Der vorliegende Aufsatz zeigt an zwei Familienromanen, Uwe Timms "Am Beispiel meines Bruders" (2003)und Dagmar Leupolds "Nach den Kriegen" (2004), wie kritisch und distanziert zeitgenössische Autoren mit den Wünschen nach Genealogie und den damit aufkommenden Problemen umgehen. Analysiert wird die den Werken immanente Sicht der Autoren auf die eigene Familie und der Diskurs über Täter und Täterschaft im dritten Reich.
Inhaltsverzeichnis
Deutsche Reflexion
Gefühlte Geschichte erkennen
Der Krieg nach den Kriegen
Belebende Tode
Bibliographie
Gefühlte Geschichte unterm Skalpell
Die Familienromane Nach den Kriegen von Dagmar Leupold und
Am Beispiel meines Bruders von Uwe Timm
Deutsche Reflexion
Bei der Fußball-WM 2006 kam die Reflexion der Reflexion der Bundesbürger über ihre Republik zuletzt am deutlichsten zum Vorschein. Das unerwartet große Bedürfnis der Deutschen nach flatterndem Schwarzrotgold am Auto, im Blumenkasten oder am Schulranzen konnte durch die spontan einsetzenden 24-Stundenproduktionen in fernöstlichen Nähereien kaum befriedigt werden. Mit dem Fahnenschwingen auf den Straßen setzte zugleich die Diskussion in Zeitungen, TV und Rundfunk ein, ob das überschwängliche, neue Nationalgefühl nicht doch bedenklich sei. War dies ein Wiedererwachen des Deutschnationalismus? Ganz gleich, ob diese Frage von dem Einzelnen für über- oder untertrieben gehalten wurde, ein Ziel erreichte ihre Ausfechtung in der Öffentlichkeit: in diesem Sommer kam kein Deutscher mehr um wenigstens die kurze Reflexion herum, ob er nun seine Fahne schwingen darf – und wenn ja, warum.
Nationalismusdebatten, vor allem um Nationalsozialismus, sind in der Literatur seit dem zweiten Weltkrieg zwar immer präsent geblieben, jedoch wandelt sich auch hier die Perspektive. Die Väterliteratur der 70er Jahre stieß einen Anklageschrei gegen die elterliche Kriegsgeneration aus und diese damit von sich. Mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Geschehen und dem Aussterben der Kriegsteilnehmer, verwandelt sich in jüngster Zeit diese Abwehrhaltung in ein Verlangen nach Klärung: die Familienromane von Thomas Medicus, Uwe Timm oder Dagmar Leupold versuchen, gegen den Anverwandten nicht erneut in den Krieg zu ziehen, sondern deren Handlungen und Entscheidungen zu reflektieren und – da ein Verständnis nicht möglich ist – zu analysieren. Dabei setzten die Autoren den Bezugspunkt zu sich selbst, da sie sich genealogisch in die Geschichte eingeschrieben sehen. Der Sozialwissenschaftler Harald Welzer warnt, dies komme der „gefühlten Geschichte“[1] der Deutschen entgegen und spricht von Thematisierung deutscher Opferschaft, wodurch „Motive aus den Fünfzigern wieder auf[tauchen], etwa dass man von Hitler verführt wurde“[2]. Diese Sorge ist natürlich berechtigt, betrachtet man Romane wie Ulla Hahns Unscharfe Bilder, in denen die Schuldfrage des Vaters bis zum Opferdiskurs aufgeweicht wird. Während Welzer jedoch im Allgemeinen keinerlei psychologisches Nachvollziehen der Kriegsgeneration als Täter- und zugleich Vater-Figuren zulassen möchte, soll in dem folgenden Aufsatz dieser Ansicht widersprochen werden. An zwei Familienromanen, Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders und Dagmar Leupolds Nach den Kriegen, möchte ich zeigen, wie kritisch und distanziert Autoren mit den Wünschen nach Genealogie und den damit aufkommenden Problemen umgehen. Durch ihre differenzierte Sicht auf die eigene Familie bereichern sie den Diskurs über Täter und Täterschaft, damit eben nicht im subjektiv privaten Raum das Einverständnis gelten kann: „Opa war kein Nazi“.
