Märchen sind eine besondere Literaturform, die einen hohen Bekanntheitsgrad bei Kindern und Erwachsenen haben. Es sind fantasievolle Erzählungen und beinhalten Erkenntnisse und Wahrheiten des Lebens. Sie leugnen nicht dessen Schwierigkeiten, zeigen aber Wege aus der Gefahr und Möglichkeiten zum Gelingen des Lebens. Die Geschichten sind einfach geschrieben, besitzen aber eine tiefgründige Thematik.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit „Geschwisterbeziehungen in Märchen“ und versucht der Frage nachzugehen, warum die Märchenerzähler die Geschwister als festes Figurenensemble benötigen. Es wurden neun Erzählungen der Gebrüder Grimm ausgewählt, um verschiedene Formen und Darstellungsweisen einer Geschwisterbeziehung zu verdeutlichen. Ein Hauptmotiv der Auswahl ist dabei pädagogischer Art: Mit den hier interpretierten Erzählungen soll der Leser dieser Arbeit einen Einblick in die Geschwisterthematik erhalten.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Brüder Grimm
3. Märchen
3.1 Allgemein
3.2 Überlieferung
3.3 Merkmale
3.4. Familie im Märchen
4. Die Geschwisterbeziehung
4.1 Der Begriff „Geschwisterbeziehung“
4.2 Einflussfaktoren
5. Geschwisterbeziehungen in Märchen
5.1 Formen
5.1.1 Nähe und Distanz bei Geschwistern
5.1.1.1 Beziehungsmuster
5.1.1.2 Identifikationsmuster
5.2 Darstellungsweisen
5.2.1 Gute Geschwisterbeziehungen
5.2.1.1 Brüderchen und Schwesterchen
5.2.1.2 Schneeweißchen und Rosenrot
5.2.1.3 Hänsel und Gretel
5.2.1.4 Die zwölf Brüder
5.2.1.5 Fundevogel
5.2.2 Schlechte Geschwisterbeziehungen
5.2.2.1 Aschenputtel
5.2.2.2 Frau Holle
5.2.2.3 Die drei Federn
5.2.2.4 Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein
6. Bedeutung und Besonderheiten von Geschwistern
6.1. Bedeutung
6.2 Besonderheiten
7. Einfluss auf Leser und Zuhörer
8. Schlussbemerkung
Literatur
1. Einleitung
Märchen sind eine besondere Literaturform, die einen hohen Bekanntheitsgrad bei Kindern und Erwachsenen haben. Es sind fantasievolle Erzählungen und beinhalten Erkenntnisse und Wahrheiten des Lebens. Sie leugnen nicht dessen Schwierigkeiten, zeigen aber Wege aus der Gefahr und Möglichkeiten zum Gelingen des Lebens. Die Geschichten sind einfach geschrieben, besitzen aber eine tiefgründige Thematik.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit „Geschwisterbeziehungen in Märchen“ und versucht der Frage nachzugehen, warum die Märchenerzähler die Geschwister als festes Figurenensemble benötigen. Es wurden neun Erzählungen der Gebrüder Grimm ausgewählt, um verschiedene Formen und Darstellungsweisen einer Geschwisterbeziehung zu verdeutlichen. Ein Hauptmotiv der Auswahl ist dabei pädagogischer Art: Mit den hier interpretierten Erzählungen soll der Leser dieser Arbeit einen Einblick in die Geschwisterthematik erhalten. Zunächst wird ein kurzer Überblick über die Märchenerzähler Wilhelm und Jacob Grimm gegeben. Anschließend werden die Überlieferung und Merkmale hervorgehoben und die Familienverhältnisse im Märchen erläutert. Es folgt eine theoretische Abhandlung über Eigenschaften einer Geschwisterbeziehung, welche eine wichtige Basis zum Verständnis der Thematik darstellt. Im Hauptteil der Arbeit werden unterschiedliche Geschwisterverhältnisse erörtert.
