugendlichen Entwicklungs-prozess eine große gesundheitliche Gefahr da. Das unmittelbare Gesundheitsrisiko besteht sicherlich vor allem in einer Alkoholvergiftung, die gerade bei Kindern oder Jugendlichen auch zum Tod führen kann, während längerfristiger exzessiver Konsum zu den verschiedensten Krebserkrankungen, zu Leberzirrhose, Hepathitis oder der Fettleber, aber ebenso auch zu Herzmuskelerkrankungen oder Bluthochdruck und insbesondere zu Hirn-schädigungen führen kann (vgl. a.a.O.: 34f).
Auch wenn mit dem Bericht zur Drogenaffinität von Jugendlichen der BZgA (2004a) eine Verringerung des Tabakkonsums und eine sich seit 1977 um 9 Prozentpunkte auf 35% (repräsentative Befragung der 12- bis 25-Jährigen im Jahr 2004) verringernde Raucherquote vermeldet werden, bestätigen die aktuellen Ergebnisse der KiGGS-Studie (RKI 2006: 63f), dass nach wie vor sehr viele Kinder und Jugendliche in Deutschland rauchen. Problematisch ist dabei vor allem das frühe Einstiegsalter (vgl. Hurrelmann et al. 2003, RKI 2006, Kraus et al. 2004). In den Befragungen zur KiGGS-Studie (RKI 2006: 63f) gaben immerhin 4% der Jungen und 3% der Mädchen im Alter von 11 – 13 Jahren an, „Raucher“ zu sein. Danach steigt die Raucherquote sprunghaft an; fast ein Drittel der 14- bis 17-Jährigen bezeichnen sich selbst als „Raucher“. Unter den 17-Jährigen sind 29% der Jungen und 25% der Mädchen als regelmäßige Raucher mit einem täglichen Tabakkonsum anzusehen. Auch hinsichtlich des Rauchverhaltens bestätigt sich die Abhängigkeit vom sozialen Status. Unter den 14- bis 17-jährige Jungen bzw. Mädchen rauchen demnach mit 36,4% bzw. 39,1% Heranwachsende aus Familien mit niedrigem Sozialstatus deutlich häufiger als ihre Altersgefährten aus Familien mit mittlerem und höherem Sozialstatus (30,1% bzw. 33,0% und 25,7% bzw. 21,5%) (ebd.).
Noch stärker verbreitet ist in der Adoleszenz der Konsum von Alkohol. Mit durch-schnittlich 14,1 Jahren (Jungen 14,0; Mädchen 14,2) nehmen die Jugendlichen das erste Mal alkoholische Getränke zu sich (BZgA 2004b). In der Gruppe der 16- bis 19-Jährigen haben nahezu alle Jugendlichen (97%) bereits Erfahrungen mit Alkohol gemacht, während sich 73% zu ersten Rauscherfahrungen bekennen (a.a.O.). Vor allem durch die Einführung der so genannten Alkopops (spirituosenhaltigen Mixgetränke) ist eine weitere Zunahme des Alkoholkonsums unter Jugendlichen zu verzeichnen. Unter den 12- bis 25-Jährigen hat die Zahl derjenigen, die regelmäßig[6] Alkohol trinken von 2001 auf 2004 um 4 Prozentpunkte auf 34% zugenommen; die in einer Woche durchschnittlich konsumierte reine Alkoholmenge stieg von 53,9 Gramm auf 68,8 Gramm, wobei junge Männer (96,5 Gramm) deutlich mehr Alkohol trinken als junge Frauen (39,2 Gramm) (a.a.O.). Auch wenn sich der Konsum von Alkopops wieder deutlich verringert hat – in der Gruppe der 12- bis 17-Jährigen von 48% auf 39% (BZgA 2005b) – ist das Ausmaß des Alkoholkonsums unter Jugendlichen noch immer erheblich und präventionsrelevant.
Während auch die aktuellsten Untersuchungen bestätigen, dass der Zigarettenkonsum von Jugendlichen weiter verringert werden konnte und sich in dem neuen Höchstwert für „Nieraucher“ von 57% unter den 12 bis 17-Jährigen widerspiegelt (BZgA 2007), kann nunmehr durch erste konkrete Daten die Vermutung darüber erhärtet werden, was längst vermutet wurde. Die Wasserpfeife („Shisha“) ist auf dem Vormarsch und scheint die Zigarette als „Einstiegsdroge“ in den Hintergrund zu drängen. Sowohl eine aktuelle Repräsentativbefragung der BZgA (a.a.O.) als auch eine SchülerInnenbefragung im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg (Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg 2007) weisen auf die bereits starke Verbreitung der Shisha unter Kindern und Jugendlichen hin. Dabei differieren die Zahlen ein wenig, was jedoch auch damit zu tun hat, dass die Altersgruppen nicht identisch sind und die Befragung in Friedrichshain-Kreuzberg vorerst nur Aussagekraft für diesen großstädtischen Innenstadtbezirk mit seinen zahlreichen sozialen Brennpunkten hat. Während hier 31% der befragten 10 bis 15-Jährigen angaben, Wasserpfeife zu rauchen (a.a.O.), ermittelte die BZgA (a.a.O.) eine Quote von 14% (mindestens ein Mal in den letzten 30 Tagen) unter den 12 bis 18-Jährigen, wobei jedoch sogar 38% das Probieren einer Shisha bestätigten. Die Befragung in Friedrichshain-Kreuzberg deutet auch auf ein geschlechtsspezifisches Konsumverhalten hin. Während dort Zigaretten um 3% häufiger von Mädchen konsumiert werden (33%), ist der Shisha-Konsum unter Jungen deutlich stärker verbreitet (53% der Schüler, 39% der Schülerinnen). Beide Untersuchungen bestätigen hingegen auch, dass – anders als beim Zigarettenrauchen – die Shisha in der Regel nicht täglich konsumiert wird. Für die Präventionsaktivitäten interessant ist neben der Geschlechtsspezifität vor allem, dass sich die Shisha-Konsumenten häufig nicht als „Raucher“ sehen und die Schädlichkeit des Konsums oftmals geringer einschätzen als bei der Zigarette.
Diese neuesten Erkenntnissen sollten zu einer Neuausrichtung präventiver Maßnahmen und durchaus zum Nachdenken über Erfolgsmeldungen hinsichtlich der Prävention des Zigarettenkonsums unter Kindern und Jugendlichen veranlassen, zumal mit diesen Untersuchungen Neuland betreten wurde und entsprechende Erhebungen zu anderen unter Jugendlichen populären psychotropen Substanzen noch ausstehen. Es ist daher zu begrüßen, dass die isolierte Betrachtung des Zigarettenkonsums der Vergangenheit angehört.
2.2.2.2 Substanzmissbrauch als Entwicklungsaufgabe
Petermann et al. sehen in dem Gebrauch psychotroper Substanzen „das Produkt spezifischer kulturgeschichtlicher Entwicklungen“ (1997: 17). Das betrifft sowohl die Verfügbarkeit der Substanz als auch die gesellschaftlich traditionell vorherrschenden Gebrauchsmuster. Die in Europa und vor allem in Deutschland am stärksten etablierte „Kulturdroge“ ist der Alkohol. In unserem Kulturkreis wird Alkoholkonsum toleriert, der exzessive Gebrauch jedoch abgelehnt. Um der so genannten Abstinenzkultur Rechnung zu tragen, wurde ein System von Beschränkungen für die Produktion und den Erwerb sowie bestimmte Bevölkerungsgruppen – Kinder- und Jugendliche – verankert (vgl. ebd.). „Wer Alkohol ablehnt, gehört zu einer kleinen Minderheit, die ihr Verhalten vor dem Rest der Bevölkerung legitimieren muss“ (Sting/Blum 2003: 23). Der gelegentliche oder regel-mäßige Gebrauch gilt als selbstverständlich und wird nicht hinterfragt. Ebenfalls stark verbreitet ist der Konsum von Tabak oder Medikamenten.
Suchteinstellungen, -neigungen und -verhalten bilden sich häufig schon sehr frühzeitig in der Kindheit heraus. Die besondere Gefahr bei Kindern darf daher nicht vernachlässigt werden, da diese Suchtmittel oft aus Neugierde probieren oder sich an schlechten Vorbildern von Erwachsenen orientieren. Alkohol und Tabakqualm bei Familienfeiern oder auch bei Schulfesten zeigen Kindern und Jugendlichen, dass diese Suchtmittel von Eltern und der Schule als Alltagsdrogen akzeptiert werden. Jugendliche konsumieren Drogen, um sich vor Enttäuschungen oder auf der Suche nach Abenteuern in eine Scheinwelt zu flüchten (Priebe et al. 1994).
Aus entwicklungspsychologischer Sicht sind „die Problemverhaltensweisen des Drogen-gebrauchs im Jugendalter als eine Form intentionaler Interaktion der Jugendlichen mit ihrer Umwelt“ zu begreifen (Petermann et al. 1997: 26). Jugendliche befinden sich in einem schwierigen Entwicklungsprozess beim Übergang ins Erwachsenenalter. Kommt es zu Störungen dieses vorrangig selbst zu regulierenden Prozesses, seien Belastungen und Problemverhaltensweisen wie Sucht, Delinguenz oder Gewalt die Folge (a.a.O.). Gesundheitsgefährdendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen als grundsätzlich als „funktionales Verhalten zur Bewältigung von Entwicklungsaufgaben“ zu sehen (Hurrelmann/Leppin 2000: 72). Das gesundheitliche Risikoverhalten ist demnach integraler Bestandteil der jugendlichen Problembewältigung und Identitätsbildung.
Zum besseren Verständnis jugendlichen Substanzmissbrauchs hat sich unter der Überschrift „Sechs Wege zum Drogengebrauch“ ein integratives Model etabliert, das charakterisiert wird durch Drogengebrauch als: Ersatzziel, gewollte Normverletzung, ausgleichende Notfallfunktion, Zugang zur Gleichaltrigengruppe, Ausdruck des persönlichen Stils und Vorwegnahme des Erwachsenseins (Jessor/Jessor 1977, Mansel/Hurrelmann 1991, Nordlohne 1992, Silbereisen/Kastner 1985, vgl. auch Markert 2003).
