Die Süddeutsche Zeitung schreibt am 4./5. August 2007 in einem Artikel mit der Überschrift »Der unbekannte Holocaust«:
Erst seit 2001 gibt es im Stammlager Auschwitz eine Dauerausstellung über den Genozid an den Sinti und Roma. Wladyslaw Bartoszewski sagte bei der Eröffnung der Ausstellung: »Niemand, der bei gesundem Verstand ist, stellt heute den Holocaust am jüdischen Volke in Abrede. Dieses Bewusstsein hat sich in Bezug auf die Sinti und Roma leider noch nicht allgemein durchgesetzt.«
Dass diese Tradition der Verdrängung bzw. des Nicht-Reflektierens über den Genozid an den Sinti und Roma schon früh generiert wurde, zeigt die Novelle »Die Zigeuner und das Wiesel« des 1892 in Riga geborenen Autors Werner Bergengruen. Die Novelle wurde 1927 als fünftes Stück des »Buch Rodenstein« veröffentlicht. Im Jahr 1942 wurde das »Buch Rodenstein« um sieben Stücke erweitert und 1950 das Werk unverändert neu aufgelegt. Bemerkenswert ist an dieser Neuauflage, dass die Art und Weise der Darstellung der Protagonisten, »die Zigeuner«, in der Novelle keine Veränderung erfährt. Dies ist insofern denkwürdig, als dass das Buch nur wenige Jahre nach dem Völkermord an den Sinti und Roma, dem allein in Deutschland ungefähr 15 000 Sinti und Roma zum Opfer fielen, wieder aufgelegt wurde. Eine Reflektion über Themen, Inhalte und Darstellungsweise »die Zigeuner« betreffend, scheint weder beim Autor noch bei den Verlegern stattgefunden zu haben.
Werner Bergengruen bezog die Informationen über Lebens- und Verhaltensweisen »der Zigeuner« aus dem Buch »Historischer Versuch über die Zigeuner betreffend die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volks seit seiner Erscheinung in Europa, und dessen Ursprung« des Historikers Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann. Bergengruen entnimmt dem Buch Grellmanns »ethnologische Fakten« über die »Zigeuner«. Er suggeriert dem Leser durch diese in der Novelle erscheinenden »ethnologischen Fakten« eine hohe Wissensautorität und schildert scheinbar »typische« Lebens- und Verhaltensweisen der Protagonisten.
Die vorliegende Arbeit untersucht die in der Novelle erscheinenden ethnologischen »Informationen« und vergleicht diese mit den Ergebnissen der »ethnographischen Untersuchung« Grellmanns. Eine Untersuchung der Charakterisierung der Protagonisten ist dafür unerlässlich, denn auch die Beschreibung derselben beinhaltet Passagen »ethnologischer« Aspekte.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ethnologische Aspekte in der Novelle »Die Zigeuner und das Wiesel«
2.1 Darstellungen der Protagonisten
2.2 Ethnologisches »Wissen« Grellmanns
3. Vorurteile und Stereotypisierung
3.1 Ursprünge und Wirkungen von Vorurteilen
3.2 Vorurteile in »Die Zigeuner und das Wiesel«
4. Das Eigene und das Fremde
4.1 Exklusion und Integration
4.2 Grenze und Grenzüberschreitung
5. Zusammenfassung
6. Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
1. Einleitung
Die Süddeutsche Zeitung schreibt am 4./5. August 2007 in einem Artikel mit der Überschrift »Der unbekannte Holocaust«:
Erst seit 2001 gibt es im Stammlager Auschwitz eine Dauerausstellung über den Genozid an den Sinti und Roma. Wladyslaw Bartoszewski sagte bei der Eröffnung der Ausstellung: »Niemand, der bei gesundem Verstand ist, stellt heute den Holocaust am jüdischen Volke in Abrede. Dieses Bewusstsein hat sich in Bezug auf die Sinti und Roma leider noch nicht allgemein durchgesetzt.«[1]
Dass diese Tradition der Verdrängung bzw. des Nicht-Reflektierens über den Genozid an den Sinti und Roma schon früh generiert wurde, zeigt die Novelle »Die Zigeuner und das Wiesel« des 1892 in Riga geborenen Autors Werner Bergengruen. Die Novelle wurde 1927 als fünftes Stück des »Buch Rodenstein« veröffentlicht. Im Jahr 1942 wurde das »Buch Rodenstein« um sieben Stücke erweitert und 1950 das Werk unverändert neu aufgelegt. Bemerkenswert ist an dieser Neuauflage, dass die Art und Weise der Darstellung der Protagonisten, »die Zigeuner«, in der Novelle keine Veränderung erfährt. Dies ist insofern denkwürdig, als dass das Buch nur wenige Jahre nach dem Völkermord an den Sinti und Roma, dem allein in Deutschland ungefähr 15 000 Sinti und Roma zum Opfer fielen, wieder aufgelegt wurde. Eine Reflektion über Themen, Inhalte und Darstellungsweise »die Zigeuner« betreffend, scheint weder beim Autor noch bei den Verlegern stattgefunden zu haben.
