Mehr als tausend Jahre sind es her, dass in Mitteleuropa infolge innerer Destabilisierung und äusserer Schwäche gegen eindringende Eroberer ein Reich untergegangen ist, das für fast hundert Jahre die Geopolitik Europas in seiner Zeit massgeblich mitgeprägt hatte: Das Grossmährische Reich. Tausend Jahre und mehr, seitdem Vorfahren der heutigen Tschechen und Slowaken mit vielen andern Ethnien in einem Reich lebten, dessen geographische Ausdehnung der Gegenstand dieser Arbeit sein soll.
Die Arbeit gibt einen knappen Überblick über die Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts durch die Arbeiten Imre Bobas eröffnete Diskussion um die geographische Lokalisierung des Reiches der Altmährer. Bevor aber im Hauptteil die drei Hauptpositionen des wissenschaftlichen Diskurses der vergangenen knapp dreissig Jahre vorgestellt werden, wird in Kürze das Reich vorgestellt, dessen Grenzen hier zur Debatte stehen. In einem an den Hauptteil anschliessenden Teil werden die drei zuvor vorgestellten Positionen miteinander verglichen sowie in ihrer Essenz zusammengefasst.
INHALT
1. Einleitung
2. Kurzportrait: Das Grossmährische Reich
2.1 Einordnung in die allgemeine europäische Geschichte
2.2 Politische Entwicklung
2.3 Quellenlage
3. Hauptteil: Drei Positionen zur Lokalisierung des Grossmährischen Reiches
3.1 Die herkömmliche Position
3.2 Die Position Imre Bobas
3.3 Die Position Martin Eggers‘
4. Zusammenfassung und Schluss
ANHANG
Karten
Literatur
1. Einleitung
Mehr als tausend Jahre sind es her, dass in Mitteleuropa infolge innerer Destabilisierung und äusserer Schwäche gegen eindringende Eroberer ein Reich untergegangen ist, das für fast hundert Jahre die Geopolitik Europas in seiner Zeit massgeblich mitgeprägt hatte: Das Grossmährische Reich.[1] Tausend Jahre und mehr, seitdem Vorfahren der heutigen Tschechen und Slowaken mit vielen andern Ethnien in einem Reich lebten, dessen geographische Ausdehnung der Gegenstand dieser Arbeit sein soll.
Am Neujahrstag 1993 betrat ein neuer Staat die Bühne der Weltpolitik, der sich ein paar Monate zuvor eine Verfassung gegeben hatte, in deren ersten Zeilen er sich ausdrücklich auf das Erbe dieses Grossmährischen Reiches beruft[2]: Die Slowakische Republik. Trotz des beträchtlichen historischen Abstandes, und trotz aller Unterschiede, die zwischen dem gerade neugegründeten und dem längst untergegangenen Staatsgebilde bestanden, eröffnete da ein Volk seine Unabhäniggkeit mit dem Andenken an ein Reich, mit dem es sich in seiner Tradition verbunden fühlt[3]. Die neugedruckten slowakischen Geldscheine, von grossmährischen Symbolen reich beschmückt, sowie eine Flut von öffentlichen Vorträgen und historischen Arbeiten[4] liessen das alte Grossmähren plötzlich wieder aufleben, und - sei auch dies gesagt - halfen den Slowaken, den böswillig als „geschichtsloses“ Volk bezeichneten, nach tausendjähriger ungarischer Herrschaft teilweise wieder eine eigene Identität zu finden.[5] Auch wenn - wie gesagt - der neue Staaat unter ganz anderen zeitlichen, räumlichen, ethnischen und geopolitischen Rahmenbedingungen seine Existenz begann, leben heute in seinem unmittelbaren geographischen Umfeld immer noch die Nachfahren der unter dem imperialen Schirm des Grossmährischen Reiches zusammengefassten Völker und Stämme, auch sie grösstenteils inzwischen mit eigenem Nationalstaat ausgestattet. Und auch wenn die Slowaken sich in ihrer Verfassung auf ein Reich berufen mögen, dass mit ihrem heutigen Staat praktisch nichts mehr gemein hat, so ist doch allein ihr heutiges Berufen auf dessen Erbe fürwahr Anlass genug, der Thematik des Grossmährischen Reiches wieder eine gewisse Aktualität zuzugestehen[6].
