Die Arbeit beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit in James Joyces "Ulysses". Der erste Teil bringt allgemeine Bemerkungen zur Zeit-Konzeption im "Ulysses", der zweite analysiert die Kapitel "Aiolos", "Ithaka" und "Penelope" eingehender.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Erzählzeit und erzählte Zeit – Begriffsdefinitionen nach Günther Müller und Paul Ricoeur
2.1. Die „Zeitraffung“ bei Günther Müller
2.2. Paul Ricoeurs Konzept der „monumentalen Zeit“
3. Erzählzeit und erzählte Zeit in Ulysses
3.1. Allgemeine Bemerkungen zur Gestaltung und Thematisierung der Zeit
3.1.1. Thematisch
3.1.2. Strukturell und sprachlich
3.1.4. Die monumentale Zeit
3.2. Zeit und Erzähltechnik in Penelope, Aiolos und Ithaka
3.2.1. Erzählzeit ohne erzählte Zeit? – Der Bewusstseinsstrom im Penelope-Kapitel
3.2.2. Titel und Text – Erzählzeit und erzählte Zeit im Aiolos-Kapitel
3.2.3. Frage und Antwort – Erzählzeit und erzählte Zeit im Ithaka-Kapitel
4. Resümee
5. Bibliografie
5.1. Primärliteratur
5.2. Sekundärliteratur
5.3. Weitere Quellen
1. Einleitung
James Joyce behandelt das Thema Zeit in Ulysses[1] auf verschiedene Weisen: Er verarbeitet es sowohl inhaltlich – über die impliziten und expliziten Handlungen und Gedanken der Figuren des Romans – als auch formal, indem er Erzählstrategien wählt, die auf Zeit bzw. zeitliche Strukturen und ihre Beziehung zur Erzählung hinweisen.
In dieser Arbeit soll hauptsächlich auf den zweiten Aspekt der Behandlung des Themas Zeit in Ulysses eingegangen werden. Besonderes Augenmerk soll dabei auf den Zusammenhang zwischen „Erzählzeit“ und „erzählter Zeit“ gelegt werden. Im ersten Teil der Arbeit wird dafür auf Günther Müllers[2] und Paul Ricoeurs[3] Konzepte dieser Termini eingegangen und die Begriffe näher bestimmt. Mit Hilfe dieses theoretischen Unterbaus soll im zweiten Teil Joyces Text untersucht werden. Dabei soll sowohl auf einige allgemeine Aspekte eingegangen werden, um die verschiedenen Ebenen, auf denen Joyce Zeit in Ulysses verarbeitet, exemplarisch zu veranschaulichen, als auch der Text einer genaueren Analyse unterzogen werden.
Da die Analyse des gesamten Romans, selbst wenn sie oberflächlich bliebe, den Umfang dieser Arbeit überschreiten würde, sollen nur drei Kapitel genauer betrachtet werden: Aiolos, Ithaka und Penelope. Auf die ersten beiden fiel die Wahl, da sie, wie ich hoffe zeigen zu können, bedingt durch ihren Aufbau als Zeitungs- bzw. Katechismus-Persiflage, interessante Zeitkonfigurationen aufweisen. Das Penelope -Kapitel wird behandelt, da es unerlässlich scheint Molly Blooms Bewusstseinsstrom unter dem Aspekt der Zeitkonfiguration zu betrachten.
2. Erzählzeit und erzählte Zeit – Begriffsdefinitionen nach Günther Müller und Paul Ricoeur
2.1. Die „Zeitraffung“ bei Günther Müller
Günther Müller untersucht in seinem Aufsatz Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst ausgehend von der Überlegung, das „[a]lle Dichtung, alle Kunst vergegenwärtigt, verkörpert“[4], was nicht unmittelbar wahrnehmbar ist, genau das was er als Titel wählt: Zwar kommt – wie das Wort Vergegenwärtigen schon ausdrückt – der Zeit in allen Künsten eine Bedeutung zu, doch ist diese in der Erzählung stärker bzw. andersartig. In anderen künstlerischen Ausdrucksformen ist es vor allem der zeitliche Vorgang (des Lesens, Hörens, Betrachtens), der die Beziehung zur Zeit ausmacht, in der Erzählkunst ist es auch das Erzählte selbst:
„In der echten Erzählung […] handelt es sich gerade um das Geschehen als zeitlich, um die erfüllte, vom Ereignis gezeitigte und das Ereignis zeitigende Zeit, um die Zeitlichkeit des Lebens.“[5]
Die Erzählung ist aber nicht dasselbe wie das Erzählte:
„[Erzählen] macht das Abwesende gegenwärtig, ohne es selbst zu geben. Denn alles Erzählen ist ein Erzählen von etwas; von etwas, das nicht selbst Erzählung ist.“[6]
In diesem Unterschied „[…] ist die Beziehung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit beschlossen.“[7]
Unter Erzählzeit „ist konventionsgemäß eine chronologische Zeit, deren
Äquivalent die Zahl der Seiten und der Zeilen eines veröffentlichten Werkes
aufgrund der vorhergehenden Äquivalenz zwischen der verflossenen Zeit und derjenigen ist, die auf dem Uhrzeigerblatt durchmessen wurde“[8],
zu verstehen.[9]
Die Erzählzeit eines Werkes kann also durch die physikalische Zeit(messung) der außerliterarischen Wirklichkeit bestimmt werden und steht demnach mit dieser in Beziehung.