Werner Bergengruen bezog die Informationen über Lebens- und Verhaltensweisen »der Zigeuner« aus dem Buch »Historischer Versuch über die Zigeuner betreffend die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volks seit seiner Erscheinung in Europa, und dessen Ursprung«[2] des Historikers Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann. Bergengruen entnimmt dem Buch Grellmanns »ethnologische Fakten« über die »Zigeuner«. Er suggeriert dem Leser durch diese in der Novelle erscheinenden »ethnologischen Fakten« eine hohe Wissensautorität und schildert scheinbar »typische« Lebens- und Verhaltensweisen der Protagonisten.
Die vorliegende Arbeit untersucht die in der Novelle erscheinenden ethnologischen »Informationen« und vergleicht diese mit den Ergebnissen der »ethnographischen Untersuchung« Grellmanns. Eine Untersuchung der Charakterisierung der Protagonisten ist dafür unerlässlich, denn auch die Beschreibung derselben beinhaltet Passagen »ethnologischer« Aspekte. Bergengruen tradiert und festigt die Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft gegenüber der Minderheit der Sinti und Roma. Der Untersuchung der Vorurteile und stereotypisierten Darstellungen in der Novelle stelle ich einen Exkurs in die Vorurteilforschung voran. Für die Untersuchung von Vorurteilen und Feindbildern beziehe ich mich auf einen Beitrag des Leiters des Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, der die Wechselwirkungen von Absicht und Effekt von Vorurteilen und Feindbildern untersucht.[3]
Zwischen dem in der Novelle vermittelten »ethnologischen Wissen«, den Vorurteilen und Stereotypisierungen sowie der Definition des Eigenen und dem dazu parallel stattfindenden Prozess der Abgrenzung vom Fremden, dem Anderen, besteht ein enger Zusammenhang. Das »ethnologische Wissen« der Novelle gepaart mit der »Kategorie der Wahrheit« der Schriftlichkeit vermittelt eine Autorität, durch die Zweifel an den darin enthaltenen Vorurteilen aufgrund des subtilen Charakters der »Wissenschaftlichkeit« nahezu ausgeschlossen werden. Die Reproduktion von Vorurteilen und die Rekapitulation von stereotypen »Zigeuner«- Bildern lassen Bilder und Vorstellungen über »Zigeuner« beständig werden. Vorurteile werden genutzt, um die eigene Gruppen-Identität gegenüber der Alterität, dem Fremden, zu sichern. Diese Konfrontation zwischen dem Eigenem und dem Fremden findet ihre metaphorische Versinnbildlichung in der Seiltanzsequenz zum Ende der Novelle. Untersucht wird in dieser Arbeit der Effekt dieser Darstellungsweise. Besondere Aufmerksamkeit erfährt die Analyse der Gegensatzpaare »das Fremde« und »das Eigene«; beides ist klar voneinander abgegrenzt. Der Topos der »Grenze« ist Thema des vierten Kapitels. Dieser Topos stellt ein zentrales Thema der Novelle von Bergengruen dar. Daher wird dem Sujet der Grenze und »dem Zigeuner« als Grenzgänger eine besondere Beachtung geschenkt. Als Grundlage für die Theorie der Ausgrenzung und des Einbezugs sowie der Grenze und Grenzüberschreitung verwende ich den Sammelband »Grenzgänger zwischen Kulturen«[4], des Freiburger Sonderforschungsbereichs (SFB 541), der die Beiträge einer Tagung im Februar 1998 zusammenträgt. Dieser Sonderforschungsbereich befasste sich mit dem Thema »Identitäten und Alteritäten. Die Funktion von Alterität für die Konstitution und Konstruktion von Identität«[5].
