Die aktuelle Reform der Krankenversicherung in Gestalt des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG) war im Jahr 2006 das zentrale Thema der politischen Diskussion. Zwischen den beteiligten Interessensparteien entwickelte sich eine kontroverse Debatte, die bis zum jetzigen Zeitpunkt andauert. Vor allem die Frage nach einer nachhaltigen Finanzierung des staatlichen Gesundheitswesens spaltet die Expertenmeinungen und –analysen; es wurden Kopfpauschalen und Bürgerversicherung erwogen. Die von vielen kritisierte „Kompromisslösung“ der Großen Koalition scheint kaum positive Reaktionen hervorzurufen.
Kernpunkt des am 1. April 2007 verabschiedeten GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes ist die Finanzierung über ein Fondsmodell, den so genannten Gesundheitsfonds. Die aktuelle Debatte um die Fondslösung stellt deshalb den Schwerpunkt meiner Arbeit dar.
Die Untersuchung einer Reform kommt nicht ohne eine Befassung mit dem Zustand des Vorherigen aus. Dieser ist in der Reform auch Anknüpfungspunkt.
Im ersten Kapitel werden deshalb die politökonomischen Notwendigkeiten des staatlichen Krankenversicherungssystems kurz erläutert, wobei die historische Genese im Hintergrund steht und vor allem auf die systemtheoretische Logik des Gesundheitswesens im Sozialstaat eingegangen werden soll, die als Voraussetzung einer weiteren Analyse der aktuellen Reformen unerlässlich ist.
Hauptthese dieser Arbeit ist, dass die Probleme, die sich bei der Reformierung des Gesundheitswesens ergeben, aus dem Umstand resultieren, dass der Staat bei der Ausgestaltung seines Gesundheitswesens den Spagat zwischen einer Gesundheitsversorgung im Sinne der Volksgesundheit und deren Finanzierung aus der schrumpfenden Masse der gesellschaftlichen Gesamtlohnsumme leisten muss. Diese Problemlage wird noch verschärft, da die aktuelle Reform bezweckt, das Gesundheitswesen zu einer rentablen Wirtschaftsbranche herzurichten.
Im zweiten Kapitel folgt eine knappe Darstellung der bisherigen Ausformung des Gesundheitswesens in der BRD, sowie eine kurze Darstellung der Eckpunkte der Gesundheitsreform. Im dritten Kapitel wird schließlich der Gesundheitsfonds detailliert vorgestellt und diskutiert. Hierbei soll auch auf die Rolle des Fonds als politischer Kompromiss der Großen Koalition eingegangen werden, da diese meiner Ansicht nach Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung des Fonds hat und deshalb bei der Analyse miteinbezogen werden muss.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die Notwendigkeit des Gesundheitswesens im demokratisch-marktwirtschaftlich organisierten Staat