Die „erzählte Zeit“ dagegen ist innerliterarisch. Es handelt sich um die Zeit des Inhalts, um die Zeitspanne, über die sich das Erzählte erstreckt. Ihre Dauer ist also auch nicht unmittelbar messbar, sondern muss vom Leser anhand der Informationen, die der Text dazu bietet, errechnet werden.
Müller geht davon aus, dass „[d]ie Erzählzeit […] streckenweise bald kürzer, bald länger als die erzählte Zeit, aufs ganze gesehen aber fast durchweg kürzer als sie [ist].“[10]
Dieses Phänomen nennt er „Zeitraffung“[11]. Diese erfolgt primär aus formalen Gründen – um eine erzählte Zeit von langer Dauer, erzählerisch überhaupt bewältigen zu können[12] –, beeinflusst so aber auch den Inhalt des Textes entscheidend: Die Art, wie der Autor rafft, bestimmt das Tempo der Erzählung[13], was er – und eigentlich vor allem, was er nicht – (weg-)rafft, bestimmt das Erzählte selbst. Der Stellenwert, den die Zeitraffung auf der inhaltlichen Ebene hat, resultiert daher, dass – wie „Aussparung“ eigentlich
viel treffender sagt – “[e]ine Zeitspanne in einer Geschehnisfolge zu überspringen,
[…] sie enger oder weiter zusammenzuraffen, […] ihr unter irgendeinem Gesichtspunkt Bedeutung aberkennen oder zusprechen“[14]
heißt.
Müller sieht die Raffung der erzählten Zeit in der Erzählung als konstitutiv an:
„Und wenn in Werken der Joyceschen Schule Erzählzeit und erzählte Zeit sich nahezu decken, wenn es möglicherweise Fälle gibt, wo die Erzählzeit sogar länger dauert als die erzählte Zeit, so läßt sich doch nicht verkennen, daß auch hier Raffungen, Aussparungen vorgenommen sind. Ist es doch schlechterdings unmöglich, einen Lebensvorgang völlig erschöpfend zu erzählen, weil sonst das Geschehen jeder einzelnen Zelle, jedes Muskels, jedes Kreislaufsystems erzählt werden müsste.“[15]
Dieses Zitat zeigt, dass Günther Müller „Zeitdeckung“ und „Zeitdehnung“ nicht als Möglichkeit der Zeitkonstruktion in der Erzählung ansieht. Wie die – recht polemische – Formulierung der Unmöglichkeit des allumfassenden Erzählens zeigt, entgeht ihm dabei aber ein wichtiger Aspekt, der dem zeitdeckenden und - dehnenden Erzählen zu Grunde liegt: Das Zeiterfahren an sich darstellen zu wollen.[16]
Außerdem übersieht er die rein sprachlichen Gründe, wie Wortwahl oder Grad der Komplexität der Syntax, die zur Dehnung der Erzählzeit führen bzw. gerade dafür eingesetzt werden können.
2.2. Paul Ricoeurs Konzept der „monumentalen Zeit“
In seiner Analyse von Virginia Woolfs Mrs. Dalloway führt Paul Ricoeur[17] den Begriff der „monumentalen Zeit“ ein:
„[D]ie offizielle Zeit, mit der die handelnden Personen es zu tun haben, [beschränkt] sich nicht auf diese Zeit der Uhren […], sondern [umfaßt] alles das […], was im Einklang damit steht, nämlich alles, was in der Erzählung, um Nietzsches Ausdruck zu verwenden, an die monumentale Geschichte erinnert […]“[18]
Das sind einerseits all jene Elemente, die aus der außerliterarischen Realität entnommen sind und so die Erzählung in einem zeitlichen und räumlichen nichtfiktionalen Kontext verorten[19], andererseits all jenes, was innerhalb der Fiktion für alle wahrnehmbar ist.[20] Ricoeur versteht also unter monumentaler Zeit das Gegenstück zur von den Protagonisten innerlich erlebten Zeit. Die monumentale Zeit besteht für alle und beeinflusst so auch das persönliche Zeiterfahren.[21]
[...]
[1] James Joyce: Ulysses. The 1934 text, as corrected a. reset in 1961. New York: The Modern Library 1992 (Originalausgabe: Paris 1922)
Im Folgenden im Text in Klammern und gegebenenfalls mit Seitenzahlen als „U“ zitiert.
