„Wenige Werke Heines geben dem Leser mehr Rätsel auf als der ‚Rabbi von Bacherach‘“ , konstatierte Erich Loewenthal zu Beginn seines Aufsatzes „Der Rabbi von Bacherach“. Loewenthal bezieht sich mit dieser These insbesondere auf den fragmentarischen Charakter des Werkes, auf den durch einen stagnierenden Erzählfluss unterdrückten Höhepunkt der Handlung sowie auf die Mischung von Ernsthaftigkeit, Tragik, Satire und Posse, deren Vereinigung dem Autor in der Erzählung kaum gelinge. Heines „Der Rabbi von Bacherach“ ist bei weitem keine makellose Erzählung und auch die zeitgenössische Leserschaft konnte der Autor mit diesem Werk kaum erreichen: Der „Rabbi“ erhielt nach seiner Veröffentlichung in Heines "Salon IV" 1840 vorrangig schlechte Kritiken oder wurde gar nicht beachtet. Viele Leser sehen in dieser Erzählung noch heute die weitläufige Meinung bestätigt, Heine habe kaum über erzählerisches Talent verfügt.
Setzt man sich jedoch genauer mit dem „Rabbi“ auseinander, so gilt es bei dieser Erzählung in besonderem Maße, Entstehungsbedingungen und Entstehungszeit sowie die lebensweltlichen Hintergründe des Autors zu berücksichtigen. Die Genese des „Rabbi“ dauerte insgesamt über 15 Jahre: Während Heine die ersten beiden Kapitel 1824 und 1825 verfasste, fuhr er mit der Arbeit am dritten Kapitel erst 1840 fort. Es ist davon auszugehen, dass die Motivationen Heines sich in dieser Zeit deutlich veränderten. [...] In der Anfangszeit noch konzipiert als „historisches Sittengemälde“ des Judentums im Spätmittelalter wandelt sich die Erzählung im dritten Kapitel erkennbar zu einer autobiographisch-gefärbten Dichtung, die vom Prototyp des historischen Romans nach Scott deutlich abweicht.
Im Folgenden soll der „Rabbi von Bacherach“ als historischer Roman betrachtet und untersucht werden, wobei die Abweichungen von seiner ursprünglichen Konzeption Erläuterung finden sollen. Dazu erfolgen eine Einführung in den historischen Roman zur Entstehungszeit des ersten Kapitels sowie ein Überblick über die Merkmale des die damalige Literaturwelt dominierenden historischen Romans Walter Scotts. Weiterhin werden die prägnantesten historischen Elemente aus den einzelnen Kapiteln des „Rabbi“ aufgeführt, erläutert und, soweit wie möglich, ihre Quellen benannt. Besonderes Augenmerk wird auf den in der Forschung umstrittenen „Stilbruch“ im dritten Kapitel gelegt, wobei mögliche Gründe für denselben in der Textgenese sowie in der Lebensgeschichte des Autors gesucht werden.
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
1. DER HISTORISCHE ROMAN ZUR ENTSTEHUNGSZEIT DES ERSTEN KAPITELS
1.1 DIE EINFLÜSSE WALTER SCOTTS
2. DIE HISTORISCHEN DARSTELLUNGEN IM „RABBI VON BACHERACH“
2.1 JÜDISCHES LEBEN IM MITTELALTER - RITUALMORD-VORWÜRFE UND POGROME
2.2 DIE DARSTELLUNG FRANKFURTS AM MAIN UND DES JÜDISCHEN GHETTOS
2.3 DER SPANIEN-KOMPLEX UND DON ISAAK ABARBANEL
3. VOM HISTORISCHEN ROMAN ZUR „BEKENNTNISDICHTUNG“? – DER „STILBRUCH“ IM DRITTEN KAPITEL
SCHLUSSBETRACHTUNG
LITERATURVERZEICHNIS
EINLEITUNG
„Wenige Werke Heines geben dem Leser mehr Rätsel auf als der ‚Rabbi von Bacherach‘“[1], konstatierte Erich Loewenthal zu Beginn seines Aufsatzes „Der Rabbi von Bacherach“ über Heines Erzählfragment. Loewenthal bezieht sich mit dieser These insbesondere auf den fragmentarischen Charakter des Werkes, auf den durch einen stagnierenden Erzählfluss unterdrückten Höhepunkt der Handlung sowie auf die Mischung von Ernsthaftigkeit, Tragik, Satire und Posse, deren Vereinigung dem Autor in der Erzählung kaum gelinge.
