Das Thema Kindesvernachlässigung wird im Gegensatz zur körperlichen Misshandlung oder des sexuellen Missbrauchs von Kindern seltener wahrgenommen. Da es sich um einen langwierigen und schleichenden Prozess innerhalb einer Familie handelt, erscheint es auf dem ersten Blick unspektakulär und wenig medientauglich, es sei denn, ein Kind stirbt an den Folgen einer Vernachlässigung. In diesen Fällen lösen die Schlagzeilen Gefühle von Wut, Trauer, Unverständnis und Ohnmacht in der Öffentlichkeit aus. Die meist oberflächliche Betrachtung führt anschließend zu der einfachen Schlussfolgerung, dass man es hier mit „Raben-Eltern“ und nichts hören und sehen wollenden Nachbarn zu tun hatte. Doch die Ursachen sind oft weitreichender und komplexer. Dementsprechend stellte auch die Bundesregierung einen notwendigen Handlungsbedarf zum Schutz der Kinder fest und vereinbarte schon im Koalitionsvertrag soziale Frühwarnsysteme zur frühen Förderung gefährdeter Kinder zu entwickeln. Da sich die Bundesrepublik Deutschland gerade in der ersten Phase der Entwicklung und Umsetzung dieser sozialen Frühwarnsysteme befindet, möchte ich mich in meiner Arbeit diesem Thema widmen.
Ein weiterer Grund sich mit dem Thema Vernachlässigung von Kindern auseinanderzusetzen, ist der fehlende Grundstock theoretischer Abhandlungen, zumindest im deutschen Sprachraum. Zur Problematik Kindesmisshandlung ist der Umfang der Literatur international mittlerweile auf ein gutes Maß angewachsen, jedoch ist dieser beim Thema Kindesvernachlässigung noch sehr überschaubar.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffsbestimmungen
2.1 Vernachlässigung
2.1.1 Definition Vernachlässigung
2.1.2 Formen von Vernachlässigung
2.2 Soziales Frühwarnsystem
2.2.1 Definition soziales Frühwarnsystem
2.2.2 Funktionsweise und Ziel eines sozialen Frühwarnsystems
3. Theoretische Grundlagen
3.1 Grundbedürfnisse von Kindern
3.2 Risikofaktoren für eine Gefährdungslage
3.3 Mögliche Folgen einer Kindesvernachlässigung
3.4 Erfahrungen mit präventiven Maßnahmen und frühen Hilfen
4. Gesetzliche Grundlagen
4.1 Rechte des Kindes
4.2 Gesetzliche Grundlagen für Interventionsmaßnahmen
4.3 Strafrechtliche Ahndung von Kindesvernachlässigung
5. Das Aktionsprogramm „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“
6. Bisherige Modellprojekte in Deutschland
6.1 Allgemein
6.2 Modellprojekte
6.2.1 Hausbesuchsdienst des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes Steglitz- Zehlendorf (Berlin) / Projekt „Ich bin stark im Babyjahr“, Weg der Mitte e.V.
6.2.2 „SAFE® – Sichere Ausbildung für Eltern“ 39
6.2.3 „STEEP – Steps towards effective, enjoyable parenting“
6.2.4 „Adebar“ – Familienzentrum
6.2.5 „Aufsuchende Familienhilfe für junge Mütter, Netzwerk Familienhebammen Niedersachsen“ – Stiftung „Eine Chance für Kinder“