2. Die Brüder Grimm
Jacob (geb.1785) und Wilhelm (geb. 1786) Grimm sind als Sprachwissenschaftler und Sammler von Märchen bekannt. Beide wurden in Hanau, Hessen, geboren und verbrachten dort und in Steinau ihre Kindheit.[1] Die beiden Brüder waren die ältesten von insgesamt neun Geschwistern, von denen drei im Kindesalter verstarben. Nach dem Tod des Vaters schickte die Mutter die beiden Brüder 1798 nach Kassel zu ihrer Tante, um ihnen eine angemessene Bildung für eine eventuelle spätere Laufbahn als Juristen zu ermöglichen. Beide nahmen dann 1802 auf Wunsch des Vaters[2] das Studium der Rechtswissenschaften in Marburg auf. Eine juristische Karriere aber strebten die Brüder nicht an. Es war vielmehr die Literatur, die sie begeisterte. Jacob und Wilhelm lernten bald Clemens Brentano und Achim von Arnim kennen. Gemeinsam begannen die vier jungen Männer mit der Sammlung alter deutscher Volkslieder.[3] Außerdem wurden sie von Brentano auf die Märchenüberlieferungen aufmerksam gemacht.[4] Somit interessierten sich Jacob und Wilhelm mehr und mehr für mündliche Zeugnisse. In dieser Zeit eines sparsamen und zurückgezogenen Lebens nach dem Studienabschluss 1806 war der Beginn der Sammlung von Märchen, die uns heute als eines der Hauptwerke der Brüder bekannt ist.
1812 wurde die gemeinsame Sammlung der Brüder zu Weihnachten veröffentlicht: der erste Band der „Kinder- und Hausmärchen“.[5] Im Vorwort erwähnen Grimms, dass es ihnen auf „Treue und Wahrheit“ des Inhaltes ankomme und dass sie aus eigenen Mitteln nichts hinzugesetzt haben.[6] „Im Gegensatz zu Literaten des 18. Jahrhunderts, die Märchenhaftes aufgriffen und es oft kapriziös umgestalteten, behandelten sie die Märchen als Wissenschaftsgegenstand. Das bedeutete, es so getreu wie möglich nachzuerzählen.“[7] Für die Brüder Grimm waren Märchen „Überbleibsel uralter Mythen, religiösen Glaubens, Brauchtum und sogar Gesetze.“[8] Sie sahen Märchen somit als Zeugen der Menschheitsgeschichte.
1815 konnten die Brüder den zweiten Band der „Kinder- und Hausmärchen“ und 1822 den dritten Band mit Anmerkungen vorlegen. Im Jahr 1825 erfolgte eine weitere Ausgabe mit Illustrationen ihres Bruders Ludwig Grimm. Bereits zu Lebzeiten der Brüder erschienen sieben Auflagen der großen und zehn der kleinen Ausgabe.
1825 heiratete Wilhelm die Apothekerstochter Dorothea Wild und integrierte den Junggesellen Jacob wie selbstverständlich in seine Familie. Die Lebensumstände der Brüder festigten sich somit. 1829 verließen sie gemeinsam ihre hessische Heimat, um in Göttingen Bibliothekarsstellen und Professuren anzunehmen. 1838 begannen Jacob und Wilhelm Grimm ihre gemeinsame Arbeit am Deutschen Wörterbuch.
In politischer Hinsicht arbeiteten die Brüder Grimm mit darauf hin, die damaligen deutschen Kleinstaaten zu vereinen, sowohl indirekt durch die Erforschung der deutschen Kulturgeschichte als auch durch politische Aktivitäten. Jacob und Wilhelm halfen mit, die Menschenrechte in Deutschland zu formulieren.
Die letzten 20 Jahre ihres Lebens verbrachten beide in Berlin. In den „Kleineren Schriften", die sie in dieser Zeitspanne verfassten, ist viel Lesenswertes über ihre Forschungen, ihre Interessen und ihre liberalen politischen Ansichten zu finden.
Wilhelm Grimm verstarb 1859 in Berlin, sein Bruder Jacob 1863 am gleichen Ort.[9]
„Man hat Jacob und Wilhelm Grimm mit zwei Bäumen verglichen, aus einer Wurzel entsprossen und zu einer einzigen Krone zusammengewachsen. Der Vergleich ist zutreffend. Die Brüder teilten zeitlebens Arbeit und Muße, trennten sich nicht oft und dann nur ungern, während eines Lebens voll von seltener Harmonie. Ihre außergewöhnlichen, sich ergänzenden Gaben waren dazu bestimmt, einen mächtigen Einfluß weit über die Grenzen ihres Vaterlandes und bis in unsere Zeit hinein auszuüben.“[10] Die enge Bindung der Brüder Grimm spiegelt sich auch in den meisten ihrer Geschwistermärchen wider.