Objektiv gesundheitsgefährdendes Verhalten gehört zum Alltag der Jugendlichen, wenngleich sie es selbst nicht als die eigene Gesundheit beeinträchtigend wahrnehmen. Gerade weil risikoreiches Verhalten, wie der Konsum von Alkohol und Nikotin, entwicklungspsychologisch in gewisser Weise als Normalität in der Adoleszenz gilt, ist das Erlernen des Umgangs mit Drogen als Entwicklungsaufgabe anzusehen. Jugendlichen wird eine Suche nach Risiken, Grenzüberschreitungen und problematischen Selbsterprobungen im Rahmen der sozialen Verortung und Persönlichkeitsbildung zugestanden. Erst das Scheitern der individuellen Entwicklung führt zur Sucht (vgl. Kähnert, Freitag und Hurrelmann 1998, Seiffge-Krenke 1994, Sting/Blum 2003).
Die Ergebnisse der HBSC-Jugendgesundheitsstudie (Ravens-Sieberer/Thomas 2003) zeigen, dass gesundheitsförderliches Verhalten für Jugendliche in ihrer subjektiven Wahrnehmung oft weder sinnvoll noch attraktiv erscheint.
Der Einstieg von Jugendlichen in den Konsum von Alkohol, Tabak und illegalen Drogen wird vorrangig in schulischen Problemen, verminderter Integration und abweichendem Verhalten, einer engen Bindung an Freunde und deren Konsumverhalten sowie permissiven Einstellungen gesehen. Die Einstellungen der Eltern zum Konsum, Probleme im Elternhaus und der berufliche Status der Eltern seien hingegen weniger relevant. Elterliche Einstellungen zum Substanzgebrauch und deren Verhalten seien erst hinsichtlich der Progression des jugendlichen Konsums (vor allem Alkohol) von Bedeutung (Petermann et al. (1997), Sieber 1993).
Auch wenn der problematische Gebrauch psychoaktiver Substanzen in der Adoleszenz durchaus als „Normalität“ angesehen werden kann und für die meisten Jugendlichen mit dem Übertritt in das Erwachsenenalter in einen kontrollierten und gelegentlichen Konsum übergeht, darf eine Bagatellisierung nicht zugelassen werden. Der regelmäßige Gebrauch dieser Substanzen bei Kindern vor der Pubertät ist definitiv als Missbrauch zu werten, da die für einen verantwortungsvollen Umgang notwendigen persönlichen und physiologischen Voraussetzungen noch nicht gegeben sind. Die weitere gesunde Entwicklung des Kindes wird damit gefährdet (vgl. Silbereisen 1997).
Im Rahmen der präventiven Arbeit ist bei Kindern und Jugendlichen mit einem altersbedingten Probier- und Konsumverhalten zu rechnen, der nicht selten als Form der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben praktiziert wird. Kinder und Jugendliche sind als potenziell suchtgefährdet anzusehen. Wenn es jedoch gelingt, sie mit all ihren Stärken und Schwächen zu akzeptieren und auf panische Reaktionen in Einzelfällen verzichtet wird, ist eine erfolgreiche Suchtprophylaxe möglich (vgl. Kaufmann 2001).
2.2.3 Zur Entwicklung und Praxis der Suchtprävention
In der ersten Hälfte der 1980er Jahre fand international ein Umdenkungsprozess statt, der einen Wechsel von der reinen Drogen- hin zur Suchtprävention und damit die Aufhebung der strikten Trennung zwischen legalen und illegalen Drogen bewirkte. Es setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass Alkohol-, Medikamenten- und Tabakabhängigkeit ebenso problematisch sind, wie die Abhängigkeit von den so genannten illegalen Drogen. Sucht wird seitdem als „multifaktorielles Geschehen“ betrachtet, das auch über die Droge hinaus durch Persönlichkeitsmerkmale und soziale Faktoren bedingt ist (Sting/Blum 2003: 15f).
Als Problem war vor allem die primärpräventiv angelegte Wissensvermittlung über Drogen, deren Gebrauch und die gesellschaftliche Bedrohung durch den Suchtmittel-konsum erkannt worden. So fanden Franzkowiak (1986) sowie Künzel-Böhmer, Bühringer und Janik-Konecny (1993) in ihren Untersuchungen heraus, dass Kinder und Jugendliche einen vordergründig als gesund propagierten Verhaltensstil und auch auf Abschreckung beruhende Informationen über die Folgen von Abhängigkeit, einschließlich der bewussten „Furchtappelle“ ablehnen.
Während die Suchtpräventionsprogramme anfänglich durch eine eher unspezifische Vorgehensweise gekennzeichnet waren, löste die Diskussion um ein erweitertes, positives Verständnis von Gesundheit, die in die „Ottawa-Charta“ zur Gesundheitsförderung von 1986 mündete, einen „Professionalisierungsschub“ aus, was in der Suchtprävention die Bemühungen um eine „positiv ausgerichtete Kompetenz- und Ressourcenorientierung“ verstärkte (a.a.O.: 18). Anfang der 1990er Jahre erfolgte daraufhin ein Paradigmenwechsel von der Gesundheitserziehung zur unspezifischen, ressourcenorientierten Gesundheits-förderung (von Troschke 1995, Jerusalem/Kaluza/Rieländer 1996, Petermann et al. 1997).
Seither steht nicht mehr die Betonung der Gefahren, Defizite und Krankheitssymptome im Mittelpunkt, sondern die Förderung der gesundheitsrelevanten Kräfte. Diese neue Sichtweise hat „zur Konzentration auf so genannte Schutz- oder Protektivfaktoren geführt, die gegenüber Sucht immunisieren sollen“ (Sting/Blum 2003: 18).
Beim Einstieg in den Drogen- bzw. Substanzkonsum stehen die sozial-externalen Faktoren im Vordergrund, was entsprechenden Einfluss auf die Prävention haben muss. Es ist daher erforderlich, frühzeitig mit präventiven Maßnahmen zur Kompetenzentwicklung gegenüber sozialen Einflüssen zu beginnen (Lohaus 1993, Petermann et al. 1997). Später gewinnen hingegen interne verhaltensregulatorische Prozesse an Bedeutung.
Allgemeine Zielrichtung der personenbezogenen Prävention des Substanzgebrauchs ist daher die Förderung personaler und sozialer Kompetenzen zur Bewältigung von Alltags-anforderungen, des Empowerments. Besonderer Wert wird auf die Kompetenzentwicklung im sozialen Umfeld gelegt; durch die Vermittlung konstruktiver Konfliktlösungen, die Förderung der Widerstandfähigkeit gegen Gruppendruck und die Verleitung zum Substanzkonsum (Petermann et al. 1997).
Das Ziel präventiver Maßnamen ist der Abbau oder die Auflösung des funktionalen Charakters gesundheitsgefährdenden Verhaltens durch das Aufzeigen von Alternativen jenseits des Konsums von Drogen, um soziale Kompetenzen oder Kompetenzen im Umgang mit Stress aufbauen zu können. Dabei sind grundsätzlich zwei Ansätze zu unterscheiden: der „Social-influence-inoculation-Ansatz“, der dass „Impfen“ der Kinder und Jugendlichen gegen die Beeinflussung durch Werbung oder Peers in das Zentrum stellt und der „Life-Skills-Ansatz“ (Lebenskompetenzmodell), der gesundheitsgefährdendes Verhalten als Bestandteil der generellen Tendenz zu Problemverhalten und als untauglichen Versuch zur Bewältigung der Alltagsanforderungen betrachtet und daher auf die Stärkung von Stressbewältigungskompetenzen, die Resistenz gegenüber Gruppen-druck, die Förderung effektiver Kommunikation und pro sozialen Verhaltens abzielt (Hurrelmann/Leppin 2000: 73)
2.2.4 Primäre Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter
Nach der Definition von Walter und Schwartz sucht Prävention „eine gesundheitliche Schädigung durch gezielte Aktivitäten zu verhindern, weniger wahrscheinlich zu machen oder zu verzögern“ (2003: 189). Basierend auf der Systematisierung von Caplan (1964) ist es heute gebräuchlich nach Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention zu unterscheiden. Im Rahmen der Suchtprävention von Kindern- und Jugendlichen ist vorrangig die Primärprävention von Bedeutung.
Die Primärprävention zielt auf die Senkung der Belastungen, um Krankheiten zu vermeiden. Sie kann dabei auf die Belastungen der Lebens-, Arbeits- und Umwelt-bedingungen gerichtet sein (Verhältnisprävention) oder die chronisch-degenerativen (Volks-)Krankheiten, wie koronare Herzkrankheiten, Krebs oder Diabetes, in den Mittel-punkt stellen (Verhaltensprävention). Die Maßnahmen, die auf das Verhalten der Menschen gerichtet sind, stellen den Schwerpunkt der Präventionsarbeit in Deutschland dar (Rosenbrock/Gerlinger 2004). Die Prävention des Substanzmissbrauchs, insbesondere die Verringerung des Tabak- und Alkoholkonsums, stehen dabei im Zentrum der Bemühungen.
Primäre Suchtprävention bedeutet, dass durch geeignete Maßnahmen dem Missbrauch von Abhängigkeit erzeugenden Substanzen und nicht stoffgebundenen Abhängigkeiten des Menschen zuvorgekommen werden soll, sodass etwas, was als gesundheitsschädlich und gefährlich angesehen wird, gar nicht erst eintritt. „Im Kontext der Suchtprävention geht es um die Erhaltung der Gesundheit durch gezielte Maßnahmen der Beeinflussung des Verhaltens und Erlebens von Menschen“ (Petermann et al. 1997: 32).