Diese Arbeit soll kein Abriss der Geschichte und Zivilisation des Grossmährischen Reiches sein. Ihre hauptsächliche Aufgabe ist, einen ersten Überblick zu bieten über die Anfang der Siebziger Jahre durch die Arbeiten Imre Bobas eröffnete Diskussion um die geographische Lokalisierung des Reiches der Altmährer. Bevor aber im Hauptteil die drei Hauptpositionen des wissenschaftlichen Diskurses der vergangenen knapp dreissig Jahre vorgestellt werden sollen, wird dieser Einleitung ein Kürzestportrait des Reiches folgen, dessen Grenzen hier zur Debatte stehen. In einem an den Hauptteil anschliessenden Teil sollen die drei zuvor vorgestellten Positionen miteinander verglichen sowie in ihrer Essenz zusammengefasst werden
Ein zum Verständnis der gebotenen Ausführungen hilfreiches Kartenmaterial, sowie eine Literaturliste finden sich im Anhang der Arbeit.
2. Kurzportrait: Das Grossmährische Reich
2.1 Einordnung in die allgemeine europäische Geschichte
Vom kurzlebigen Reich des Samo (ca. 630-660) abgesehen, war das Grossmährische Reich das erste mittelalterliche slawische Staatsgebilde in Mitteleuropa, zu seiner Zeit im gesamtslawischen Milieu aber nicht das einzige. Etwa gleichzeitg entstand an der östlichen Adria das Reich der Kroaten, in Osteuropa nahm die Kiewer Rus deutliche Züge eines Grossreiches an, und auf dem Balkan expandierte das (1.) Grossbulgarische Reich. Ganz unberührt von der Frage, wo das Grossmährische Reich zu lokalisieren sei, stehen seine unmittelbaren Nachbarn fest: Im Westen war es das (ost)fränkische Reich mit seinen angeschlossenen Gebieten Ostmark, Karantanien, Bayern und Teilenn Oberpannoniens. Kurz bevor sich Grossmähren zur regionalen Macht aufschwingen sollte, hatte das Frankenreich durch die Siege über die Awaren eine massive Ostexpansion bis zum Balaton und bis an die Grenzen des kroatischen Machtbereichs erlebt. Die fränkisch-altmährischen Beziehungen waren durchaus ambivalenter Natur. Grösstenteils standen sich die beiden Reiche feindlich gegenüber (was sich in zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen niederschlug), da beide expansionistisch gesinnt waren und sich in der Verfolgung derartiger Absichten im Wege standen. Jedoch können die kulturellen Kontakte zwischen ihnen in ihrer Bedeutung vor allem für die Kultur Grossmährens kaum überschätzt werden (ein Aspekt, der in dieser Arbeit nicht beleuchtet werden kann). Im Noden und Nordosten war das mährische Altreich von verschiedenen slawischen Stämmen umgeben (Tschechen, Sorben, Wislanen, Silesianer u.a.), die grösstenteils in der Spätphase des Reiches in den mährischen Staatsverband mehr oder weniger locker eingebunden wurden[7]. Im Osten, wo das Grossmährische Reich durch den Gebirgskamm der Karpathen bis zum Eindringen der Ungarn[8] wirksam geschützt war, spielten sich kaum Kontakte mit Nachbarn ab. Im Südosten und Süden jedoch, im unteren Bereich der Theiss- und Donauebenen, grenzte das Reich direkt ans erste Bulgarische Grossreich, mit dem auch Kriege geführt wurden, sowie ans aufstrebende Reich der kroatischen Fürsten und andern von Südslawen besiedelten Gebieten. Rein ethnisch gesehen war also Grossmähren im Norden, Osten und Süden von andern slawischen Reichen umgeben, da ja die Ungarn erst am Ende des 9. Jahrhunderts das Karpathische Becken besiedeln sollten.[9]
Grossmähren war - wie aus obiger Schilderung schon ersichtlich wird - eine regionale Grossmacht in Mittel- und Südosteuropa, die von allen angrenzenden Reichen nicht ignoriert werden konnte. Die knapp hundert Jahre grossmährischer Staatlicheit wirkten sich auf die weitere Geschichte Europas jedoch v.a. in kultureller Hinsicht aus, da es nach traditioneller Auffassung in Grossmähren war, wo Ende des 9. Jahrhunderts die Slawenapostel Kyrill und Method während ihres missionarischen Wirkens erstmals ein slawisches Idiom[10] kodifizierten[11]. Erst nach dem Untergang Grossmährens sollte diese kulturelle Leistung ihre wirkliche Entfaltung erleben, da nach der Vertreibung von Methods Anhängern diese hauptsächlich nach Kroatien, Bulgarien und Byzanz flüchteten wohin sie ihre angestammte Schrift mitnahmen.[12]
