Der Text- und Bildautor Peter Grieder, langjähriger ehemaliger Kurator des Klösterlichen Tibet-Institutes in Rikon (Zürich) und Dozent am C.G. Jung-Institut in Küsnacht (Zürich), bietet mit diesem sachkundigen Werk eine fruchtbare Begegnung zwischen Okzident und Orient an. Mit sachkundigen Texten geleitet er den Leser und Betrachter von Bild zu Bild, so daß dieser einem unsichtbaren inneren Faden entlang über die äußere Bilderwelt zu seinem eigenen inneren Wesen gelangt. Mit wachsender Faszination wird er gewahr, daß er sich auf dem „Pfad der Erkenntnis“ befindet.
INHALT
Zum Geleit
DANK
Kapitel I / Teil 1 AUFBRUCH IN DEN HIMALAYA - LAND UND LEUTE
Die Lotosblume - Symbol der Reinheit
KASCHMIR
Die Zufahrt nach „Klein-Tibet“ (Ladakh) führt über das zauberhafte Hochtal Kaschmir
Die Kaschmiri leben nach den Gesetzen des Korans
Das Handeln ist des Kaschmiri Lust
LADAKH
Die Landwirtschaft in der ariden Bergwildnis Ladakhs
Die Himalaja-Völker
Was wird die neue Erschließungsstraße den Bewohnern des Zangskar-Tales bringen?
Das Verhältnis zwischen den Klöstern und der Laienbevölkerung
Bedeutung der Klöster für Tibet und seine Kultur
Die tibetische Schrift und Sprache
Die Bedeutung der Malerei und der kultischen Musik
Die Tscham-Mysterienspiele
Die alten Bön-Rituale und der Buddhismus
Menschen zwischen Himmel und Erde
Kapitel I / Teil 2 AUFBRUCH IN DEN HIMALAYA - LAND UND LEUTE
BHUTAN
Bhutan, das „Drachen-Land“
Das geheimnisvolle Land jenseits des „fernen Nordgebirges“
ZENTRAL – TIBET, PROVINZ Ü
Der Flug von Chengdu nach Lhasa
Das Klima Tibets
„See der oberen Weideplätze“: der türkisfarbene See ist „16 Tage groß“
Der Yak ist die Lebensgrundlage der Tibeter
Wie der Buddhismus auf das Dach der Welt kam
Die Tradition der Dalai Lamas
Die „Goldenen Dächer von Lhasa“
Das Verhältnis der Tibeter zur Hygiene
Das Land, in dem die Kinder Könige sind
EHEMALIGE PROVINZ AMDO, NORDOST-TIBET
Der heilige Berg Amnyè Matschen
Der räuberische Nomadenstamm der Golog
Kapitel II DAS LEIDEN EINES VOLKES - FLUCHT UND EXIL
Die Weissagung Padmasambhâvas erfüllt sich
Die tibetische Kultur im Exil
Die tibetischen Flüchtlinge sind nicht mit leeren Händen gekommen
Zielsetzung und Wirken des Klösterlichen Tibet-Institutes in der Schweiz
Der klösterliche Alltag in Rikon
Die Kâla-Tschakra-Initiation
Kapitel III / Teil 1 DIE BUDDHISTISCHE ERKENNTNISLEHRE - EINE REISE NACH INNEN
Ost und West im Zwiegespräch
Die zwei großen religiösen Strömungen der Menschheit
Der Zeitbegriff in Ost und West
Im Anfang war das Wort . . . .
Brahman, Âtman und Trimûrti
Die „Nicht-Zweiheit“
Reinkarnation und Karma
Die großen Epen Indiens
Die Göttin Gangâ und der Königssohn
Prinz Siddhârta Gautama
Die „Vier Ausfahrten“
Der große Aufbruch
Die sieben Lehrjahre
Die Erleuchtung
Mâras Versuchungen
„Die Vier Edlen Wahrheiten“
Der Achtgliedrige Pfad
Die Legende vom Räuber Angulîmala
Buddhismus, eine atheistische Religion?
Nirvâna, das große „Nichts“
Das Gleichnis von der erloschenen Flamme
Tibetische Bildmeditation
Die Erfüllung der Lehre
Der Wandel von der „Kleinen Lehre“ (Hînayâna) zur „Großen Lehre“ (Mahâyâna)
Vajrayâna, das „Diamantene Fahrzeug“
Die vier Lehrtraditionen im tibetischen Buddhismus
Yudhistira und der Hund
Gibt es Brücken zwischen den Religionen?
Kapitel III / Teil 2 DIE BUDDHISTISCHE ERKENNTNISLEHRE - EINE REISE NACH INNEN
Die Tradition der Tulkus
Das Rad des Werdens
Śamatha, der Meditationspfad zur geistigen Ruhe
Der geheime tantrische Weg zur Erleuchtung
Der Ursprung der tantrischen Lehren liegt in Indien
Der „Linkshändige Tantrismus“ und die Tradition der Gotipua-Tanzknaben
Mandala, der Weg zur Mitte
Die Trikâya-Lehre
Die „Drei-Körper-Lehre“ („Trikâya“) und die Symbolik der Zahl „Fünf“
Das Totenbuch der Tibeter
Erläuterungen zur grafischen Darstellung des „Bardo Thödol“
EPILOG Gespräch zwischen einem Meister und einem Schüler
Zum Geleit
Dies ist ein sehr persönliches Buch. Es ist die Frucht meiner eigenen Suche nach Wahrheit. Um den Leser daran teilhaben zu lassen, habe ich versucht, Bilder und Texte so zusammenzufügen und fließen zu lassen, daß ein innerer Zusammenhang entsteht; eine Art Faden, auf dem die Perlen aufgereiht sind. Entlang diesem Sûtra – das ist im Altindischen die Bezeichnung für „Faden“ – möchte ich den meditativen Leser und Betrachter ganz allmählich vom Außen ins Innere führen, möchte ihn mit Hilfe meiner eigenen Reisebilder zu einer Reise einladen.
Mit Blumen, Seen, Kindern und Landschaften beginnt die Reise. Mit dem Totenbuch der Tibeter endet sie. Wie beim Mandala beginnt der Weg an der Peripherie, um im behüteten Geheimnis der Mitte zu enden.
