Das Erkenntnisziel der vorliegenden Arbeit ist kein systematisch-theologisches, sondern ein psychologisch-pädagogisches.
Es unterteilt sich in drei Feinziele:
1. In der Auseinandersetzung mit der Individualtherapie Adlers und der Logotherapie Frankls soll herausgefunden werden, welcher Art eine Thematisierung des Sinnes des Lebens im Gespräch möglich ist.
2. Inwiefern lässt sich diese Thematisierung in ein Gespräch zwischen einem Religionspädagogen und einem Sinnsuchenden übertragen? Können diese Theorien Religionspädagogen ein Vokabular für die Beantwortung der Sinnfrage anbieten, mit dem sie auch Menschen von einem Sinn des Lebens überzeugen können, die für sich einen Gottesglauben oder die Kirchenmitgliedschaft ablehnen?
3. Religionspädagogik beschränkt sich nicht nur auf seelsorgerliche Gespräche. Sie ist vor allem Bildungsarbeit in der schulischen und gemeindlichen Praxis. Sind Adlers und Frankls Definitionen von Sinn auch hier anwendbar?
An einem Seminarwochenende für Konfirmanden wird die Anwendbarkeit der Theorien Adlers und Frankls pädagogisch-praktisch erprobt.
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung
1.1 Einleitung und Erkenntnisziel
1.2 Überblick über die Arbeit
2 anerkannte Psychotherapien in Deutschland
2.1 psychotherapeutische Konzepte
2.2 Psychotherapien in Deutschland
2.2.1 psychodynamische Therapien
2.2.2 Verhaltenstherapien
2.3 Einordnung der Individualpsychologie
2.3.1 Biographische Daten Alfred Adlers und der Begründung seiner Theorie
2.3.2 Einordnung
2.4 Einordnung der Logotherapie
2.4.1 Biographische Daten Viktor E. Frankls und der Begründung der Logotherapie
2.4.2 Einordnung
3 Die Psychotherapie von Alfred Adler
3.1 Definition der Individualpsychologie
3.2 Menschenbild
3.3 Indikationsbereich
3.3.1 Ursachen psychischer Störungen
3.3.2 Individualpsychologische Definition psychischer Störungen
3.3.3 Struktur und Methoden
3.4 Das psychotherapeutische Gespräch
3.5 Zusammenfassung und kritische Bewertung
4 Die Psychotherapie von Viktor E. Frankl
4.1 Logotherapie oder Existenzanalyse
4.2 Logotherapie und Existenzanalyse
4.3 Menschenbild
4.3.1 Person
4.3.2 Wille zum Sinn
4.3.3 Gewissen
4.3.4 Werte
4.3.5 Resümee
4.4 Indikationsbereich
4.4.1 Die fünf Indikationsbereiche der Logotherapie
4.4.2 Existenzanalytische Definition noogener Störungen
4.4.3 Struktur und angewandte Methoden
4.5 Das psychotherapeutische Gespräch
4.6 Zusammenfassung und kritische Bewertung
5 Die Thematisierung von Sinn
5.1 in der Theorie Alfred Adlers
5.2 im individualtherapeutischen Gespräch nach Adler
5.3 in der Theorie Viktor E. Frankls
5.4 im logotherapeutischen Gespräch nach Frankl
6 Ein Vergleich der theoretischen Inhalte der Individualpsychologie und Existenzanalyse und Logotherapie
7 Anwendung in der Religionspädagogik
7.1 Religion und Psychotherapie
7.2 Gott als Ziel der Vollkommenheit – die Beziehung der Individualpsychologie zur Religion
7.3 „Existentielle Frustration ist spirituelle Not“ - Die Beziehung der Logotherapie zur Religion
7.4 Anregungen für ein religionspädagogisches Gespräch mit einem sinnsuchenden Menschen
7.4.1 Formale Anregungen
7.4.2 Inhaltliche Anregungen
7.5 Ein Seminarwochenende mit Konfirmanden zum Sinn des Lebens
7.5.1 Die Suche nach einem Slogan
7.5.2 Ziele
7.5.3 „FRAG NACH DEM DARUM!“
7.5.4 Das Philosophierzimmer und die Sinn-Galerie – Vorstellung zweier Methoden, entwickelt in Orientierung an den Theorien von Adler und Frankl
8 Zusammenfassung
1 Einführung
1.1 Einleitung und Erkenntnisziel
„Wozu lebe ich?“
„Ich fühle mich sinnlos.“
„Mein Leben hat keinen Sinn!“
„Das macht doch alles keinen Sinn mehr!“
Dies sind Aussagen vom Zweifel an der Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz. Aussagen, denen in ihrer Spontanität und Dimension oft mit Sprachlosigkeit begegnet wird. Diese Aussagen verlangen nicht nur nach einer philosophischen oder theologischen Diskussion über den Sinn des Lebens. Sie verlangen nach konkreten Antworten.
Bleibt die Sinnfrage[1] unbeantwortet, kann das folgenschwere Konsequenzen haben. Neben Suizid, Suchtkrankheiten, politischem und sozialem Desinteresse gehört dazu auch der Verlust des Glaubens an Gott. Diese Konsequenzen betreffen nicht nur den am Lebenssinn Zweifelnden, sondern auch seine nächsten Angehörigen, sein unmittelbares soziales Umfeld und schließlich die Gesellschaft, in der er lebt.
Bis vor etwas mehr als hundert Jahren waren in Europa die Priester und Seelsorger der Kirchen Hauptadressat dieser Fragen. Von der Theologie erhoffte sich der Mensch nicht nur Sinnklärung für sein persönliches Leben, sondern die generelle Zusicherung der Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz. In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass heute auch dem Religionspädagogen wegen seiner seelsorgerlichen und theologischen Kompetenzen die Beantwortung dieser existentiellen Fragen zugetraut wird.
Doch die Zahl der Kirchenaustritte in Deutschland ist seit Beginn der 90er Jahre gleichbleibend hoch (Pollak, siehe Anhang 1). Religion verliert für eine zunehmende Zahl von Menschen ihre sinnstiftende Funktion[2]. In der EKD-Denkschrift, „ Kirche mit Hoffnung – Leitlinien künftiger kirchlicher Arbeit in Ostdeutschland 1998“ (siehe Anhang 2) wird daraus eine Handlungsaufforderung formuliert.
Erfahrungsgemäß sind Religionspädagogen in Schule und Gemeinde auch mit nicht-religiösen Menschen konfrontiert, die um eine Antwort auf die Sinnfrage bitten. In einer zum großen Teil säkularisierten Gesellschaft sind Religionspädagogen demnach in beiden Arbeitsbereichen vor die Herausforderung gestellt, eine Sprache über die Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz zu entdecken jenseits des christlich eingefärbten und unverkennbaren Vokabulars.
Die Grundlage einer adäquaten Reaktion auf die angezeigten gesellschaftlichen Entwicklungen findet sich bereits in der religionspädagogischen Ausbildung, denn sie ist eine Verknüpfung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. Eine dieser Disziplinen ist die Psychologie. Nicht nur beim Verständnis des Menschen, auch für die Gestaltung des seelsorgerlichen Gesprächs bietet sie der Pädagogik und Theologie hilfreiche Orientierung. In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass viele Menschen die Verknüpfung theologischer Inhalte und seelsorgerlicher Gesprächstechniken als Angebot der Begleitung bei ihrer Suche nach Lebenssinn nicht mehr erreicht. Dazu beziehe ich mich auf eine von dem Religionssoziologen Detlef Pollak veröffentlichte Tabelle:
Tabelle 1 Entwicklung der Stärke des Vertrauens in die Kirche in Ost- und Westdeutschland, 1991-1995 (Mittelwerte); Angaben als Skalenmittelwerte (- 5 = gar kein Vertrauen, + 5 = sehr hohes Vertrauen). Quelle: IPOS 1991-1993 und 1995 (nach Weßels 1997: 197) zitiert in Pollak, siehe Anhang 1.[3]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Heutzutage kann sich ein sinnsuchender Mensch ebenso an einen Psychotherapeuten oder Berater wenden. Die Psychotherapie und Lebensberatung hat, wie die Religion, den Versuch unternommen, eine für Menschen sinnstiftende Funktion zu übernehmen.