Heines „Der Rabbi von Bacherach“ ist bei weitem keine makellose Erzählung, in diesem Punkt ist Loewenthal beizupflichten, und auch die zeitgenössische Leserschaft konnte der Autor mit diesem Werk kaum erreichen: Der „Rabbi“ erhielt nach seiner Veröffentlichung in Heines Salon IV 1840 vorrangig schlechte Kritiken oder wurde gar nicht beachtet. Viele Leser sehen in dieser Erzählung noch heute die weitläufige Meinung bestätigt, Heine habe kaum über erzählerisches Talent verfügt.
Setzt man sich jedoch genauer mit dem „Rabbi“ auseinander, so gilt es bei dieser Erzählung in besonderem Maße, Entstehungsbedingungen und Entstehungszeit sowie die lebensweltlichen Hintergründe des Autors zu berücksichtigen. Die Genese des „Rabbi“ dauerte insgesamt über 15 Jahre: Während Heine die ersten beiden Kapitel 1824 und 1825 verfasste, fuhr er mit der Arbeit am dritten Kapitel erst 1840 fort. Es ist davon auszugehen, dass die Motivationen Heines sich in dieser Zeit deutlich veränderten. Seine turbulente Lebensgeschichte, insbesondere bezogen auf seine Einstellung zum Judentum, hatten eine Verlagerung des thematischen Schwerpunkts des „Rabbi“ zur Folge: In der Anfangszeit noch konzipiert als „historisches Sittengemälde“[2] des Judentums im Spätmittelalter wandelt sich die Erzählung im dritten Kapitel erkennbar zu einer autobiographisch-gefärbten Dichtung, die vom Prototyp des historischen Romans nach Scott deutlich abweicht.
Im Folgenden soll der „Rabbi von Bacherach“ als historischer Roman betrachtet und untersucht werden, wobei die Abweichungen von seiner ursprünglichen Konzeption Erläuterung finden sollen. Dazu erfolgen eine Einführung in den historischen Roman zur Entstehungszeit des ersten Kapitels sowie ein Überblick über die Merkmale des die damalige Literaturwelt dominierenden historischen Romans Walter Scotts. Weiterhin werden die prägnantesten historischen Elemente aus den einzelnen Kapiteln des „Rabbi“ aufgeführt, erläutert und, soweit wie möglich, ihre Quellen benannt. Besonderes Augenmerk wird auf den in der Forschung umstrittenen „Stilbruch“ im dritten Kapitel gelegt, wobei mögliche Gründe für denselben in der Textgenese sowie in der Lebensgeschichte des Autors gesucht werden.
1. DER HISTORISCHE ROMAN ZUR ENTSTEHUNGSZEIT DES ERSTEN KAPITELS
Heinrich Heine begann die Konzeption des „Rabbi von Bacherach“ im Mai 1824 mit der Absicht, ein „historisches Sittengemälde“[3] zu schaffen. Kurz zuvor war dem Judentum, nicht zuletzt durch die Veröffentlichungen und Initiativen des 1819 gegründeten Berliner Vereins für Kultur und Wissenschaft der Juden, die beginnende Emanzipation von seinem langjährigen Dasein als stiefmütterlich vernachlässigtes Forschungsobjekt der Geschichtswissenschaft gelungen. Heine trat dem Verein 1822 bei und es ist durchaus anzunehmen, dass die entscheidenden Impulse für die Entstehung des „Rabbi“ von dieser Mitgliedschaft ausgingen. So konnte der junge Autor während seiner Arbeit an der Erzählung zum einen schon, wenn auch noch in sehr begrenzter Form, auf einschlägige Schriften zurückgreifen, die ihm als historische Quellen für die Darstellung des jüdischen Lebens dienten, zum anderen unterstützte ein steter und reger Austausch mit den anderen Mitgliedern des Vereins die Arbeit am „Rabbi“ entscheidend.