3. Märchen
3.1 Allgemein
Das deutsche Wort „Märchen“ ist eine Diminutivform des mittelhochdeutschen Wortes maere, welches die Bedeutung Erzählung, Kunde, Bericht hat.[11] „Märchen“ bezeichnet ursprünglich eine kurze, mündlich vorgetragene Erzählung und ist außerdem der Name einer Literaturgattung. Das Märchen ist keine „Kindergeschichte, wenn es auch vielfach dazu geworden ist; vielmehr ist es eine altertümlich sakrale Dichtform, die eine prähistorische Kulturperiode widerspiegelt.“[12]
Da die Märchen der Brüder Grimm vom Volke überliefert wurden, nennt man sie auch „Volksmärchen“. „Das Volksmärchen ist so alt wie die Menschheit. In bildhafter Sprache drückt es des Menschen Hoffen, seine Ängste und auch seine tiefsten Wünsche aus. Im Märchen kann Häßlichkeit zur Schönheit werden, Armut wird Reichtum, und die Schwachen und Verstoßenen triumphieren am Ende. Schrecken und Grausamkeit, Gewalt, Leiden und Schmerz haben ihren natürlichen Platz in einer Welt, in der gute und böse Verzauberung eine unbewußte tiefe Sehnsucht erfüllt.“[13] Die Märchenerzähler haben aus dem Herzen heraus ihre Geschichten berichtet. Sie müssen sich Gedanken über den Sinn des Lebens gemacht haben, so wie wir heute. „Die Märchen sind damit Träger menschlicher Weisheit und Wahrheit. Sie geben ihre Erkenntnisse jedoch nicht in abstrakten Begriffen, sondern in symbolischen Bildern weiter, die es ahnend und handelnd zu entschlüsseln gilt.“[14]
„Das Märchen beschreibt nicht nur die äußere Wirklichkeit unserer Welt und unseres Lebens, sondern es erzählt von der inneren Wahrheit des Menschen. Die äußere Wirklichkeit ist oft unzulänglich und grausam. Unsere Vorhaben nehmen nicht immer ein gutes Ende. Das Märchen dagegen erzählt vom gelingenden Leben, am Ende wird alles gut. […] Das Märchen wirkt ermutigend und sinnstiftend, es leugnet nicht die Schwierigkeiten des Lebens, aber es zeigt Wege aus Gefahr und Verstrickung zum Gelingen des Lebens.“[15] (Knoch, S.18ff)
3.2 Überlieferung
Über Jahrhunderte erzählten sich die Menschen Märchen. „Sie sind ein Spiegelbild menschlichen Lebens. Überall, wo Menschen leben, gibt es Märchen. Ihr Fortbestand wird dadurch gesichert, dass sie durch Erzählen und Zuhören sowohl unter Zeitgenossen als auch von Generation zu Generation vermittelt wurden und werden.“[16] Sie dienten „zur Unterhaltung, Förderung der Arbeit und zum Wegverkürzer.“[17]
Die Brüder Grimm beschlossen 1806 auf Anregung ihres Freundes Clemens Brentano, Volksmärchen zu sammeln und niederzuschreiben, in der Überzeugung, „dieses köstliche Erbgut festzuhalten.“[18] In den folgenden zwei Jahren zogen die Brüder getrennt voneinander durch Hessen, um sich von den Menschen Geschichten erzählen zu lassen, die sie dann aufzeichneten. Die Erzähler waren zum größten Teil Frauen – die meisten von ihnen „jung, unverheiratet und gebildet.“[19] Viel Material kam aus Hessen und von Kasseler Freunden, die sie bei ihrer Arbeit unterstützten. Hierzu zählte auch die Apothekerstochter Dorothea Wild, die später Wilhelms Frau wurde. Die beiden Freundinnen von Jacobs und Wilhelms jüngster Schwester Lotte, Jeanette und Amalie Hasenpflug, steuerten ebenfalls zur Grimmschen Sammlung bei.[20] Die eindeutig beste und ergiebigste Märchenerzählerin und somit wichtigste Quelle für die Grimms, war Dorothea Viehmann.[21] Die „Märchenfrau“, wie sie auch genannt wurde, lebte mit ihrem Mann und ihren sechs Kindern bei Kassel. Sie besaß ein phänomenales Gedächtnis und erzählte den Brüdern Grimm allein weit über dreißig Märchen.[22] Nicht umsonst ist sie die einzige Erzählerin, welche die Brüder Grimm in ihrem Vorwort zu den „Kinder- und Hausmärchen“ namentlich erwähnen.