Insbesondere zwei Vertreter der Psychologie haben sich als Pioniere um die Sinnfrage verdient gemacht: Alfred Adler (1870-1937), Begründer der Individualpsychologie und Viktor E. Frankl (1905-1997), Begründer der Existenzanalyse und Logotherapie.
Beide haben eine eigene Antwort auf die Sinnfrage gefunden.
Der Sinn des Lebens erfüllt sich nach Adler für den einzelnen Menschen in seinen sozialen Beziehungen (siehe 5.1). Adlers Beschäftigung mit dem Sinn des Lebens ist zugleich eine Gesellschaftskritik. Dreikurs fasst sie folgendermaßen zusammen: „Wir leben in einer Gesellschaft, die auf Wettkampf und Konkurrenz aufgebaut ist. Dementsprechend verweigern wir dem Kind das Gefühl, so, wie es ist, etwas wert zu sein. Nur wenn es besser wäre, stärker und fähiger, nur dann könnte es etwas wert sein.“ (Dreikurs 1997, S. 34)
Frankl fasst seine Auseinandersetzung mit dem Sinn des Lebens wie folgt zusammen: „[Ich habe ...] den Sinn [meines ...] Lebens darin gesehen, anderen zu helfen, in ihrem Leben einen Sinn zu sehen.“ (Frankl 1988, S. 172)
Nicht so sehr ein Vergleich der Individualpsychologie und Existenzanalyse ist für das Erkenntnisziel entscheidend, sondern ihre Anwendbarkeit in der Religionspädagogik. Der Schwerpunkt der Auseinandersetzung wird daher auf den Aspekten der jeweiligen Theorie liegen, die vermitteln, wie Sinn im individual-, bzw. logotherapeutischen Gespräch thematisiert wird. Das Erkenntnisziel der vorliegenden Arbeit ist demnach kein systematisch-theologisches, sondern ein psychologisch-pädagogisches.
Es unterteilt sich in drei Feinziele:
1. In der Auseinandersetzung mit der Individualtherapie Adlers und der Logotherapie Frankls soll herausgefunden werden, welcher Art eine Thematisierung des Sinnes des Lebens im Gespräch möglich ist.
2. Inwiefern lässt sich diese Thematisierung in ein Gespräch zwischen einem Religionspädagogen und einem Sinnsuchenden übertragen? Können diese Theorien Religionspädagogen ein Vokabular für die Beantwortung der Sinnfrage anbieten, mit dem sie auch Menschen von einem Sinn des Lebens überzeugen können, die für sich einen Gottesglauben oder die Kirchenmitgliedschaft ablehnen?
3. Religionspädagogik beschränkt sich nicht nur auf seelsorgerliche Gespräche. Sie ist vor allem Bildungsarbeit in der schulischen und gemeindlichen Praxis. Sind Adlers und Frankls Definitionen von Sinn auch hier anwendbar?
An einem Seminarwochenende für Konfirmanden wird die Anwendbarkeit der Theorien Adlers und Frankls pädagogisch-praktisch erprobt.
Abschließend stellt sich die Frage, ob eine Beschäftigung mit aktuellen Strömungen nicht sinnvoller ist als mit „Pionieren“[4]. M. E. ist die Beschäftigung mit Pionieren deswegen sinnvoll, da das Aktuelle meist aus den Wurzeln erst verständlich wird. Es ist wie bei den Religionen, in denen eine lange Tradition nicht selten den Blick auf das Eigentliche, Ursprüngliche versperrt.
1.2 Überblick über die Arbeit
Die Diplomarbeit beginnt in Kapitel 2 mit der Darlegung der in der Bundesrepublik Deutschland anerkannten psychotherapeutischen Konzepte. Zum einen ermöglicht eine Zuordnung der Individualpsychologie in Abschnitt 2.3 und der Existenzanalyse und Logotherapie in Abschnitt 2.4 zu den anerkannten Psychotherapien in Deutschland eine genaue Abgrenzung und Definition. Zum zweiten soll sich dadurch die Frage der Verfügbarkeit für die Religionspädagogik klären.
In diesem Kapitel beziehe ich mich auf die als Studienlehrbücher konzipierten Werke „Psychologie“ (1995) von Philip Zimbardo und „Grundkonzepte der Psychotherapie“ (2001) von Jürgen Kriz aufgrund ihrer differenzierten und übersichtlichen Darstellung zu dieser Thematik. Im Gegensatz dazu lohnt sich angesichts der Prägnanz der Darstellungen und der expliziten Konzentration auf Deutschland auch der Bezug auf „Psychotherapie – Grundlagen und Methoden“ von Michael Wirsching (1999). Angaben zur Geschichte der Psychotherapie finden sich im „Managementhandbuch für die therapeutische Praxis“ (MHP) (2004).
Das dritte Kapitel stellt die für das Erkenntnisziel der vorliegenden Arbeit wichtigsten Aspekte der Individualpsychologie, bzw. Individualtherapie dar. Dazu gehören das individualpsychologische Menschenbild und die daraus resultierende Praxis der Individualtherapie. Ich beziehe mich dabei in erster Linie auf „Der Sinn des Lebens“ (1987) von Alfred Adler. Es ist das von ihm zuletzt veröffentlichte Buch, das seine Theorie zusammenfässt. Wiederholt wird Adler der Mangel eines angenehmen Schreibstils vorgeworfen[5] (vgl. Kausen 1982, S. 134 und Bruder-Bezzel 1999, S. 73). Alle weiteren von ihm verwendeten Bücher dienen demnach der Erhellung unverständlicher Darstellungen. Geschichtliche Daten habe ich vorrangig Almuth Bruder-Bezzels „Geschichte der Individualpsychologie“ (1999) entnommen.
Rudolf Dreikurs hat neben Heinz L. Ansbacher wesentlich an der Bekanntmachung der Individualpsychologie im deutschen Raum Anteil. Auf seinem Buch „Grundbegriffe der Individualpsychologie“(1997) basiert der Abschnitt 3.4, da Adler zum Ablauf und der Wahl der Methoden der Individualtherapie keine Festlegungen getroffen hat. Roswitha Neiß` findet hier Eingang, um zu verdeutlichen, dass sich an Dreikurs Darstellungen in dreißig Jahren wenig verändert hat. Die Kenntnisnahme beider Verlaufsdarstellungen scheint notwendig zur Verdeutlichung der Schwerpunkte in den einzelnen Phasen, vorrangig aber für die Verständlichkeit des Psychotherapieprozesses. Am Ende dieser Arbeit soll anhand dieser Darstellung überprüft werden können, welche Phasen Anregungen für die Berufspraxis der Religionspädagogik bieten und welche Aspekte außerhalb ihrer Kompetenz bleiben müssen. Gleiches gilt für die Darstellung des individualtherapeutischen Gesprächs in diesem Kapitel.
Es wurde sich darum bemüht, in den Kapiteln 3 und 4 eine möglichst gleich bleibende Gliederung beizubehalten. Durch die Unterschiedlichkeit beider Theorien war dieser Anspruch nicht gänzlich durchzusetzen. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass sich in der Phase der Theoriebildung Frankls Kritik auf eine Psychoanalyse und Individualpsychologie seiner Zeit bezieht, die es durch die Entwicklung neuartiger Therapiekonzepte und gegenseitige Beeinflussung nicht mehr gibt. Sie ist daher heute nur noch mit Vorbehalt gültig (vgl. Wirsching 1999). Dies gilt m. E. ebenso für Adlers Beurteilung der Psychoanalyse. Ebenfalls ist darauf hinzuweisen, dass Adler und Frankl in erster Linie aus ihren Erfahrungen als Mediziner, als Psychiater, referieren. Da der klinische Bereich allgemein nicht zum Arbeitsfeld des Religionspädagogen gehört, entnehme ich den Theorien nur die Aspekte, die eine Übersetzung in die Religionspädagogik zulassen.
Die meisten Bücher Viktor Frankls beinhalten Sammlungen von Fachvorträgen. Daher wurden als Grundlage für das vierte Kapitel drei Bücher gewählt, die seine Theorie strukturiert darbieten. Hierzu zählen „Das Leiden am sinnlosen Leben“ (2002a), „Die Psychotherapie in der Praxis“ und „Der unbewußte Gott“ (2004). Lediglich „Die Sinnfrage in der Psychotherapie“ (1988) stellt eine Ausnahme dar, da in diesem Buch explizit Bezug zum Erkenntnisziel genommen wird. Außerdem enthält es einen autobiographischen Teil Frankls.