Ich benutze im Folgenden den Begriff »die Zigeuner« wertfrei und beabsichtige keine negativ-konnotative Wirkung.
2. Ethnologische Aspekte in der Novelle »Die Zigeuner und das Wiesel«
Das Buch »Historischer Versuch über die Zigeuner betreffend die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volks seit seiner Erscheinung in Europa, und dessen Ursprung«[6] von Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann bildet das Fundament für das in der Novelle vermittelte ethnologische »Wissen«. Bergengruen macht partiell sogar wortwörtliche Anleihen bei Grellmann.[7] Ich werde nur die relevanten, in der Novelle vorkommenden Themengebiete »die Zigeuner« betreffend und die damit korrespondierenden Aussagen Grellmanns untersuchen. Dem Leser wird durch die zahlreich in die Novelle eingeflochtenen Informationen zu »den Zigeuner« der Eindruck eines hohen Kenntnisstandes des Autors über sie vermittelt. Almut Hille bezeichnet diese in der Novelle erscheinenden scheinbar korrekten Informationen über die Sinti und Roma als eine von Bergengruen intendierte Präsentation einer »Innenperspektive aus dem Leben der ›Zigeuner‹«.[8]
2.1 Darstellungen der Protagonisten
Die im Mittelpunkt der Novelle stehende Gisterna wird am genauesten beschrieben, während ihr Mann, Bischothilo, weniger minutiös dargestellt wird. Neben diesen beiden individuellen Charakteren werden »die Zigeuner« als einheitliche Gruppe zusammengefasst. Dies geschieht durch die Verwendung von kategorisierenden Begriffen, wie »ein Trupp Zigeuner«[9], »Volk«[10], die »Bande«[11], »die ganze Horde«[12], »ihre Leute«[13], »Stamm«[14]. Durch die Verwendung von genannten kategorisierenden Begriffen bewirkt Bergengruen eine Homogenisierung »der Zigeuner« und schafft eine einheitliche »Zigeuneridentität«. Damit fällt eine Affinität zu Grellmann auf,
denn Grellmann konstru-ierte eine Zigeuneridentität, die in dieser Weise vorher nicht existiert hatte. […] [Grellmann] kreierte ... eine einheitliche Betrachtungsweise für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Grellmann generalisierte Folgerungen aus einer Quellensammlung über sich unähnliche Gruppen, denen seiner Ansicht nach einige Merkmale gemeinsam waren. Diese Gruppen unterschieden sich von ihrer Umgebung durch eine vergangene oder auch gegenwärtig ambulante Lebensweise. […] Die Bezeichnung für alle diese Gruppen und wie sie sich selbst nannten, betrachtete er als irrelevant. Er brachte sie alle unter dem Etikett »Zigeuner« zusammen und machte sie so zu einem Volk, das er mit einer allgemeinen ethnographischen Charakterisierung ausstattete.[15]