Gefühlte Geschichte erkennen
Schön unscharf betitelt Harald Welzer seinen Artikel Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane[3], in dem er die private Erinnerung der Bundesbürger in Gegensatz stellt, zum kollektiven kulturellen Gedächtnis über den Holocaust und die Verbrechen des Dritten Reiches. Die gefühlte Geschichte, die private Erinnerung der Familien, kreise um das Leiden der Angehörigen am Krieg, um mühseliges Überleben in schlechten Zeiten und um die persönliche Integrität.[4] Dies sei auch der Grund für die Auflagenstärke von Romanen wie Bernhard Schlinks Der Vorleser, Günther Grass’ Krebsgang oder Jörg Friedrichs Der Brand.
Sozialpsychologisch gesehen, wird man sich zu guten Handlungen, zu humanen Orientierungen nur dann befähigt fühlen, wenn man irgendwo in der eigenen Geschichte an positive Erfahrungen anknüpfen kann. Das Eigene positiv zu interpretieren stärkt. Man will handeln können! Nur wenn man sich als gut versteht, kann man Gutes tun. Das Gegenteil hat die Züge der Depression, die das Schlechte so stark generalisiert, dass sich etwas positiv anderes kaum aufbauen lässt. Also muss das Gedächtnis die Vergangenheit den gegenwärtigen Bedürfnissen anpassen. Das tut es. Man sieht genau das an den Enkeln, die einen positiven Ursprung gestalten, um sich selbst gut finden zu können.[5]
Damit mag Welzer psychologisch vielleicht ins Schwarze getroffen haben. Doch übermalt er mit diesem Gedanken den gesamten literarischen Diskurs:
Während die eine Gruppe lebens- und generationenlang damit zu ringen hat, dass ihr die Leben und Lebensgeschichten Anverwandter geraubt wurden, räsoniert die andere darüber, wie ein geschmeidigeres Verhältnis zur Tätergeneration zu etablieren sei, eines, das den Tätern von der moralischen Höhe bewältigter Vergangenheit herab erlaubt, in Frieden mit sich zu leben.[6]
Welzer setzt damit die Wünsche der Bevölkerung mit den Zielen der zeitgenössischen Autoren gleich. Literatur wie Ulla Hahns Unscharfe Bilder schert er mit Bernhard Schlinks Der Vorleser über einen Kamm[7]. Welzer erkennt damit allen zeitgenössischen Autoren ab, dass auch sie sich, wie Welzer auf akademischer Ebene, literarisch über derartige Strömungen hinwegsetzen können. Er spricht ihnen ab, gefühlte Geschichte zu erkennen und eben diese durch biographisch literarische Authentizität aufbrechen zu wollen und ihr entgegenzuwirken. Natürlich ist Ulla Hahns Verdrehung des Tätervaters in das schuldlos schuldige Opfer inakzeptabel. Doch Autoren wie Schlink, Timm, Leupold oder Medicus schaffen es, dem Typus Täter, der nur durch seine politischen oder offiziellen Handlungen gezeichnet ist, ein Gesicht zu geben. Sie brechen mit dem Klischee des durch und durch bösen Mannes, zeigen Ambivalenz und psychologischen Selbstbetrug. Sie vermindern oder verunglimpfen dadurch keineswegs Schuld und Täterschaft. Auf diese Weise ist Literatur Geschichtsschreibung in zweierlei Hinsicht: indem sie die Vergangenheit von allen Seiten beleuchtet, kann sie helfen, in Zukunft eine Wiederholung, ein Wegschauen, ein Übersehen zu verhindern.