Die gesammelten Märchen entstanden also nicht aus der Fantasie der Brüder Grimm, sondern wurden nach alten überlieferten Geschichten von ihnen zusammengetragen. Sie haben die Erzählungen nur gering überarbeitet, d.h. nur in Ausdruck und Aussage geformt[23], denn sie wollten es „so getreu wie möglich nacherzählen“.[24]
3.3 Merkmale
Zauber, Wunder und Übernatürliches werden als wesentliche Elemente des Märchens angesehen.[25] „Das Märchen darf weder mit der Katastrophe anfangen, noch aufhören.“ Weitere Strukturmerkmale des Märchens sind:[26]
- Das Märchen beginnt mit der Eingangsformel, die man Wilhelm Grimm zu verdanken hat: ´Es war einmal…´.
- Im Märchen gilt das Zahlengesetz, das die Zahlen 2, 3, 4, 7, 12 und 100 umfasst.
- Die Handlung ist einsträngig. Es gibt also keine Handlungssprünge.
- Das Märchen konzentriert sich um eine Hauptfigur.
- Die epische Einheit der Handlung ist meist durch die Zweizahl bestimmt. Einer Auswanderung folgt eine Heimkehr. Einer Verzauberung folgt eine Erlösung.
- Das Märchen braucht die Handlung, um Eigenschaften von Personen und Dingen aufzuzeigen.
Der Aufbau ist dreigliedrig, der Inhalt wird beherrscht von der Darstellung der Jenseitsreise mit dem Ziel der Hochzeit. Die Bewegung der Märchenhandlung lebt aus der Spannung zwischen Diesseits und Jenseits, die aufeinander bezogen sind.“[27]
3.4. Familie im Märchen
Die Familie[28] hat im Grimmschen Märchen eine wichtige Bedeutung. Die Handlung beginnt in den meisten Fällen mit dem Hinweis auf die familiäre Beziehung der Hauptfiguren. In der Kleinfamilie, die meist aus zwei Generationen besteht, nämlich aus Eltern und Kindern, stellen die Kinder die Hauptpersonen dar. Großeltern und weitere Verwandte spielen kaum eine Rolle. Ein fehlendes Elternteil, meist die leibliche Mutter, wird durch die Figur einer Stiefmutter, die eine negative Rolle spielt, ersetzt. Sie und die eigenen Kinder, die sie mit in die neue Familie bringt, stellen als Stiefverwandte stets die notwendigen Gegenspieler im Märchen dar. Durch unterschiedliche Charaktere und fehlende persönliche Bindung kommt es zu einer Gefährdung des familiären Friedens. Das Konfliktpotential in den Märchen ergibt sich durch die neue Familienstruktur. „Geschwisterbeziehungen und damit verbunden die Thematik von Neid, Eifersucht und Rivalität untereinander im Ringen um die Gunst eines Elternteils sind immer wieder breit gefächertes Anliegen verschiedenster Märchen.“[29] Desgleichen können bei leiblichen Geschwistern Auseinandersetzungen bestehen, ausgelöst durch ungerechtes und ungleichwertiges Behandeln durch die Eltern. Viele Märchen schildern aber auch harmonische Verhältnisse. „Märchen in ihrer bunten Fülle, ihren vielschichtigen Handlungsabläufen […] sind Abbilder menschlichen Fühlens und Erlebens, voll tiefgründigen Wissens über Spannungen und Konflikte, wie sie sich unter Menschen im engen Familienkreis täglich neu konstellieren.“[30] Jeder Mensch muss sich irgendwann von seinen Eltern lösen und sich mit seinen Geschwistern auseinandersetzen. Märchen zeigen Muster für diese Lebenssituationen.