Primäre Suchtprävention agiert auf mehreren Zielebenen und beinhalten Strategien zur Vermeidung oder Handlungsunterdrückung sowohl erster Konsumversuche als auch des Experimentierens, des gelegentlichen Gebrauchs bzw. des Missbrauchs. Eine zielgruppenspezifische Ansprache ist unabdingbar. Bei Kindern, die in aller Regel den Substanzkonsum noch generell ablehnen, besteht daher die oberste primärpräventive Zielstellung in der Unterstützung des Abstinenzverhaltens. Unrealistisch sei jedoch die Umsetzung der richtigen präventiven Zielstellung der Abstinenz hinsichtlich des Alkoholkonsums. Da in Deutschland traditionell ein gemäßigter Alkoholkonsum auch bereits im Jugendalter gesellschaftlich toleriert wird, erscheinen hier die Aufschiebung des Einstiegs in den Alkoholkonsum und die Verhinderung eines Missbrauchs vorrangig (Petermann et al. 1997: 34).
Auf der ersten Ebene der Suchtvorbeugung kommt es darauf an, in Elternhaus, Kindergarten und Grundschule grundlegende Fähigkeiten und Einstellungen zu einem gesunden Leben und gegen das Entstehen von Suchtneigungen aufzubauen. Die Kinder sollen in ihrer persönlichen Entwicklung gestärkt werden, sodass sie Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen entwickeln können. Dabei ist u. a. der Umgang mit Konflikten, mit Freundschaft und Schmerz oder auch mit Süßigkeiten und Fernsehen zu lernen. Dem Vorbildverhalten der Eltern kommt eine große Bedeutung zu. Es ist dabei zu berücksichtigen, dass schon der regelmäßige Genuss von Süßigkeiten in Problemsituationen oder als Ersatz für Zuwendung, Zärtlichkeit und Liebe oder auch der übermäßige Genuss von Süßigkeiten gefährlich ist und seelisch abhängig machen kann (vgl. Priebe et al. 1994).
Für Kaufmann bietet sich durch „die Be(ob)achtung von Kindern und Jugendlichen“ die Möglichkeit, „uns einen suchtpräventiven Weg [zu] weisen“ (2001: 26). Grundvoraussetzung dafür ist, dass „wir die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen wahrnehmen können, ihre Neugier und Sehnsucht, ihre Konflikte und Freuden“ (ebd.).
Da sich abweichendes Verhalten (u. a. Suchtverhalten) immer stärker in sozial benach-teiligten Gruppen konzentriert, dazu zählen vor allem Alleinerziehende (vgl. Kap. 2.1) aber auch Migrantenfamilien, besteht die zunehmende Notwendigkeit, die Prävention nicht weiter flächendeckend nach dem „Gießkannenprinzip“, sondern verstärkt und spezifisch auf diese Gruppen auszurichten (vgl. Riemann 2002).
2.2.5 Das Konzept der Lebenskompetenzförderung
Das im Rahmen dieser Arbeit näher untersuchte Gesundheitsförderungs- und Suchtpräventionsprogramm „Klasse2000“ basiert auf dem Konzept der handlungsorientierten Lebenskompetenzförderung – „Life-Skills“-Ansatz – (Botvin/Wills 1985), dass sich unter den verschiedenen im Sinne einer umfassenden Suchtprävention entwickelten Modellen als am ehesten geeignet herausgestellt hat, die in der Suchtprävention als unabdingbar anzusehende Entwicklung und Förderung sozialer Fähigkeiten zu erreichen. Die vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse werden in der Präventionspraxis dahingehend interpretiert, dass Programme, die auf dem von der WHO empfohlenen Konzept beruhen, die besten Erfolge bei der Förderung der Gesundheit und der primären Prävention von potenziellen Gesundheitsgefahren im Kindes- und Jugendalter erzielen (vgl. Botvin/Kantor 2000, Bühler/Heppekausen 2005, Hanewinkel 2003, Maiwald/Reese 2000, Rooney/Murray 1996).
2.2.5.1 Begriffsklärung und Einordnung
Das pädagogische Vorgehen im Rahmen der handlungsorientierten Lebenskompetenzförderung zielt auf eine generelle Verbesserung kognitiver, emotional-sozialer und moralischer Kompetenzen der Persönlichkeit von Kindern- und Jugendlichen und schließt die Vermittlung von Strategien zur Bewältigung von Alltagsanforderungen und Entwicklungsstress (Coping-Strategien) ein (vgl. u. a. Hurrelmann 1991, Petermann et al. 1997).
Bühler und Heppekausen (2005) zeigen sich einerseits erfreut über die rasche Verbreitung des Begriffs „Lebenskompetenzförderung“, kritisieren jedoch andererseits die unscharfe Definition und z. T. willkürliche Anwendung in der Praxis. Eine klare Einordnung des Begriffs ist für sie unabdingbar. Abgeleitet von der Definition der WHO zu den 10 wichtigsten „Life Skills“ ist für sie ‚lebenskompetent’, „wer:
- sich selbst kennt und mag,
- empathisch ist,
- kritisch und kreativ denkt,
- kommunizieren und Beziehungen führen kann,
- durchdachte Entscheidungen trifft,
- erfolgreich Probleme löst
- und Gefühle und Stress bewältigen kann“ (a.a.O.: 16).
In diesem Sinne definiert von Kardoff ‚Lebenskompetenzförderung’ als die menschliche Fähigkeit, „erworbene (Lebens-)Fertigkeiten und soziale Regeln sowie Wissensbestände sach- und situationsgerecht sowie zum richtigen Zeitpunkt zum Erreichen eines zum Beispiel gesundheitsbezogenen Ziels einzusetzen“ (2003: 135).
Lebenskompetenzförderungsprogramme kommen in verschiedensten Bereichen zum Einsatz; neben der Prävention des Substanzmissbrauchs auch bei der Prävention von Gewalt, Suizid, Essstörungen, Fremdenfeindlichkeit, Delinguenz, Angst, Unfällen, Aids oder auch Teenagerschwangerschaften. Eigentlich kommen alle Arten jugendlichen Risikoverhaltens in Betracht.
Auch wenn es schwierig ist, die unmittelbar mit der Bewältigung von Alltagsroutinen verbundenen Verhaltensweisen von Jugendlichen direkt zu beeinflussen, sehen Hurrelmann und Leppin den „Schlüssel für eine Verbesserung von Programmeffekten tatsächlich in der effektiven Vermittlung allgemeiner Lebens- und Bewältigungs-kompetenzen“ (2000: 73). Da soziale Fähigkeiten und Stressbewältigungskompetenzen sowie das Selbstkonzept, das die eigenen Fähigkeiten und Handlungsoptionen darstellt, sich jedoch nicht erst in der Adoleszenz herausbilden, dürfen Präventionsprogramme nicht erst in einem Alter einsetzen, wo der Substanzkonsum relevant wird, sondern zu einem deutlich früheren Zeitpunkt (ebd.).
Dem Ansatz Suchtvorbeugung durch Gesundheitsförderung liegt die wissenschaftliche Erkenntnis zugrunde, dass die lange Zeit praktizierte einseitige Strategie der Information, Belehrung und Abschreckung nicht die erwünschten Erfolge erzielt hat und der entscheidende Grundstein für einen späteren Substanzmissbrauch bereits in frühester Kindheit gelegt wird. Demnach gelten die Interventionsmaßnahmen als Erfolg versprechend, die bereits vor dem so genannten „Probierkonsum“, also sehr frühzeitig ansetzen (vgl. Hesse 1993; Hollederer/Bölcskei 2001; Künzel-Böhmer/Bühringer/Janik-Konecny 1993; Tobler/Stratton1997).
Gesundheitsförderung und Suchtprävention durch Lebenskompetenzförderung sollte demnach möglichst bereits im Kindergarten-, spätestens jedoch im Grundschulalter beginnen und kontinuierlich fortgeführt werden. Ein ‚Zu früh’ kann es in der Suchtprävention nicht geben (Kaufmann 2001:19).
Die primäre Suchtprävention stützt sich in starkem Maße auf das Konzept zur Sinnhaftigkeit gesundheitsbewussten Verhaltens, das das Persönlichkeitskonstrukt des Kohärenzsinns von Antonowsky (1987) beinhaltet. Die zentrale Frage ist dabei, warum jemand trotz negativer Einflüsse und Belastungen gesund bleibt. Der Kohärenzsinn bestimmt das Ausmaß von Zuversicht und Vertrauen darin, dass Lebensereignisse erklärbar, mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen zu bewältigen sind und im eigenen Engagement eine sinnvolle Aufgabe gesehen wird (Petermann 1997). Der Kohärenzsinn ist demnach das „Gefühl, sich in einer verstehbaren und beeinflussbaren Welt zu bewegen“ (Rosenbrock/Gerlinger 2004: 68).
Die Wirksamkeit suchtpräventiver Maßnahmen wird vor allem bei Ansätzen gesehen, die sich auf die protektiven Faktoren beziehen, anstatt sich an Risikofaktoren zu orientieren, die langfristig sind, die Lebenskompetenz (u. a. Problemlösungsfähigkeiten, Selbstsicherheit, Durchsetzungsvermögen) fördern, die Alternativen zum Alkohol- und Drogengebrauch bieten, die bei Jüngeren ansetzen, die Nicht- oder Wenigkonsumenten als Zielgruppe haben, die den familiären Kontext einbeziehen, die Jugendliche als Multiplikatoren gewinnen und die stadtteilbezogen vernetzend tätig sind (Witte 1994).