Kapitel 5 enthält die Sinn-Definitionen Adlers und Frankls und deren Übertragungsmöglichkeiten in das psychotherapeutische Gespräch.
Um die Überprüfung der Anwendbarkeit im 7. Kapitel zu vereinfachen, erscheint ein Vergleich der bis dahin untersuchten Aspekte der Theorien Adlers und Frankls im 6. Kapitel angebracht. Der Vergleich wird, im Gegensatz zu der für diese Arbeit verwendeten Literatur, den Focus auf die Gemeinsamkeiten richten.
Im 7. Kapitel wird sich demzufolge mit der Anwendbarkeit des Ergebnisses für die Religionspädagogik auseinandergesetzt. Es wird zuerst die Beziehung Adlers (siehe 7.2) und Frankls (siehe 7.3) zur Religion dargestellt, damit davon abgeleitet die Religionspädagogik ihren Standort zu Adler und Frankl bestimmen kann.
Die Stellungnahme Adlers zur Religion findet sich vor allem in „Religion und Individualpsychologie“ (1975), Frankls Stellungnahme findet sich in „Der unbewußte Gott“ (2004).
Im Verlauf der Fertigstellung dieser Arbeit bot sich die Möglichkeit, ein Wochenendseminar für Konfirmanden in der kirchlichen Bildungsstätte Helmut-Gollwitzer-Haus in Wünsdorf zu leiten zum damals vorläufigen Thema „Sinn des Lebens“ (siehe 7.5) Daraus ergab sich die umfassendere Anwendungsmöglichkeit der Theorien von Adler und Frankl auch im pädagogisch-praktischen Bereich.
So werden im letzten Kapitel dieser Arbeit im Abschnitt 7.4 Anregungen gegeben für ein religionspädagogisches Gespräch mit einem sinnsuchenden Menschen und im Abschnitt 7.5 einige Aspekte der methodischen Gestaltung eines Wochenendseminars für Konfirmanden vorgestellt – ebenfalls zur praktischen Anregung.
Für einen Menschen, der die Psychotherapie aufsucht, finden sich in der Literatur von und über Adler und Frankl verschiedene Termini[6]. Eine Benennung und ihre Begründung, die m. E. nicht nur Adler und Frankl, sondern auch dem hilfesuchenden Menschen gerecht wird, findet sich bei dem Individualpsychologen Robert F. Antoch. Er spricht vom Patienten, denn „[…] in dieser Benennung wird [.] hervorgehoben, daß der Betroffene als Leidender, mit dem, was ihn leidend macht, im Vordergrund aller Maßnahmen steht.“ (Antoch 1981, S.80 Hervorhebung im Original) Aus diesem Grund habe ich für diese Arbeit durchgängig die Benennung Patient übernommen.
In dieser Arbeit wird auf die Verwendung der gerechten Sprache verzichtet. Dies geschieht nicht aus Gründen der Ignoranz oder Faulheit. Nur aus Gründen der Übersichtlichkeit für den Leser wird auf das Hinzufügen der weiblichen Form verzichtet – keinesfalls aus Missachtung der gerechten Sprache. Selbstverständlich sind immer beide Geschlechter gemeint und angesprochen.
2 anerkannte Psychotherapien in Deutschland
2.1 psychotherapeutische Konzepte
Von der Vielzahl psychotherapeutischer Ansätze seien an dieser Stelle die derzeit wichtigsten der anerkannten Therapien[7] genannt: die psychodynamischen Therapien, die Verhaltenstherapien, die kognitiven Therapien und die existentialistisch-humanistischen Therapien.
Sie unterscheiden sich in den Theoriegrundlagen, dem jeweiligen Menschenbild, der Definition der Krankheitsbilder, den Behandlungsmethoden, der Gewichtung der Beziehung zwischen Therapeut und Patient, den Zielsetzungen und der Behandlungsdauer. Eine ausführliche Diskussion über Unterschiede und Gemeinsamkeiten aller psychotherapeutischen Konzepte geht über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinaus.
Über Unterschiede in der Wirksamkeit lassen sich aufgrund vieler Faktoren schwer Aussagen treffen. Man kann jedoch sagen, dass keines der genannten Therapieverfahren in der Behebung aller Symptome einen Vorrang hätte. Einzig bei der Behandlung einzelner Symptome hat man bestimmten Therapiemethoden im Vergleich zu anderen eine größere Effizienz nachgewiesen (vgl. Zimbardo 1995, S. 686).
2.2 Psychotherapien in Deutschland
Das Sozialgesetzbuch V (SGB V) der Bundesrepublik Deutschland enthält zwei Paragraphen, in denen die Anerkennungsbedingungen und somit die Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen für psychotherapeutische Konzepte festlegt sind, § 12 und § 70 (vgl. MHP 910[8] 2004, S.6f.). Im § 12 wird der Schwerpunkt auf die Wirtschaftlichkeit psychotherapeutischer Konzepte gesetzt, § 70 fordert zugunsten des Patienten eine bedarfsgerechte Behandlung. Eine Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen macht die psychotherapeutische Behandlung allen sozialen Schichten zugänglich. Daraus ergibt sich für die psychotherapeutischen Ansätze die Forderung von Seiten der gesetzlichen Krankenkassen nach einem Nachweis ihrer Wirksamkeit. Andernfalls wäre eine unnötige finanzielle Belastung der Krankenkassen und somit der Beitragszahler die Folge. Nicht anerkannte Ansätze müssen vom Patienten selbst finanziert werden. Sie sind daher nicht jedem zugänglich.
In Deutschland sind bisher die psychodynamischen Therapien, hierzu zählen die Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, und die Verhaltenstherapie anerkannt. Dies geht auf die vertragliche Regelung vom 1. Oktober 2001[9] zwischen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Spitzenverbänden der Krankenkassen zurück (vgl. MHP 1750 2004, S. 2).
Um der Frage nachzugehen, inwiefern Individual- und Logotherapie in der Bundesrepublik Deutschland Anwendung finden, bedarf es zuerst der Vorstellung der in der Bundesrepublik anerkannten psychotherapeutischen Konzepte.
2.2.1 psychodynamische Therapien
Die Psychoanalyse wurde 1902[10] von Sigmund Freud (1856 – 1939) begründet. Sie gilt als die älteste der psychodynamischen[11] Therapien (vgl. Zimbardo 1995, S. 660) und ist schon 1924 als Behandlungsmethode in die „preußische Gebührenordnung“ aufgenommen worden (vgl. MHP 910 2004, S. 2f.).
Als das Hauptziel der Psychoanalyse formuliert Zimbardo: dem Patienten sein Unbewusstes bewusst zu machen. Als weitere Ziele benennt er die „Neuorganisation der gesamten Persönlichkeit“ und die „Errichtung einer innerpsychischen Harmonie“ (Zimbardo 1995, S. 660) zwischen den intrapsychischen Instanzen Es, Ich und Über-Ich (vgl. Flammer 1999, S. 68f.). Diese Instanzen bilden eine unbewusste psychische Dynamik, die das Verhalten eines Menschen steuert. Vor allem hat sie die Funktion, negative Erfahrungen abzuwehren und positiven Erfahrungen zuzustreben. Zur Abwehr negativer Erfahrungen stehen dem Menschen die Mechanismen Verdrängung, Rationalisierung, Spaltung, Verleugnung und Projektion zur Verfügung (vgl. Wirsching 1999, S. 24). Summieren sich die aktuellen mit bereits erlebten negativen Erfahrungen zu einer überlastenden Lebenskrise, ist die Funktion dieser Abwehrmechanismen gestört. Nicht selten wird sich herausstellen, dass die Kombination der Abwehrmechanismen, die persönlichen Problemlösungsstrategien, Anteil an der Problembildung haben, wegen derer der Patient die Psychoanalyse in Anspruch nimmt (vgl. Wirsching 1999, S. 25). Durch eine gestörte Psychodynamik können neurotische Verhaltensmuster[12] entstehen. Freud deutet die physische Symptomentstehung vorrangig verursacht von der durch moralische Instanzen unterdrückten Befriedigung sexueller Triebenergie, Libido genannt (vgl. Kriz 2001, S. 10). Das Verhalten neurotisch erkrankter Menschen entspricht nicht mehr den sozialen Normen.