4. Die Geschwisterbeziehung
4.1 Der Begriff „Geschwisterbeziehung“
„Geht man von der umgangssprachlichen Bedeutung des Begriffs „Beziehung“ aus, so wird mit ihm unterstellt, dass zwischen zwei Individuen ein bestimmtes zwischenmenschliches Verhältnis existiert. […] Beziehungen haben eine Entstehungsgeschichte und wandeln sich im Laufe der Zeit u.U. beträchtlich.“[31]
Bruder, Schwester, Geschwister: Bereits die Sprachgeschichte dieser Begriffe ist für unser heutiges Verständnis aufschlussreich. „Im indoeuropäischen Sprachraum bezeichnen «Bruder» und «Schwester» zunächst «brüderliche» oder «schwesterliche» Zusammengehörigkeit in sozialen Gemeinschaften. Die Griechen bildeten als erste einen neuen Begriff «Geschwisterlichkeit» im Sinne leiblicher Verwandtschaft.“[32] Geschwister sind Verwandte zweiten Grades.
Kasten definiert den Geschwisterbegriff folgendermaßen: „Mit dem Begriff „Geschwister“ bezeichnet man in den meisten Kulturen und Sprachgemeinschaften Individuen, die über eine teilweise identische genetische Ausstattung verfügen, weil sie dieselbe Mutter/ denselben Vater/ dieselben Eltern haben.“[33] „Geschwisterbeziehungen sind horizontale Beziehungen und grenzen sich innerfamilial von vertikalen Eltern-Kind-Beziehungen ab.“[34] Die Geschwisterbeziehung gehört also zu den „innerfamilialen“ Beziehungen, die Familienmitglieder untereinander haben.
Die Geschwisterbindung wird bei Sohni auch beschrieben „als – intime wie öffentliche – Beziehung zwischen dem Selbst von zwei Geschwistern: die Zusammensetzung der Identitäten zweier Menschen.“[35] Die Bindung zwischen Geschwistern kann sowohl warm und positiv als auch negativ sein. Neben leiblichen Geschwistern stehen auch Pflege-, Adoptiv- und Stiefgeschwister.[36] Im Märchen ist die Bindung zwischen Stiefgeschwistern grundsätzlich negativ (z.B. Aschenputtel, Frau Holle).
„Der Geschwisterstatus bedeutet eine eigenständige Lebenserfahrung. In den verschiedenen Lebensphasen verändern sich die Geschwisterbeziehungen unter den jeweiligen Herausforderungen.“[37]
4.2 Einflussfaktoren
Einflüsse auf die Geschwisterbeziehung sind vielfältig und können in unterschiedlichem Maße wirken.
Einflussfaktoren, laut Frick[38] sind:
- Altersdifferenz zwischen den Geschwistern
- Geschlecht der Geschwister
- Charakter und Persönlichkeit und besondere Merkmale
- Geschwisteranzahl, Familiengröße
- Geburtenrangplatz
- Individuelles Verhältnis der Eltern zu den einzelnen Geschwistern
- Erziehungsstil der Eltern
- Kritische Lebensereignisse (z.B. Tod, Wiederverheiratung der Eltern)
5. Geschwisterbeziehungen in Märchen
5.1 Formen
Geschwisterbeziehungen in Märchen können von unterschiedlichster Art sein. Gute Verhältnisse zeichnen sich durch positive Inhalte wie Nähe, Intimität und Verbundenheit aus. Schlechte Geschwisterbeziehungen sind durch Rivalität, Eifersucht und Neid belastet und werden durch Stiefmutter und Stiefgeschwister besonders beeinflusst. Es ist von den Eltern abhängig, „ob sich [während der Kindheitsjahre] zwischen den Geschwistern eine positive, nahe, von Rivalität weitgehend ungetrübte Beziehung aufbaut und aufrechterhält.“[39] Die Eltern sind in der wichtigen Position, ihre Kinder gleichwertig zu behandeln und deren Beziehung somit den Weg zu ebnen. Kasten[40] betont, dass im Unterschied zu „gewachsenen“ Geschwisterbeziehungen Stiefgeschwisterbeziehungen eine gemeinsame Vergangenheit fehlt. Er hebt hervor, dass ein Druck auf den Kindern lastet, einander schnell näher zu kommen und sich anzufreunden. Durch die neue Familienkonstellation müssen eine Reihe von massiven Veränderungen verkraftet werden, die das geschwisterliche Verhältnis negativ oder positiv beeinflussen können. In fast allen Stiefgeschwistermärchen ist die Beziehung negativ, außer im Märchen „Fundevogel“ (s. 5.2.1.5).