Ich muß dabei vorausschicken, daß ich nicht Tibetologe bin. Meine Legitimation, über das Volk vom „Land zwischen Himmel und Erde“, über seine Kultur und seine Religion zu schreiben, gründet einzig in meinen Erfahrungen, die ich als Leiter des Klösterlichen Tibet-Instituts in Rikon sammeln konnte – und in meinen ganz persönlichen Lebenserfahrungen.
An dieser Stelle danke ich allen Menschen, die mich auf meinem Lebensweg begleitet haben. Ohne ihre Hilfe wäre dieses Buch nie entstanden.
Peter Grieder
Wenn die Eisenvögel fliegen
Und die Pferde auf Rädern rollen,
dann wird der Mann aus dem Schneeland
seine Heimat verlassen müssen wie die Ameisen,
und die Lehre wird den „rotwangigen Mann“ erreichen.
(Padmasambhâva, Weissagung aus dem 8. Jahrhundert)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Abbildung 1: Der Begründer der Lehre, Siddhârta Gautama Buddha
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das „Land zwischen Himmel und Erde“ - das ethnische und kulturelle Tibet – reicht weit über die heutigen, von den chinesischen Machthabern willkürlich festgelegten politischen Grenzen hinaus. Es erstreckt sich vom Himalaja-Massiv im Süden bis hin zu den innerasiatischen Wüsten im Norden und von den zerklüfteten Tälern des Karakorum-Gebirges im Westen bis tief hinein in die Provinzen Qinghai und Gansu im Nordosten (Amdo = „Do Ma“ = Land der Pferde) bzw. Setschuan und Yünnan im Osten (Kham = „Do To“ = Land der Menschen). Von diesem historischen Tibet soll im vorliegenden Buch die Rede sein.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
DANK
Dieses Buch hätte ohne eine Reihe von engagierten Mitarbeitern, Mitarbeiterinnen und Helfern die vorliegende Form nicht finden können.
Zuerst möchte ich Léonard Manneke-Appel und Marie Milis erwähnen, die mich mit liebevollem Nachdruck davon überzeugt haben, meine persönlichen Erfahrungen und mein Bildmaterial in der vorliegenden Form zu publizieren. Gleich danach möchte ich meinem Freund und Vorgänger im Amt als Kurator am Tibet-Institut in Rikon / Zürich, Peter Lindegger, meinen Dank aussprechen. Erst sein unerbittlicher Rotstift hat – vor allem was Transkription und phonetische Wiedergabe der tibetischen Idiome anbelangt – meine Manuskripte publikationswürdig gemacht.
Peter Kessler bin ich für das spezielle Kartenmaterial dankbar, das er mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, und der Bibliothekarin des Tibet-Instituts, Rosemarie Küng, für ihre unentbehrliche Unterstützung. Ferner danke ich Christine Howeg, welche es übernommen hat, die Entwürfe ins reine zu schreiben, und nicht zuletzt meiner Tochter Daniela, die als Grafikerin für die ansprechende Gestaltung dieses Bildbandes verantwortlich zeichnet.
Das private Sekretariat Seiner Heiligkeit hat den in der deutschen Sprache gut bewanderten Ew. Lodroe Rimpotsche, Mitglied der Mönchsgemeinschaft des Klösterlichen Tibet-Instituts, beauftragt, die Texte aus der Sicht der buddhistischen Lehre auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Auch ihm bin ich für seine Mitarbeit sehr zu Dank verpflichtet.
Mit dem schönen Vorwort jedoch, das Seine Heiligkeit, der DALAI LAMA, meiner Publikation liebenswürdigerweise voranzustellen geruhte, ist meinem aus innerer Überzeugung und ehrlichem Bemühen heraus entstandenen Werk ein Glanzlicht aufgesetzt worden, das ich nur still entgegennehmen kann.
Peter Grieder
Kapitel I / Teil 1
AUFBRUCH IN DEN HIMALAYA - LAND UND LEUTE
Die Lotosblume - Symbol der Reinheit
Jungfräulich rein und unberührt wächst die Lotosknospe in den kühlen Morgenhimmel. Noch ist die Zukunft nur eine Ahnung, doch die Vollkommenheit ist in ihrem Innersten schon beschlossen. Es kommt der Tag, die Stunde, da wird sie sich öffnen, entfalten und voll dem Licht entgegenblühen. Unbefleckt wird sie triumphieren über Schlamm und Unrat, dem sie entwachsen – und der ihr doch mütterlicher Nährboden ist.
Ist es diese unerschütterliche Zuversicht, daß sich letztlich alles zum Guten wendet; ist es dieses Urvertrauen in die Existenz, ins Sein, so wie es ist, welches den Menschen des „Landes zwischen Himmel und Erde“ begnadet hat mit etwas, das wir immer wieder aufs neue als „Heiterkeit des Herzens“ empfinden?
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
2 - Eine Lotosknospe, jungfräulich, rein 4 - Mit Lotosblumen überwachsener See im Hochtal und unberührt, wächst einem neuen Kaschmir. Die Kaschmiri sind davon überzeugt, daß
Tag entgegen. Gott hier das Paradies erschaffen habe.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
3 - Ein voll erblühter Lotos - Symbol der Reinheit und des Triumphes des
unbefleckten Wahren Wesens des Menschen über den Schlamm der Welt.
KASCHMIR
Die Zufahrt nach „Klein-Tibet“ (Ladakh) führt über das zauberhafte Hochtal Kaschmir
Der Landweg von Nordindien nach Ladakh führt über das prächtige Kaschmir-Tal. Es ist das größte Hochtal im Himalaja, und das für seine Seen berühmte Kaschmir-Becken ist etwa 1700 Meter hoch gelegen.
Die Hauptstadt Srinagar, umgeben von Reisfeldern, Pappelwäldern und Safranfeldern, liegt am Ufer des Flusses Jhelum direkt neben dem mit Lotospflanzen überwachsenen Dal-See. Obwohl es in den Wintermonaten recht kalt werden kann – die Wasserwege können zufrieren, und in Gulmarg wird gar Wintersport getrieben -, liegt das Tal doch noch am Rande der subtropischen Klimazone. Zusammen mit seiner Höhenlage ergibt sich ein geradezu ideales Klima für „Sommerfrischler“: für Sonnenhungrige aus dem Norden ist es sommerlich warm, für die hitzegeplagten Inder dagegen herrlich kühl! Die Kaschmiri selbst jedenfalls sind davon überzeugt, daß Gott das Paradies eben hier erschaffen habe
Die Kaschmiri leben nach den Gesetzen des Korans
Die Lehre Buddhas muß Kaschmir schon zur Regierungszeit Kaiser Ashokas, also im 3. Jh. vor Christi Geburt erreicht haben. Dennoch sind die heutigen Bewohner des Hochtales Muslime. Seit dem 10. Jh. sind sie in verschiedenen Wellen von Westen her zugewandert. Ihr heute noch berühmtes Handwerk, die Teppichknüpferei, läßt vermuten, daß sie aus Persien und Turkestan stammen.