a) Gesundheit – ein hohes Gut
b) Ursprung des staatlichen Gesundheitswesens
c) Gesundheitsversorgung in der Marktwirtschaft: Ein Versicherungssystem
d) Widersprüche und Probleme des Gesundheitsmarktes
2. Das duale System: Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und Private Krankenversicherung (PKV)
e) Finanzierung und strukturelle Finanzierungsprobleme
3. Reformbedarf: Was soll die Gesundheitsreform bewirken? Umgang mit einem strukturellen Finanzierungsproblem
4. Wie soll die Reform die Probleme der GKV überwinden? Eckpunkte im Hinblick auf die Finanzierungsnot
f) Gesundheitsfond
g) Tarifsystem
h) Zuzahlungspflichten
i) Ärztehonorare und Selektivverträge
j) Leistungsstreichungen
k) Verhältnis der GKV zur PKV
5. Der Gesundheitsfonds: Ein Instrument zur Ökonomisierung der GKV?
l) Der Fonds: ein politischer Konsens
I. Kopfpauschale/Gesundheitsprämie vs. Bürgerversicherung
II. Kopfpauschale + Bürgerversicherung = Gesundheitsfonds?
m) Die Strukturelemente des Fonds
I. Mittelaufbringung und –verwendung
II. Ausschüttung und Zusatzbeitrag
III. Risikostrukturausgleich (RSA)
n) Wirkungen der Strukturelemente
6. Reaktionen auf den Gesundheitsfonds
o) Die Gesetzlichen Krankenkassen
p) Gewerkschaften
q) Die Arbeitgeber
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Einleitung
Die aktuelle Reform der Krankenversicherung in Gestalt des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG) war im Jahr 2006 das zentrale Thema der politischen Diskussion. Zwischen den beteiligten Interessensparteien entwickelte sich eine kontroverse Debatte, die bis zum jetzigen Zeitpunkt andauert. Vor allem die Frage nach einer nachhaltigen Finanzierung des staatlichen Gesundheitswesens spaltet die Expertenmeinungen und –analysen; es wurden Kopfpauschalen und Bürgerversicherung erwogen. Die von vielen kritisierte „Kompromisslösung“ der Großen Koalition scheint kaum positive Reaktionen hervorzurufen.
Kernpunkt des am 1. April 2007 verabschiedeten GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes ist die Finanzierung über ein Fondsmodell, den so genannten Gesundheitsfonds. Die aktuelle Debatte um die Fondslösung stellt deshalb den Schwerpunkt meiner Arbeit dar.
Die Untersuchung einer Reform kommt nicht ohne eine Befassung mit dem Zustand des Vorherigen aus. Dieser ist in der Reform auch Anknüpfungspunkt.
Im ersten Kapitel werden deshalb die politökonomischen Notwendigkeiten des staatlichen Krankenversicherungssystems kurz erläutert, wobei die historische Genese im Hintergrund steht und vor allem auf die systemtheoretische Logik des Gesundheitswesens im Sozialstaat eingegangen werden soll, die als Voraussetzung einer weiteren Analyse der aktuellen Reformen unerlässlich ist.
Hauptthese dieser Arbeit ist, dass die Probleme, die sich bei der Reformierung des Gesundheitswesens ergeben, aus dem Umstand resultieren, dass der Staat bei der Ausgestaltung seines Gesundheitswesens den Spagat zwischen einer Gesundheitsversorgung im Sinne der Volksgesundheit und deren Finanzierung aus der schrumpfenden Masse der gesellschaftlichen Gesamtlohnsumme leisten muss. Diese Problemlage wird noch verschärft, da die aktuelle Reform bezweckt, das Gesundheitswesen zu einer rentablen Wirtschaftsbranche herzurichten.
Im zweiten Kapitel folgt eine knappe Darstellung der bisherigen Ausformung des Gesundheitswesens in der BRD, sowie eine kurze Darstellung der Eckpunkte der Gesundheitsreform. Im dritten Kapitel wird schließlich der Gesundheitsfonds detailliert vorgestellt und diskutiert. Hierbei soll auch auf die Rolle des Fonds als politischer Kompromiss der Großen Koalition eingegangen werden, da diese meiner Ansicht nach Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung des Fonds hat und deshalb bei der Analyse miteinbezogen werden muss.
Eine Analyse des Fondsmodells wird zeigen, dass durch die weitgehende Abspaltung der Kassenbeiträge von den Lohnzahlungen der Forderung der Unternehmen Rechnung getragen wird, die Lohnnebenkosten abzubauen, um den „Faktor Arbeit“ wieder bezahlbar und rentabel zu machen. Des Weiteren werden die Krankenkassen durch den geplanten Zusatzbeitrag und neue Versicherungstarife einem stärkeren Konkurrenzdruck ausgesetzt, was letztendlich Einsparungen der Kosten im Gesundheitswesen ermöglichen soll.