Da es sich um die einzige kommentierte Ausgabe handelt, die mir zur Verfügung steht, wird auch die deutsche Fassung herangezogen: Ders.: Ulysses. Roman. [Deutsch v. Hans Wollschläger] Hrsg. u. komm. v. Dirk Vanderbeke, Dirk Schultze u. a. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004 (1975)
Im Folgenden im Text in Klammern, gegebenenfalls mit Seitenzahlen zitiert als „U, dt.“.
[2] Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung: Bd. II: Zeit und literarische Erzählung. München: Fink 1989
Im Folgenden zitiert als „Ricoeur“.
[3] Günther Müller: Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst. In: Ders.: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. v. Elena Müller u. Helga Egner. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1968 S 247-268;
sowie: Ders.: Erzählzeit und erzählte Zeit. In: ebd. S 269-286
Im Folgenden zitiert als „Müller: Bedeutung der Zeit“ und „Müller: Erzählzeit und erzählte Zeit“.
[4] Müller: Bedeutung der Zeit S 247
[5] Ebd.: S 251
Müller schließt ausdrücklich auch Lyrik und Dramatik von dieser speziellen Bedeutung der Zeit aus. Vgl.: ebd.
[6] Ebd.: S 250
[7] Ebd.: S 257
[8] Ricoeur S 132
[9] Die Erzählzeit hat also nichts mit der zeitlichen Inanspruchnahme des erstmaligen Erzählens der Geschichte durch den Autor (also der Entstehungszeit des Werkes) zu tun, sondern bezieht sich auf die, auf räumliche Maße übertragen, benötigte Seitenzahl bzw. das „Wiedererzählen“ durch den Leser. Es handelt sich natürlich um eine Zeit, die dem durchgehenden und approximativen bzw. genormten Lesen bzw. Erzählen, und nicht einem individuellen Lesetempo entspricht. Vgl.: Müller; Bedeutung der Zeit S 257f
[10] Ebd.: S 258
[11] Müller schlägt diesen Terminus statt Thomas Manns „Aussparung“ vor. Vgl.: Ebd.: S 254-257
[12] Bei sich über Jahre und Generationen hinstreckenden Erzählungen ist das leicht ersichtlich.
[13] Vom tempo- und rhythmusbestimmenden Wie der Zeitraffung führt Müller drei Formen auf: Das Überspringen bestimmter Zeiträume – explizit durch Angaben wie „viele Jahre später“ oder ohne ausdrücklich genannt zu werden; das „Zusammenraffen der Ereignisse in große Schritte oder Hauptergebnisse nach der Art des ‚Veni, vidi, vici‘“; sowie das komprimierte Schildern andauernder Zustände oder wiederholter Tätigkeiten, wie „jeden Tag regnete es“ („durativ-iterative Raffung“). Vgl.: Ebd. S 259
[14] Ebd.: 260f Gewisse Zeitabschnitte wegzuraffen, muss aber nicht automatisch heißen, ihnen Bedeutung abzuerkennen. Ebenso kann gerade das an der Erzählung wichtige, für diese Ausschlaggebende, nicht erzählt werden. Vgl.: Ebd.
[15] Ebd.: S 258f
[16] Vgl. dazu: Lobsien: S 397-403
Formulierte man in gleicher Weise polemisch, müsste man sagen, es könnte auch bei der Beschreibung des Vorgangs jeder Zelle halt gemacht werden, konsquent zu Ende gedacht, müssten alle Vorgänge beschrieben werden – auf der Erde, im Universum etc. Viel mehr kommt es ja darauf die Zeiterfahrung eines Menschen zu schildern bzw. die Erfahrung eines Menschen in einer bestimmten Zeitspanne. Der Mensch erfährt aber normalerweise nicht in jeder Sekunde (oder sogar überhaupt nie) alle Vorgänge seines Körper.
[17] Zwischen sterblicher und monumentaler Zeit: Mrs. Dalloway. In: Ricoeur: S 173-191
[18] Ricoeur: S 180
[19] Es handelt sich dabei natürlich um Orte, vor allem aber Namen, die allgemein bekannt sind. Für den Leser ist die Einbettung des Textes in eine bestimmte Zeit so leicht ersichtlich, was, bei der Nennung einer real existierenden (existiert habenden)aber unbekannten Person, nicht der Fall wäre. Vgl. Ricoeur: S 180
[20] Hier gibt es natürlich Überschneidungen.
[21] Deshalb schreibt Ricoeur die monumentale Zeit auch der (den) Autorität(en) zu. Autoritäten und überhaupt Gesellschaft stehen dem Individuum gegenüber. In diesem Widerspruch befinden sich auch die monumentale Zeit, und die „lebendige Zeit“ (Ricoeur: S 180), die die Protagonisten erfahren.
- Citar trabajo
- Anna Lindner (Autor), 2006, Erzählzeit und erzählte Zeit in James Joyces "Ulysses", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87179
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