Obwohl sich der Islam im Himalaja etwas den hinduistischen und buddhistischen Traditionen angepaßt hat, bleiben die Grundzüge des Bekenntnisses zu Mohammed, dem Propheten, unverkennbar: nur ein Gott darf verehrt werden (Monotheismus), und Menschen, die nicht ihr „Heiliges Buch“ haben wie sie selbst, etwa die Christen und die Juden, sind vollkommene „Heiden“, müssen unterworfen und notfalls getötet werden.
Ein Glück ist, daß sich unter den mohammedanischen Eroberern Kaschmirs auch viele Sufis befanden, Angehörige der mystischen Sekte des Islam. Wie sehr die Mystiker aller religiösen Bekenntnisse innerlich verwandt sind, mag das folgende Gedicht des persischen Dichters Djelal-ed-dim Rumi (13. Jh.) bezeugen. Klingen da nicht östliche Erkenntnisse von Evolution und Wiedergeburt an, wenn es heißt?
„Ich starb als Stein und wurde Pflanze,
ich starb als Pflanze und wurde Tier.
Ich starb als Tier: da wurde ich Mensch.
Warum also den Tod fürchten?
Wurde ich jemals schlechter oder geringer, wenn ich starb?
Einmal sterbe ich als Mensch und werde
ein Wesen aus Licht, ein Engel des Traums.
Aber mein Weg geht weiter:
Alles außer Gott verschwindet,
ich werde Stern über allen Sternen
und strahle über Geburt und Tod.“
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
5 - „Süßes Nichtstun“ heißt in Kaschmir „Lotos Eating“ und wird schon früh geübt!
Der kleine Händler bringt seine Ware zum schwimmenden Gemüsemarkt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
6 - Die heutigen Bewohner des zwischen Himalaja und Karakorum eingebetteten Hochtals sind Muslime, die seit dem 10. Jahrhundert in verschiedenen Wellen von Westen her zugewandert sind und den Buddhismus verdrängt haben.
Hier eine Kaschmiri-Mutter mit einem indischen Sari bekleidet in einem Park nahe der Hauptstadt Srinagar.
Das Handeln ist des Kaschmiri Lust
Nur wer schon einmal in seinem Leben mit einem Kaschmiri um den Preis eines Teppichs gefeilscht hat, weiß, was ein Kaschmiri ist! Diese von Kindsbeinen an passionierten Händler stellen mit ihrer trickreichen Verhandlungstaktik, mit ihrer Hartnäckigkeit und meist auch listigen Schlitzohrigkeit wohl alles in den Schatten, was einem Reisenden schon begegnet ist. Selbst die Tibeter, denen im ganzen Himalaja der Ruf vorauseilt, gute Händler und harte Verhandlungspartner zu sein, zählen alle ihre Finger, bevor sie sich mit einem Kaschmiri in ein Geschäft einlassen! Aus der Sicht der Kaschmiri selbst ist das Handeln Ausdruck ihrer Lebensfreude: Es ist Spiel und Sport, das Gewinnen eine Ehrensache – und letztlich eine Frage der Selbstachtung. Mit nichts kann man einem Kaschmiri mehr Eindruck machen, als wenn es einem doch einmal gelingt, mit noch größerer Schlauheit und Hartnäckigkeit den Zweikampf zum eigenen Vorteil zu entscheiden. Um von Srinagar nach Leh, dem Hauptort Ladakhs, zu gelangen, müssen per Jeep oder Bus in mühseliger und nicht ungefährlicher Fahrt drei -–für ihre Abenteuerlichkeit berüchtigte – Pässe überwunden werden: der Sodschi-La, der Namika-La und schließlich der Phatu-La. Bei Mulbekh steht ein in den Fels gehauener haushoher Buddha-Maitreya (dem Buddha der Zukunft). Hier beginnt ethnisch und kulturell Tibet, und die Losung heißt nicht mehr „Inschallah“ (Allahs Wille geschehe), sondern „Lha-gyel-lo“ (die Götter werden siegen).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
7 - Hier hält ein Händler Salz feil, das aus den unzähligen Salzseen Tibets stammt und schon immer ein klassischer Exportartikel der Tibeter war.
LADAKH
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
8 - Der „ Sodschi-La“ oder „Paß der vier Schlangengeister“ ist einer der tückischsten Bergübergänge zwischen Himalaja und Karakorum. Jeden Sommer stürzen Lastwagen, Busse und Jeeps in den Abgrund. Vor einigen Jahren sollen dort über 300 Menschen in einem Schneesturm ihr Leben verloren haben.
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9 - Einundzwanzig Haarnadelkurven führen vom Phatu-La, „Ins-Jenseits-Paß“, hinunter zum Oberlauf des Indus.
Die Landwirtschaft in der ariden Bergwildnis Ladakhs
Das zwischen Himalaja und Karakorum gelegene Ladakh ist eine Gebirgswüste. Trotzdem kann in den Talböden bei sorgfältiger Bewässerung eine oasenartige Landwirtschaft betrieben werden. Besonders im Sommer fließt reichlich Schmelzwasser der Gletscher und des ewigen Schnees. Die Sonneneinstrahlung in der geographischen Lage Ladakhs entspricht derjenigen des südlichen Mittelmeerraumes und ist bei einer durchschnittlichen Höhe von 4000 Metern ganz enorm. So kann Sommergerste bis 4500 Meter ü.M. angepflanzt werden, und auch Hülsenfrüchte und winterhartes Gemüse gedeihen unter diesen klimatischen Verhältnissen ganz ausgezeichnet. Ja, es reifen an geschützten Stellen sogar Aprikosen und Pfirsiche!