6.2.6 „Soziales Frühwarnsystem Gütersloh“
7. Erfolgreiche Modelle im Ausland
7.1 Families First – Australien (New South Wales)
7.1.1 Was ist Families First ?
7.1.2 Hausbesuche durch ausgebildete Pflegerinnen
7.1.3 Hausbesuche durch Freiwillige
7.1.4 Schulen als Gemeinschaftszentren
7.1.5 Betreute Spielgruppen
7.1.6 Praxisbeispiele
7.1.7 Fazit
7.2 Early Excellence Centres – Großbritannien
7.2.1 Was sind Early Excellence Centres ?
7.2.2 Angebote und Ziele
7.2.3 Das nationale Curriculum
7.2.4 Praxisbeispiel
7.2.5 Fazit
7.3 Neuvola - Finnland
7.3.1 Was ist Neuvola ?
7.3.2 Die Neuvola -Tanten
7.3.3 Angebote und Ziele
7.3.4 Praxisbeispiel
7.3.5 Fazit
8. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Anhang
1. Einleitung
Das Thema Kindesvernachlässigung wird im Gegensatz zur körperlichen Misshandlung oder des sexuellen Missbrauchs von Kindern seltener wahrgenommen. Da es sich um einen langwierigen und schleichenden Prozess innerhalb einer Familie handelt, erscheint es auf dem ersten Blick unspektakulär und wenig medientauglich, es sei denn, ein Kind stirbt an den Folgen einer Vernachlässigung. In diesen Fällen lösen die Schlagzeilen Gefühle von Wut, Trauer, Unverständnis und Ohnmacht in der Öffentlichkeit aus. Die meist oberflächliche Betrachtung führt anschließend zu der einfachen Schlussfolgerung, dass man es hier mit „Raben-Eltern“ und nichts hören und sehen wollenden Nachbarn zu tun hatte. Doch die Ursachen sind oft weitreichender und komplexer. Dementsprechend stellte auch die Bundesregierung einen notwendigen Handlungsbedarf zum Schutz der Kinder fest und vereinbarte schon im Koalitionsvertrag soziale Frühwarnsysteme zur frühen Förderung gefährdeter Kinder zu entwickeln. Da sich die Bundesrepublik Deutschland gerade in der ersten Phase der Entwicklung und Umsetzung dieser sozialen Frühwarnsysteme befindet, möchte ich mich in meiner Arbeit diesem Thema widmen.
Ein weiterer Grund sich mit dem Thema Vernachlässigung von Kindern auseinanderzusetzen, ist der fehlende Grundstock theoretischer Abhandlungen, zumindest im deutschen Sprachraum. Zur Problematik Kindesmisshandlung ist der Umfang der Literatur international mittlerweile auf ein gutes Maß angewachsen, jedoch ist dieser beim Thema Kindesvernachlässigung noch sehr überschaubar. So stellen auch Deegener und Körner fest:
Eine Auswertung zur Erfassung von Tendenzen in der wissenschaftlichen Literatur über Kindesmisshandlungen (Behl et al., 2003), bei der 2090 Artikel aus den Jahren 1977 bis 1998 aus sechs Fachzeitschriften gesichtet wurden, kam zu dem Ergebnis, dass der Prozentanteil von Artikeln über Vernachlässigung (und seelische Misshandlung) über den Untersuchungszeitraum hinweg konstant sehr niedrig war. Nach Einschätzungen der Autorinnen ist er sogar so niedrig, dass sie von einem Anfangsstadium der wissenschaftlichen Entwicklung in diesen Bereichen sprechen (ebd., S. 223). Um dies zu ändern, empfehlen sie als ersten und wichtigsten Schritt mehr theoretische Arbeiten über Vernachlässigung (und seelische Gewalt) zu veröffentlichen (Deegener/Körner 2006, S. 80).
Für eine wissenschaftliche Basis sind natürlich auch entsprechende Statistiken von großem Nutzen. Auch wenn es in solchen Bereichen immer eine Dunkelziffer gibt, so bietet doch ein vorhandenes Zahlenmaterial eine Grundlage zur genaueren Einschätzung und Behandlung der Problematik.
Aber schon an diesem Punkt lässt sich der enorme Handlungsbedarf der Bundesrepublik Deutschland auf diesem Gebiet verdeutlichen. In einer ersten Kurzevaluation des Aktionsprogramms „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ stellt das von der Bundesregierung beauftragte Deutsche Jugendinstitut eingangs fast schon lapidar und beiläufig fest, dass „die Bundesrepublik eines der wenigen entwickelten Industrieländer ist, das keine nationalen Statistiken zur Häufigkeit von Vernachlässigung und anderen Formen der Kindeswohlgefährdung erhebt“ und demzufolge gar nicht einschätzen kann, „ob Vernachlässigung in Deutschland bedeutsam zunimmt“ (Helming/Sandmeir/Sann/Walter 2006, S. 8).