5.1.1 Nähe und Distanz bei Geschwistern
Der Grad geschwisterlicher Nähe bzw. Distanz verändert sich über die Jahre hinweg durch verschiedene Einflüsse (s. Kap. 4.2). Somit ist die Geschwisterbeziehung auch in Bezug auf die Variablen Nähe und Distanz als ein dynamisches Gebilde zu verstehen. Die folgenden Klassifikationen nach Frick[41] sollen eine Orientierung geben.
5.1.1.1 Beziehungsmuster
Nach Frick gibt es fünf Gruppen von Beziehungsmustern, die zwischen Geschwistern bestehen:
- Intimität: Die Geschwister halten sich für die besten Freunde und tauschen ihre innersten Gedanken und Gefühle aus.
- Dieses Muster ist bei „Hänsel und Gretel“, „Brüderchen und Schwesterchen“, „Schneeweißchen und Rosenrot“ und beim „Fundevogel“ vorhanden. Alle Geschwisterpaare verbringen sehr viel Zeit miteinander und stehen sich somit sehr nahe.
- Kongenialität: Die Geschwister sind zwar gute, aber in der Regel nicht die besten Freunde. Sie gehen liebevoll und unterstützend miteinander um.
- Dies zeigt sich in dem Märchen „Die zwölf Brüder“ (bzw. „Die sechs Schwäne“). Alle Geschwister zeigen eine gewisse Verbundenheit, bei ihnen ist aber keine Intimität vorhanden, da über einen gewissen Zeitraum der persönliche Kontakt fehlte.
- Loyalität: Die Geschwister stehen sich deutlich weniger nahe. Ihre Beziehung stützt sich mehr auf familiäre Verantwortung als auf eine direkte, persönliche und enge Beziehung zwischen ihnen.
- In „Die drei Federn“ ist keine persönliche Beziehung zwischen den drei Brüdern vorhanden. Die familiäre Verantwortung besteht darin, dafür zu sorgen, dass der Vater zufrieden mit der Übernahme des Königreiches ist. Auch „Aschenputtel“ ist nicht feindselig zu ihren Schwestern. Durch die Verantwortung ihrem Vater gegenüber arbeitet sie hart und wehrt sich nicht gegen ihre Stiefschwestern.
- Gleichgültigkeit: Die Geschwister sind kaum mehr aneinander interessiert. Die aufeinander bezogenen Gefühle sind geprägt durch mangelnde Empathie und Distanz.
- Die Stiefschwestern im Märchen „Frau Holle“ sind sehr distanziert. Goldmarie sucht keine Konfrontation trotz der ungerechten Behandlung. Es kommt von daher nicht zum Streit zwischen den Geschwistern.
- Feindseligkeit: Die Geschwister haben eine auffällige Distanz zueinander, meist als Folge von Wut und Ablehnung. Offener oder verdeckter Streit ist die Regel zwischen den Geschwistern.
- Dieses negative Muster zeigt sich in dem Märchen „Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein“. Hier verbünden sich zwei von drei Schwestern gegen die andere, da sie mit ihrem Neid und Hass nicht umgehen können. In „Aschenputtel“ zeigen die Stiefschwester ihre Distanz in Form von Neid, Missgunst und Habgierigkeit. Auch die Stiefschwester von „Brüderchen und Schwesterchen“ kann ihren Neid nicht länger ertragen und bringt ihre Stiefschwester sogar um.