Die Vegatationsperiode ist allerdings sehr kurz. Der Boden kann nur zwischen Ende Mai und Mitte August kultiviert werden. Bei den extremen klimatischen Verhältnissen genügt diese kurze Zeit, um die Feldfrüchte zur Reife zu bringen. Von den verschiedenen Getreidesorten schafft es nur die Gerste, auf dieser Höhe zu gedeihen. Sie ist als Nahrung durchaus bekömmlich, hat jedoch den Nachteil, daß sie im Korn keinen Klebstoff hat; daraus kann also kein Brot, nicht einmal ein Fladenbrot gebacken werden. Die Körner werden auf heißen Steinen geröstet und anschließend gemahlen. So entsteht ein Röstmehl, das mit Butter, Tee und ein wenig Salz vermischt zur Grundnahrung der Tibeter wird: dem legendären Tsampa.
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10 - In der ariden Bergwildnis ist dennoch eine stabile Landwirtschaft möglich. Das zugeleitete Schmelzwasser der Gletscher und die äußerst intensive Sonneneinstrahlung ermöglichen das
Kultivieren von Gerste und Wintergemüse bis auf eine Höhe von 4500 Meter ü.M.
Die Himalaja-Völker
Kaum irgendwo auf der Welt gibt es so viele ethnische Gruppierungen wie im Himalaja. Neben den aus dem Vorderen Orient eingewanderten indoeuropäischen Kaschmiri und hellhäutigen Darden im Westen, über die - Döl pa zwischen Nepal und Tibet, den Lepcha aus Sikkim bis hin zu den Mön-pa - und Nâga-Völkern am östlichen Ende des Gebirgsmassivs wären – wollte man sie alle kennen – wohl noch Dutzende von Volksstämmen aufzuzählen, einige oft nur ein paar tausend Seelen stark. Die Sherpa, die aus Osttibet nach Nepal eingewandert sind („Ost-Leute“), haben sich als Bergführer und unentbehrliche Träger auf Hochgebirgsexpeditionen weltweit einen Namen gemacht. Der große Stamm der Bhotia, ursprünglich Tibeter, lebt heute in den angrenzenden Staaten Nepal, Sikkim und Bhutan als Halbnomaden, Händler und Bauern.
Die Tibeter unterteilen sich in zwei sich stark unterscheidende Gruppen: die eher kleinwüchsigen Bewohner des südlichen Zentral-Tibet in den zentalen Provinzen Ü und Tsang – ihre schwarzen Schlitzaugen blitzen meist freundlich lachend aus ihrem runden „Mondgesicht“ (Bild 12) -; die Amdowa aus der Nordost-Provinz und die aus dem zerklüfteten Bergland im Osten stammenden Khampa dagegen sind großgewachsen, stolz und kämpferisch. Ihre scharf geschnittenen Gesichter mit den Adlernasen erinnern an Indianer (Bild 65). Alle diese Menschen aber sind gleichermaßen geprägt durch das harte Leben im Hochgebirge. Sie sind arbeitsam, zuverlässig, zäh - und schlau.
Im Gegensatz zu den Ethnologen wissen die Tibeter, wer ihre Urahnen sind: ein Waldaffe und eine Felsgöttin. Im Laufe der Zeit haben sie dann durch andere Ernährung Schwanz und Fell verloren.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
11 - Bäume sind in dieser Gebirgswüste eine große Seltenheit. Wo immer es kleine Baumbestände gibt – meist Pappeln und Weiden -, gibt es Wassser und damit auch menschliche Siedlungen.
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12 - Scheu blickt dieses Mädchen mit der geschmückten Filzmütze dem allzu dreisten unterscheiden sich in ihren Gesichtszügen Fotografen ins Objektiv.
13 - Die Ladakhi sind ethnisch Tibeter und und ihrem Charakter deutlich von den aus Vorderen Orient zugewanderten Kaschmiri. Auch ihre strahlende Freundlichkeit ist typisch
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14 - Eine gute Mütze gegen die stechende Sonne ist in diesem Höhenklima wichtiger als eine ordentliche Hose
17 - Die Mütter tragen ihre Kleinkinder in bunten Tüchern an den Rücken gebunden Strahlen diese pflanzengefärbten Tücher, diese Geborgenheit der Kinder, diese Ruhe nicht auch eine hohe Lebensqualität aus?
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15 - Wenn ein Fremder mit Sack und Pack kommt, dann ist das im abgelegenen Zangskar-Tal immer eine kleine Sensation.
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16 - Typisches Dorf im Zangskar-Tal (4200 Meter ü.M.) Das kostbare Brennmaterial Dornengestrüpp und Yak-Dung – ist sorgfältig auf den Zinnen der Häuser aufgeschichtet.
Was wird die neue Erschließungsstraße den Bewohnern des Zangskar-Tales bringen?
Vor wenigen Jahren erst wurde das große Nebental des oberen Induslaufes, das Zangskar-Tal, durch eine Straße erschlossen. Bis dahin hatten die dortigen Bewohner kaum je Kontakt mit den Menschen „jenseits der Berge“. Nur in wochenlangen mühevollen Trecks konnten sie die größeren Siedlungen Kargil oder Leh erreichen. Im Winterhalbjahr war selbst dies nicht mehr möglich, es sei denn, sie hätten gewagt, über das trügerische Eis der gefrorenen Flußläufe einen Weg zu suchen. Auf dem einzigen Briefkasten im Zangskar-Tal, dem Hauptort Padum, steht noch heute: „Leerung nächsten Sommer“!
Die Einwohner leben in großer Armut – aber keineswegs im Elend – in Einsamkeit friedlich untereinander. Sie fühlen sich in ihren Großfamilien geborgen. Himmel und Erde, Berge und Blumen, Kinder und Tiere prägen ihr Leben. Ihre Wünsche reichen kaum über den kleinen Alltag hinaus, und sie sind sich der extrem harten Lebensbedingungen kaum bewußt, kennen sie doch von Kind auf nichts anderes. Sind diese Menschen wirklich so wunschlos glücklich? Für die einen ist das klar. Andere argumentieren, man müsse diese Talbewohner aus ihrer Isolation befreien und ihnen materielle Hilfe zukommen lassen. Schließlich bewilligte das indische Parlament einen Kredit für diese rund 200 Kilometer lange Gebirgsstraße.