Und das, obwohl u.a. Thyen schon 1987 feststellte, dass „über Häufigkeit und Ursachen von Vernachlässigung (…) wenig bekannt (ist) obgleich sie vermutlich häufiger vorkommt als die Mißhandlung von Kindern“ (Thyen 1987, S. 104).
Die derzeitige Befundlage, die sich nur auf Schätzungen und wenige nicht repräsentative Umfragen stützen kann, lässt also erahnen, dass die oft wenig beachtete Kindesvernachlässigung die häufigste Gefährdungsform im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe darstellt.
Um den Begriff des Frühwarnsystems mit konkreten Ergebnissen und Vorschlägen zur Entwicklung und Umsetzung ausgestalten zu können, möchte ich in meiner vorliegenden Arbeit das Thema in seiner Gesamtheit betrachten. Dazu gilt es zunächst die Begriffe Kindesvernachlässigung und Frühwarnsystem zu erläutern, des Weiteren die theoretischen sowie gesetzlichen Grundlagen zu betrachten und anschließend das Aktionsprogramm „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ der Bundesregierung in Augenschein zu nehmen.
In diesen Zusammenhang gehört die Betrachtung der Projektlandschaft, wie sie gegenwärtig in der Bundesrepublik vorzufinden ist. Natürlich lohnt sich auch ein „Blick über den Tellerrand“ hinaus: Wie stellt sich die Problematik in anderen Ländern dar und welche der dort entwickelten Strategien und Lösungsansätze lassen sich hierzulande übernehmen?
2. Begriffsbestimmungen
2.1 Vernachlässigung
2.1.1 Definition Vernachlässigung
Die Definition und Beurteilung von Vernachlässigung hängt immer auch von Ort, Zeit und Funktion ab. Was vor Jahren noch als akzeptable Form der Kindeserziehung galt, kann unter Umständen in heutiger Zeit als Vernachlässigung bzw. Misshandlung gelten. Genauso gibt es je nach Kulturkreis unterschiedliche Auffassungen im Umgang mit Kindern, d.h. was in unserem westlichen Kulturkreis als Vernachlässigung angesehen wird, kann unter Umständen in anderen Kulturkreisen beispielsweise ein zwangsläufiges Ergebnis anderer Familienstrukturen und fehlender materieller oder finanzieller Ressourcen sein.
In Deutschland wird durch das Deutsche Jugendinstitut Vernachlässigung definiert als „andauerndes oder wiederholtes Unterlassen fürsorglichen Handelns bzw. Unterlassen der Beauftragung geeigneter Dritter mit einem solchen Handeln durch Eltern oder andere Sorgeberechtigte, das für einen einsichtigen Dritten vorhersehbar zu erheblichen Beeinträchtigungen der physischen und / oder psychischen Entwicklung des Kindes führt oder vorhersehbar ein hohes Risiko solcher Folgen beinhaltet“ (Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 41).
Ähnlich formuliert auch Deegener seine Definition von Vernachlässigung als „die (ausgeprägte, d.h. andauernde oder wiederholte) Beeinträchtigung oder Schädigung der Entwicklung von Kindern durch die sorgeberechtigten und –verpflichteten Personen aufgrund unzureichender Pflege und Kleidung, mangelnder Ernährung und gesundheitlicher Fürsorge, zu geringer Beaufsichtigung und Zuwendung, nachlässigem Schutz vor Gefahren sowie nicht hinreichender Anregung und Förderung motorischer, geistiger, emotionaler und sozialer Fähigkeiten“ (Deegener 2005, zitiert nach Deegener/Körner 2006, S. 81).
Wiesner bezieht sich in seiner Definition auf den § 1626 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) (siehe 4.1) und stellt zudem die situativ unangebrachte Passivität heraus, indem er „ein passives Verhalten der Eltern (…) d.h. eine Untätigkeit in den Fällen, in denen die Elternpflichten ein Handeln zum Wohl des Kindes verlangen (ausmacht). Das Erziehungsziel des § 1626 Abs. 2 BGB begründet eine dahingehende Pflicht, so dass Vernachlässigung in erster Linie Unzulänglichkeiten in der Betreuung, d.h. mangelhafte Pflege, Ernährung und Bekleidung, Aufsicht und Fürsorge bedeutet“ (Deegener/Körner 2005, S. 292).