Schliesslich sollte nicht vergessen werden, dass sowenig wie das Grossmährische Reich einfach „ex machina“ entstanden war[13] es auch nicht einfach von einem Tag auf den andern untergegangen war. Alle vorhandenen Kontinuitäten spielten sich aber nicht mehr unter mährischem Namen ab. Dass in Böhmen ab Ende des 9. Jahrhunderts gerade die Přemysliden die Macht für mehr als vier Jahrhunderte übernehmen konnten, ist direkt auf die mährische Einflussnahme zugunsten Bořivojs zurückzuführen[14], und insbesondere der frühungarische Staat der Arpáden übernahm viele grossmärhischen Verwaltungsstrukturen.[15]
2.2 Politische Entwicklung
Die Anfänge des Grossmährischen Reiches liegen weitgehend im Dunkeln. Fest steht jedoch, dass es dem ersten historisch bezeugten Mährenfürsten Mojmír I. (ca. 830-46) gelungen ist, den in Nitra sitzenden mächtigen Lokalfürsten Pribina zu vertreiben[16] und seine Machtstellung in Mähren, wenn auch unter fränkischer Tributhoheit, auszubauen. Dabei profitierte er zweifellos vom geopolitischen Machtvakuum im mittleren Donauraum, das durch die Vernichtung der Awaren einige Jahrzehnte zuvor und durch die innenpolitischen Turbulenzen im (ost)fränkischen Reich entstanden war. 846 wurde Mojmír auf Betreiben Ludwigs des Deutschen abgesetzt. Es folgte ihm sein Neffe Rostislav[17] (846-70), dem es gelang, sein Reich bis an die obere Weichsel auszudehnen und sich zeitweise von der fränkischen Oberhoheit zu lösen. Dabei suchte Fürst Rostislav Rückhalt beim Byzantinischen Reich, als er den dortigen Kaiser bat, die Christianisierung seines Reiches durch die Entsendung von Missionaren in Angriff zu nehmen, um den Einfluss der bayerischen Missionskirchen zurückzudrängen. 869 wurde Rostislav jedoch von seinem Neffen Svatopluk[18] an Ludwig den Deutschen ausgeliefert, während Svatopluk als Fürst die Herrschaft im Mährischen Reich übernahm, nachdem er vorher (wahrscheinlich) ein eigens Fürstentum um Nitra geführt hatte. Bald setzte auch der neue Herrscher die antifränkische Politik fort, musste 874 in Forchheim jedoch erneut die fränkische Oberhoheit anerkennen. Unter Svatopluk erlebte das Grossmährische Reich seine eigentliche Blüteperiode, die von einer weitgehenden Expansion nach Norden (Böhmen, Sorben) und Südosten geprägt wurde. Nach dem Tode Svatopluks (894) trat unter seinen Nachfolgern bald der Niedergang des Reiches ein, dessen Ende gemeinhin mit der Schlacht von Bratislava 907[19] gegen die Ungarn datiert wird, aber mindestens genauso viel mit inneren Schwierigkeiten[20] und mit dem aufreibenden Kampf gegen den bayerisch-osftfränkischen Gegner[21] zu tun hatte Tatsächlich hielten sich Reste grossmährischer Staatlichkeit noch mindestens bis 925[22], auch wenn die ungarische Hegemonie in der Region immer drückender wurde.
[...]
[1] Der Terminus „Grossmährisches Reich“ wurde ursprünglich von Konstantin VII. Porphyrogennetos geprägt (Konstantinos Porfyrogennetos: Pros ton idion hyion Rhomanon - De administrando imperio, MMFH III, S. 383-384, 393-401), und bezeichnete den weitergefassten Machtbereich Svatopluks (i.e. die Kerngebiete Altmährens samt aller angeschlossenen abhängigen Gebiete, vom unteren Theissraum nordwestwärts bis zur Weichsel und Saale), nach vorangegangener Grossexpansion. In dieser Arbeit wird diese Begriffsdefinition übernommen. Wo nur das altmährische Kerngebiet an der March und in der Westslowakei gemeint ist, wird dies ausdrücklich durch Begriffe wie „Altmähren“, „(gross)mährisches Kerngebiet“ umschrieben. Moravia - wie im Hauptteil ersichtlich werden wird - ist der von I. Boba und M. Eggers ausschliesslich verwendete Begriff für die - anderswo gelegene! - Kernzone des Grossmährischen Reiches.