Heine strebte im „Rabbi“ die Verarbeitung der jüdischen Thematik innerhalb des Konzepts des den damaligen Literaturtrend verkörpernden historischen Romans an. Der historische Roman erlebte seinen Durchbruch bedingt durch das von der Romantik geprägte Interesse für die Geschichte im frühen 19. Jahrhundert. Kennzeichnend für die frühe Form des historischen Romans war häufig eine Fokussierung auf die Förderung des Nationalgefühls. Als umstritten erwies sich das Verhältnis zwischen Poesie und Geschichte innerhalb dieser literarischen Gattung. Es manifestierte sich die Ansicht, dass es nicht Ziel des historischen Romans sein dürfe, „sich in die Niederungen der wirklichen Geschichte zu begeben“[4] sondern vielmehr, diese „durch Verfremdung zu ‚verbessern’“[5]. Vehementer Verfechter dieser These war unter anderem Ludwig Achim von Arnim, der im Vorwort zu seinem historischen Roman „Die Kronwächter“ konstatierte:
Auch das Wesen der heiligen Dichtungen ist wie die Liederwonne des Frühlings nie eine Geschichte der Erde gewesen, sondern eine Erinnerung derer, die im Geist erwachten von den Träumen, die sie hinübergeleiteten, ein Leidfaden für die unruhig schlafenden Erdbewohner von heilig treuer Liebe dargereicht. Dichtungen sind nicht Wahrheit, wie wir sie von der Geschichte und dem Verkehr mit Zeitgenossen fordern, sie wären nicht das, was wir suchen, was uns sucht, wenn sie der Erde in Wirklichkeit ganz angehören könnten, denn sie alle führen die irdisch entfremdete Welt ewiger Gemeinschaft zurück.[6]
Der historische Roman war somit durchaus nicht streng an die Geschichte gebunden und der Autor nicht dazu verpflichtet, sich rein an tatsächliche Geschehnisse und Personen zu halten. Die Geschichte war zwar das Fundament seiner Arbeit, einzelne Bauteile konnte er jedoch, bis zu einem gewissen Grad, nach eigenem Ermessen zu einer neuen Geschichte zusammen fügen.
1.1 DIE EINFLÜSSE WALTER SCOTTS
Der historische Roman im 19. Jahrhundert wurde von den Werken des Schotten Walter Scott dominiert und stark beeinflusst. 1815 erschienen seine ersten übersetzten Werke in Deutschland, zwischen 1820 und 1830 hatte Scott, nicht zuletzt durch die voranschreitende Verbreitung der Leihbibliotheken, eine Vormachtstellung bei der deutschen Leserschaft inne. Durch Scott konnte sich der historische Roman zu einem Bildungsmittel des Bürgertums entwickeln: „Über die vielleicht interessante Fabel hinaus erfuhr der Leser auch einiges von politischer Geschichte, von Kulturgeschichte und sicherlich auch über die sozialen Verhältnisse in einer vergangenen Zeit.“[7] Der historische Roman nach Scott war dabei durch zahlreiche Neuerungen gekennzeichnet:
[…] die Aufwertung der Geschichte im Roman, die Abkehr vom bloß romanhaften Roman, das größere Maß an Wirklichkeitsnähe durch Verankerung in bestimmten Epochen und Beteiligung historischer Figuren im Vorder- oder Hintergrund, die wissenschaftliche Nachprüfbarkeit des zeitlichen und geographischen Rahmens, die ausführliche Vergegenwärtigung von Landschaften, Sitten, Gebräuchen, Kostümen und des sonstigen Ambientes.[8]
Auf diese Weise gelangen Scott eindrucksvolle Wiederbelebungen vergangener Epochen, geschichtliche und private Ereignisse verwob der Autor zu einem großen und mitreißenden Gesamtbild. Das bei Scott besonders auf Zeit und Raum ausgerichtete Augenmerk lenkte dabei jedoch den Blick vom Personal seiner Werke ab: Anders als im Entwicklungsroman agierten Scotts Figuren trotz ihrer genauen und plastischen Darstellungen als Beiwerk der Geschichte. Kennzeichnend für seinen historischen Roman waren weiterhin die durchgehend auftretenden Symbiosen aus realistischen Darstellungen von Massen und der detailgenauen Wiedergabe von Einzelheiten, die dem Autor häufig als „Detailmalerei“[9] angekreidet wurden und sehr umstritten waren.