Auf dem Prüfstand stehen im letzten Kapitel anschließend die vielschichtigen Reaktionen und Bewertungen der betroffenen Interessensverbände, wobei ich sowohl Stellungnahmen von den gesetzlichen Krankenkassen, als auch von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften einfließen lasse.
Die vorgestellten Positionen werden analysiert und Argumentationen untersucht, um die Kritik aus dem Partikularinteresse der betroffenen gesellschaftlichen Akteure aufzuzeigen und gleichzeitig die Ergebnisse meiner Analyse zu stützen.
Im Resümee werden Schlussfolgerungen aus der bisherigen Analyse gezogen. Sie sollen aufzeigen, wie es um das „hohe Gut Gesundheit“ in unserer Gesellschaft steht und welchen Richtungswandel die neuen Reformen einläuten.
1. Die Notwendigkeit des Gesundheitswesens im demokratisch-marktwirtschaftlich organisierten Staat
a) Gesundheit – ein hohes Gut
Betrachtet man die Gesundheitsversorgung der Bundesrepublik Deutschland zum aktuellen Zeitpunkt, bietet sich zunächst ein positives Bild.
Seit Jahrzehnten steigt die Lebenserwartung der Bundesbürger und auch ihr Gesundheitszustand hat ein Niveau erreicht, das die Menschen zu schätzen wissen:
„Auch bei der Selbsteinschätzung der Gesundheit und der gesundheitlichen Zufriedenheit zeigt sich ein günstiges Bild. So empfinden drei Viertel der über 18-jährigen Frauen und Männer ihren eigenen Gesundheitszustand als „sehr gut“ oder „gut“. Tendenziell stieg seit Mitte der 1990er Jahre der Anteil jener Personen, die ihre Gesundheit als „sehr gut“ einschätzen.„[1]
Der medizinische Fortschritt ermöglicht die Heilung oder zumindest eine Symptombehandlung fast aller Krankheiten, durch den hohen hygienischen Standard treten viele Gesundheitsprobleme gar nicht mehr auf.
Im Bundeshaushalt ist das Ministerium für Gesundheit mit ca. 2,5 Mrd. Euro ausgestattet, weiterhin werden Millionen in die medizinische Forschung und Entwicklung investiert.
Jeder Bundesbürger hat ungeachtet seiner gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse Anspruch auf medizinische Versorgung.
Die Pharmabranche ist eine der Wachstumsbranchen der deutschen Wirtschaft. Gesundheitsversorgung wird also tatsächlich „groß geschrieben“ in Deutschland, eine der großen Volksparteien stellt klar:
„Gesundheit ist ein hohes Gut für jeden einzelnen Menschen. Sie ist die Voraussetzung für Leistungsfähigkeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Die Absicherung der Risiken, krank und pflegebedürftig zu werden, ist deshalb eine zentrale Aufgabe eines modernen Sozialstaates.“[2]
b) Ursprung des staatlichen Gesundheitswesens
Das Gesundheitswesen der BRD ist neben dem Arbeitsschutz und der Arbeitslosen- und Rentenversicherung ein Grundpfeiler des Sozialstaates.