Auf dieselbe Weise verfährt Bergengruen in seiner Novelle. Im Text ist kein Bewusstsein Bergengruens darüber erkennbar, dass er »die Zigeuner« als keine homogene Ethnie rezipiert. Auch »die Zigeuner« Bergengruens sind durch eine »ambulante Lebensweise« gekennzeichnet: »Nun geschah es, daß ein Trupp Zigeuner durch den Odenwald zog, seine Künste nach Feierabend in den Dörfern sehen ließ und an größeren Orten bei der Kerb sein Wesen trieb«.[16] Schon im ersten, »die Zigeuner« betreffenden Satz, werden ihnen besondere Fähigkeiten, Künste, zugeschrieben, werden sie als Umherziehende charakterisiert, die ihr »Wesen treiben«. Dies intendiert eine negative Konnotation von unbekannten, unlauteren, zwielichtigen Tätigkeiten, denen »die Zigeuner« nachgehen. Von diesem »Trupp Zigeuner« »hatte sich eine vierzehnjährige, nach der Sitte ihres Volkes bereits seit einigen Jahren verheiratete Zigeunerin abgesondert«.[17] Gisterna wurde demnach schon im jungen Kindesalter verheiratet, denn so will es »die Sitte«. Die Beschreibung der »Zigeuner« im Allgemeinen setzt sich fort, indem der Autor schreibt, »[m]an weiß, daß bei den Zigeunern die Frau wenig geachtet und hart gehalten wird, mit alleiniger Ausnahme der Puri Daj, der Urmutter jedes Stammes«.[18] Der Autor vermittelt durch die Verwendung des Verbs »wissen« scheinbar fundiertes Faktenwissen über »die Zigeuner«, und es entsteht das Bild der »Zigeunerfrau«, welche im sozialen Gefüge »der Zigeuner« eine niedrige Stellung einnimmt. Dieser Fakt bildet das Fundament für den weiteren Verlauf der Novelle. Es ist »zigeunerische Gepflogenheit«[19], sich mehrfach taufen zu lassen. Dabei spielt weniger die Religion eine Rolle als vielmehr die Aussicht auf »Patengeschenke«. Die Zuschreibung, dass »Zigeuner« für Geld oder Geschenke alles tun, taucht am Ende der Novelle ein weiteres Mal auf als Gisterna und Bischothilo von ihrem ersten Seiltanz erschöpft im Wagen ausruhen: »Bald darauf steckte die Alte [Puri Daj] ihr knochiges Gesicht durch die Wagentür. ›Die Gajos sind wie von Verstand gekommen. Viele, viele Silberstücke waren dabei. Sie wollen es noch einmal sehen.‹«.[20] Gisterna und Bischothilo steigen, motiviert durch die Aussicht auf weitere Silberstücke, ein zweites Mal auf das Seil. Sie erliegen der Verlockung des Geldes und bezahlen dies mit ihrem Leben.
Der Leser erfährt über Gepflogenheiten, Sitten und Tradition »der Zigeuner«. Darüber hinaus – und das ist besonders – erhält der Leser Einblick in geheimes »Zigeunerwissen«, denn der Autor hat Kenntnis über »Dinge, von denen nur die Zigeuner wissen«.[21] An dieser Stelle wird besonders deutlich, was Almut Hille mit der Darstellung einer »Innenperspektive aus dem Leben der ›Zigeuner‹«[22] meint. Zwischen »Zigeunern« und Tieren besteht in der Novelle eine große Affinität. Insbesondere das Wiesel spielt eine wichtige Rolle: »Das wissen Bauern und Zigeuner, daß das Wiesel nicht ein Tier ist wie andere Tiere«.[23] Das Abrichten eines Wiesels verleiht besondere Fähigkeiten. Ein Wiesel zähmen und abrichten können allerdings nur »die Zigeuner«.[24] Der Katalog der »Innenperspektive« wird von anfänglichen Einblicken in Gepflogenheiten, Sitten und Traditionen durch Offenbarungen geheimen Wissens und Fähigkeiten »der Zigeuner« ergänzt. Auf Seite 53 erfährt der Leser, dass »die Zigeuner nicht erröten«.[25] Dem Leser erschließt sich ein Gesamtbild über »die Zigeuner«, welches Informationen über die Charaktereigenschaften, Lebensweise, Wissen und über den Gelderwerb inhäriert.