Viele der stilistischen Mittel Scotts werden im „Rabbi von Bacherach“ sichtbar und deuten auf eine Orientierung Heines an den Werken des Schotten hin. Im Gegensatz zu einigen seiner Kollegen übte Heine keine Kritik an den detailgenauen Darstellungen Scotts, sondern äußerte, im Gegenteil, öffentlich Gefallen an ihnen und unterstrich ihre Bedeutung für die englische Historie:
Er [Scott] war Britanniens größter Dichter, man mag sagen und einwenden, was man will. Zwar die Kritiker seiner Romane mäkelten an seiner Größe und warfen ihm vor: er dehne sich zu sehr ins Breite, er gehe zu sehr ins Detail, er schaffe seine großen Gestalten nur durch Zusammensetzung einer Menge von kleinen Zügen, er bedürfe unzählig vieler Umständlichkeiten, um die starken Effekte hervorzubringen.[10]
In gleicher Weise möchte ich behaupten, Walter Scotts Romane gäben zuweilen den Geist der englischen Geschichte weit treuer als Hume; wenigstens hat Sartorius sehr recht, wenn er in seinen Nachträgen zu Spittler jene Romane zu den Quellen der englischen Geschichte rechnet.[11]
Heinrich Heine bereitete seinen ersten historischen Roman in wissenschaftlich akribischer Kleinarbeit vor. Als Quellen für seine jüdischen Studien diente ihm insbesondere eine Reihe von Schriften aus der Göttinger Universitätsbibliothek. Mithilfe dieser Literatur erhoffte sich Heine, historisch fundiertes Grundwissen erlangen zu können, das ihm erlauben würde, die angestrebte Thematik realitätsnah im „Rabbi von Bacherach“ verarbeiten zu können: „Mit der Feder in der Hand, Seite für Seite und Buch für Buch aufmerksam durchgehend, vertiefte er sich in den fesselnden Stoff, bereit, alles aufzuzeichnen, was ihm für das geplante große Kulturgemälde wichtig sein könnte. Wie zu wissenschaftlicher Darstellung sammelte er in unverdrossener Kleinarbeit das Material.“[12] Auch diese Herangehensweise lässt Parallelen zu Walter Scott erkennen, der seinen Romanen stets fundierte und ausgereifte Forschungen zu Grunde legte.
Ein weiteres Merkmal des scottschen historischen Romans, das auch im „Rabbi von Bacherach“ zu Tage tritt, ist das vom Autor erkennbar angestrebte Bewahren von Neutralität, ein klares Bekenntnis zur Unparteilichkeit, das den Gebrauch jeglicher Polemik verbietet. In diesem Zusammenhang dürfte sich auch die Frage beantworten lassen, weshalb Heine die Frankfurter Juden im „Rabbi“ nicht kritiklos darstellt: Im Sinne Scotts war er darauf bedacht, nicht offensichtlich Partei zu ergreifen. Es galt nicht, den unterdrückten Juden neben dem spätmittelalterlichen Christen als tadellos erscheinen zu lassen, um eine schlichte Kategorisierung zu erreichen. Der Leser sollte sich sein eigenes, realistisches Bild machen und auf Grundlage der dargestellten Fakten selber urteilen dürfen.
[...]
[1] Loewenthal, Erich: Heines Fragment „Der Rabbi von Bacherach“. In: Heine Jahrbuch. Hamburg 1964. S. 3
[2] Feuchtwanger, Lion: Heinrich Heines „Der Rabbi von Bacherach“. Frankfurt a. M. 1981. Seite 15
[3] Feuchtwanger, Lion: Heinrich Heines „Der Rabbi von Bacherach“. S. 15
[4] Feldmann, Rainer: Heinrich Heine. Der Rabbi von Bacherach. Geschichtsverständnis, Jude und Judentum im Romanfragment Heinrich Heines. Dissertation. Paderborn 1984. S. 63
[5] Ebd.
[6] Feldmann, Rainer: Heinrich Heine. Der Rabbi von Bacherach. Geschichtsverständnis, Jude und Judentum im Romanfragment Heinrich Heines. S. 63
[7] Ebd. S. 64
[8] Windfuhr, Manfred: Der Rabbi von Bacherach als historischer Roman. In: Höhn, Gerhard [Hrsg.]: Heinrich Heine. Ästhetisch-politische Profile. Frankfurt a. M. 1991. S. 278
[9] Ebd.
[10] Windfuhr, Manfred: Der Rabbi von Bacherach als historischer Roman. In: Höhn, Gerhard [Hrsg.]: Heinrich Heine. Ästhetisch-politische Profile. S. 279
[11] Ebd. S. 281
[12] Loewenthal, Erich: Heines Fragment „Der Rabbi von Bacherach“. S. 5
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- Manuela Miska (Autor), 2007, Heinrich Heines "Der Rabbi von Bacherach" als historischer Roman, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86114
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