Die folgende Betrachtung ist nicht zu verstehen als Beginn einer historischen Abhandlung, sondern verdeutlicht die logische Notwendigkeit der Entstehung des Sozialstaates. Dessen Begründer Otto von Bismarck stellte 1881 fest:
„…Geben Sie dem Arbeiter das Recht auf Arbeit, solange er gesund ist, sichern Sie ihm Pflege, wenn er krank ist, sichern Sie ihm Versorgung, wenn er alt ist – wenn Sie das tun und nicht über Staatssozialismus schreien, sobald jemand das Wort „Altersversorgung“ ausspricht, wenn der Staat etwas mehr christliche Fürsorge für die Arbeiter zeigt, dann glaube ich, daß die Herren vom Wydener Programm [gemeint sind die Sozialdemokraten] ihre Lockpfeife vergebens blasen werden, dass der Zulauf zu ihnen sich vermindern wird, sobald die Arbeiter sehen, daß es den Regierungen und gesetzgebenden Körperschaften mit der Sorge um ihr Wohl ernst ist.“[3]
Bismarck erkannte in der frühindustriellen Phase Ende des 19. Jahrhunderts die Notwendigkeit, sich der durch die Lohnarbeit in der Fabrik gesundheitlich stark belasteten Arbeiterklasse politisch anzunehmen. „Etwas mehr christliche Fürsorge“ sollte das Überlaufen der Arbeiter zum damals noch bekämpften sozialdemokratischen Lager verhindern und auf den Staat als Ansprechpartner ihrer Interessen verpflichten:
„Ich habe das Gefühl, daß der Staat für seine Unterlassungen verantwortlich werden kann. Ich bin nicht der Meinung, daß das „laisser faire, laisser aller“, das „reine Manchestertum in der Politik“ im Staat, namentlich im monarchischen, landesväterlich regierten Staat Anwendung finden könnte. Meiner Meinung nach liegt der Sieg über die lügenhaften Versprechungen und schwindelhaften Ideen, mit welchen Führer der Sozialdemokratie die Arbeitermassen ködern, namentlich in dem tatkräftigen Beweise, daß der Staat sich der wirtschaftlich Schwachen und Bedrängten annimmt….Die sozialpolitische Bedeutung einer allgemeinen Versicherung […] ist unermeßlich…“[4]
Dass der Staat die Gesundheit seiner arbeitenden Bevölkerungsteile als eigenständigen politischen Zweck organisiert, ist eine Notwendigkeit, die mit der Entwicklung der marktwirtschaftlichen Produktionsweise einhergeht, wobei seit Bismarck noch viele Arbeiteraufstände dem Staat zu dieser Einsicht verhelfen mussten:
Die in den Fabriken des 19. Jahrhunderts angewandte Arbeitskraft wird dort für die Produktion von gewinnbringenden Waren oft an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gebracht, was sich ohne sozialstaatliche Maßnahmen folgendermaßen auswirkte:
„Habe hier 2 Jahre gearbeitet, bin jetzt 14, arbeite 16 1\2 Stunden am Tag. Kürzlich war ich krank und bat, um 8 Uhr aufhören zu dürfen, und man sagte mir, wenn ich ginge, brauche ich nicht zurückzukommen.“[5]
Die Wiederherstellung der verschlissenen Gesundheit muss Staatsaufgabe sein, da sich die Unternehmen nicht um das Vorhandensein dauerhaft einsetzbarer Arbeitskräfte kümmern, sondern diese als Voraussetzung ihres Geschäfts unterstellen und als gegeben voraussetzen.
Für die Schaffung der allgemeinen Voraussetzung von Geschäft ist in der Kosten-Nutzen-Rechnung jedes individuellen Unternehmens kein Platz.
Der marktwirtschaftlich orientierte Staat seinerseits ist an der Dauerhaftigkeit von rentablem Geschäft an seinem Standort für sein Wirtschaftswachstum interessiert und muss deshalb die für alle gleichermaßen notwendige Bedingung – eine funktionstüchtige Arbeiterschaft - schaffen.