Was hat sie den Zangskari nun gebracht, diese Straße? Die „Straße“, die oft mehr einem Bachbett als einem Fahrweg gleicht und auf der sich jetzt im Sommer einige hundert Besucher in mühevoller dreitägiger staubiger Fahrt zum Hauptort Padum quälen? Blue-Jeans, Transistorradios, Swatches und Kugelschreiber, vor allem aber kleine Verdienstmöglichkeiten, meinen die Jungen begeistert und gefallen sich mit einer modischen Brille auf der Nase. Unruhe und Begehrlichkeit, Zerfall der alten Traditionen, Verlust der Lebensqualität, befürchten die Älteren; die Jungen erhoffen sich vom Kontakt mit der westlichen Industriewelt eine gesteigerte Lebensqualität. Wer hat dabei recht?
Eine Frage, deren Antwort in der ganzen Welt umstritten und deshalb so schwer zu finden ist, weil sie nicht die Wirtschaft, sondern die Philosophie anspricht. Ist nicht der Mensch immer dann glücklich, wenn er mit dem zufrieden ist, was er hat – sei es auch noch so wenig! Die eigene Erfahrung lehrt uns, daß die unerfüllten Wünsche unglücklich machen, unabhängig davon, wieviel wir schon besitzen.
Mit der Straße wurde den Zangskari das Tor zu unserer Welt geöffnet – und damit das Tor zum materialistischen Denken. Wie glücklich wir bei dieser Lebensart geworden sind, wissen wir ganz gut. Gleichzeitig aber werden sie diese Erfahrungen jetzt selbst machen müssen.
Wir kennen das schöne Gleichnis vom „Verlorenen Sohn“. Der Vater hat nicht für den brav zu Hause gebliebenen ein Festmahl gegeben, sondern für den anderen, der sich in die Wirrnisse der Fremde wagte und schließlich, um eine große Erfahrung reicher, den Weg nach Hause wiedergefunden hat.
Das Verhältnis zwischen den Klöstern und der Laienbevölkerung
Ladakh liegt auf indischem Boden und gehört deshalb zu den Gebieten, in welchen die in der tibetischen Kultur wurzelnden Traditionen unverändert weiterleben.
Nach alter Überlieferung sollte einer von sieben sich ganz der Suche nach Wahrheit hingeben können. Die anderen sechs haben die Aufgabe, für den Lebensunterhalt dieses Privilegierten aufzukommen. So sind die Klostergemeinschaften entstanden, zu deren Unterhalt sich die Bevölkerung noch heute zutiefst verpflichtet fühlt.
Da Mädchen und Frauen – wie wohl in allen Kulturen – sehr viel seltener der Familie entsagen wollen, um einer klösterlichen Gemeinschaft beizutreten, wird nicht einer von sieben, sondern ungefähr einer von fünf Knaben zur Erziehung ins Kloster gebracht. Obwohl es ihnen freisteht, zu irgendeinem Zeitpunkt die Mönchsrobe abzulegen, verbleiben sie zeit ihres Lebens im Kloster, und die Familie sorgt noch heute für Nahrung und Kleidung des Klosterangehörigen. Da die Blutsverwandtschaft in dieser alten Kultur von überragender Bedeutung ist, unterhalten die Familien engste Beziehungen zu ihren im Kloster lebenden Familienmitgliedern.
Die Mönche auf dem „Pfad der Erleuchtung“ übernehmen andererseits die Pflicht, die Laienbevölkerung in mannigfacher Weise zu belehren und geistlich zu betreuen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
18 - Barfüßig und in einen Lumpenmantel gekleidet, schreitet dieser alte Mann würdig zu einer religiösen Veranstaltung.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
19 - Ein hoher inkarnierter Lama (Tulku) zieht durchs Tal und erteilt religiöse Belehrung. Rechts sitzen die an ihrem schönen Kopfschmuck (Perak) erkenntlichen verheirateten Frauen; links die ledigen Mädchen.
Bedeutung der Klöster für Tibet und seine Kultur
Vor der Zerstörung Tausender religiöser Kultstätten durch die Kulturrevolution mag es bevölkerungsbezogen auf tibetischem Boden so viele Klöster gegeben haben wie bei uns heute Schulhäuser: vom kleinsten „ Gömpa “ zwischen zwei Dörfern bis zu den mächtigen Staatsklöstern (vergleichbar unseren Universitäten) in der Nähe der tibetischen Hauptstadt Lhasa. Sie waren in ihrer über tausendjährigen Geschichte absoluter Mittelpunkt der tibetischen Kultur; nicht nur Stätten religiösen Denkens und kultischen Handelns, in untrennbarer Einheit zugleich auch Schulen und Hüter und Bewahrer aller Künste: Malerei, Medizin, Kalligraphie, Musik, Astrologie. Es gab kaum ein Wissensgebiet, das nicht in die Verantwortung der Klöster gefallen wäre.
Eine weitere soziale Funktion haben diese Lehranstalten in bezug auf die Aufstiegsmöglichkeiten begabter junger Männer, gleich welchen Standes und welcher Herkunft. In der streng geordneten Klosterhierarchie steht grundsätzlich jedem die Möglichkeit offen, zu Amt und Würden zu gelangen. Ja, als Abt eines der großen Staatsklöster konnte er in Regierungsangelegenheiten des Landes mitreden. Im 13. Jh., unter den über ganz Zentralasien herrschenden Mongolen, wurde der Abt des Klosters Sâkya nicht nur als oberster Priester der tibetisch-buddhistischen Welt, sondern auch als Fürst und königlicher Herr über ganz Tibet eingesetzt. Ebenso ist der seit 1959 im indischen Exil lebende 14. Dalai Lama geistliches und weltliches Oberhaupt der Tibeter.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
20 - Als Stätte der Kultur, die noch eine untrennbare Einheit mit der Religion bilden, sind die Klöster für die Ladakhi von überragender Bedeutung. Hier die 1410 bis 1440 erbaute Klosteranlage von Triktse.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
21 - Das Kloster Lamayuru liegt weit oberhalb des Industales an der einzigen Verbindungsstraße zwischen Srinagar und Leh, der Hauptstadt Ladakhs.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
22 - Ein Novize (Ge-tsül) im Kloster Lamayuru. Bis vor wenigen Jahren waren die Klöster die einzige Bildungsstätte für die Knaben.