Deegener und Körner unterscheiden in ihren Ausführungen grundsätzlich zwischen passiver und aktiver Vernachlässigung. Während bei der passiven, also der unbewussten Vernachlässigung, davon auszugehen ist, dass es sich um mangelnde Einsicht bzw. um unzureichendes Wissen bezüglich Notwendigkeiten und Gefahrensituationen handelt, spricht man bei einer wissentlichen Verweigerung von Nahrung, Schutz usw. von einer aktiven Vernachlässigung (vgl. Deegener/Körner 2005, S. 37).
Zusammengefasst besteht ein Konsens unter den Fachleuten der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, dass bei Vernachlässigung den Bedürfnissen des Kindes häufiger als einmal nicht ausreichend nachgekommen wird und sich dies negativ auf das Wohl und die Entwicklung des Kindes auswirkt bzw. auswirken kann. Dabei können jedoch die Meinungen über die Bedürfnisse von Kindern divergieren.
Auf die Grundbedürfnisse von Kindern wird noch einmal bei den theoretischen Grundlagen unter Punkt 3.1 näher eingegangen.
2.1.2 Formen von Vernachlässigung
Da Kinder entsprechend ihrer verschiedenen Bedürfnisse jeweils in mehreren Entwicklungs- und Lebensbereichen der Fürsorge bedürfen, eine vorhandene Vernachlässigung aber nicht all diese Bereiche gleichermaßen betreffen muss, werden zur näheren Beschreibung der Vernachlässigungserfahrungen eines Kindes häufig Adjektive verwandt, wie etwa „erzieherische“, „emotionale“ oder „körperliche“ Vernachlässigung (vgl. Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 42). Eine einheitliche Kategorisierung der verschiedenen Unterformen von Vernachlässigung hat sich in nationalen wie internationalen Fachkreisen noch nicht herausgebildet. Jedoch gibt es wesentliche Übereinstimmungen bei den Einordnungen von verschiedenen Fachleuten in USA, Kanada usw. (vgl. Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 44). So spricht man neben der körperlichen Vernachlässigung, wie z.B. einer unzureichenden Versorgung mit Nahrung, Flüssigkeit, sauberer Kleidung, Hygiene, Wohnraum und medizinischer Versorgung, ebenso von einer kognitiven und erzieherischen Vernachlässigung, wie z.B. der Mangel an Konversation, Spiel und anregenden Erfahrungen, fehlende erzieherische Einflussnahme auf einen unregelmäßigen Schulbesuch, Delinquenz oder Suchtmittelgebrauch des Kindes, fehlende Beachtung eines besonderen und erheblichen Erziehungs- oder Förderbedarfs. Des Weiteren geht man beispielsweise bei einem Mangel an Wärme in der Beziehung zum Kind oder einer fehlenden Reaktion auf emotionale Signale des Kindes von einer emotionalen Vernachlässigung aus. Nicht unbeachtet soll die unzureichende Beaufsichtigung als Unterform der Vernachlässigung bleiben. Dies ist der Fall, wenn ein Kind längere Zeit alleine und auf sich gestellt bleibt oder keine Reaktion auf eine längere unangekündigte Abwesenheit des Kindes erfolgt (vgl. Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 42).
2.2 Soziales Frühwarnsystem
2.2.1 Definition soziales Frühwarnsystem
Der Begriff des Frühwarnsystems kommt ursprünglich nicht aus dem sozialen Bereich, sondern ist in den Zusammenhang mit technischen Systemen und Radarsystemen zu bringen.
So wird beispielsweise ein Frühwarnsystem als „militärische Radar- und Rechenanlage zum frühzeitigen Erkennen anfliegender gegnerischer Flugzeuge und Fernlenkwaffen sowie zum Auslösen der Luftverteidigung (gesehen). Neben landgestützten Systemen werden fliegende Systeme (z.B. AWACS) verwendet. Durch Infrarot- und optische Sensoren in Erdsatelliten kann der überwachbare Raum über die gesamte Erdoberfläche ausgedehnt werden“ (Meyer-Lexikon 2007).