c) Gesundheitsversorgung in der Marktwirtschaft: Ein Versicherungssystem
Die Gesundheitsversorgung ist in der Marktwirtschaft passender Weise als Gesundheitsmarkt organisiert und hat sich in Deutschland zu einer profitablen Wachstumsbranche entwickelt. Bei dem Bestreben aus der notwendigen Gesundheitsversorgung seiner Bürger eine Geschäftssphäre zu machen, stößt der Staat auf ein Problem: der gewollte medizinische Fortschritt setzt Forschung voraus, in deren Natur es liegt, dass ihre Ergebnisse nicht vorauszusehen sind, also aus einem kostspieligen Forschungsauftrag möglicherweise kein rentabel zu vermarktendes Produkt resultiert. Diese Ungewissheit macht die Forschung prinzipiell zu einer unattraktiven Kapitalanlagesphäre. Um dennoch die medizinische Forschung als Geschäft zu organisieren, garantiert der Staat den Unternehmen in diesem Sektor eine Preisbindung und befreit sie damit zeitweilig[6] von der Konkurrenz auf dem Markt. Weil neue Apparate, Medikamente und Verfahren ebenso gewünscht wie kostenintensiv sind, schafft der Staat so über Festpreise einen Anreiz für Pharmaunternehmen, die mit der Produktion dieser Waren ein Geschäft machen wollen. Mittlerweile hat sich die Pharmabranche zu einer Wachstumsbranche entwickelt, die die beiden staatlichen Zwecke vorbildlich vereint: Die Exportgewinne der Branche können sich mit denen der Automobilbranche durchaus messen und fließen in Form von Steuern auch in den Staatshaushalt, während die Herstellung der Volksgesundheit gewährleistet wird, da sie für die Akteure profitables Geschäft verspricht.
Auf der anderen Seite des Gesundheitsmarktes stehen die Empfänger der Gesundheitsdienstleistungen, für die jede medizinische Dienstleistung (Medikamente, ärztliche Behandlung, Krankenhausaufenthalt, Pflege etc.) einen Preis hat. Sich diese leisten zu können, ist für große Teile der arbeitenden Bevölkerung aus folgendem Grund problematisch:
Ihr Einkommen aus nichtselbstständiger Arbeit ist für den Arbeitgeber ein möglichst gering zu haltender Abzug von seinem Gewinn. Je mehr er an Lohn fortzahlt, desto weniger Gewinn seines Gesamtwarenprodukts bleibt ihm, weswegen die Geschichte des Lohnkampfes genau so alt ist wie die industrielle Produktionsweise selbst.
Da also der Lohn des Arbeitnehmers knapp bemessen ist und in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit immer öfter ganz wegfällt, ist eine medizinische Versorgung aus eigener Tasche für diese Klientel nicht finanzierbar. Hier greift der Staat ein und macht Gesundheitspolitik. Was das aktuell heißt, ist im „Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik“ nachzulesen:
„Unter Gesundheitspolitik versteht man alle Maßnahmen zur Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, die sich auf die Gesundheitsvorsorge, die Krankheitsbehandlung und die Krankheitsfolgen beziehen. In ihrer jeweiligen organisatorischen, rechtlichen und finanziellen Ausformung, wie sie hauptsächlich durch die Krankenversicherungsgesetzgebung erfolgt, bestimmen sie die Struktur des Gesundheitswesens.“[7]
Der deutsche Staat richtet also eine Krankenversicherung ein, die eine kollektive Zahlungsfähigkeit der Versicherten leisten soll. Teile des Lohns werden über die Krankenversicherung so umverteilt, dass für die Versicherten eine „Grundversorgung“ bezahlt werden kann.[8] Wie genau das Krankenversicherungssystem in Deutschland ausgestaltet ist, soll im nächsten Gliederungspunkt Gegenstand sein.