2.2.5.2 Das Programm „Klasse2000“
Das Programm „Klasse2000“ gilt als das größte Programm zur Gesundheitsförderung und Suchtvorbeugung in der Grundschule in Deutschland und wurde bereits 1991 am Institut für Präventive Pneumologie am Klinikum Nürnberg entwickelt. Träger des Programms ist der gemeinnützige „Verein Programm Klasse2000 e.V.“. Die Konzeption wird durch ein Kompetenzgremium aus Wissenschaftler(inne)n verschiedener Fachrichtungen wie Medizin, Ernährungs- und Sportwissenschaften, Sozialwissenschaften und Pädagogik stetig weiterentwickelt. Es handelt sich um einen in den Schulalltag integrierten Gesundheitsförderungs- und Präventionsunterricht, der auf vier Jahre angelegt ist und sich über den Zeitraum von der ersten bis zur vierten Klassenstufe erstreckt. Zentrales Finanzierungselement ist die vertraglich vereinbarte klassenbezogene Übernahme von Patenschaften. Der Finanzierungsbeitrag beträgt 240 € für jede Klasse pro Schuljahr.
In Berlin beteiligten sich im Schuljahr 2005/06 insgesamt 291 Klassen mit 7.025 Schülern (davon im 4. Programmjahr: 65 Klassen mit 1.549 Schülern) am Programm „Klasse2000“ (Verein Programm Klasse2000 e.V., www.klasse2000.de).
Zu den Programmzielen
Das Programm ist ausgerichtet auf die Entwicklung der persönlichen und sozialen Lebenskompetenzen sowie die Stärkung der Persönlichkeit und des Selbstwertgefühls der Kinder. Des Weiteren soll es zur Entwicklung einer positiven Einstellung zur Gesundheit beitragen, damit die Kinder in die Lage versetzt werden, selbst Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen. Die Kinder sollen sich spielerisch mit ihrem Körper vertraut machen und „einen verantwortlichen Umgang mit Genussmitteln und die Fähigkeit des Neinsagens in Verführungssituationen lernen“ (Hollederer/Bölcskei 2001).
Zur Programmkonzeption
In den Klassen, die am Programm teilnehmen, sollen durch die Klassenleiterinnen in jedem Schuljahr elf bis dreizehn Unterrichtseinheiten im Rahmen eines wissenschaftlich erarbeiteten Curriculums durchführt werden. Den Lehrkräften werden dazu Unterrichtsvorschläge ausgehändigt, die sie auf der Grundlage der jeweiligen Rahmenlehrpläne nutzen können. Zwei bis drei weitere Unterrichtseinheiten pro Schuljahr werden durch externe Gesundheitsförderer gestaltet, die aus pädagogischen oder medizinischen Berufen kommen und gesondert geschult werden. Den Schülern werden jährlich spezielle Schüler-Arbeitshefte ausgehändigt.
Die vier Programmjahre sind von jeweils unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten geprägt, die sich an den Lehrinhalten der Klassenstufe orientieren. Im ersten Jahr stehen die „Wege der Luft“ und in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Atmung sowie Bewegung und Entspannung im Vordergrund. In der zweiten Klassenstufe lernen die Kinder in den Unterrichtseinheiten ihren Körper und das Verdauungssystem kennen und beschäftigen sich mit dem Thema Ernährung. Sie lernen über Gefühle sprechen und Probleme zu lösen. Das dritte Jahr steht im Zeichen der Förderung der sozialen Kompetenz durch Körpererfahrungen und Gruppenerlebnisse. Die Kinder sollen ihre eigenen Stärken und Schwächen erkennen, mit Wut umgehen und Konflikte lösen lernen. Vermittelt werden auch Kenntnisse über das Herz und den Blutkreislauf. Erst in der vierten Jahrgangsstufe steht der Suchtmittelkonsum im Zentrum der Betrachtung. Die Kinder sollen sich mit dem Alkohol- und Tabakkonsum und seinen gesundheitlichen Folgen kritisch auseinandersetzen und in Gruppendrucksituationen das „Neinsagen“ lernen. In diesem Zusammenhang wird auch die Rolle der Werbung erörtert. Ein weiteres wichtiges Thema ist der Bereich Freundschaft.
Zum aktuellen Schuljahr neu in das Programmkonzept aufgenommen wurde das Thema Gewaltprävention.
Klasse2000 verzichtet entgegen der Strategie der meisten vergleichbaren Programme[7] bewusst auf verbindliche Lehrerfortbildungen, sondern setzt hauptsächlich auf eine enge Kooperation von Lehrkräften und Gesundheitsförderern sowie die sehr detailliert und konkret aufbereiteten Unterrichtsvorschläge (vgl. Hollederer/Bölcskei 2001; Storck/Duprée/Bölcskei 2005). Der Einbindung der Eltern kommt aufgrund „der unvergleichlichen Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehungen für die kindliche Entwicklung“ (Kraus/Duprèe, Bölcskei 2002) eine Schlüsselrolle zu.
Ein wichtiges Anliegen der Initiatoren des Programms ist die Etablierung des Bereichs Gesundheitsförderung in den Lehrplänen. So sehen Hollederer und Bölcskei (2000) Gesundheitsförderung und Suchtprävention als Teil des Bildungsauftrags sowie als pädagogisches Handlungskonzept der Schule und somit als Aufgabe einer jeden Lehrkraft. Aufgrund des föderalen Bildungssystems und in Ermangelung eines eigenständigen Gesundheitsfachs in Deutschland werden gesundheitsrelevante Inhalte Fächer über-greifend, von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, vermittelt. Da „Klasse2000“ in Bayern entwickelt wurde, liegen dort auch bereits die meisten Erfahrungen in der Programmumsetzung, einschließlich der Implementierung in die Grundschullehrpläne, vor (vgl. Hollederer/Bölcskei 2000).
Zur Evaluierung des Programms
Das Programm „Klasse2000“ unterliegt einer ständigen wissenschaftlichen Selbstevaluation. Dabei werden sowohl der Prozess als auch die Ergebnisse evaluiert.
Befragungen von Lehrkräften und Gesundheitsförderern belegen ein hohes Maß an Zufriedenheit mit der Programmkonzeption und deren Umsetzung. Eine Fragebogenerhebung bei Lehrern erster Klassen im Schuljahr 2000/2001 ergab, dass ein Großteil der Lehrkräfte einschätzt, der Unterricht habe Spaß gemacht (Lehrer: 86,7%; Kinder: 94,8%), brachte einen hohen Lerngewinn (86,2%), war methodisch-didaktisch gut aufbereitet (80,0%) und gut in den Lehrplan integrierbar (78,7%) (Kraus/Duprèe/Bölcskei 2002). Nicht unproblematisch bei der Bewertung dieser Ergebnisse ist jedoch die geringe Responserate von etwa 27%. Ähnlich positive Einschätzungen ergab eine schriftliche Befragung aller im Schuljahr 1999/2000 zum Einsatz gekommenen Gesundheitsförderer. Bei einer sehr hohen Rücklaufquote von 77% schätzten die Befragten überwiegend ein, dass sowohl sie als auch die Kinder Spaß am Unterricht hatten (jeweils 94%), die methodisch didaktische Aufbereitung gut war (86%) und der Unterricht zum Lerngewinn für die Kinder beigetragen habe (87%) (Hollederer/Bölcskei 2001).
Ausgehend von der großen Bedeutung der Einbindung der Eltern führt „Klasse2000“ auch regelmäßig Elternbefragungen durch. Eine Fragebogenerhebung bei 1.430 Eltern in Hessen mit Kindern in der zweiten Jahrgangsstufe zum Ende des Schuljahres 2001/2002 ergab bei einer Responserate von 43,7%, dass die meisten Kinder den Eltern ‚mehrmals’ zu Hause vom Klasse2000-Unterricht berichtet (75,6%; sogar mehr als 90% mindestens. ein Mal) und die entsprechenden Materialien gezeigt (z.B. Elternbrief: 77%, gebastelter Klaro: 80,6%, Elternratgeber: 63,3%) hätten (Kraus/Duprèe/Bölcskei 2003).
Auf der Grundlage altersgerechter Fragebögen werden regelmäßig Schülerbefragungen durchgeführt.
Der Verzicht auf verbindliche Lehrerfortbildungen wird mit den Ergebnissen einer Befragung von Lehrern begründet (715 Antworten/Rücklauf: 46,5%), die mehrheitlich eine Zustimmung zu dieser Konzeptausrichtung ergab. So sahen 48% (gegenüber 38%; 14% unentschlossen) einführende Fortbildungen als nicht notwendig an. Von den Lehrkräften, die diese Fortbildungen ablehnten, gaben 55% an, dass die Unterrichtsvorschläge völlig ausreichten. Gewünscht wurden hingegen von 62% der Lehrer Fortbildungen zu speziellen Themen, wie Gewalt oder Entspannung. Aufgrund der nicht unerheblichen Zahl von Lehrern, die sich jedoch die Einführungsfortbildung wünscht, gaben die Forscher die Empfehlung, Lehrerfortbildungen auf freiwilliger Basis anzubieten (vgl. Kraus/Duprée/Bölcskei 2004).
Durch die Ergebnisse der Befragungen von Lehrern sieht Klasse2000 e.V. darüber hinaus ein hohes Maß an Durchführungstreue bestätigt. 66% der Lehrkräfte (n=1517; Rücklauf= 34,6%) aus drei Jahrgangsstufen gaben an, dass sie im ersten Jahr 75% oder mehr des Curriculums abgedeckt hätten. In den Folgejahren verringerte sich die Durchführungstreue jedoch signifikant (vgl. Storck/Duprée/Bölcskei 2005). Als Haupteinflussfaktoren stellten sich dabei die Einstellung der Lehrkraft zum Programm und deren persönliche Programmerfahrungen heraus (vgl. a.a.O.).
Bei der Bewertung dieser Ergebnisse sollte die geringe Responserate berücksichtigt werden, da unter den Lehrkräften, die nicht geantwortet haben, durchaus eine deutlich geringere Durchführungstreue vermutet werden kann.
Zu einer im Schuljahr 2006/2007 von Programm Klasse2000 e.V. im Rahmen der Selbstevaluation durchgeführten Lehrerbefragungsstudie liegt nunmehr aktuell die Auswertung vor. Der Faktor Lehrerwechsel vor der 4. Klassenstufe als Einflussgröße auf die Konzept- bzw. Durchführungstreue wurde hierbei ausführlich bewertet und diskutiert. Insgesamt konnten dazu 625 Fragebögen ausgewertet werden, was eine Rücklaufquote von 43,7% bedeutet. Demnach setzen Lehrkräfte, die von Anfang an über alle vier Programmjahre an Klasse2000 teilgenommen haben, signifikant mehr Inhalte um als „quer einsteigende“ KollegInnen (Storck et al. 2007: 5).