Eine allgemeine Definition sieht das Frühwarnsystem als „eine Einrichtung, welche aufkommende Gefahren frühzeitig als solche erkennt und Gefährdete möglichst schnell darüber informiert. Sie soll ermöglichen, durch eine rechtzeitige Reaktion die Gefahr abzuwenden oder zu mildern“ (Wikipedia. Die freie Enzyklopädie 2007).
Von den Projekten des Landes Nordrhein-Westfalen, dass eines der ersten Bundesländer in der Bundesrepublik war, welches auf diesem Gebiet gezielt tätig wurde, findet sich folgende Definition: „Frühwarnsysteme beinhalten alle systematisch erfolgenden Aktionen der Wahrnehmung, Sammlung, Auswertung und Weiterleitung von Informationen bzw. Fakten, um damit die zielgerichtete Planung und die Realisierung von zeitnahen Reaktionsstrategien zu ermöglichen“ (Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) 2005, S. 6).
Bei einem sozialen Frühwarnsystem muss es sich also nicht um einen spezialisierten Dienst mit eigenen Angeboten und Leistungen handeln. Es reicht meistens schon aus, vorhandene Hilfsangebote zu flexibilisieren und weiter zu entwickeln. Dabei spielt die effektive Zusammenführung von vor Ort bestehenden Handlungskompetenzen eine entscheidende Rolle. Wichtigstes Moment eines sozialen Frühwarnsystems bleibt der zeitnahe Charakter, der gleich zu Beginn und nicht erst bei einer Eskalation einer Krise bzw. einer Gefahr einsetzt. Dieser Zeitgewinn und eine entsprechend klar strukturierte Reaktion lassen ein solches System im Sinne des Kindeswohls funktionieren.
2.2.2 Funktionsweise und Ziel eines sozialen Frühwarnsystems
Ein soziales Frühwarnsystem bildet eine in sich geschlossene Reaktionskette der drei Basiselemente: Wahrnehmen, Warnen und Handeln. Dabei bezieht es sich entweder auf bestimmte Zielgruppen, auf klar definierte Problemlagen im Einzelfall oder auf einen ausgewählten Sozialraum (vgl. Institut für Soziale Arbeit e.V. 2007).
Zunächst sollte es Gefahrenpotentiale, wie z.B. gesundheitliche Probleme, Drogenkonsum der Eltern, Behinderung des Kindes oder Gewalterfahrungen in der Familie, wahrnehmen können und die dafür entsprechend benötigten Sensoren entwickelt haben. Darunter fällt die Festlegung von Indikatoren und Schwellenwerten, also „messbaren“ und beobachtbaren Sachverhalten mit einer Aussagekraft für den Gegenstandsbereich.
Diese Festlegung bedarf eines sensiblen und bedachten Aushandelns und einer kontinuierlichen Überprüfung sowie einer eventuellen Nachjustierung. Es gilt, eine gezielte Wahrnehmung zu erreichen, indem alle beteiligten Akteure und Institutionen, wie Ärzte, Krankenhäuser, Kindetageseinrichtungen, Schulen, Erziehungsberatungsstellen, Sozialämter, Therapiezentren sowie die Mitarbeiter unterschiedlicher Fächer zusammenarbeiten und eingebunden werden, um Prozesse des Bewertens, des Prüfens und des Filterns zu ermöglichen. Diese Prozesse in einem Frühwarnsystem müssen quantitativ und qualitativ hohen Standards entsprechen, damit einerseits keine Fälle zu unbegründeten Problemfällen gemacht werden, andererseits aber möglichst alle relevanten Verdachtsfälle erfasst werden.
Tritt dieser Fall ein, ist es notwendig auf verbindliche Reaktionsketten und Handlungswege zurückgreifen zu können, damit eine Warnmeldung an handlungspflichtige Institutionen oder Personen zeitnah, reibungslos und eindeutig erfolgen kann. Diese Institutionen oder Personen benötigen wiederum eine klare gesetzliche Grundlage vom Gesetzgeber zum Handeln bzw. Einschreiten. Dies vorausgesetzt, hat eine konsequente Reaktion zu erfolgen.