Die tibetische Schrift und Sprache
Der im 7. Jh. lebende König Songtsen-Gampo, nach alter Überlieferung der 32. König Tibets, war mit zwei Frauen verheiratet. Die eine Gattin, Wen-tsch’ing, stammte aus dem chinesischen Kaiserhaus, die andere, Bhrikuti, war eine Prinzessin aus dem Königshaus von Nepal. Beide waren sie überzeugte Buddhistinnen und gewannen ihren Gemahl für die Idee, den Buddhismus in seinem Reich einzuführen.
Man nimmt an, daß das tibetische Idiom zu dieser Zeit nur eine schriftlose Mundart war; also mußte zuerst eine Schrift entwickelt werden, damit die Lehre Buddhas übersetzt und gelesen werden konnte. König Songtsen-Gampo sandte einen Minister nach Indien mit dem Auftrag, aus dem Sanskrit eine geeignete Schrift und Grammatik abzuleiten. Da das Sanskrit, wie Griechisch und Latein, der indogermanischen Sprachenfamilie angehört, ist das Tibetische wenigstens über die Schrift noch mit unserem Sprachraum verwandt. Das läßt sich beispielsweise daran erkennen, daß die Schreibrichtung horizontal und von links nach rechts verläuft, und nicht vertikal, wie das bei einer dem chinesischen Sprachraum zugehörigen Sprache erwartet werden müßte.
Die kalligraphisch sehr anspruchsvolle und schöne Schrift kennt grundsätzlich drei Varianten: Blockschrift, Kurrentschrift und zahlreiche mehr oder weniger stilisierte Zwischenformen. Da bis in die Neuzeit ausschließlich nur religiöse Texte geschrieben und gedruckt wurden, ist das Schriftbild bis ins kleinste Detail über die ganze Zeit unverändert radiert worden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
23 - Dieser Klosterschüler übt sich in einer kalligraphischen schönen und anspruchsvollen Zierschrift. Er benützt dazu eine mit Kreidewasser eingeschlemmte schwarze Holztafel, aus der er mit einem Holzstäbchen, das er im Mund immer wieder benetzt, die Silbenzeichen herausputzt.
Die Bedeutung der Malerei und der kultischen Musik
Im ganzen tibetischen Kulturkreis gründen künstlerische Impulse im religiösen Erleben. Sie bringen innere Erfahrungen auf eine subtile materielle Ebene und machen sie so sinnlich erfahrbar. Die visionären inneren Bilder finden ihren Niederschlag im tantrisch-buddhistischen Kunstschaffen und werden nach tibetischer Tradition in Kuten („Körper-Behältnis“, z.B. eine Statue), Sungten („Wort-Behältnisse“) und Thugten oder Chörten („Sinn-Behältnis“, „Opfergaben-Behältnis“) gegliedert.
Kuten („Körper“) bedeutet im weitesten Sinne die äußere materielle Erscheinungsform eines Kunstwerkes. In ihrer höchsten Form ist Kunst immer eine Art Glockenguß des Geistigen ins Irdische. Und Sungten („Sprache“) ist sozusagen der eherne Klang, der die Glocke in uns erweckt. Tschörten („Bedeutung“) meint in diesem Zusammenhang die absolute Übereinstimmung von Form und Inhalt. In dieser Übereinstimmung wiederum bildet das Kunstwerk eine Brücke zur geistigen Dimension. Ob klösterliche Architektur, Malerei, Dichtung oder Musik, alle haben sie mit ihren Formen, Farben, Rhythmen, Klängen und Symbolen ein einziges Ziel: den Menschen innerlich wachsen zu lassen, ihn zu befreien.
Obwohl zu allen Zeiten Künstler mit Rang und Namen von den Mächtigen des Landes beauftragt wurden, Kunstwerke zu rituellen Verwendungen zu schaffen, bleibt diese Art schöpferischen Tuns dem Wesen nach anonym. Nicht der Künstler als Person, sondern die im Laufe der Zeit formalisierte Aussage des Kunst-werkes, sein kultischer Verwendungszweck, stand im Vordergrund. Der Künstler wurde zwar hochgeschätzt, aber nicht verehrt. Trotzdem war er nicht nur Handwerker, er verstand sich als Werkzeug überpersönlicher Inspiration. In einer indischen Tempelanlage meißelte der unbekannt gebliebene Bildhauer in den Sockel seines grandiosen Bildwerkes: „Wie hab‘ ich das bloß fertig gebracht!“
Diese Demut des Künstlers ist bezeichnend. Nicht Drang nach schöpferischer Freiheit durfte den Künstler beflügeln, der das wundervolle Fresko eines Bodhisattvas (Bild 24) schuf. (Anm: Ein Bodhisattva hat als Erleuchteter das Nirvana erreicht, lebt aber auf der Erde weiter, um anderen zu helfen.). Die meisten Einzelheiten wie Fuß- und Handstellung, Schmuck und Farbgebung waren ikonographisch schon vorgegeben und ließen dem Schaffenden keine künstlerische Freiheit. Zudem war das Malen des Bildnisses sicherlich ein Auftrag. Aber ein bloß sauberes Handwerk hätte niemals diese Ausstrahlung zur Folge gehabt. Die vorgeschriebene Geste (Mudrâ) der rechten Hand bedeutet: „Tritt näher und fürchte dich nicht“. Sie wird durch den unendlich sanften und liebevollen Gesichtsausdruck unterstrichen. Durch diese Übereinstimmung von Form und Aussage geht das Bild zu Herzen.
Vielleicht kommt ganz besonders durch dieses Beispiel zum Ausdruck, weshalb die Kunst der Himalaja-Völker so zeitlos ist. Es gilt als innerstes Anliegen dieser nur dekorativen, meist instruktiven und in der höchsten Form kontemplativ-meditativen Kunstrichtung, ewig gültige Wahrheiten ins Sichtbare zu bringen.
Wo Licht ist, ist Schatten. Wo Freude ist, ist Leid. Wo es liebende Zuwendung gibt, besteht haßerfüllte Ablehnung. Diese in den westlichen Kulturen meist vollkommen verdrängte Erkenntnis kommt im tantrischen Buddhismus voll zum Durchbruch. So reitet denn die schreckensvolle, alles verschlingende Pèlden Lhamo auf ihrem Geisterpferd pestverbreitend über einen See von Blut (Bild 25). Ihr Haupt ist mit Totenschädeln bekrönt und von einer Feueraureole umlodert; sie sitzt auf Menschenhäuten – und das unheimliche Auge auf der Kruppe des Reittieres ist ikonographische Bestätigung, daß es sich tatsächlich um die „Unaussprechliche“ handelt. Eine ewig gültige Wahrheit unserer polaren Welt: Alles Gute hat einen ebenso großen Schatten!