Kritisch anzumerken ist, dass zwar erstmals durch gezielte Fragestellung („Gehört die Schule an der Sie unterrichten nach Ihrer Kenntnis zu einem ‚sozialen Brennpunkt’“?) eine separate Auswertung der Daten bezüglich der Programmumsetzung an so genannten „Brennpunktschulen“ hätte erfolgen können, sich in der aktuellen Publikation dazu jedoch keine Informationen finden. Vorliegende vorläufige Ergebnisse für Berlin (Stand: 04.10.2006)[8] deuten darauf hin, dass die Angaben von Lehrern an „Brennpunktschulen“ zu Durchführungstreue, Durchführungsintensität und Zusammenarbeit mit den Gesundheits-förderern ungünstiger ausfallen. Aufgrund der sehr geringen zur Verfügung stehenden Stichprobe für Berlin (Rücklauf 27,7%; n=18) sind die Aussagen jedoch nicht repräsentativ, sondern deuten lediglich auf Probleme hin, die es weiter zu untersuchen gilt.
2.3 Kompetenzentwicklung im Kindes- und Jugendalter
Suchtvorbeugung durch Lebenskompetenzförderung ist das Ziel von „Klasse2000“. Im Folgenden sollen daher die zu fördernden Kompetenzen identifiziert und operationalisiert werden, um den Präventionsansatz besser verstehen und praktisch umsetzen zu können.
Kompetenzen werden innerhalb des Bildungsprozesses erworben, der in erster Linie als Persönlichkeitsbildung zu sehen ist und sich durch die Auseinandersetzung des Individuums mit sich selbst und seiner Umwelt vollzieht. Erst diese Kompetenzen ermöglichen eine Auseinandersetzung mit veränderten oder auch problematischen Situationen. Grunert definiert als Leitfaden ihrer Expertise zum Kompetenzerwerb von Kindern und Jugendlichen in außerunterrichtlichen Sozialisationsfeldern im Rahmen des Zwölften Kinder- und Jugendberichts Bildung als einen offenen Prozess, „der sich über die gesamte Lebensspanne vollzieht und dabei frei von [konkreten] Zielvorgaben gedacht werden muss“ (Grunert 2005: 12). Anzustreben sei jedoch die autonome und verantwortliche Teilhabe an der Gesellschaft, die auf der Grundlage der im Bildungsprozess erworbenen Kompetenzen erst möglich wird (ebd.).
2.3.1 Grundlegende Kompetenzen
Im Rahmen der durch Bildung angestrebten Persönlichkeitsentwicklung lassen sich vor allem drei grundlegende Kompetenzen unterscheiden, die aufeinander aufbauen und sich wechselseitig bedingen. Demnach sind unter der Selbstkompetenz in erster Linie die charakterlichen Grundfähigkeiten zu verstehen wie die Übernahme von Verantwortung oder eigene Wertorientierungen. Die Sozialkompetenz, die in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt, im Umgang mit den Mitmenschen erworben werden kann, wird geprägt durch die kommunikativen Fähigkeiten wie Kritikfähigkeit oder Kooperationsfähigkeit. In der Beschäftigung mit der materiellen und kulturellen Umwelt lassen sich hingegen die Sach- und Methodenkompetenzen herausbilden, die vor allem durch die kognitive Leistungsfähigkeit, u. a. durch die grundsätzliche Lernfähigkeit, bestimmt werden nach (a.a.O.).
2.3.1.1 Soziale Kompetenz
Kinder und Jugendliche lernen und entwickeln sich in der Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen, in der Schule ebenso wie in der Freizeit. Der Austausch zwischen den gleichrangigen Partnern ermöglicht „die Ausbildung der Fähigkeit zur reziproken Perspektivenübernahme“ (Youniss 1994, zit. n. Grunert 2005: 56). In der Sozialwelt der Gleichaltrigen sind aufgrund der Anerkennungsstruktur Potenziale für die Moral-entwicklung der Heranwachsenden gegeben (Krappmann 2001). Regeln werden von den Gleichaltrigen nicht einfach nur übernommen, sondern mit ihnen ausgehandelt. Dabei müssen die eigenen Bedürfnisse und Ansichten hinterfragt und die Perspektive der Anderen eingenommen werden. Argumente werden entwickelt und ausgetauscht (Grunert 2005). Enge Freundschaften sind förderlich für die soziale und moralische Entwicklung (Keller 2001). Die hohe Bedeutung enger Freundschaften wächst noch weiter im Verlauf der Jugendphase (Silbereisen/Vaskovics/Zinnecker 1996).
Durch die Beziehungen der Gleichaltrigen untereinander wird ein spezifischer Erfahrungs-raum mit seinen Austausch- und Aushandlungsprozessen geschaffen, indem Erfahrungen darüber vermittelt werden, wie soziale Netzwerke aufgebaut, gefördert und aufrecht erhalten werden können (Grundmann et al. 2003). Das erfordert ein hohes Maß an Kooperations-, Verhandlung- und Kritikfähigkeit, vor allem wegen der zeitlichen Befristung dieser Beziehungen. Die „Netzwerkkompetenz“ kann daher nur innerhalb der Gleichaltrigengruppe erworben werden, nicht in der Familie und auch nicht in der Lehrer-Schüler-Beziehung (Hurrelmann 2004). Die Grundsteine für die Fähigkeit soziale Kompetenzen auszubilden und soziale Beziehungen einzugehen werden jedoch in der familiären Sozialisation gelegt (oder eben nicht).
Die Realität zeigt jedoch, dass die Freundschaftsnetzwerke nicht allen Kindern gleicher-maßen als Lernfeld offen stehen und die Erfahrungen sozialer Anerkennung sehr unter-schiedlich ausfallen können. Im Rahmen der Befragung von 8- bis 10-Jährigen Kindern stellte Roppelt (2003: 411f) fest, dass ca. 19% der Kinder Probleme mit der sozialen Kontaktaufnahme haben und sich dadurch sozial isoliert fühlen. Es gilt eigene Strategien zu entwickeln, auch mit Kritik und Ablehnung umgehen zu können.
Hurrelmann sieht im Umgang mit solchen Erfahrungen die Chance zur positiven Beeinflussung von „Enttäuschfestigkeit und Widerstandspotenzial in zwischenmenschlichen Interaktionen“ (2004: 128), jedoch auch die Gefahr des Entstehens von Problemsituationen.
2.3.1.2 Selbstkompetenz
Da den meisten Kindern immer weniger frei verfügbare Zeit zur Verfügung steht und der Alltag durch eine relativ feste Terminstruktur bestimmt wird oder Eltern, vor allem aus Familien mit geringem sozialen Status, die Vermittlungsfunktion nicht ausreichend wahrnehmen, wächst die eigene Verantwortung für das Arrangieren von Kontakten mit Gleichaltrigen, um die soziale Isolation zu vermeiden (vgl. Zinnecker und Silbereisen 1996, Grunert 2005). Gleichaltrigenbeziehungen verlangen somit auch „eine enorme Kompetenz zur Selbstorganisation, die eine eigenständige Verabredungspraxis sowie eine Koordination mit anderen Freizeitaktivitäten erfordert“ (Grunert 2005: 58). Dazu müssen Fähigkeiten wie Zeit- und Terminmanagement oder Prioritätensetzung entwickelt werden.
Um sich selbst als etwas wert, als bedeutsam und wichtig zu betrachten, bedarf es Erfahrungen der Selbstwirksamkeit. Selbstwirksamkeit lässt sich definieren als „die subjektive Überzeugung, schwierige Aufgaben oder Lebensprobleme auf Grund eigener Kompetenz bewältigen zu können“ (Schwarzer 1998: 159, vgl. Definition von Bandura 1997: 3).
Wichtig ist der Vergleich mit Gleichaltrigen (z.B. in der Schule), um die eigenen Fähigkeiten zu bewerten, eigenes Handeln zu reflektieren und Selbstwirksamkeits-erfahrungen zu sammeln. Bei Kindern mit einer niedrigen Selbstwirksamkeit zeigen sich frühzeitig Probleme sich anderen Kindern anzuschließen. Kinder mit negativen Erfahrungen bezüglich der sozialen Integration, die sich vorrangig an anderen Kindern orientieren und nicht selbst mitbestimmen, weisen häufig ein geringeres Selbstwertgefühl auf (Grunert 2005).
Die Untersuchung von Roppelt (2003: 422) zeigt, dass ca. 40% der befragten Kinder hinsichtlich ihrer sozialen Position unsicher sind, sich als wenig beliebt beschreiben und sich darum sorgen, den Ansprüchen der Anderen zu genügen. Wohlbefinden und Selbstbild der Heranwachsenden werden maßgeblich durch die Qualität der sozialen Netzwerkbeziehungen bestimmt (ebd.).
Unter Berücksichtigung der zunehmenden Isolierung von Familien mit Migrations-hintergrund in bestimmten großstädtischen Sozialräumen sind die Erkenntnisse einer Befragung türkischer Jugendlicher durch Reinders (2003) interessant, die zeigen, dass die Jugendlichen, die auch einen deutschen Freund hatten, über ein höheres Selbstbewusstsein verfügen als diejenigen, die nur Freunde innerhalb der eigenen Ethnie haben.
2.3.1.3 Sach- und Methodenkompetenz
Mit verschiedenen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass Kinder und Jugendliche ihre Anregungen und ihre Motivation für wichtige Beschäftigungen und inhaltliche Interessen in stärkerem Maße durch Gleichaltrige bekommen, als durch Eltern oder Lehrerinnen (Furtner-Kallmünzer et al. 2002, Lipski 2002, vgl. auch Grunert 2005). Das bedeutet, dass die Ausbildung von Interessen und Neigungen im Kindes- und Jugendalter vor allem im Erfahrungsaustausch mit den Gleichaltrigen erfolgt, mit denen diesen auch gemeinsam nachgegangen wird.