Nach Freud ging es darum, die verdrängten Traumata der Kindheit und sexuelle Wünsche ins Bewusstsein zu bringen, sie so kontrollieren zu können und ihnen damit ihre pathogene Wirkung zu nehmen (vgl. Flammer 1999 S. 71). Unbewusstes bewusst zu machen bedeutet demnach, auf diese dynamischen Prozesse aufmerksam zu machen und dem Patienten zu helfen, zwischen aktuellen Konflikten und denen der Vergangenheit unterscheiden zu lernen.
Die Techniken der Psychoanalyse sind die freie Assoziation, Analyse des Widerstands, Traumanalyse und Analyse der Übertragung und der Gegenübertragung (vgl. Zimbardo 1995, S.662). Sie finden Anwendung in einem eher unstrukturierten Gespräch auf der Basis einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Psychotherapeut und Patient (vgl. Wirsching 1999, S. 27f.). Eine eingehende Erläuterung dieser Techniken ist im Rahmen der Arbeit an dieser Stelle nicht möglich. Jedoch werden einige dieser Techniken im Zusammenhang mit der Individualpsychologie in 3.4.3 dargestellt, da Adler sie weitgehend übernommen hat (vgl. Kausen 1982, S. 23).
Die Behandlungsdauer kann mehrere Jahre betragen. Die Zahl der wöchentlichen Zusammenkünfte von Psychoanalytiker und Patient, Sitzungen genannt, variiert je nach Bedarf zwischen einer bis fünf (vgl. Zimbardo 1995, S. 660). Die Krankenkasse finanziert bis zu 240 Sitzungen (vgl. Wirsching 1999, S. 24).
Da die psychoanalytische Behandlung die Einsichtsfähigkeit des Patienten erfordert, wird von ihm ein gewisser intellektueller Grad erwartet. Letztlich geht es um eine Neuorganisation der Gesamtpersönlichkeit eines Menschen, die auch unabhängig von psychischen Störungen motiviert sein kann. Dem Patienten kann es neben einer Heilung von Symptomen ebenso um eine bewusstere Gestaltung seiner Lebensbezüge gehen. Wirsching nennt die Psychoanalyse eine „[…] Reifungs- und Entwicklungserfahrung […]“ (1999, S. 23).
Aufgrund der langen Behandlungsdauer wird dem Patienten eine hohe Motivation abverlangt. Falls die Krankenkasse die Notwendigkeit einer Psychoanalyse und somit ihre Finanzierung ablehnt, erweist sie sich für den Patienten als ein kostspieliges Psychotherapieverfahren.
Die tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien unterscheiden sich von der Psychoanalyse durch eine kürzere Behandlungsdauer und eine stärkere Begrenzung in den Behandlungszielen, im Aufwand und eventuell in den daraus folgenden Ergebnissen (vgl. Wirsching 1999 S. 24).
Die aktuelle Anwendung der psychodynamischen Therapien ist auf eine lange Bewährung und Erprobung und einer starken Lobby unter den Ärzten zurückzuführen.
2.2.2 Verhaltenstherapien
Die Verhaltenstherapien haben sich aus dem Behaviorismus[13] entwickelt (vgl. Kriz 2001, S. 15).
Sie orientieren sich an verschiedenen Psychologietheorien wie der Lernpsychologie, der Kognitionspsychologie, der Sozialpsychologie und der Psychophysiologie (vgl. Wirsching 1999, S. 29).
Menschliches Verhalten ist das Ergebnis von Lernprozessen. Sozial unerwünschtes Verhalten kann demnach verlernt, sozial erwünschtes Verhalten gelernt werden. Daraus formuliert sich eine Ablehnung psychischer Störungen im psychodynamischen Sinne.
Sozial unerwünschtes Verhalten ist das Ergebnis einer Fehleinschätzung von Situationen. In den meisten Fällen handelt es sich um Ängste, die die Handlungsfähigkeit des unter ihnen Leidenden beschränkt oder verhindert (vgl. Wirsching 1999, S. 30f.).
Dies erfordert psychotherapeutische Techniken, die sich am Konzept der Konditionierung orientieren. Dazu zählen lernpsychologische Methoden wie die systematische Desensibilisierung, die operante Konditionierung in Form von Belohnung und Bestrafung, oft auf der Basis von gemeinsam ausgehandelten Verträgen, das Lernen am Modell, Selbstsicherheitstraining, und kognitive Techniken, die statt einer Verhaltensmodifikation die Modifikation von Denkstrukturen anstreben. Die kognitiven Techniken führten in den achtziger Jahren zur sogenannten kognitiven Wende nicht nur bei den Verhaltenstherapien (vgl. Wirsching 1999, S. 32).
Als maßgebliches Ziel der Verhaltenstherapien benennt Wirsching die „[…] Stärkung der Autonomie und der Entscheidungsmöglichkeiten […]“ (1999, S.32). Weitere Ziele sind die Veränderung von Wahrnehmungsschemata sowohl kognitiv als auch emotional und die Modifikation sozial unerwünschten Verhaltens in sozial anerkannteres. Die Veränderung des einen bewirkt die Veränderung des anderen Wahrnehmungsbereiches. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich die heutige Bezeichnung „kognitive Verhaltenstherapien“ (vgl. Wirsching 1999, S. 33).
Die Verhaltenstherapien sind wahrscheinlich die in ihrer Wirksamkeit am besten empirisch belegten Psychotherapien. Im Gegensatz zu Zimbardo (siehe 2.1) vertritt Wirsching die Ansicht, dass sie im Vergleich mit den oben benannten Therapieansätzen in den meisten Studien bessere Ergebnisse in Bezug auf den Behandlungserfolg vorlegen. Ausschließlich bei Persönlichkeitsänderungen sind die Verhaltenstherapien den psychodynamischen Therapien unterlegen (vgl. Wirsching 1999, S. 41).
2.3 Einordnung der Individualpsychologie
2.3.1 Biographische Daten Alfred Adlers und der Begründung seiner Theorie
Alfred Adler, geboren 1870 in Wien, arbeitete dort als Arzt und Berater in von ihm gegründeten Familienberatungsstellen. Als diese 1934 nach Machtantritt der Nationalsozialisten geschlossen wurden, emigrierte er in die Vereinigten Staaten von Amerika. In seinen Bemühungen um die Verbreitung der Individualpsychologie lehrte er nicht nur an amerikanischen Universitäten, sondern besuchte weiterhin Europa. Bereits 1937 starb er infolge eines Herzinfarktes, als er sich für einen Vortrag in Aberdeen aufhielt (vgl. Rattner 2000, S. 145f.).
Bis 1911 war Adler Präsident der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“. In diesem Jahr kam es zum offenen Bruch mit Freud. Adler stellte seine Vorstellungen der menschlichen Psyche und ihrer Behandlung in drei Vorträgen mit dem Titel „Zur Kritik der Freud`schen Sexualtheorie des Seelenlebens“ dar (vgl. Kriz 2001, S. 41), deren wesentliche Punkte denen von Freud widersprachen (siehe 2.2.1).
Die Namensgebung des daraufhin 1912 gegründeten „Vereins für Individualpsychologie“ ist in diesem Sinne unglücklich zu nennen, als Individualpsychologie schon damals die gegensätzliche Richtung zur Sozialpsychologie darstellte (vgl. Kriz 2001, S. 41). Jedoch ist für Adler der Mensch vor allem aus seinen sozialen Bezügen zu verstehen[14] (siehe 3.2). Doch ist das menschliche Denken, Fühlen und Verhalten als grundsätzlich zielgerichtet und, im Gegensatz zur Psychoanalyse, das Individuum in-divisible[15]. Daher der Name: Individualpsychologie (vgl. Dreikurs 1997, S. 12f.).
1922 fand in München der „1. Internationale Kongress der Individualpsychologie“ statt (vgl. Bruder-Bezzel 1999, S. 61). Allerdings brachten nicht eine rege Kongresstätigkeit oder die Vortragsreisen Adlers der Individualpsychologie Anerkennung. Aufgrund seines frühen Todes waren es vor allem seine Kinder Kurt und Alexandra Adler und seine Anhänger, die der Individualpsychologie zur Verbreitung verhalfen (vgl. Kriz 2001, S. 11 und Bruder-Bezzel 1999).