[2] Wörtlich wird die Verfassung „im Gedenken an das politische und kulturelle Erbe der Vorfahren“, und „eingedenk des geistigen Vermächtnisses von Kyril und Method und des Grossmährischen Reiches“ eröffnet. Ústava Slovenskej republiky, Preambule. Siehe auch online unter http://www.sanet.sk/court/c-index.html#preambule.
[3] Schon die offizielle Tschechoslowakei (sowohl die 1. Republik als auch die kommunistische) zog gerne das Beispiel des Grossmährischen Reiches zur Veranschaulichung des Zusammenlebens von Tschechen und Slowaken in einem „Staat“ heran. Schliesslich war das Grossmährische Reich das erste und einzige Mal vor 1918, dass die beiden Völker zusammen lebten, bevor sie für ein langes Jahrtausend recht verschiedene Wege gehen sollten.
[4] Jedoch war Grossmähren schon zu Zeiten der Tschechoslowakei ein Hauptbetätigungsfeld einheimischer Historiker, denen nicht zuletzt die staatstragende Aufgabe zufiel, ihrem noch jungen Staat eine gewisse historische „Berechtigung“ zu verleihen; vgl. dazu: Eggers 1995, S. 19-21.
[5] Ob das Heranziehen Grossmährens zur Findung der heutigen slowakischen Identität zu Recht oder Unrecht geschieht, darf debatiert werden. Letztendlich ist Identität jedoch nur als etwas Subjektives zu verstehen.
[6] vgl. auch: Kučera, Matúš: Grossmähren und die slowakische Geschichte. In: Poulík et altera 1986, S. 280-310.
[7] Was durchaus gewaltsam geschah. Die mährische Fremdherrschaft in Böhmen veranlasste die Tschechen u.a., 897 Abgesandte an Kaiser Arnulf zu schicken. Vgl. dazu Annales Fuldenses ad annum 898.
[8] Über die kriegerischen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem Eindringen der Ungarn 895/96 ins Karpathenbecken siehe auch: Annales Fuldenses ad annum 897, 900 und 901.
[9] Diese Feststellung ist deshalb wichtig, weil sie aus ethnischer Perspektive keine klaren Grenzen erkennen lässt und so viel zur Schwierigkeit der Lokalisierung der grossmährischen Grenzen beigegragen hat.
[10] nämlich das Altkirchenslawische in südmakedonischer Ausprägung (Kyrill und Method - selber griechischstämmig - wirkten vor ihrem Eintreffen in Grossmähren im Hinterland von Thessaloniki).
[11] in Form der Glagolica
[12] In Kroatien beispielsweise war die Glagolica bis in die Neuzeit in Gebrauch.
[13] Vor der Bildung des Grossmährischen Reiches bildeten sich im 7. und 8. Jahrhundert (neben dem Reich Samos) einzelne Lokalfürsten eng begrenzte territoriale Machtbasen. Das Quallenmaterial dazu ist aber äusserst dürftig (v.a. byzantinische Quellen).
[14] Die Legende, dass Bo řivoj, der erste bedeutende Přemyslide in Böhmen, noch von Method in Grossmähren getauft worden sei, spricht ebenso für vorhandene Kontinuität. Eine genaue Behandlung dieser Frage sowie Allgemeines über die Kontinuität zwischen Grossmähren und Böhmen findet sich bei: Třeštík, Dušan:Bořivoj und Svatopluk. Die Entstehung des böhmischen Staates und Grossmähren. In: Poulík et altera 1986, S. 311-344.
[15] Die Ungarn hatten als Steppenvolk bisher keine Erfahrungen im Verwalten eines Territorialstaates sammeln können, und standen daher in dieser Hinsicht unter einem gewissen Nachholbedarf.
[16] Pribina gab sich nicht geschlagen und baute eine neue Machtbasis am SW-Ufer des Balaton auf (um Zalavár)
[17] auch: Rastislav, in den Annalen Fuldenses Rasticus genannt.
[18] auch: Svetopulk, Sventopluk, Sfentopulchus, Zwentiboldus, Zwentobolch(us).
[19] wo die Mährer auf Seiten der Baiern gegen die Ungarn kämpften
[20] vgl. dazu u.a.: Anneles Fuldenses ad annum 898.
[21] vgl dazu u.a.: Annales Fuldenses ad annum 899 und 900; zum bayerisch-mährischen Friedensschluss 901 siehe Annales Fuldenses ad annum 901.
[22] vgl. dazu: Poulík et altera 1986, S. 223-224.
- Arbeit zitieren
- Adrian von Arburg (Autor:in), 1998, Diskurse um die Lokalisierung des Großmährischen Reiches, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86200
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