Für Kinder scheint es im Rahmen des informellen Lernens einfacher, Lösungen für kognitive Aufgaben zu finden, wenn andere Kinder widersprechen oder anderer Meinung sind und nicht Erwachsene (Eltern, Lehrer). Zusammenhänge können von den Kindern besser verstanden und Wissen besser angeeignet werden, wenn Lösungswege durch gemeinsames Aushandeln erarbeitet werden (Krappmann 2001).
Vor allem im Umgang mit modernen Medien macht sich das bemerkbar. Häufig haben die Eltern einfach zu wenig Erfahrung im Umgang mit Computern und Internet, Gameboy und Playstation oder Handy und MP3-Player. Auch die Schulen bieten heute noch nicht in der erforderlichen Breite und Qualität geeignete Lernmöglichkeiten. Für Kinder und Jugendliche sind diese Medien jedoch bereits fester Bestandteil des Alltags (vor allem der Freizeit) und der Umgang mit ihnen ist selbstverständlich.
Die Chancen und Potenziale des informellen Lernens in der Gleichaltrigengruppe zeigen sich insbesondere auch beim Spracherwerb von Kindern mit Migrationshintergrund. Häufig können sie in den eigenen Familien die deutschen Sprachkenntnisse nicht anwenden oder gar vervollkommnen (vgl. Grunert 2005, Roppelt 2003). Die für den Bildungserfolg notwendigen sprachlichen Kenntnisse werden offenbar nicht durch das Bildungssystem vermittelt (Gogolin 2003).
Gefordert wird daher die vorrangige Förderung in der deutschen Sprache, „gerade auch für Kinder anderer Herkunftssprachen, aber auch für alle anderen Kinder, insbesondere für Kinder aus sprachlich wenig geförderten Milieus“ (Grundschulverband - Arbeitskreis Grundschule e.V. 2006). Weiterhin werden für Schulen mit Kindern ohne ausreichende Deutschfähigkeiten zusätzliche Lehrerdeputate für eine ergänzende Förderung gebraucht. Wo dies möglich ist, sollten Kinder mit Migrationshintergrund auch in ihrer Herkunftssprache gefördert werden. An Grundschulen in sozialen Brennpunkten sollten auch PädagogInnen beschäftig werden, die eine der häufigen Migrationssprachen beherrschen (ebd.).
2.3.2 Kompetenzförderung in Familie und Gleichaltrigengruppe
Unabhängig von den sich vollziehenden Veränderungen der Familienstrukturen ist die Kindheit auch heute in erster Linie eine „Familienkindheit“ (Grunert 2005: 64). Bildung und Kompetenzentwicklung beginnen in der Familie. Für heutige Kinder gehören „Bildungsprozesse auch weiterhin zu den biografischen Grunderfahrungen“ (Brake/Büchner 2003: 619). In der Familie erwerben Kinder ihre sozialen Basis-kompetenzen, die die Grundlage für außerfamiliäre Sozialbeziehungen sind. Eine zentrale Rolle kommt der Familie auch in Bezug auf die Entwicklung von Normen, Werten und Verhaltensmuster zu (Eickhoff 2000). Das Erziehungsverhalten der Eltern und die Form der Kommunikation zwischen den Mitgliedern der Familie, aber auch das Beziehungs-verhalten der Eltern untereinander wirken sich auf die Ausbildung sozialer und personaler Kompetenzen und die Selbst- und Weltsicht der Kinder aus (Grunert 2005, Herzberg 2003). Das Klima und die Kultur des Zusammenlebens in der Familie sind mitbestimmend für das Wohlbefinden und die Überzeugungen der Selbstwirksamkeit. Hinsichtlich ihrer Bedeutung bei der Ausbildung von Sach- und Methodenkompetenzen interpretiert Grunert die bisherigen Forschungsergebnisse dahingehend, dass „von einem wachsenden Funktionsverlust der Familie“ (2005: 65) auszugehen ist.
Im Blickpunkt der Kindheits- und Familienforschung stand bisher vorrangig der Zusammenhang von familiärer Herkunft und Bildungsbeteiligung bzw. Bildungserfolg. Der hohe Einfluss der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sozialschicht auf die schulische Entwicklung der Kinder gilt dabei als unbestritten. Differenziert sind jedoch die unterschiedlichen Ansichten über den Grad des Einflusses der Schichtzugehörigkeit zu betrachten. Defizite in der familialen Sozialisationsleistung können unter Umständen durch die Bildungsinstitutionen kompensiert werden“ (Grunert 2005: 66).
In dem hier erörterten Forschungszusammenhang ist auch die Frage nach fördernden und hemmenden Faktoren des Einflusses der Familienstrukturen auf die schulischen Bildungsprozesse von Relevanz. Zu bemängeln ist bei den entsprechenden Untersuchungen, dass die „Normalfamilie“ kaum als Vergleichsgruppe diene, sondern Beispiele wie die Trennung der Eltern isoliert als maßgebliche Einflussfaktoren betrachtet werden (Diefenbach 2000). Auf der Basis der PISA-Ergebnisse kommen Tillmann und Meier letztlich zu dem Schluss, dass bei Kontrolle der Schulformen und Sozialschichten „Kinder von Alleinerziehenden genauso gute Schulleistungen auf[weisen] wie Kinder aus ‚vollständigen’ Familien“ (2001: 481). Die Familienform allein habe keine Aussagekraft für ein unterschiedliches Kompetenzniveau der Heranwachsenden. Von größerer Bedeutung sind die bestehenden sozialen Netzwerke der Familie, das Bildungsniveau der Eltern, die Qualität der familiären Beziehungen und die miteinander verbrachte Zeit (Grunert 2005).
Familien erbringen jedoch auch eigene Bildungsleistungen (Brake/Büchner 2003). Es kann daher davon ausgegangen werden, dass aufgrund des hohen Einflusses der sozialen und familiären Herkunft der Heranwachsenden die Vorbereitung auf die Schule und die Unterstützung während der Schulzeit durch die Familien sehr unterschiedlich erfolgt. Die Auswirkungen der sozialen und kulturellen Ressourcen der Familie beeinflussen den Kompetenzerwerb der Kinder daher stärker als es die Schule vermag (Grunert 2005).
Der Kompetenzerwerb der Kinder im außerschulischen Bereich ist maßgeblich von den ökonomischen, sozialen, kulturellen sowie den zeitlichen Ressourcen der Herkunftsfamilie abhängig (Grunert 2005). Das zeigt sich u. a. in der Übernahme der Nutzungsgewohnheiten der Eltern und der Schichtspezifität bei der Nutzung von Medien (Bofinger 2001). Barz (2002) weist darauf hin, dass die Nutzung moderner Medien durch Eltern aus gehobenem Milieu in erster Linie dem Informationserwerb und Arbeitszwecken dient, während bei Nutzern unterer sozialer Milieus eher Unterhaltungszwecke im Vordergrund stehen. Anhand der Kriterien Bildungsniveau und Lebensbedingungen lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Typen des familiären Fernsehumgangs unterscheidet. Demnach lässt sich ein eher unbedachtes, nachlässigeres Umgangsmuster bei Familien erkennen, die sozial schlechter situiert sind, geringere wirtschaftliche Ressourcen haben und in denen die Eltern niedrigere oder keine Bildungsabschlüsse besitzen (Lange 2002). Der Medienkonsum als ein wichtiger Indikator für die Vermittlung methodischer Kompetenzen wird in starkem Maße durch die soziale Lage von Kindern bestimmt (Paus-Hasebrink/Bichler 2005).
Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass bei den meisten Kindern ein durchaus wählerischer Umgang mit Medien und nur bei einem geringen Anteil ein extensiver Medienmissbrauch mit den schädlichen und häufig angeprangerten Nebeneffekten, wie Überwiegen der Sekundärerfahrung, Bewegungsarmut, Mangel an Kontakten, an Ansprache, Unterentwicklung der Sprachkompetenz, mangelnder Realitätsbezug (Hauck-Bühler 2004).
Auch hinsichtlich der Einbindung des Lesens in den Alltag und der Verfügbarkeit von Büchern im Haushalt besteht eine starke Abhängigkeit vom Bildungshintergrund der Eltern (Grunert 2005). Mit den Ergebnissen der PISA-Studie bestätigt sich auch der Zusammenhang zwischen den familialen Strukturen und der Lesekompetenz. Als maßgebliche Risikofaktoren für eine geringe Lesekompetenz haben sich die Herkunft der Kinder und Jugendlichen aus unteren Sozialschichten, das niedrige Bildungsniveau der Eltern und ein Migrationshintergrund der Eltern herauskristallisiert (Baumert/Schümer 2001: 401).
Neben den familiären Beziehungen prägen vor allem die Gleichaltrigenbeziehungen die Kompetenzentwicklung im Kindesalter. Im Kontext der Arbeit sind die Gleichaltrigen-beziehungen vor allem deshalb von Relevanz, da die Kinder im Grundschulalter diese vornehmlich in der Schule praktizieren, wo demnach auch die größten Einfluss-möglichkeiten bestehen. Die Bedeutung der Gleichaltrigenbeziehungen und somit der sozialen Vernetzung nimmt mit dem Alter zu. Sozio-emotionale Faktoren wie Geborgenheit, Verlässlichkeit oder Vertrauen gewinnen zunehmend an Gewicht (Salisch/Seiffge-Krenke 1996). Für Grundschulkinder dienen die Gleichaltrigen-beziehungen der Erweiterung des eigenen Beziehungsnetzwerks über die Familie hinaus und zunehmend auch der Abgrenzung gegenüber der Erwachsenenwelt im Zuge der Verselbständigung (Wensierski 2003). Freundschaftliche Beziehungen werden über das gesamte Kindes- und Jugendalter vor allem gleichgeschlechtlich gepflegt (Zinnecker et al. 2002) und bestehen stärker innerhalb der eigenen Ethnie (Reinders 2003).