d) Widersprüche und Probleme des Gesundheitsmarktes
Mit der Organisation des Gesundheitswesens als Dienstleistungsbranche begibt sich der Staat in einen Widerspruch:
„Die Ziele der Gesundheitspolitik lassen sich nach drei Ebenen unterscheiden. Auf der gesellschaftlichen Ebene steht das Solidaritätsprinzip im Vordergrund. Im Bedarfsfall soll jeder Bürger unabhängig von Einkommen und sozialem Status Anspruch auf die notwendige Gesundheitsversorgung haben. Auf der medizinischen Ebene geht es um die bestmögliche Qualität der Gesundheitsversorgung unter Wahrung der menschlichen Würde und Freiheit. Auf der ökonomischen Ebene geht es um die kostengünstige Versorgung mit Gütern und Diensten. Die verfügbaren finanziellen Mittel sollen nicht nur effektiv, sondern auch effizient verwendet werden. Diese Ziele stehen im Konflikt miteinander.“[9]
Dass die medizinische Versorgung der Bürger auf der einen Seite gesichert sein, auf der anderen Seite als kapitalistisch lohnendes Geschäft stattfinden soll, ist eine Aufgabe, die beständige Reformen des Gesundheitssystems notwendig macht und deren Widersprüchlichkeit sich in den gegensätzlichen Interessen der beteiligten Akteure widerspiegelt:
„Ihnen [den drei Zielen der Gesundheitspolitik] wird von den einzelnen Akteuren im Gesundheitssektor aufgrund verschiedener Interessenslage eine unterschiedliche Priorität eingeräumt. Der Versuch, diese Ziele gleichzeitig zu verwirklichen, bestimmt die Konflikt- und Konsensprozesse der Gesundheitspolitik.“[10]
Der Staat muss also den Gesundheitsmarkt regulieren, um unerwünschte Marktentwicklungen zu verhindern. In der Konkurrenz des freien Marktes gilt das Gesetz, dass nur derjenige eine Ware oder Leistung bekommt, der den als gewinnbringend kalkulierten Preis dafür zahlen kann. Das führt dazu, dass ein Großteil der Konsumenten wegen mangelnder Kaufkraft die essentiellsten Bedürfnisse gegeneinander abwägen muss.
Diese Kalkulation soll dem Volk in Bezug auf die medizinische Versorgung erspart bleiben, weil der Staat die Gesundheit seines Volkes als Vorraussetzung der gesellschaftlichen Produktivität nicht der Privatentscheidung des Einzelnen überlassen kann. Vielmehr greift er zur Sicherstellung einer Grundversorgung in die Gesundheitsbranche ein, indem er den Dienstleistungsanbietern ein Kassensystem gegenüberstellt, das im Auftrag der medizinischen Versorgung ihrer Versicherten aus einer beschränkten Finanzmasse die Preise der Anbieter niedrig hält.
„Den gesetzlichen Krankenkassen, die den Versicherungsschutz wahrnehmen und bei der Bereitstellung der medizinischen Leistungen für eine bedarfsgerechte und medizinisch vollwertige Versorgung mitwirken, stehen die Anbieter von Gesundheitsleistungen gegenüber. In der ambulanten Versorgung sind dies die niedergelassenen Ärzte, in der stationären Versorgung die Krankenhausträger und in der Arznei- und Heilmittelversorgung die Industrieunternehmen. […] Machtungleichgewichte zwischen Krankenkassen und Anbietern entstehen nicht nur bezüglich der Finanzierungsprobleme, sondern auch bei der Ausnutzung des von der gesetzlichen Normierung vorgegebenen Gestaltungsspielraums für eine bedarfs- und qualitätsorientierte Versorgung.“[11]
Analog zum freien Markt müssen so die Leistungsanbieter unter sich um die beschränkte Zahlungsfähigkeit konkurrieren, um ihr Produkt in Form einer bezahlten Krankenkassenleistung zu vermarkten.
Um eine Konkurrenz untereinander zu verhindern, treten die Ärzte den Krankenkassen gegenüber geschlossen auf, indem sie sich in Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) organisieren. Die Dachorganisation der zurzeit 17 KVen ist die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), die der Aufsicht des Bundesgesundheitsministeriums unterliegt.
Die primären Aufgaben der KVen sind die „Sicherstellung der ambulanten kassenärztlichen Versorgung“ und die „Vertretung der Rechte der Vertragsärzte gegenüber den Krankenkassen“, sowie die „Überwachung der Pflichten der Vertragsärzte“[12].