Eine frühe Kontaktaufnahme sowie eine unkomplizierte und effektive Vermittlung und Zusammenarbeit sind also die Kernelemente des sozialen Frühwarnsystems, das nur mit einer verbindlichen, kooperativen und interdisziplinären Zusammenarbeit funktioniert (vgl. Institut für Soziale Arbeit e.V. 2007 sowie Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) 2005, S. 11-13)
Das Institut für Soziale Arbeit e.V. in Münster formuliert als grundlegendes Ziel eines sozialen Frühwarnsystems, „riskante Entwicklungen von Kindern und ihren Familien bereits in ihre Entstehung zu erkennen und zu bearbeiten und damit einer Verfestigung von Problemlagen entgegenzuwirken bzw. sie abzumildern“ (Lüdicke 2006, S. 38).
3. Theoretische Grundlagen
3.1 Grundbedürfnisse von Kindern
Wie schon unter Punkt 2.1.1 beschrieben, gibt es noch keine grundsätzliche Kategorisierung bei den Bedürfnissen von Kindern. Jedoch sind die von Annegret Werner vom Deutschen Jugendinstitut benannten drei basalen Grundbedürfnisse von Kindern als fachliche Grundlage in Deutschland anerkannt. Zunächst geht es um das schlichte Bedürfnis nach Existenz und der damit verbundenen Sicherheit, Versorgung und körperlichen Unversehrtheit. Darunter zählt jegliches Unterlassen bzw. Verhindern von Gewalt bzw. Gewaltandrohung, der Schutz vor schädlichen äußeren Einflüssen, Gefahren oder Krankheiten sowie die Wahrnehmung aller grundlegenden physiologischen Bedürfnisse des Kindes, wie z.B. die Körperpflege und die Ernährung (vgl. Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 82).
Dem folgt das Bedürfnis nach sozialer Bindung zu mindestens einer Bezugsperson. Diese Beziehung sollte durch Nähe, Empathie, Verfügbarkeit und Verlässlichkeit gekennzeichnet sein und die individuelle Gefühlsregulation und Ausdrucksfähigkeit des Kindes berücksichtigen.
Sichert eine solche Bindung zunächst das Überleben des Kindes, so beeinflusst diese Erfahrung auch das zukünftige Bindungsverhalten und den Umgang mit den Mitmenschen. Zudem fördern positiv ausgestaltete Bindungen auch die geistige Entwicklung (vgl. Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 82/83).
Als drittes Grundbedürfnis nennt sie das Bedürfnis nach Wachstum. Hier spielt der dem Kind zugestandene Erfahrungs- und Erprobungsraum eine entscheidende Rolle. Um sich geistig und körperlich entwickeln zu können, braucht das Kind einen gesetzten und zugleich geschützten Rahmen, in dem es zum Wissens- und Forschungsdrang ermutigt und stimuliert wird. Damit es zu einer positiven Entwicklung und nicht zu einer Über- oder Unterforderung kommt, ist ein altersgerechter und individueller Umgang notwendig (vgl. Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 83).
3.2 Risikofaktoren für eine Gefährdungslage
Mit Risikofaktoren für eine mögliche Vernachlässigung sind in diesem Zusammenhang erkennbare Merkmale von Personen, Situationen oder Beziehungen gemeint, welche im Mittel innerhalb einer Bevölkerungsgruppe das Auftreten einer späteren Vernachlässigung wahrscheinlicher machen. Zu dieser Problematik liegen einige Untersuchungsergebnisse vor (vgl. Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 443), die folgende Faktoren herausgestellt haben. Zum einen handelt es sich um Aspekte, die die elterliche Lebens- und Entwicklungsgeschichte betreffen. So werden erhöhte Vernachlässigungsrisiken bei häufigen Beziehungsabbrüchen, Fremdunterbringung und ausgeprägten Mangelerfahrungen in der eigenen Kindheit eines Elternteils angenommen. Auch bei einer selbst erfahrenen Misshandlung steigt das Risiko einer späteren Vernachlässigung zumindest moderat an. Für diese Fälle sind entgegenwirkende Schutzfaktoren bekannt. Dabei handelt es sich in erster Linie um nachträgliche korrigierende positive Beziehungserfahrungen (vgl. Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 443).