2.3.2 Einordnung
Nach Häcker und Stapf ist die Individualpsychologie eine „[…] Richtung der Tiefenpsychologie [...], die besondere Betonung auf die sozialpsychologischen Aspekte der Entwicklung und Veränderungen [des Menschen] legt.“ (2004, S. 436)
Das eigentlich Neue an Adlers Individualpsychologie gegenüber Freuds Psychoanalyse war die Auffassung einer dynamisch-teleologischen Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit, denn „[d]ie teleologische Orientierung Adlers war zu seiner Zeit völlig unannehmbar.“ (Dreikurs 1997, S. 51; vgl. auch Kriz 2001, S. 42) Die Psychoanalytiker suchten die Ursachen neurotischen Verhaltens in der Vergangenheit, Adler wollte den Menschen aus seinen Zielen heraus erkennen. So schreibt Dreikurs: „Man kann Adlers Psychologie wohl als Teleoanalyse ansehen, da wir die Erkenntnis und die Veränderung der Ziele eines Menschen als die Basis unser korrigierenden Bemühungen, seien sie erzieherisch, heilpädagogisch oder therapeutisch, betrachten.“ (Dreikurs 1997, S. 13)
Hieraus ergibt sich der Vorwurf, die Individualpsychologie sei keine Tiefenpsychologie. Die Tiefgründigkeit erhält sie aber gerade durch die Aufdeckung des oft unbewussten Zieles eines Menschen. Nach Adler erklärt erst das Ziel das Verhalten eines Menschen und begründet gegebenenfalls, warum er sich der Verantwortung dafür entzieht. Antoch verwendet dafür das Synonym „selbstverschuldete Unmündigkeit“ (vgl. Antoch 1981, S. 26), denn weder Vererbung noch Umwelt sind für die Entwicklung einer Persönlichkeit determinierende Faktoren (vgl. Adler 1987, S. 70). Antoch fasst Vererbung und Umwelt[16] unter dem Begriff Prädispositionen zusammen und gesteht ihnen, ebenso wie Ansbacher, eine definierende Funktion zu. Mit der darausfolgenden Betonung der Eigenverantwortlichkeit des einzelnen Menschen (vgl. Antoch 1981, S. 13) ist die Ablehnung des behavioristischen Ansatzes verbunden.
Eigenverantwortlichkeit ist dem Menschen möglich durch die schöpferische Kraft, die ihm als Wesensmerkmal eigen ist. Mit schöpferischer Kraft sucht der Mensch sein individuelles Ziel auf individuelle Weise zu erreichen (vgl. Ansbacher 1972, S. 166). Der Ausrichtung auf dieses Ziel wird größere dynamische Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung beigemessen als verdrängten Traumata der Vergangenheit (vgl. Ansbacher 1957, S. 165).
Durch seine Maxime der Individualität, der unteilbaren Einzigartigkeit eines jeden Menschen, lehnt Adler Typisierungen in der Psychologie ab (vgl. Seelhammer 1934, S. 15) und es ergibt sich für ihn in logischer Konsequenz eine Skepsis gegenüber Regeln und Formeln (vgl. Adler 1987, S.77). Dennoch ist die Individualpsychologie offen für die Auseinandersetzung und Integration anderer Konzepte (vgl. Adler 1987, S. 168 und Antoch 1981, S. 7) und orientiert sich nicht nur an den Methoden der Psychoanalyse, sondern integriert auch Methoden anderer Therapieansätze im Rahmen der eigenen Theoriebildung[17] (vgl. Häcker und Stapf 2004, S. 436-437). Sie betrachtet sich als Erbin aller vorhergehenden Bestrebungen, das Wohl aller Menschen zu erreichen (vgl. Adler 1975, S. 98).
Ebenso wie Wirsching stellt Antoch den Trend zu einem integrativen Psychotherapiekonzept, bzw. einer allgemeinen Theorie der Psychotherapie, jenseits von Schulen und ihren Gründern fest. Abschließend stellt sich daher die Frage, ob es sich lohnt, sich mit einem derart betagten Psychotherapiekonzept auseinanderzusetzen. Antoch erkennt den heutigen Beitrag der Individualpsychologie in der nahezu bruchlosen Abstimmung der theoretischen Inhalte. Sie sei dadurch Richtung weisend für eine allgemeine Theorie der Psychotherapie (vgl. Antoch 1981, S. 8).
Die Individualpsychologie hat bereits Einfluss genommen auf psychotherapeutische Ansätze. Dazu gehören zum Beispiel die Gestalttherapie von Friedrich Perls, die Kriz den Humanistischen Ansätzen zuordnet, und die Rational-Emotive-Therapie von Albert Ellis, die er den verhaltenstherapeutischen Ansätzen zuordnet (vgl. Kriz 2001 S.11).
Erst 1970 erholte sich die Individualpsychologie von den Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges. Es bestand zwar schon seit 1962 die Alfred-Adler-Gesellschaft (AAG), sie wurde 1970 aber umbenannt zur Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie (DGIP) und initiierte zu Beginn der siebziger Jahre die Gründung von Ausbildungsstätten. Im Jahr 1984 wurde die Individualpsychologie von der Kassenärztlichen Vereinigung endgültig als tiefenpsychologischer Ansatz anerkannt. Heute gibt es 6 Ausbildungsinstitute für Berater und Therapeuten[18] in Aachen, Berlin, Delmenhorst, Düsseldorf, Mainz und München (vgl. gesamter Abschnitt Bruder-Bezzel 1999, S. 251f.).
2.4 Einordnung der Logotherapie
2.4.1 Biographische Daten Viktor E. Frankls und der Begründung der Logotherapie
Viktor Emil Frankl, 1905 geboren, war Neurologe, Psychiater und Begründer von Jugendberatungsstellen in Österreich (vgl. Frankl 1988, S. 157). Während des Zweiten Weltkrieges wurde Frankl aufgrund seiner jüdischen Herkunft deportiert. Er überlebte die vierjährige Haft in verschiedenen Konzentrationslagern, während seine Eltern, sein Bruder und seine Frau umkamen (vgl. Kriz 2001, S. 202 und Frankl 1988, S. 158f.). Nach dem Krieg kehrte Frankl nach Wien zurück und widmete den Rest seines Lebens der Anwendung und Verbreitung der Existenzanalyse und Logotherapie. Er erhielt 28 Ehrendoktorate und lehrte an namhaften amerikanischen Universitäten (vgl. Kriz 2001, S. 202). Er starb 1997.
Zunächst war Frankl ein Schüler Adlers, wurde aber 1927 aus der Wiener Gesellschaft für Individualpsychologie ausgeschlossen (vgl. Bruder-Bezzel 1999, S. 75). Frankl ging nicht freiwillig, sondern auf das Wirken Adlers hin. Adler konnte es laut Frankl nicht verwinden, dass Frankl öffentlich die Individualpsychologie kritisierte (vgl. Frankl 1988, S. 152f.). Die Namensschöpfung Logotherapie erfolgte 1926 in einem Vortrag. Seit 1933 nutzte Frankl die äquivalente Bezeichnung Existenzanalyse (vgl. Frankl 1988, S. 155).
Die Anfänge der Existenzanalyse und Logotherapie finden sich in Frankls Tätigkeit im so genannten „Selbstmörderinnenpavillion“ des Psychiatrischen Krankenhauses „Steinhof“ in Wien (vgl. Frankl 1988, S. 158). In den vier Jahren seiner dortigen Tätigkeit konfrontieren ihn seine Patientinnen mit einer Frage, die seiner Ansicht nach eigentlich in den seelsorgerlichen Bereich fällt: die Frage nach dem Sinn des Lebens (vgl. Böschemeyer 1977, S. 56). Die Begründung der Logotherapie stellt Frankls Bemühungen dar, herauszufinden, wie die Existenz seiner Patientinnen derart in Not geraten konnte, dass sie ihr lieber ein Ende setzen wollten, statt an einen Sinn ihres Lebens zu glauben. Die philosophische Frage nach dem Sinn des Lebens entsprang für Frankl einer geistigen, nicht psychischen Not. Frankl suchte die Antwort auf die Sinnfrage in der zeitgenössischen Existenz-Philosophie. Vor allem bei den Philosophen Karl Jaspers, Martin Heidegger, Max Scheler und Martin Buber entdeckte Frankl seine eigenen Vorstellungen der Charakteristika des menschlichen Seins wieder (vgl. Böschemeyer 1977, S. 50).