Die Beschreibung Gisternas ist besonders genau. Sie ist eine »junge Frau« von vierzehn Jahren, die bereits im jungen Alter verheiratet wurde. Sie kennt ihren eigenen, richtigen Namen nicht, da sie mehrfach getauft wurde. Gisterna bildet den Prototyp für die schöne, junge »Zigeunerin«. Christina Kalkuhl nennt drei Faktoren, die die schöne »Zigeunerin« auszeichnen: Exotische Schönheit, erotische Anziehungskraft und die Position des Außenseiters.[26] Alle drei Charakteristika treffen auf Gisterna zu. Sie zeichnet sich durch besondere »Schönheit und Behendigkeit« aus und »[u]m ihres gelenkigen Körpers und ihrer Spring- und Tanzkünste willen nannten ihre Leute sie ›Gisterna‹, was auf zigeunerisch Katze bedeutet«.[27] An den Bedeutungen der Namen von Gisterna und Bischothilo (Bischothilo bedeutet in der Übersetzung »Adler«) offenbart sich die Affinität zwischen »Zigeunern« und Tier. Diese Tier-»Zigeuner«-Assoziation wiederholt sich an anderen Stellen der Novelle. Gisterna wird durch einen »fern kreisende[n] Raubvogel«[28] an Bischothilo erinnert. Wenig später fängt Gisterna eine Wieselmutter. Das Wiesel »sah Gisterna aus seinen schiefliegenden und feurigen Augen an, zudringliche Neugier mit ängstlicher Scheu paarend, wie es der Wiesel und Zigeuner Art ist «.[29] Hier wird eine Verhaltensweise des Wiesels mit der von »Zigeunern« gleichgesetzt. An anderer Stelle werden »den Zigeunern« »tierische Gebärden« und »hündische Verschlagenheit«[30] zugeschrieben. Auch in diesem Beispiel werden eine Eigenschaft und eine Verhaltensbeschreibung mit animalischen Attributen belegt, was eine Gleichsetzung von Tier und »Zigeuner« impliziert. Weitere assoziative Momente finden sich im Verhalten Gisternas, welches als instinktiv zu deuten ist. Gisterna verfügt über eine ungewöhnlich gut ausgebildete Wahrnehmung, denn »schon von weitem hatte sie den Hund anschlagen hören«[31] und «[a]n vielerlei Zeichen erkannte sie, welchen Weg ihre Leute genommen hatten«.[32] Gisterna »nährte sich, wie Zigeuner sich nähren«.[33] Zu der bevorzugten Nahrung von »Zigeunern« zählt Aas, »denn das Fleisch eines Tieres, das Gott schlachtete, muß besser sein als dessen, das von der Hand eines Menschen gestorben ist«.[34] Die junge, schöne »Zigeunerin« Gisterna verfügt über das Wissen, welches nötig ist, um in der Natur zu überleben. Sie stellt Fallen und kommt so zu Nahrung. Sie wahrsagt, bettelt, stiehlt und heilt krankes Vieh.[35]
Die Beziehung zwischen Gisterna und dem Wiesel, welches sie zu sich nimmt, ist eine besondere. Der Erzähler spekuliert zu Beginn der Novelle, dass Bischothilo die Liebe seiner Frau zu ihm deswegen nicht erwidern kann, »weil sie ihm noch keine Kinder geboren hatte«.[36] Gisterna hat sich aufgrund der schlechten Behandlung durch ihren Mann von ihrer Gruppe distanziert. Nun findet sie das Wieseljunge und die Beziehung, die sie zu ihm aufbaut, kann als die Beziehung einer Mutter zu ihrem Kind gedeutet werden. Sie lehrt das Wiesel »mit mütterlicher Geduld« und «[b]ald nahm es keine Milch als aus ihrer Hand«.