Einige elterliche Persönlichkeitsmerkmale lassen sich ebenfalls als Risikofaktoren für eine zukünftige Vernachlässigung ansehen. Persönlichkeit ist dabei sehr allgemein zu verstehen „als überdauerndes und in vielfältigen Situationen vorfindbares Muster des Wahrnehmens, Empfindens und Handelns einer Person“ (Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 126). Zu erwähnen sind eine ausgeprägt negative Emotionalität, d.h. leicht auszulösende, intensive Gefühle von Trauer, Niedergeschlagenheit oder Ärger. Des Weiteren spielen eine hohe Impulsivität, problemvermeidende Bewältigungsstile und geringe Planungsfähigkeiten seitens der Eltern eine Rolle (vgl. Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 443).
Noch engere Zusammenhänge sind zwischen kindbezogenen Haltungen, Gedanken und Gefühlen und dem Vernachlässigungsrisiko anzunehmen. In über 25 internationalen Vergleichsstudien betrachtete man die Ansichten und Einstellungen der Eltern gegenüber ihren Kindern bezüglich der Fürsorge und der Erziehung. Daraus ergaben sich die folgenden Merkmale bei den Eltern, die das Wohl ihres Kindes gefährdet hatten:
- altersunangemessene Erwartungen bezüglich der Fähigkeiten und der Selbstständigkeit des Kindes;
- ein eingeschränktes Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse
des Kindes;
- überdurchschnittlich ausgeprägte Gefühle der Belastung durch das Kind;
- überdurchschnittlich ausgeprägte Gefühle der Hilflosigkeit in der Erziehung und des Verlustes von Kontrolle durch das Kind;
- feindselige Erklärungsmuster für Problemverhaltensweisen des Kindes und ein negativ verzerrtes Bild des Kindes;
- überdurchschnittlich ausgeprägte Zustimmung zu harschen Formen der Bestrafung und Unterschätzung negativer Auswirkungen kindeswohlgefährdender Verhaltensweisen;
- eingeschränkte Fähigkeit oder Bereitschaft, eigene Bedürfnisse zugunsten kindlicher Bedürfnisse zurückzustellen.
(Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 127)
Die genannten Merkmale traten nicht bei allen Elternteilen auf, jedoch zeigte die überwiegende Mehrzahl der vernachlässigenden Eltern mindestens in einem Bereich Auffälligkeiten (vgl. Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 127).
Bei psychiatrisch relevanten Störungen und psychischen Erkrankungen der Eltern kann ebenfalls ein erhöhtes statistisches Risiko festgestellt werden. So liegen auch „empirisch gut begründete Modelle für das Zustandekommen chronischer Formen der Kindeswohlgefährdung bei einigen Formen psychisch kranker Eltern vor“ (Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 125). Da die Mehrzahl der vernachlässigenden Eltern aber keine solche Erkrankung oder Störung aufweist, kann eine psychiatrische Diagnose allein keine ausreichende Prognose liefern. Diese Fälle sind vielmehr im Kontext mit anderen vorhandenen Risikofaktoren von Bedeutung (vgl. Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 444).
Neben den schon erwähnten Untersuchungen zur Einstellung der Eltern betreffend ihrer Fürsorge und Erziehung, wurde in über 20 Studien auch das Beziehungsverhalten und der direkte Umgang mit dem Kind beobachtet. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Mehrzahl der Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen, in ihren Beziehungsfähigkeiten Einschränkungen aufweisen. Viele dieser Eltern können ihren Kindern keine angemessene erzieherische Anleitung geben und sind zu einem positiven, kindzentrierten Beziehungsaufbau nicht in der Lage. So konnten folgende Verhaltensmuster festgestellt werden:
- Vernachlässigende Eltern fielen dagegen in freien Beobachtungssituationen gegenüber dem Kind eher durch ein distanziertes, wenig engagiertes und wenig responsives Verhalten auf.
- In Anleitungssituationen mit vorgegebenem Ziel (z.B. Aufgabensituation) trat hingegen bei vernachlässigenden Eltern ein gereiztes und ärgerliches Verhaltensmuster, ähnlich wie bei misshandelnden Eltern, zu Tage.