2.4.2 Einordnung
Frankl schreibt 1981: „Wer wäre legitimiert, zu entscheiden, ob die Logotherapie nun wirklich noch Individualpsychologie ist, oder aber längst nicht mehr – wer anders als Adler?“ (Frankl 1988, S. 154) Adler hat Frankl 1927 aus der Gesellschaft für Individualpsychologie ausgeschlossen. Und auch Frankl selbst distanziert sich in seiner Theorie von der Individualpsychologie. Sie habe zwar gegenüber Freud die soziologische Dimension menschlicher Existenz in ihre Theorie miteinbezogen, erfasse aber damit auch nicht die Möglichkeit des Menschen, sich unabhängig von den Gegebenheiten und Forderungen seiner Gemeinschaft zu entscheiden (vgl. Böschemeyer 1977, S. 42f.). Frankl erweitert das vorwiegend biologisch-physiologische Menschenbild um eine noetische – eine personal-geistige – Dimension (vgl. Riedel 2002, S. 22). Die Kritik Frankls an anderen psychotherapeutischen Ansätzen betrifft demzufolge vorrangig deren anthropologisches Verständnis. Er kritisiert ihr reduktionistisches Menschenbild: „Der Mensch wird hingestellt als ein Wesen, das entweder nur auf Reize reagiert (das behavioristische Modell) oder nur Triebe abreagiert (das psychodynamische Modell).“ (Frankl 1988, S. 37 Hervorhebung im Original). Er setzt den verhaltenstherapeutischen und tiefenpsychologischen Ansätzen entgegen, dass der Mensch weder ein reagierendes noch abreagierendes, sondern ein transzendierendes Wesen sei (siehe 4.3).
Die Logotherapie strebt die Rehumanisierung der Psychotherapie an(vgl. Frankl 2002a, S. 27) und wird daher auch der Humanistischen Psychologie[19] zugeordnet. Logotherapie und Humanistische Psychologie fordern gemeinsam die Symbiose aus Philosophie und Therapie (vgl. Kreitmeir 1995, S. 67). Frankl selbst sieht in dieser Symbiose den roten Faden, der sich durch sein Werk zieht (vgl. Frankl, 1988 S. 151).
Grundsätzlich kritisiert Frankl jedoch, daß die Humanistische Psychologie, ebenso wie alle übrigen Psychotherapiekonzepte die noetische Dimension des Menschen in ihrem Therapiekonzept nicht berücksichtigt. In diesen Anspruch stellt sich die Logotherapie.
Dennoch stellt die Logotherapie kein eigenständiges psychotherapeutisches Konzept dar. Frankl definiert sie als Ergänzung der tiefenpsychologischen Ansätze (vgl. Frankl 1988, S. 41). Kriz ordnet sie den humanistischen Ansätzen zu, verweist aber gleichzeitig auf ihre starke Orientierung an der medizinisch-psychiatrischen Definition von Krankheitsbildern (vgl. Kriz 2001, S. 201). Dies mag der Grund sein, warum die Logotherapie als Psychotherapie in Deutschland bisher von der Kassenärztlichen Vereinigung nicht anerkannt ist.
Die beiden Dachverbände Deutsche Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse e.V. (DGLE) und Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse in Deutschland e.V. (GLE-D) bemühen sich um die Verbreitung und Anerkennung der Existenzanalyse und Logotherapie. An zahlreichen Instituten können unter der Voraussetzung einer bereits abgeschlossenen Ausbildung Angestellte sozialer Berufe und der Wirtschaft, Pädagogen und Seelsorger eine Zusatzausbildung zum Berater[20] (siehe Anhang 3), bzw. Ärzte, Psychologen, Pädagogen und Theologen zum Therapeuten in Anspruch nehmen (siehe Anhang 4).
3 Die Psychotherapie von Alfred Adler
3.1 Definition der Individualpsychologie
„Unsere Existenz garantiert uns einen Platz im Leben. Die Frage ist nur, was wir damit zu tun gedenken.“ (Dreikurs 1997, S. 32) Für den Menschen besteht die Aufgabe, zu erkennen, wie er sein Leben sinnvoll gestalten kann. Die Individualpsychologie gibt zwei Orientierungshilfen vor: „Ein Gedanke, ein Gefühl, eine Handlung ist nur dann als richtig zu bezeichnen, wenn sie richtig ist sub specie aeternitatis (= auf ewige Sicht). Und ferner muß in ihr das Wohl der Gemeinschaft unanfechtbar beschlossen sein.“ (Adler 1987, S.95) Die Folgerung, die sich für die Individualpsychologie ergibt, ist die Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang der Werte der Gesellschaft und der des Patienten (vgl. Dreikurs 1997, S. 134). Adler bezeichnet die Individualpsychologie demgemäß als „Wertpsychologie“ (vgl. 1987, S.36). Aus den Wertannahmen eines Menschen resultiert sein bewusstes oder unbewusstes Ziel.
Dieses Ziel des Menschen ist auf die Evolution bezogen und somit immer ein fiktives: die Vervollkommnung der Menschheit (vgl. Adler 1987, S. 39). Dass es dem einzelnen Menschen um eine Lebensgestaltung, um ein persönliches Ziel gehen muss, das die Menschheit als Ganzes zur evolutionären Vervollkommnung voranbringt, in dieser Forderung geht für Ansbacher Adlers Theorie über Pragmatismus und Humanismus hinaus in die Richtung des Existenzialismus[21] (vgl. 1957, S. 169).
Oft ist aber festzustellen, dass das Ziel eines Menschen eher auf Überwindung, Sicherheit und Überlegenheit, also auf den persönlichen Vorteil, ausgerichtet ist (vgl. Adler 1987, S.95). Dieses Ziel resultiert aus einem echten oder eingebildeten, zumindest für das Individuum real erlebten Minderwertigkeitsgefühl. Demzufolge ist das Ziel der Individualtherapie die Überwindung des Minderwertigkeitsgefühls durch die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls. Erst das Gemeinschaftsgefühl befähigt den Menschen zur erfolgreichen Bewältigung der Lebensaufgaben (vgl. Kolbe 1986, S. 79). Das Gemeinschaftsgefühl ist „[…] die Fähigkeit eines Individuums, an einer Gemeinschaft teilzuhaben und mit zu gestalten, wie auch die Fähigkeit zur Mitmenschlichkeit.“ (Häcker und Stapf 2004, S. 436) Hier zeigt sich der entwicklungspsychologische Aspekt der Individualpsychologie. In der Art, wie der Mensch eine neue Aufgabe bewältigt, zu der er eine Weiterentwicklung der sozialen Kompetenz benötigt, zeigt sich, ob er als Kind eher Ermutigung oder Entmutigung erfahren hat (vgl. Neiß 1997, S. 159). Die neue Aufgabe stellt eine Schwellensituation im Vervollkommnungsprozess dar, die der Mensch nur durch soziale Unterstützung überwinden kann (vgl. Adler 1987, S. 44f.).
Nach Neiß verstand Adler demnach psychische Störungen eher als ein soziales Phänomen und hat daher sehr viel größeres Gewicht auf die Neurosenprävention gelegt. „Die Pädagogik nimmt in der Individualpsychologie einen sehr viel höheren Stellenwert ein, als in der Psychoanalyse. […] Adler war der Erste, der Beratungen mit Müttern, Vätern, Lehrern und Kindern durchgeführt hat […]“ (Neiß 1997, S. 160). Er begründete damit das Konzept der Familienberatungsstellen (vgl. Bruder-Bezzel 1999, S. 64).
Anknüpfend erklärt sich der Vermerk bei Michel und Novak: „Die Individualtherapie […] wird zur „therapeutischen Erziehungslehre“ gerechnet.“ (Michel und Novak 2001, S.194 Hervorhebung im Original) und Bruder-Bezzel nennt die Individualpsychologie „tiefenpsychologische Pädagogik“ (Bruder-Bezzel 1999, S. 62)[22].