Der Krieg nach den Kriegen
Das Missverhältnis zwischen dem Verlangen nach Genealogie und historischer Schönmalerei einerseits, und der Wahrheit über den eigenen Vater andererseits näherzukommen, stellt Dagmar Leupold in ihrem Buch Nach den Kriegen. Roman eines Lebens bereits auf der ersten Seite dar. Als symbolisches Mittel dient ein Stempel, den ihr Vater anfertigen ließ, um damit eine Autobiographie zu beschließen, die er nie schrieb. Im alltäglichen Gebrauch dient der Stempel einer institutionellen Absegnung; sei es ein Poststempel, der einen Brief zur Weiterleitung freigibt, ein ärztliches Rezept, das nur durch den Apothekenstempel bei der Krankenkasse eingereicht werden kann, oder ein Amtstempel im Pass, der einem die eigene rechtmäßige Existenz und Identität bescheinigt. Er wird von einem Individuum vergeben, doch bezeugt sein Abdruck eine überindividuelle, meist institutionelle und damit allgemeingültige Richtigkeit. Leupolds Vater wollte sich der eigenen gefühlten Geschichte offiziell versichern – im Selbstbetrug. Das Bedürfnis nach Anerkennung der eigenen Wahrheit über Tun und Handeln ließ selbst einen bilingualen, mathematisch hochbegabten Intellektuellen diesen Betrug ignorieren. Da das Dokument jedoch nicht existiert, und damit auch kein bezeugender Abdruck, bleibt ungewiss, was sich Vater Leupold bescheinigt hätte – „die Brücke“ zur Nachkriegsgeneration (die Wahrheit?!) oder „die Lüge schlechthin“ (S. 7)?. Mit „Der Stempel gehört nun mir“ beginnt Dagmar Leupold ihr Buch. Was bedeutet das? Es bedeutet nicht, dass sie den Stempel für Ihren Vater setzten wird. Sie besitzt die Absegnung des Vaters über dessen Leben, doch ihrem Roman eines Lebens lässt sie keinen Abdruck dessen folgen. Sie versucht nicht festzuhalten, was und wie er schreiben wollte. Sie sucht nicht nach seiner Zustimmung. Mit dem Stempel erbt sie das Verlangen, „eine Form und ein Format“ (ebd.) für das Leben des Vaters zu finden. Sie übernimmt diese Aufgabe in der Rolle des beurteilenden Analytikers. Worum es Dagmar Leupold dabei geht, ist die „vermißte Gestalt, eine Gestalt, deren Beschädigung durch Krieg geschah, eine Gestalt, deren Bestätigung durch Krieg geschah“ (S. 7) zu zeichnen, zu der sie sich selbst positionieren kann. Hatte der Vater nach einem passenden „Format“ gesucht – ein durchaus positiv konnotierter Begriff –, so sucht Dagmar Leupold nach der Gestalt ihres Vaters – die äußere kriegsversehrte[8], sowie die innere faschistoide. Sie will ein objektives, allumfassendes Bild des Vaters geben, sie will durch „Imagination“ erhalten, „was mir in Wirklichkeit entging“ (S. 7).
Auf den folgenden zweihundert Seiten erarbeitet sie sich förmlich ihren Vater von außen nach innen und gleichsam ihre genealogische Verbindung, bzw. Nichtverbindung. Sie exemplifiziert, was auf der ersten Seite bereits ausgedrückt wird und beginnt mit der äußeren Hülle. Bei dem letzten Besuch am Sterbebett ihres Vaters im Krankenhaus sieht Leupold den entblößten Körper des Vaters. „Zum ersten Mal sah ich meinen Vater nackt“ (S. 18) schreibt sie und erinnert sich an ihre Jugend:
Ich wollte ihn nicht nackt sehen (...). Daß ich von ihm abstammte – eine Abzweigung, ein Ausschnitt war –, schien mir im Zustand der Nacktheit auf die wörtlichste Bedeutung reduziert, alles Potentielle war gelöscht zugunsten einer fest berechneten Summe. (...) Kleidung war etwas Öffentliches, war Lebensstoff, Kleidung erzählte vom Vater und wies nicht auf die Tochter zurück. Im nackten Körper dagegen war der Vater – auf dem Kind unheimliche Weise – ohne vorwände zu Hause und ähnelte darin allen anderen Menschen. Also auch der Tochter. (S. 19.)
[...]
[1] Welzer 2004
[2] Assmann, Welzer 2005, taz
[3] Welzer 2004, S. 53
[4] Ebd.
[5] Welzer, 2004, Die Zeit
[6] Welzer 2004, S. 59
[7] Siehe Welzer 2004, S. 53 ff.
[8] Dass es sich der hiesigen Bedeutung von Gestalt („deren Beschädigung durch Krieg geschah“, S.7) nur um die körperliche Gestalt des Vaters handeln kann, wird im Verlauf des Romans deutlich. An keiner Stelle wird der Vater als seelisches Opfer des Krieges dargestellt, wohl aber widmet sich die Autorin den körperlichen Kriegsverletzungen ihres Vaters (siehe S. 18 ff.)
-
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X. -
Téléchargez vos propres textes! Gagnez de l'argent et un iPhone X.