Auch die Musik, einzig in ihrer Art, bildet im Lenken positiver und negativer Kräfte auf magischer Ebene einen festen Bestandteil des tibetisch-buddhistischen Rituals. Im Zusammenspiel von Glocken, Hörnern, Oboen, Becken und verschiedener Trommeln entsteht eine urwüchsige Klangwelt, die den Zuhörer gelegentlich erschauern läßt.
Glockenrituale, von Muschelhörnern (Dungkar) und den oboenartigen Gyaling paarig geblasen, dienen der Aktivierung friedlicher Kräfte. Trommelrituale dagegen sollen die negativen Kräfte zerstören, sie wenigstens bannen und alles Unheilsame beenden. Das unheimlichste und absonderlichste Instrument ist das Knochen-horn Kangling, nach genauen Anweisungen aus einem menschlichen Oberschenkelknochen gefertigt. Sein schauerlicher Ton – zam-hum-bam-hohohoho – trifft den Zuhörer bis ins innerste Mark. Auch hier wieder soll ein dynamischer Prozeß der Erleuchtung in Gang gesetzt werden. In der Hölle ist die Sehnsucht nach dem Himmel am größten! (Bild 27)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
24 - Die prachtvollen Fresken in den Klöstern 25 - Die schreckensvolle Pèlden Lhamo auf
sind nicht als stimmungsvolle Dekorationen ihrem fahlen Maultier – mit dem geheimnisvollen
gedacht, sondern haben immer in erster Linie „Dritten Auge“ auf der Kruppe des Reittiers -,
kultische Bedeutung. Hier das zauberhafte ist die Schutzherrin von Lhasa, der Hauptstadt
Bildnis eines Bodhisattvas mit dem Gestus Tibets. Ein Mönch ist eben dabei, den „Blutsee“
(Mudrâ) der Furchtlosigkeit und Schutz- auszubessern.
gewährung (Abhaya-Mudrâ), die ermutigt, ihm
näherzutreten.
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26 - Ein Klosterschüler bläst 27 - Unter den schauerlich schönen tiefen
die alphornartige „Dungtschen“. Klängen der langen Kupferhörner wird das
Jahresfest in P’hiyang eingeleitet: die Tscham-
Mysterienspiele nehmen ihren Anfang.
Die Tscham-Mysterienspiele
Mysterienspiele sind weltweit Einweihungsspiel, die den Kampf der Kräfte des Lichten gegen die finsteren Mächte symbolisieren. Sie enden immer mit dem Sieg des Guten. Wirklichkeit ist letztlich nur das Licht, das Dunkel sein Schatten, seine Abwesenheit. Zu dieser Erkenntnis muß sich der Mensch immer wieder neu durchringen.
In den meisten lamaistischen Klöstern zelebrierte man früher zur Zeit der Wintersonnenwende solche Einweihungsspiele. Wie viele unserer magischen Fastnachtsbräuche, die sich vor allem in abgelegenen Orten, in den Bergen, bis heute erhalten haben, war auch das Tscham-Fest ursprünglich das Siegesfest eines neuen Jahres; jeder länger werdende neue Tag wurde ein Sieg über die lichtraubenden, dämonischen Kräfte des Winters.
Heute ist diese Tradition nur noch in den Randgebieten Tibets, in Ladakh, Sikkim und Bhutan lebendig, und das Datum, nach dem Mondkalender berechnet, ist meist auf die Sommermonate verlegt worden.
Die Requisiten dieser farbenprächtigen Tänze sind kostbare, langwallende Seiden- und Brokatgewänder. Die Masken-Gottheiten sehen wild aus und stellen Dämonen und Tiere dar. Schließlich gehören sämtliche Ritualgegenstände wie Dolch, Hackbeil, Pfeil und bogen, „Donnerkeil“ (Dordje), Schädelschalen und vieles mehr dazu. Tanzschritte und Choreographie unterliegen präzisen Anweisungen, die sehr frühen tantrischen-buddhistischen Schriften entnommen sind. Die Rollen dieser Darbietungen, meist Pantomimen mit Musikbegleitung, dürfen nur von Mönchen ausgeführt werden; die Aufführungen finden in der Regel im Lehrhof des Klosters statt. Während Wochen stehen groß und klein im Kloster im Banne der Vorbereitungen auf dieses Jahresfest. In den letzten Tagen unterwerfen sich die Darsteller strengen Fastenübungen und meditieren über die „Leerheit“ aller Dinge. In der Nacht vor dem ersten Tag werden dann die Masken durch spezielle Rituale „zum Leben erweckt“.
Unter donnernden Klängen der „Großen Hörner“ (Dungtschen) erscheinen zur Eröffnung der Spiele 13 Schwarzhutmagier, um alles Unheilvolle zu bannen. 13 ist die heilige Bön-Zahl. Sie weist auf den Ursprung dieser vorbuddhistischen Tänze hin. Respekteinflößende „Mönchspolizisten“, mit langen gekalkten Stöcken oder Pferdepeitschen bewehrt, sorgen für Ordnung unter den zahlreich herbeigeströmten Zuschauern. Einige „Spaßmacher“ genießen die Narrenfreiheit, selbst die heiligsten Szenen zu persiflieren. Mit ihrem Ulk bringen sie das Volk immer wieder zu Lache, was in der fast bedrohlichen Ernsthaftigkeit des Schauspiels ungeheuer befreiend wirkt. Während dreier Tage, die nur durch kurze Mittagspausen unterbrochen werden, agieren die Tänzer fast pausenlos. Heroen mit Rasseln und Trommeln aus der alttibetischen Mythologie, indische Brahmanen, die sich durch komische Masken und ihr gesteltztes Verhalten selbst lächerlich machen, treten auf; es tanzen im Ritualschritt grimmige Schutzgottheiten und Hüter der Lehre über den Klosterhof, gefolgt von Totenskeletten und maskierten Geistern mit magischen Spiegeln als Schutzschild vor Dämonen. Furien fegen über den Platz, wild tanzende und schreiende Kinder verspotten einen alten chinesischen Gelehrten, was an den Sieg des tibetischen Buddhismus über die chinesischen Schriftgelehrten am Königshof im 8. Jh. erinnern soll.