Die psychotherapeutisch angewandte Individualpsychologie heisst Individualtherapie. Bei diesem Begriff kann es zu Verwechslungen kommen zum einen mit der Individualtherapie der Analytischen Psychologie C. G. Jungs, zum anderen mit der Individualtherapie K.I. Leonhard, die der Verhaltenstherapie zuzuordnen ist (vgl. Novak 2001, S. 197). Im Rahmen dieser Arbeit ist in jedem Fall die individualpsychologische Therapie gemeint.
3.2 Menschenbild
Jeder Mensch schafft sich seine eigene Menschheits- bzw. Persönlichkeitstheorie selbst. Allerdings kann er dies aus individualpsychologischer Sicht nur in Abhängigkeit von Umwelteinflüssen, evtl. von Familientraditionen oder dem Eindruck einer imponierenden Persönlichkeit – „[…] immer aber von der Gesellschaftsordnung, [in der er lebt und] die eine bestimmte Menschheitstheorie als Begründung ihrer existierenden Werte benötigt.“ (Dreikurs 1997, S. 15) Wie konstruiert Adler selbst sein Menschenbild und durch welche Aspekte ist es beeinflusst?
Adler baut die Theorie der Individualpsychologie auf der Erkenntnis auf, dass der Mensch vorrangig ein soziales Wesen ist, da er den gesellschaftlichen Zusammenschluss zur Sicherung des Überlebens benötigt (vgl. Adler 1987, S. 39). Mehrere Untersuchungen ergaben, dass ein Säugling bei sozialer Vernachlässigung physische und psychische Schäden erleidet. Auch sein Überleben ist nicht erst gefährdet, wird er in der freien Natur ausgesetzt, sondern ebenso durch soziale Vernachlässigung (vgl. Zimbardo 1995, S. 81-83).
Was jedoch Adlers Sicht auf den Menschen insbesondere ausmacht, ist die Erkenntnis, wie bedeutend die menschliche Gemeinschaft für die Entwicklung des Charakters und die psychische Gesundheit eines Menschen ist.
Es wird daher zuerst der Mensch in seiner ungeteilten Ganzheit dargestellt, dann aber in seinen sozialen Bezügen.
Das Ziel des Menschen ist die Überwindung von Mangellagen hin zu Gleichwertigkeit und Vervollkommnung. Das Streben des Menschen nach Vervollkommnung ist nicht nur auf die Persönlichkeit eines Menschen bezogen, sondern auf die Menschheit als Ganzes. Es setzt die Menschheit in einen metaphysischen Bezug zum Kosmos[23] und zielt auf die Vollendung der Evolution (vgl. Adler 1975, S. 76). Dieses Streben, Adler nennt es auch aktive Anpassung, ist angeboren (vgl. Adler 1987, S. 164). Es charakterisiert den finalen, zweckgerichteten, Aspekt des Adlerschen Menschenbildes (vgl. Antoch 1981, S. 17ff.).
Obwohl allen Menschen das Streben nach Gleichwertigkeit und Vollkommenheit eigen ist, wird dieses Ziel auf individuelle Art erreicht: „Bei näherer Betrachtung sehen wir, daß gleiche Erlebnisse und Eindrücke von verschiedenen Menschen verschieden verarbeitet werden. Der Mensch reagiert nicht nur, sondern er nimmt Stellung.“ (Dreikurs 1997, S. 21 und Adler 1987, S.113f.) Zur Stellungnahme befähigt den Menschen seine schöpferische Kraft (vgl. Adler 1987, S. 163). Diese Schöpfungskraft ist jedem Menschen eigen und umfasst seine Fähigkeit zum Dialog zwischen den eigenen Bedürfnissen und der ihn umgebenden Gemeinschaft. In der Stellungnahme findet sich der jeweils individuelle Ausdruck seines Charakters. Der Charakter wird erlernt in den frühkindlichen, unbewusst-affektiven, Beziehungserfahrungen des Kindes (vgl. Neiß 1997, S. 149f.). Die frühkindlichen Beziehungserfahrungen bestimmen das individuelle, jedoch fiktive Ziel eines Menschen und somit die Stärke seines Geltungsstrebens. Daraus entwickelt sich sein Lebensplan. Hier wird der konstruktivistische Aspekt erkennbar. Durch die Auswahl der Eindrücke, die ein Mensch entsprechend seinem Ziel verarbeitet, konstruiert er eine eigene Realität (vgl. Bruder-Bezzel 1999, S. 80 und Adler 1987, S. 125).
Die Umsetzung des Lebensplanes nennt Adler „Lebensstil“ (vgl. Adler 1987, S. 22f.). Er lässt sich aus der Symbiose des Gemeinschaftsgefühls mit einem weiteren Axiom des Adlerschen Menschenbildes verstehen: der Willensfreiheit.
Die Willensfreiheit, und damit der Lebensstil, sind durch das fiktive Ziel eines Menschen begrenzt (vgl. Dreikurs 1997, S. 49). Sie sind somit Kennzeichen des finalen Aspektes, denn sie lassen den Rückschluss auf das Ziel eines Menschen zu.
Es wird deutlich, dass eine einheitliche Persönlichkeit erst durch die finale Ausrichtung des Lebensstils entsteht (vgl. Bruder-Bezzel 1999, S. 44). Der Lebensstil kennzeichnet damit auch den holistischen, den in-dividualpsychologischen Aspekt des Adlerschen Menschenbildes. Alle einzelnen Handlungen sind Ausdruck einer Persönlichkeit, die nicht in Instanzen zerteilbar ist (vgl. Antoch 1981, S. 17f.).
Die Willensfreiheit kennzeichnet den aufklärerischen Aspekt des Adlerschen Menschenbildes. Im Gegensatz zu Freud ist bei Adler der Mensch „[…] frei, seinen biologischen Bedürfnissen nachzugeben oder sie abzulehnen.“ (Dreikurs 1997, S. 19) Ein Mensch hat Hunger, aber er kann sich bewusst dazu entscheiden zu fasten. Der Mensch kann durch Reaktion oder Unterlassen einer Reaktion eine Situation, eine Beziehung entsprechend seiner Stellungnahme zum Leben gestalten. Alles menschliche Handeln ist der Eigenverantwortung unterworfen. Ebenso können die Ursachen tatsächlicher oder fiktiver Probleme nicht ausschließlich auf das Schicksal oder andere Menschen projiziert werden, sondern fallen in den Bereich der eigenen Einflussnahme. Hierzu zählt auch die Einflussnahme auf die eigene Einstellung zu Problemen.
Der Lebensstil ist nicht Ausdruck der Erbanlagen, sondern der Schöpfungskraft des Menschen. Daraus ergibt sich Adlers Feststellung, der Mensch sei von Natur aus weder gut noch böse (vgl. Adler 1975, S. 81). Somit ist auch das Streben nach Gleichwertigkeit und Vervollkommnung „[…] sozial oder ethisch neutral gedacht. Ob es sozial wertvoll wird, hängt von der Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls in einem Menschen ab. Das Gemeinschaftsgefühl ist ursprünglich nur eine angeborene Möglichkeit oder Anlage, die aber durch Pflege seitens der Umgebung zu einer Fertigkeit entwickelt werden kann.“ (Ansbacher 1972, S. 167) Das Gemeinschaftsgefühl ist die Voraussetzung für seelische Gesundheit. Bleibt die von Ansbacher so genannte Pflege aus, werden Minderwertigkeitsgefühle verstärkt.
Wolters fand bei Adler folgende drei Erlebnisbereiche, aus denen sich das menschliche „Grundphänomen der Minderwertigkeit“ zusammensetzt:
- das Gefühl der Hilflosigkeit
- das Gefühl der Unterlegenheit
- das Gefühl der Abhängigkeit (von Elternfiguren) (vgl. Wolters 2004, S. 125).
Dieses Gefühl kann jeweils physische Ursachen[24] oder psychische[25] Ursachen haben. In jedem Fall drängen erlebte Gefühle der Minderwertigkeit verstärkt zu Überwindung und somit zu Über-Kompensation. Ziel der Kompensation ist die Sicherung des Selbstwertgefühles (vgl. Wolters 2004, S. 125).
Abschließend kann nun der Focus auf die Bedeutung der Gemeinschaft gerichtet werden.