Die Gleichaltrigen-Gruppen haben eine große Bedeutung bei der Bewältigung der jugendspezifischen Entwicklungsaufgaben, bei der Gestaltung eigener Sozialräume und beim Ausprobieren von Beziehungsformen sowie der Suche nach der eigenen kulturellen Zuordnung (Wensierski 2003).
Peers wirken jedoch in der Jugendphase nicht immer unterstützend und entwicklungsfördernd. Den Peergroups kommt u. a. eine besondere Bedeutung für die Entwicklung Gewalt fördernder Verhaltensweisen zu (Pfaff 2002). Auch die Erkenntnis, dass sich in diesen Gruppen lernfeindliche Einstellungen entwickeln können, ist nicht neu (Hurrelmann 2004). Jugendliche mit einer problembelasteten familiären Sozialisation suchen in der Clique häufig Lösungen für ihre familiären, sozialen oder auch schulischen Probleme, was oft zur Herausbildung abweichender Verhaltensmuster führt (Grunert 2005, Wensierski 2003). Verstärkt wird dieser Prozess auch dadurch, dass sich Kinder über ihre Aktivitäten gerne Kindern des eigenen sozialen Milieus zuwenden und somit selbst eine „Schichtzuordnung“ vollziehen (Herzberg 2003: 69). Kinder aus sozial deprivierten Lagen bleiben demnach eher (mit ihren Problemen) unter sich.
Zusammenfassend lassen sich für die im Rahmen dieser Arbeit diskutierte Strategie der Suchtvorbeugung durch Stärkung von Lebenskompetenzen der Kinder vor allem zwei geeignete Sozialisationsbeziehungen identifizieren. Neben dem Elternhaus haben vor allem die Gleichaltrigenbeziehungen Einfluss auf die Kompetenzentwicklung der Heranwachsenden. Da die kindliche Kompetenzentwicklung unmittelbar beeinflusst wird durch den sozialen Status der Eltern und deren Bildungshintergrund, sind die Chancen im Entwicklungsprozess ungleich verteilt (vgl. auch Kap. 2.1). Hinzu kommt, dass viele Eltern ihrer Erziehungs- und Förderungsverantwortung gegenüber ihren Kindern nicht mehr in ausreichendem Maße nachkommen (können). Dadurch erhöht sich die Bedeutung der Beziehungen unter Gleichaltrigen. Die Gefahr der Isolation sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher, insbesondere von Migranten, darf dabei nicht unterschätzt werden. Aufgrund der Bedeutung der Gleichaltrigenbeziehungen bei der Entwicklung bestimmter Sachkompetenzen (Sprache) oder Selbstkompetenzen (Selbstbewusstsein) sind gerade für Migrantenkinder die Kontakte zu gleichaltrigen Kindern deutscher Herkunft immanent wichtig. Den primären Bildungseinrichtungen Kindergarten und Grundschule kommt daher eine ganz besondere Verantwortung hinsichtlich der Kompetenzförderung zu, da die Kinder dort den Großteil ihrer Zeit unter Gleichaltrigen, mit all den fördernden und negativ beeinflussenden Faktoren, verbringen. Ein frühzeitiger Beginn gezielter Förderung und Stärkung der Lebenskompetenzen vor allem von Kindern aus sozial benachteiligten Familien bereits im Kindergarten- und Grundschulalter ist daher dringend geboten. Je früher die gezielte Stärkung von Lebenskompetenzen begonnen wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit eines gesunden Heranwachsens und einer möglichst großen Chancengleichheit im Bildungsverlauf. Den aktuellen politischen Bestrebungen auf Bundes- und Landesebene nach einer flächendeckenden Einführung der Ganztagsschule und möglichst verpflichtenden Betreuungs- und Bildungsangeboten im vorschulischen Bereich kann vor allem im Interesse der Chancenverbesserung für sozial benachteiligte Kinder daher nur zugestimmt werden. Neben dem Kindergarten scheint daher kein Ort geeigneter für gesundheitsfördernde und präventive Maßnahmen zu sein als die Grundschule. Schulen (und Kindergärten) jedoch, die aufgrund ihrer Lage in sozialen Brennpunkten überwiegend oder ausschließlich von Schülern mit Migrationshintergrund besucht werden, können auch bei größtem Engagement der Lehrkräfte dem Auftrag einer umfassenden chancengleichen Kompetenzentwicklung nicht gerecht werden, da die notwendige natürliche Kommunikation mit Kindern deutscher Herkunftssprache kaum noch gegeben ist.
2.4 Die Grundschule als Ort für Gesundheitsförderung und Suchtprävention
Wie bereits zuvor herausgestellt, kommt der Grundschule eine weiter zunehmende Verantwortung im Rahmen einer möglichst chancengleichen Kompetenzentwicklung als Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Suchtprävention und ein gesundes Aufwachsen der ihr anvertrauten Kinder zu. Inwieweit sie dieser Verantwortung in der heutigen Zeit noch gerecht werden kann, soll im Nachfolgenden erörtert werden.
„Suchtprävention in der Schule zu leisten heißt aber, an sich selbst und mit anderen zu lernen“ (Kaufmann 2001: 17).
2.4.1 Die Grundschule als Bildungsinstitution
Will man die Aufgaben, die der Grundschule im Rahmen der Gesundheitsförderung und der Vorbeugung von Substanzmissbrauch sowie der damit einhergehenden Förderung von Lebenskompetenzen zukommen, und vor allem ihre Möglichkeiten erörtern, ist es unabdingbar, sich über die gesellschaftliche und schulische Realität im Klaren zu sein. Zu den originären Bildungsaufgaben der Schule kommt heute eine Vielzahl anderer Aufgaben hinzu. Teilweise scheint es, dass die Schule sowohl die Versäumnisse von Politik und Gesellschaft als auch der Elternhäuser ausgleichen soll. Dabei gilt es eine möglichst große Chancengleichheit für alle Kinder zu wahren, obwohl die sozialen und die Bildungs-voraussetzungen der Kinder sich häufig erheblich unterscheiden. Insbesondere auf Schulen in sozialen Brennpunkten kommen heute enorme Belastungen zu, während die gesellschaftlichen Erwartungen kontinuierlich steigen.
2.4.1.1 Die Grundschule von heute – zwischen Anspruch und Wirklichkeit
In den zurückliegenden Jahrzehnten haben sich die Familienstrukturen stark verändert. Auswirkungen auf den Entwicklungsprozess von Kindern ergeben sich dabei zwangsläufig. Die Folgen der gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen und Brüche zeigen sich alltäglich in der Schule. Zur Alltagsarbeit der Lehrkräfte gehört es daher „[...] einen Teil der Kinder und Jugendlichen immer häufiger aus ihren ‚internen Rückzugstendenzen’ zurückzuholen, durch übermäßigen Medienkonsum verursachte Aufmerksamkeitsdefizite auszugleichen, motorisch hyperaktiven Kindern Konzentrations- und Ruhephasen zu verschaffen und gewalttätigen Schülerinnen und Schülern Einhalt zu gebieten und sie wieder in die Lage zu versetzen, ihren Gefühlen sozial verträglichen Ausdruck zu verleihen“ (Barkholz et al. 1997). Die Probleme, die die Schule zu lösen hat, betreffen nicht mehr nur einzelne Problemschüler oder Schülergruppen. Darüber hinaus delegieren viele Eltern ihre Erziehungsfunktionen an die Schule (vgl. ebd.).
Vor dem Hintergrund eines überproportional hohen Migrantenanteils[9] in bestimmten Berliner Sozialräumen ist durch die Schule vermehrt der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Kinder mit den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen und damit verbundenen Erziehungsstilen aufwachsen. So stellt Uslucan (2006) fest, „[...]dass in traditionellen islamischen Familien die Grenzsetzung in der Erziehung der Kinder in einem wesentlich späteren Alter als bei deutschen Familien einsetzt, dann aber auch eher rigide ist, während kleinere Kinder relativ viel Handlungsfreiheit haben, Hilfe und Schutz genießen“ (2006: 60). Gegenüber deutschen Erziehungszielen wie kindliche Autonomie oder Selbstständigkeit wird kulturell definierten Erziehungszielen wie Respekt, Gehorsam und Beachtung von Hierarchien Vorrang eingeräumt. Von kleinen Kindern werde zwar erwartetet, dass sie die Feinheiten der Gastfreundschaft (z.B. Begrüßen, Verabschieden) möglichst schnell erlernen; sich hingegen allein anzuziehen oder der alltäglichen Körperhygiene nachzugehen, genieße dabei keine Priorität. Eine Gleichsetzung mit fehlender erzieherischer Kompetenz sollte daraus jedoch nicht resultieren (a.a.O.).
Auch Toprak (2005) verweist auf eine zumeist inkonsequente Erziehung und die Beibehaltung traditioneller Erziehungskonzepte in türkischen Migrantenfamilien, die vor allem den Respekt vor Autoritäten und die alleinige Erziehungsverantwortung der Mutter beinhalten. Grundsätzlich stehe Bildung bei diesen Familien hoch im Kurs, jedoch seien die Familien oft nicht in der Lage die notwendige Unterstützung zu geben. Der Erziehungsauftrag werde jedoch auch gern den Bildungsinstitutionen wie Kindergarten und Schule übertragen, sodass türkische Eltern irritiert seien, wenn sich Lehrkräfte wegen mangelnder Disziplin der Kinder an sie wenden. Die Lehrkraft büße dabei Ansehen und Kompetenz ein (a.a.O.). Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass die türkischen Migranten nicht „die türkische Kultur“ verkörpern (Celebi-Back 2004: 153). Viele Migranten halten aus Angst vor dem Verlust der religiösen, kulturellen und nationalen Identität viel strenger an traditionellen Normen und Werten fest und leben Werte und Traditionen, die zum Zeitpunkt des Verlassens des Heimatlandes galten. Der in der Türkei vorherrschenden Realität werde das nicht gerecht (ebd.).