[37] Sieht man in der Milch ein Symbol für Mutterschaft, so erhärtet sich die Deutung einer Mutter-Kind-Beziehung. Das Wiesel wird zum Ersatz für ein Kind, welches Gisterna bisher nicht empfangen konnte. Schließlich kehrt Gisterna zu der Gruppe »der Zigeuner« zurück und wird aufgrund des Wiesels, welches von ihr dressiert wurde und dazu »das Zeichen« trägt, wieder in die Gemeinschaft aufgenommen. Gisterna schenkt ihrem Mann Bischothilo das Wiesel, wie eine Frau ihrem Mann ein Kind schenkt: »›Ein Wiesel‹, sagte sie zitternd. ›Für dich, Bischothilo.‹«.[38] Symbolisch beladen ist auch die Stelle an der Gisterna das Wiesel trägt: Unter ihrer Brust. Auch eine Mutter trägt ihr Kind unter ihrem Herzen bzw. unter ihrer Brust. Sie schenkt Bischothilo ein Wiesel, »welches, in das Mutterfell gehüllt, unter ihrem Brusttuche geschlafen hatte«.[39] Durch das Wiesel – und das bestärkt die These des Wiesels als Kinderersatz – wird Gisterna wieder in ihre Gruppe aufgenommen und auch ihr Mann zeigt ihr gegenüber positive Gefühle. Gisterna hat durch das Wiesel ein Kind in die Beziehung gebracht. Diese Mutter-Kind-Beziehung zwischen Gisterna und dem Wiesel sehe ich als eine weitere Gleichsetzung von »Zigeuner« und Tier.
[...]
[1] Rühle, A.: Der unbekannte Holocaust. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 178 vom 4./5. August 2007, S. 13.
[2] Grellmann, H. M. G.: Historischer Versuch, 1787.
[3] Benz, W.: Feindbild und Vorurteil, 1996.
[4] Fludernik, M.; Gehrke, H.-J. (Hg.): Grenzgänger, 1999.
[5] Ebd., S. 11.
[6] Grellmann, H. M. G.: Historischer Versuch, 1787.
[7] Auf diese nahezu wörtlich übernommenen Passagen gehe ich nicht ein. Siehe dazu: Hille, A.: Ethnographisches „Wissen“, 2002, S. 271-286; Hille, A.: Identitätskonstruktionen, 2005, S. 66-74.
[8] Hille, A.: Ethnographisches „Wissen“, 2002, S. 275.
[9] Bergengruen, W.: Buch Rodenstein, 1927, S. 46.
[10] Ebd., S. 46.
[11] Ebd., S. 47.
[12] Ebd., S. 49.
[13] Ebd., S. 50.
[14] Ebd., S. 51.
[15] Willems, W.: Außenbilder, 1996, S. 87.
[16] Bergengruen, W.: Buch Rodenstein, 1927, S. 46.
[17] Ebd., S. 46.
[18] Ebd., S. 46.
[19] Ebd., S. 46.
[20] Ebd., S. 59.
[21] Ebd., S. 49.
[22] Hille, A.: Ethnographisches „Wissen, 2002, S. 275.
[23] Bergengruen, W.: Buch Rodenstein, 1927, S. 49.
[24] Vgl. Bergengruen, S. 49.
[25] Vgl. Bergengruen, S. 53.
[26] Vgl. Kalkuhl, C.: Die „schöne Zigeunerin“, 2003, S. 68.
[27] Bergengruen, W.: Buch Rodenstein, 1927, S. 46f.
[28] Ebd., S. 47.
[29] Ebd., S. 48, [Hervorhebung A. S.].
[30] Ebd., S. 51.
[31] Ebd., S. 47.
[32] Ebd., S. 50.
[33] Ebd., S. 47.
[34] Ebd., S. 47.
[35] Vgl. Bergengruen, S. 51.
[36] Ebd., S. 46.
[37] Ebd., S. 51.
[38] Ebd., S. 53.
[39] Ebd., S. 53.
- Citation du texte
- Anna Schefer (Auteur), 2007, "denn die Zigeuner erröten nicht"- Ethnologische Aspekte, Vorurteile gegenüber "Zigeunern" und der Topos der Grenze in Werner Bergengruens Novelle "Die Zigeuner und das Wiesel", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87471
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