Die Krankenkassen schließen Kollektivverträge mit den KVen ab, in denen alle ärztlichen Leistungen und die entsprechenden Vergütungen für den jeweiligen KV-Bezirk festgelegt werden. Die Ärzte werden folglich über ein Punktesystem –dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM)- pro einzelner Leistung bezahlt.
Hierbei ist entscheidend, dass die Gesamtvergütung, also die Geldsumme, aus der die Zahlung sämtlicher Ärztehonorare geleistet werden muss, zwischen den KVen und den Krankenkassen vertraglich im Voraus ausgehandelt wird. Wie hoch die Ärztehonorare sind, hängt also davon ab, wie viele und wie kostspielige Leistungen in einem bestimmten Zeitraum zu vergüten sind. Dementsprechend wissen die Ärzte erst im Nachhinein, wie hoch das Entgelt ihrer Arbeit sein wird.
2. Das duale System: Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und Private Krankenversicherung (PKV)
Der deutsche Staat verpflichtet die lohnabhängig Beschäftigten, sich in einer Gesetzlichen Krankenkasse zu versichern, während er für Selbstständige, Beamte etc. (siehe 2a) eine Privatversicherung vorsieht. Letztere müssen nicht vom Staat darauf verpflichtet werden, sich um ihre Gesundheit zu kümmern, da ihnen ihr Einkommen nicht in dem Maße die Entscheidung zwischen Gesundheitsversorgung und anderen Bedürfnissen aufnötigt.
Trotzdem haben Unternehmer eine Geschäftsmöglichkeit im Bedarf nach Gesundheitsversicherung auch bei dieser Klientel entdeckt und somit die PKV als gewinnorientiertes Versicherungsunternehmen ins Leben gerufen. Für den Staat ergibt sich aus der PKV die Möglichkeit, seine Beamten aus der GKV-Pflicht zu entlassen, um die Kosten des Arbeitgeberbeitrags an der Krankenversicherung einzusparen.
Für das duale System gibt es keine politökonomische Notwendigkeit, was auch daran erkennbar ist, dass in anderen marktwirtschaftlich-demokratisch strukturierten Staaten diese Zweiteilung der Krankenversicherung entfällt. In den Niederlanden sind alle Bürger in der Gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert.[13]
e) Finanzierung und strukturelle Finanzierungsprobleme
Es gibt in Deutschland derzeit ca. 250 Gesetzliche Krankenkassen, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts dazu verpflichtet sind, erwirtschaftete Überschüsse in eine Senkung der Beiträge zu überführen. Die Konkurrenz zwischen den einzelnen Kassen um die Versicherten soll Effektivität und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung – etwa gegenüber einer Einheitskasse – steigern.
Bei der Gesetzlichen Krankenversicherung ist der Beitragssatz einkommensabhängig und beinhaltet eine Umverteilungskomponente, die Bezieher mittlerer Einkommen zu Gunsten geringer Verdienender oder beitragsfrei Versicherter (z.B. Familienmitglieder) belastet.
„Die Versicherungspflichtgrenze legt fest, bis zu welcher Höhe des jährlichen Bruttoarbeitsentgelts Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) unterliegen. Diese Versicherungspflichtgrenze liegt im Jahr 2007 bei 47.700 Euro oder 3.975 Euro pro Monat.“[14]
Für alle Bürger, deren monatliches Bruttoeinkommen unterhalb der Versicherungspflichtgrenze liegt, sowie für Bezieher von Erwerbsersatzeinkünften (Arbeitslosengeld, Rente, Krankengeld u.a.), Studenten und deren Familienangehörige, gilt die Versicherungspflicht in einer Gesetzlichen Krankenkasse. Die Einnahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung bestehen nahezu ausschließlich aus Beiträgen. Diese werden zu gleichen Teilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen. Eine Ausnahme ist hier der zum 1. Juli 2005 eingeführte Zusatzbeitrag (Beitragssatz 2005: 0,9 %), der von den Arbeitnehmern allein getragen wird.