Die Schule ist ein "Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen und muss sich diesen gleichzeitig stellen, wenn sie als System so funktionieren will, dass sich alle Beteiligten wohl fühlen und ihre bestmöglichen Leistungen erbringen können“ (Seeger/Zumstein 2002: 1).
Der Grundschule kommt daher – mehr denn je – eine außerordentlich wichtige Sozialisationsfunktion gegenüber den ihr anvertrauten Kindern zu (vgl. Haug 2004, Rehle/Thoma 2003). Neben anderen Einrichtungen wie Familie und Kindergarten soll die Grundschule einerseits die Voraussetzungen für Bildung schaffen und ist andererseits selbst Bildungsinstitution mit eigenständigem Bildungsauftrag (Rehle/Thoma 2003). Die grundlegende Bildung orientiert sich dabei sowohl an der Lebenswelt der Kinder als auch an den Erfordernissen der Gesellschaft. Grundlegende Bildung ist „Bildung für alle Kinder“ und sollte sich gegen die gesellschaftliche Chancenungleichheit bei der Entwicklung individueller Fähigkeiten richten. Ziele grundlegender Bildung sind neben der Vermittlung grundlegender Lerntechniken und der Entfaltung grundlegender, fach-bezogener Kenntnisse, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Begabungen auch die „Einübung grundlegender Haltungen“, u. a. durch die Stärkung des Selbstwertgefühls und der Selbst-ständigkeit (a.a.O.: S. 178ff).
Berechnungen gehen davon aus, dass Schülerinnen und Schüler heute bis zu zwanzig-tausend und mehr Stunden in der Schule verbringen, womit Schule ein zentrales Ereignis im Lebenslauf von Kindern und Jugendlichen ist (Haug 2004: 535).
Die Grundschule muss sowohl die räumlichen und sozialen Bedingungen ihres Umfeldes als auch die unterschiedlichen Erfahrungen (z.B. kultureller Hintergrund) und Lernvoraussetzungen (z.B. Sprachfähigkeit) der Schüler ausreichend berücksichtigen. Der Schule erwachsen aus den jeweiligen Bedürfnissen und Problemen des Einzugsgebiets besondere Aufgaben und Chancen. Erkannte Defizite in den Lernvoraussetzungen der Kinder bedürfen einer besonderen Förderung, insbesondere bezüglich der Sprachkompetenz. Den Schulen in problembehafteten Einzugsgebieten kommen neben ihren originären Aufgaben zunehmend auch sozialpädagogische Aufgaben zu. „Für so genannte ‚Brennpunktschulen’ bedarf es zusätzlicher finanzieller und personeller Anstrengungen“ (Rehle/Thoma 2003: 49).
Nicht außer Acht gelassen werden darf in diesem Zusammenhang der in Untersuchungen zur ‚Lehrerbelastung’ nachgewiesene Umstand, dass in dieser Berufsgruppe eine besonders hohe psychische und psychomotorische Beeinträchtigung des Befindens vorliegt, da die Lehrkräfte durch den Anstieg verhaltensauffälliger Schüler und (üb)erhöhte gesellschaftliche Erwartungen einer starken Belastung ausgesetzt sind. Aus der Sicht von Gamsjäger „[...] stellen [diese Lehrkräfte] für das System Schule einen enormen Risikofaktor dar, weil sie aufgrund der erlebten emotionalen Erschöpfung und uneingeschränkten persönlichen Leistungsfähigkeit die interpersonellen Beziehungen zu KollegInnen und SchülerInnen belasten“ (1996: 327).
Keel (1993) begründet das so genannte „Burnout-Syndrom“ damit, dass aufgrund der psychischen Belastung durch die Arbeit viele engagierte und qualifizierte Mitarbeiter ihre Begeisterungsfähigkeit und das Engagement für die Arbeit verlieren.
Freitag (1998) berichtet bezüglich der Berufsgruppe Lehrer von häufigen Klagen über Stress am Arbeitsplatz und zahlreichen diagnostizierten psychischen und psychosomatischen Symptomen. Die höhere Belastung von Lehrern im Vergleich zur Normalbevölkerung sei eindeutig belegt und die mit dem Beruf des Lehrers einhergehenden Anforderungen zeigten massive Wirkungen im psychischen Bereich, die zu der hohen Anzahl an Frühverrentungen führten (a.a.O.).
Die permanenten finanziellen Einschränkungen bei der Schulmittel-Ausstattung, Veränderungen der Lehrer-Schüler-Relation und die Überalterung der Lehrerkollegien erschweren die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte zusätzlich (Barkholz et al. 1997).
2.4.1.2 Unterrichtsmethoden
Bevor es darum gehen kann Kriterien zu bestimmen, wie Unterrichtsgeschehen beobachtbar und messbar wird, ist zu klären, mit welchen Methoden ein guter und zielgruppenspezifischer (Präventions-)Unterricht gestaltet werden sollte.
Haug definiert Unterricht als „systematisches Lehren und Lernen nach Absicht, Plan und Methode in vorgegebenen Zeiteinheiten und in stufenweisem Fortschritt und, sofern Unterricht in Gruppen stattfindet, auch im Gleichschritt“ (2004: 521). Er wird dabei seit je her durch Vorschriften und Richtlinien, Lehrpläne und Curricula geregelt.
Unterricht kann grundsätzlich in vier verschiedenen sozialen Organisationsformen realisiert werden: Klassenunterricht, Einzelarbeit, Partnerarbeit, Gruppenarbeit (Huwendiek 2004: 70).
Vor dem Hintergrund der zielgruppenspezifischen Ausgestaltung präventiver Programme speziell für die Arbeit mit sozial benachteiligten, insbesondere Migrantenkindern in den Brennpunktschulen kommt der Methodenfrage, die in der Öffentlichkeit seit langem sehr kontrovers diskutiert wird, eine große Bedeutung zu. Der Frontalunterricht, als reinste Form der darbietenden Methode, gilt vielen Wissenschaftlern und Pädagogen als antiquiert.
In seiner Analyse verschiedener Veröffentlichungen zu diesem Thema (Glöckel 1992, Meyer 1993, Meyer/Meyer 1996, Aschersleben 1999, Gudjons 2003) kommt Huwendiek zu dem Schluss, dass der Frontalunterricht noch immer die wichtigste und häufigste Sozialform im Unterricht ist und dieses auch auf absehbare Zeit zurecht bleiben wird. Das schließe jedoch eine kontinuierliche Verbesserung und eine angemessene Reduzierung mit ein, nach dem Motto: „So wenig Frontalunterricht wie möglich – so viel Frontalunterricht wie nötig“ (a.a.O.: 80).
Diese Sichtweise erfährt durch erste Ergebnisse der noch nicht vollständig ausgewerteten Längsschnittuntersuchung „BeLesen“ der Freien Universität Berlin zum Schriftspracher-werb von Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache aktuell eine gewisse Bestätigung. Demnach sei die Wahl der geeigneten Unterrichtsmethode in starkem Maße abhängig von der Zusammensetzung der jeweiligen Lerngruppe und den sprachlichen Voraussetzungen der Lernenden. Bei Kindern nichtdeutscher Muttersprache bringe der Lehrgangsunterricht, der überwiegend auf der frontalen Lehrmethode basiert, demnach eindeutig die besseren Resultate und die größten Lernzuwächse hervor (Schründer-Lenzen 2004). Bei Schründer-Lenzen heißt es dazu weiter: „Die klare Struktur eines Fibellehrgangs, das überschaubare Materialangebot und die damit verbundene Eindeutigkeit von Aufgabenstellungen scheint gerade für Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache eine angemessene Lernsituation für den Erwerb des Deutschen als Zweitsprache anzubieten“ (a.a.O.: 44). Die in den letzten Jahren zunehmend verpönten Fibellehrgänge scheinen sich im Rahmen dieser Untersuchung zumindest in Klassen in sozialen Brennpunktlagen mit überproportional hohem Anteil an Migrantenkindern als besonders lernförderlich zu erweisen, sodass Schründer-Lenzen dafür plädiert, „die Methoden des Anfangsunterrichts erneut auf den Prüfstein zu legen“ (ebd.).
In einem späteren Bericht zu dieser Studie relativieren die verantwortlichen Forscher Schründer-Lenzen und Merkens jedoch die klare Aussage zu den Zwischenergebnissen und stellen fest: „Varianz- und regressionsanalytisch lassen sich nur geringe Effekte hinsichtlich unterschiedlicher fachdidaktischer und pädagogischer Orientierungen des Anfangsunterrichts ausmachen. Tendenziell günstigere Lernergebnisse lassen sich für lehrgangsnahe Formen des Rechtschreibunterrichts und für eher spracherfahrungs-orientierte Formen des Leseunterrichts ausweisen“ (2006: 15).
[...]
[1] so genannte „soziale Brennpunkte“ - nähere Erläuterungen im Kap. 4.2
[2] nur bei Kindern mit deutscher Muttersprache und akzentfreiem Deutsch erhoben
[3] Durchschnittliche Prävalenz in der Altersgruppe
[4] größte relevante Migrantengruppe
[5] aufgrund des überproportional hohen Anteils an Menschen mit Migrantionshintergrund - in Berlin (Wedding) vor allem türkischer Herkunft
[6] mindestens einmal in der Woche
[7] z.B. „Eigenständig werden“ (IFT Nord), „Fit und stark fürs Leben“ (vgl. Hanewinkel/Asshauer 2003)
[8] Daten auf Anfrage von Programm Klasse2000 e.V. zur Verfügung gestellt
[9] überwiegend türkischer Herkunft
- Citation du texte
- Magister Public Health Steffen Künzel (Auteur), 2007, Maßnahmen der schulischen Gesundheitsförderung und Suchtvorbeugung in sozial benachteiligten Gebieten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87560
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