Der Tanz der Hirschmaske, die früher dem Vernehmen nach nur in Sikkim zu sehen war, gehört mit ihren knallfarbenen Gewändern, der glänzend gelben Maske und den bunten Wimpeln zwischen den Geweihstangen zum Fulminantesten, was an Tanzkunst zu bewundern ist. Mit ihren weitausholenden Schritten, hohen Sprüngen und rasenden Drehungen übertrifft sie an Schönheit und Eleganz alles, was an Tänzerischem dargeboten wird.
Zum Schluß bezwingt der Todesgott Yâma die in der Mitte des Klosterhofes am Boden liegende kleine Teigfigur in menschlicher Gestalt; sie erinnert an vorbuddhistische Blutopfer und wir von Yâma mit einem Ritualdolch erstochen, zerhackt und teilweise einverleibt. Vier Skelette führen in der Folge einen Freudentanz auf und beenden so die zutiefst unheimliche und beeindruckende Szene.
Die Tscham-Tänze, die noch immer eng verbunden sind mit vorbuddhistischem Gedankengut, werden vorwiegend im Rahmen der Kagyü-Schule, dem nicht reformierten Orden der „Rotmützen“, gepflegt. Die reformierten Klöster der Gelugpa-Tradition, denen auch der Dalai Lama angehört, sind diesen Tänzen gegenüber eher zurückhaltend.
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28 - Ein Tscham-Tänzer in prunkvoll wallendem Brokatgewand bewegt sich in genau vorgeschriebenen Schritten …
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29 - … und Drehungen.
Die alten Bön-Rituale und der Buddhismus
Der Buddhismus als reine Erkenntnislehre kennt keinen Gottesbegriff in unserem Sinne und ist deshalb nicht dogmatisch. Diese Grundhaltung ermöglichte es ihm zu allen Zeiten, mit anderen Religionen symbiotische Verbindungen einzugehen, ohne sich dabei selbst zu verlieren. Dazu gehören auch alte vorbuddhistische, aus der Bön-Zeit stammende Rituale, welche der Buddhismus umzudeuten verstand.
Man kann sich fragen, was beispielsweise ein kultisches Instrument wie der Ritualdolch im sonst so überaus friedfertigen Buddhismus zu suchen hat. Heißt doch das erste Gebot (Schila): „Ich bemühe mich, keinem fühlenden Wesen Leid zuzufügen.“ Wir wissen, daß ins Lingam (ein aus Gerstenmehl geknetetes menschliches Wesen) ein Dämon projiziert wird, der das Böse verkörpert und deshalb unschädlich gemacht werden soll. Aus buddhistischer Sicht ist konsequenterweise aber auch ein Dämon ein Wesen, das unserem Schutz anempfohlen ist. Dieser Dämon wird dann tatsächlich nicht getötet, vielmehr ist der Schwarzhut-magier darin ausgebildet, nur die Unwissenheit des Dämons zu vernichten. Dadurch wird das dämonische Wesen befreit. Denn nur aus Unwissenheit wird ein „Wesen“ zum Dämon. „Töten“ und „befreien“ werden denn auch in den entsprechenden buddhistischen Texten im gleichen Sinne verwendet.
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30 - Ein Schwarzhutmagier führt ein Ritual aus, das in vorbuddhistischer Zeit ein grausiges Blutopfer gewesen sein mag. In der rechten Hand hält er den Ritualdolch, den P’hur-bu.
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31 - Das aus Gerstenmehl (Tsampa) und Butter geknetete „Menschenopfer“ versinnbildlicht – seitdem der Buddhismus diese alten Bräuche übernommen hat – einen Dämon. Durch den Todesstoß mit dem Dolch wird nicht der Dämon, sondern seine Unwissenheit vernichtet, und damit wird er befreit.
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32 - Schon in diesem Kindergesicht widerspiegelt sich größte innere Anteilnahme an dem unheimlich-faszinierenden Ritual.
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33 - Die Landschaft Ladakhs ist von unerhörter Eindrücklichkeit, die niemand gleichgültig läßt.
Man kann sie im Grunde nur lieben oder hassen.
Menschen zwischen Himmel und Erde
Wir stehen auf 4500 Meter ü.M. Die Luft ist dünn. Nicht nur der Höhe wegen, zusätzlich fehlt eine sauerstoffbildende Vegetation. Es ist unheimlich still hier, kein Rauschen eines Baches, kein Säuseln des Windes im Geäst der Bäume. Grell und erbarmungslos brennt die Sonne vom blanken Himmel. Unvermittelt türmen sich feuchte Luftmassen vom indischen Subkontinent zu einer dräuend schwarzen Wolkenwand. Blitze zucken. Hagelschloßen prasseln auf den ausgetrockneten Boden. Dann wieder Sonne – Stille – Bergeinöde.
Diese trostlose Mondlandschaft fasziniert und erschüttert zugleich. Wie verlorene Kinder stehen wir zwischen Himmel und Erde: hilflos, schutzlos, allein. Dann wiederum fühlen wir uns beidem untrennbar nah, wissen uns in beglückender Weise mit Himmel und Erde All-Eins. Ein schier unerträglicher Zwiespalt unserer Seele; übermächtig erwacht in uns der Wunsch nach einer Stätte der Zuflucht.
Ist das der Grund, daß sich in dieser lebensfeindlichen Gebirgswüste im Laufe der Jahrhunderte so viele klösterliche Gemeinschaften gebildet haben? Ein Kloster verspricht Schutz und Geborgenheit, menschliche Wärme, Farben, Klänge, Düfte . . . . und der „verlorene“ Mensch kann zum unendlichen All-Einen, nach dem er sich so sehnt, Zuflucht nehmen.
Die stehende Formel der Zufluchtnahme zu den „Drei Kostbarkeiten“ (Triratna) heißt in allen buddhistischen Schulrichtungen: „Ich nehme Zuflucht zu Buddha, zu seiner Lehre (Dharma) und zu seiner Gemeinschaft (Sangha).“
[...]
- Citation du texte
- Peter Grieder (Auteur), 1993, Tibet: Land zwischen Himmel und Erde, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86408
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