In der Privaten Krankenversicherung ist die Versicherungsprämie auf Basis individuell zwischen Versicherungsnehmer und Versicherung vereinbarter Leistungen kalkuliert und einkommensunabhängig. Beitreten können einer PKV Angestellte und Arbeiter mit einem monatlichen Bruttoeinkommen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze, Beamte und Selbstständige ohne Berücksichtigung ihres Einkommens.
Knapp 90 % der Bevölkerung sind in der Gesetzlichen Krankenversicherung versichert.
Probleme bei der Finanzierung der GKV haben immer wieder Anlass zu Reformen gegeben und beschäftigen die Gesundheitsminister seit Jahrzehnten:
„Seit Mitte der 70ger Jahre war und ist Gesundheitspolitik vornehmlich Kostendämpfungspolitik. Im Mittelpunkt der seit 25 Jahren ständigen Gesundheitsreformen stand die Finanzierbarkeit der GKV.“[15]
[...]
[1] Gesundheitsberichterstattung des Bundes: Gesundheit in Deutschland (2006) , unter http://www.rki.de/cln_049/nn_204568/DE/Content/GBE/Gesundheitsberichterstattung/GesInDtld/gesundheitsbericht__kurzfassung,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/gesundheitsbericht_kurzfassung.pdf [Stand 12.07.07].
[2] Mikfeld, Benjamin (SPD Parteivorstand) unter http://www.spd.de/menu/ [Stand 17.07.07].
[3] Rothfels, Hans: Bismarck und der Staat, Darmstadt 1958,S.303 ff.
[4] ebd.
[5] Alex de Tocqueville, Das Zeitalter der Gleichheit, hrsg.v. Siegfried Landshut. Stuttgart 1954, S.246 f.
[6] Diese Monopolpreise werden vom Staat für einen beschränkten Zeitraum garantiert, nach dessen Ablauf sich die Preiskonkurrenz entwickeln kann. Neben dem Festpreis gibt es außerdem die Regelung, dass die Entdeckung eines neuen Wirkstoffs, Verfahrens etc. eine Zeit lang ausschließlich von seinem Entdecker nutzbar gemacht werden darf. Auch diese ausschließliche Verfügung garantiert der Staat für einen Zeitraum, dessen Länge immer wieder Gegenstand der politischen Diskussion ist. Letzteres zeigt, dass mit diesen Maßnahmen die Konkurrenz in dieser Sphäre nicht aufgehoben ist, sondern, dass die medizinischen Produkte überhaupt nur so als konkurrenztaugliche Waren für den Markt zu produzieren sind.
[7] Uwe Andersen; Wichard Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik, 5.Auflage, Opladen 2003, S.121.
[8] In anderen Nationen wird das gesamte Gesundheitswesen aus dem Staatshaushalt bezahlt.
[9] Uwe Andersen; Wichard Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik, S.122.
[10] Ebd.
[11] Uwe Andersen; Wichard Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik, S.123.
[12] Sozialgesetzbuch V, §75
[13] Vgl. Hamilton, Gerd Jan: Die Niederländische Gesundheitsreform 2006 - Ein Modell für Deutschland ? Organ der Gesellschaft für Recht und Politik im Gesundheitswesen GRPG, 1.2006 (Band 12.Heft 1.2006), 3-13.
[14] Das Bundesministerium für Gesundheit unter http://www.die-gesundheitsreform.de/glossar/versicherungspflichtgrenze.html [Stand 25.04.07]
[15] Das Bundesministerium für Gesundheit unter http://www.die-gesundheitsreform.de/glossar/versicherungspflichtgrenze.html [Stand 25.04.07]
- Arbeit zitieren
- Lena Henning (Autor:in), 2008, Gesundheitsreform und Gesundheitsfonds. Lösung eines strukturellen Finanzierungsproblems der Gesetzlichen Krankenversicherung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86895
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