Obwohl der Mensch jede Beziehung oder Situation nutzt, um sich selbst zu vervollkommnen, sein fiktives Ziel zu erreichen, kann er sich nur in der Orientierung am Gemeinwohl selbst verwirklichen (vgl. Kreitmeir 1995, S. 47).
Vorhandene Widersprüche zwischen individuellen Bedürfnissen und sozialen Anforderungen werden von den Individualpsychologen nicht geleugnet. Sie verwehren sich nur gegen eine naturgesetzliche Festlegung dieser Widersprüche. Bedürfnisbefriedigung ist nicht nur biologisch ausgeprägt, sondern muss auch partnerschaftlich geschehen durch Vermittlung von Geborgenheit, Schutz, Aufmerksamkeit, Ermunterung, etc.
Selbstsein und Mitmenschsein stellen eine Einheit und keinen Widerspruch dar. „Wenn wir besser lernen, zusammenzuarbeiten, mehr aufeinander einzugehen, uns besser zu solidarisieren, Ziele zu entwickeln, die […] allen zugute kommen, dann ist das die echte Grundlage für Selbstsein und auch für Glück.“ (Neiß 1997, S. 160)
Hier offenbart sich der sozialpsychologische Aspekt der Individualpsychologie (vgl. Antoch 1981, S. 17f.).
Insgesamt entwirft Adler ein humanistisches Menschenbild[26]. Alle Menschen sind gleich darin, ihre Möglichkeiten zu nutzen, dem Gemeinwohl zu dienen. Demnach sind alle Menschen gleichwertig.
In dem Verhalten, das sich aus einem überkompensatorischen Lebensstil ergibt, sieht Adler eine Ressource. Es ermöglicht dem Menschen zumindest den Schein von Gleichwertigkeit, bzw. Überlegenheit. Adler lehnt die Verurteilung solchen Verhaltens ab, da die Entwicklung eines gemeinschaftswidrigen Lebensstils nicht bewusst geschieht. Auch Verfehlungen an der Gemeinschaft können demnach nicht bewusst verantwortet werden, da „[…] der Betreffende ein Spielball seiner schlechten Stellungnahme dem Leben gegenüber geworden ist.“ (Adler 1987, S.102)
[...]
[1] Gemeint ist an dieser Stelle und im fortlaufenden Text die Frage nach dem Sinn des Lebens.
[2] Religion wird im „Lexikon der Religionspädagogik“ u.a. definiert als „[...] eine letzte sinngebende Wirklichkeit […]“(Zirker 2001, PC-Bibliothek).
[3] Diese Tabelle sagt nicht aus, dass nicht-religiöse Menschen keine kirchlichen Angebote wahrnehmen. Sie kennzeichnet aber den Trend, dass Kirche in ihrer wertedefinierenden und sinnstiftenden Funktion zunehmend an Einfluss verliert.
[4] Immerhin würde Frankl dieses Jahr seinen 100. Geburtstag feiern.
[5] Kausen vertritt sogar die Ansicht, Adler habe zwar ein System geschaffen, dieses aber unsystematisch dargestellt (ebd.)
[6] Z.B. in der individualpsychologischen Literatur: Analysand (Neiß 1997, S. 148,158) und in der logotherapeutischen: Proband (vgl. Häcker und Stapf 2002, S. 562)
[7] Dies gilt insbesondere für den US-amerikanischen Raum, da um die Zeit der Machtergreifung der Nationalsozialisten viele Psychoanalytiker aufgrund ihrer jüdischen Herkunft dorthin emigrierten (vgl. Kriz 2001, S. 13). In der Auseinandersetzung mit dem dort vorherrschenden Behaviorismus (siehe 2.2.2) entwickelten sich zahlreiche neue Therapiekonzepte (vgl. Kriz 2001, S.111).
[8] Ordnungsziffer
[9] Die generelle Aufnahme der Psychotherapie in die kassenärztliche Versorgung erfolgte 1967 (vgl. MHP 910 2004, S. 4)
[10] Ab dem Herbst dieses Jahres traf sich bei Freud die „Psychoanalytische-Mittwochs-Gesellschaft“, zu der vorläufig auch Adler gehörte. Die „Internationale Gesellschaft für Psychoanalyse“ gründete sich erst 1910 in Nürnberg (vgl. Kriz 2001, S. 10f.).
[11] In der Bundesrepublik Deutschland ist der Begriff tiefenpsychologisch gegenüber psychodynamisch gängiger (vgl. Wirsching 1999, S. 24).
[12] Wirsching bezeichnet die Neurose als einen Wiederholungszwang (vgl. 1999, S. 26).
[13] Der Behaviorismus wurde 1913 vom amerikanischen Psychologen John B. Watson begründet. Er kritisierte die Objektivität psychoanalytischer Methoden ebenso wie die empirirische Nachweisbarkeit ihrer Wirkung als unzureichend. Der Forschungsschwerpunkt lag ausschliesslich auf dem beobachtbaren Verhalten (vgl. Michel und Novak 2001, S. 56 und Kriz 2001, S. 111).
[14] So schreibt Ansbacher: „Jedes psychologische System muß der Tatsache Rechnung tragen, daß der einzelne Mensch in einer Gemeinschaft lebt. Aber wohl kaum eine Psychologie hat das mit größerem Nachdruck getan als die von Adler.“ (Ansbacher 1957, S. 166)
[15] Bedeutet: in-dividual, bzw. un-teilbar und damit eine Ablehnung der Instanzen Es, Ich und Über-Ich des Freudschen Menschenbildes (siehe 2.2.1).
[16] bei ihm „biologische Umstände“ und „soziale Rahmenbedingungen“ genannt (ebd.)
[17] wie z.B. die klientenzentrierte Psychotherapie und das Psychodrama der humanistischen Ansätze oder Methoden der Kognitiven Verhaltenstherapie
[18] Es handelt sich wie im Falle der Logotherapie um eine Zusatzqualifikation zu einem bereits erworbenen Abschluss. Es gelten daher annähernd dieselben Bedingungen (vgl. Anhang 3 und 4)
[19] Eine zusätzliche Darstellung der Humanistischen Psychologie, begründet von Abraham Maslow und Carl Rogers, geht über den Rahmen dieser Arbeit hinaus. Jedoch ist sie in Kriz (2001) und Zimbardo (1995) ausführlich dargestellt.
[20] Diese Ausbildung ist auch für eine private Persönlichkeitsvertiefung möglich (vgl. ebd.).
[21] Die Orientierung Adlers am Existenzialismus hat ihren Schwerpunkt auf dem Aspekt der freien Selbst-Gestaltbarkeit des Menschen, weniger auf dem nihilistischen Aspekt der Freiheit.
[22] Dass Adler selbst der erzieherische Aspekt der Individualpsychologie wichtig war, beweist sein Buch „Individualpsychologie in der Schule“, dass 1929 erstmalig veröffentlicht wurde.
Bruder-Bezzel schreibt in „Geschichte der Individualpsychologie“ (1999): „Otto Müller-Main (Berlin) will vier Richtungen innerhalb der Individualpsychologie unterscheiden, die biologistische, marxistische, religiöse und philosophische (1930, S. 258).“ (S. 75) Leider konnte ich in den mir zur Verfügung stehenden Medien und Bibliotheken keine vertiefenden Quellen finden. Für das Erkenntnisziel dieser Arbeit wäre diese Vertiefung ohnehin unerheblich.
[23] Kosmos definiert Adler als: „[…] formende Kraft [,…] Vater alles Lebenden. Und alles Lebende ist ständig im Ringen begriffen, um den Anforderungen des Kosmos zu genügen.“ (Adler 1987, S. 162f.)
[24] Adler prägte dafür den Begriff der Organminderwertigkeit (vgl. Adler 1987, S. 51).
[25] Psychische Ursachen sind meines Erachtens eher inter- als intrapsychisch zu verstehen.
[26] Es offenbart sich der Einfluss auf die humanistischen Psychotherapieansätze.
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- Diplom-Gemeindepädagog*in, B.Sc. Psychologie Inga Verena Herrmann (Autor), 2005, Was macht Sinn? Die Thematisierung vom 'Sinn des Lebens' im therapeutischen Gespräch in den Theorien von Alfred Adler und Viktor Frankl, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87555
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