- In der Qualität eines emotional unterstützenden, feinfühligen und positiv fördernden elterlichen Verhaltens bestanden in beiden Gruppen von Eltern im Mittel erkennbare Beeinträchtigungen gegenüber Kontrollgruppen. (Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 128)
Mehrere Aspekte der familiären Lebenswelt wurden von der Forschung auf ihre Eignung als Risikofaktoren überprüft. Dabei weist Armut einen beständigen, aber nur schwachen Zusammenhang zum Vernachlässigungsrisiko auf und eignet sich daher nur eingeschränkt als Risikofaktor (vgl. Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 444).
Da Unterstützung innerhalb und außerhalb der Familie bei Erziehungsaufgaben eine nicht unwesentliche Rolle einnimmt, konnten Forschungen auch den Zusammenhang zwischen einer als gering empfundenen Qualität der erfahrenen Unterstützung und einem erhöhten Vernachlässigungsrisiko nachweisen. Hier reichten schon einfachste beobachtbare Indikatoren für eine fehlende Unterstützung, wie etwa der Alleinerziehendenstatus, die Anzahl der Kinder im Verhältnis zur Anzahl der Erwachsenen im Haushalt usw., um als Risikofaktoren zu wirken (vgl. Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 444).
Bestimmte Merkmale des Kindes als mögliche Risikofaktoren für Kindesvernachlässigung zogen ebenfalls das Forschungsinteresse auf sich. Grundsätzlich stellte sich heraus, dass kindliche Merkmale wie beispielsweise ein schwieriges Temperament oder eine bestehende Behinderung, Erkrankung oder Verhaltensstörung, im Mittel nicht zu den vorhersagestarken Risikofaktoren zählten, weder für das erstmalige Auftreten noch für die Chronifizierung von Vernachlässigung.
In Verbindung mit einem gefährdeten Elternteil gewannen diese Merkmale jedoch enorm an Bedeutung für eine Prognose. Zum einen stieg das Gefährdungspotenzial bei der Verbindung von signalschwachen, nicht bedürfnisäußernden Kindern und distanzierten, desorganisierten Eltern. Zum anderen erhöhte sich das Risiko beim Zusammenhang stark bedürfnisäußernder, stressauslösender Kinder und aggressiv reagierender Elternteile (vgl. Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 444/445). Diesbezüglich ist es notwendig, die Merkmale der Kinder aus Sicht der Eltern zu betrachten, um eine mögliche Gefährdungslage besser abschätzen zu können.
Ein ganz offensichtlicher Risikofaktor für Kindesvernachlässigung ist die Konstellation, in der es schon in der Vergangenheit zu Vorfällen dieser Art gekommen ist. Wiederholte Vernachlässigung, unzureichende elterliche Einsicht und fehlende Bereitschaft zur Verbesserung der bisherigen Situation sowie mangelnde Zusammenarbeit mit Professionellen und Institutionen - all das sind deutliche Hinweise auf eine Vernachlässigung der Kinder in diesen Elternhäusern. Bei wiederholten ernsthaften Vorfällen in der Vergangenheit wächst das Risiko weiterer Vernachlässigungen. Gefährdungsereignisse treten dann im Schnitt in immer engeren zeitlichen Abständen auf (vgl. Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 445). Zu den Auswirkungen einer fehlenden Selbstkritik, Kooperativität und Veränderungsbereitschaft nach einer aufgetretenen Kindesvernachlässigung gibt es bisher zwar relativ wenige Studien, da aber deren Ergebnisse übereinstimmen, kann eine unkooperative oder gar drohende Haltung der Eltern gegenüber angebotenen und vermittelten Hilfen als Risikofaktor für eine erneute Kindesvernachlässigung angesehen werden (vgl. Kindler/Lillig/Blüml/Meysen/Werner (Hrsg.) 2006, S. 445).
3.3 Mögliche Folgen einer Kindesvernachlässigung
Geht es um die möglichen Folgen einer Kindesvernachlässigung, so teilen die Fachleute des Deutschen Jugendinstituts diese in die 4 folgenden Kategorien ein:
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- Arbeit zitieren
- Rico Greinke (Autor:in), 2007, Die Entwicklung und Umsetzung von sozialen Frühwarnsystemen im Bereich der Kindesvernachlässigung in der Bundesrepublik Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86584
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