Es können aber auch Mischformen auftreten, worin sich die Beziehung aufgrund des Alters und der individuellen Entwicklung der Geschwister fortlaufend verändern kann. Die anfänglich schlechte Beziehung bei „Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein“ entwickelt sich am Ende dahin gehend, dass die eigentlich bösen Schwestern ihre Taten bereuen und sie Aufnahme auf dem Schloss der Schwester finden.
5.1.1.2 Identifikationsmuster
Die Identifizierung der Geschwister untereinander bestimmt deren Verhältnis und die Entwicklung ihrer Beziehung. Frick erwähnt drei Hauptgruppen von Identifikationsmustern zwischen Geschwistern:[42]
- enge Identifikation: Die Geschwister erkennen viele Ähnlichkeiten und empfinden eine große Nähe zueinander.
- Die Brüder in dem Märchen „Die zwölf Brüder“ identifizieren sich sehr stark miteinander. Ihr gemeinsamer Überlebenskampf im Wald und ihre spätere gleiche Verwandlung in Raben verstärkt die Identifikation. Die beiden leiblichen Schwestern in „Aschenputtel“ sind sich sehr ähnlich. Sie werden gleichermaßen von ihrer Mutter verwöhnt, bekommen dieselben Kleider, haben identische Ansichten und interessieren sich für den gleichen Mann. Die zwei älteren Brüder im Märchen „Die drei Federn“ weisen unabhängig voneinander die gleichen Gedanken auf und sehen keine Konkurrenz ineinander.
- teilweise Identifikation: Die Geschwister empfinden zueinander Nähe und Distanz, d.h. sie erkennen nur in manchen Bereichen Ähnlichkeit. Zu einer teilweisen Identifikation zwischen Geschwistern kommt es vor allem dann, wenn eine differenzierte und ausreichende elterliche Zuwendung vorhanden war.
- In den folgenden Märchen weisen die Geschwister eine sehr geringe Ähnlichkeit auf: „Hänsel und Gretel“, „Brüderchen und Schwesterchen“, „Schneeweißchen und Rosenrot“ und „Fundevogel“. Da die Beziehung positiv ist und die Geschwister sich in manchen Bereichen ähneln, identifizieren sie sich nur teilweise. Bei allen Märchen haben die Kinder eine gerechte und ausreichende Zuwendung erfahren und sehen sich nicht als Feinde.
- geringe Identifikation: Die Geschwisterbeziehung ist von sehr wenigen Ähnlichkeiten und großen Unterschieden geprägt. Die Geschwister stehen sich wie Fremde gegenüber. Meist entsteht durch die einseitige Zuwendung der Eltern zu einem Kind bzw. der Abweisung des anderen Kindes eine starre Rollenaufteilung unter den Geschwistern.
- Die einseitige Zuwendung auf ein bzw. zwei Kinder kommt in den Märchen „Frau Holle“, „Aschenputtel“, „Brüderchen und Schwesterchen“ und „Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein“ vor. Die zwei älteren Brüder im Märchen „Die drei Federn“ identifizieren sich in keiner Weise mit ihrem „einfältigen“ Bruder. In allen Märchen sind die Geschwister sehr unterschiedlich und haben keine Sympathie füreinander.
Der Identifikationsgrad innerhalb der Geschwisterbeziehung kann sich im Laufe der Jahre verändern. „Voraussetzung für geschwisterliche Identifikationen sind letztlich immer Gefühle wie Nähe, Sympathie, Zuneigung, Bewunderung, d.h. eine grundsätzlich positive Wahrnehmung des Geschwisters.“[43]
[...]
[1] vgl. Michaelis-Jena, R.; S.15ff
[2] ebd.; S.31
[3] ebd.; S.36ff
[4] vgl. Rilz, R.; S.8
[5] vgl. Michaelis-Jena, R.; S.45
[6] ebd.; S.10
[7] Woeller, W.; S.28
[8] Michaelis-Jena, R.; S.10
[9] http://de.wikipedia.org/wiki/Br%C3%BCder_Grimm
[10] Michaelis-Jena, R.; S.7
[11] vgl. Chong-Chol, K.; S.13
[12] www.maerchenlexikon.de/archiv/archiv/huth02.htm
[13] Michaelis-Jena, R.; S.8
[14] Lutz, C.; S.7
[15] Knoch, L.; S.18ff
[16] Chong-Chol, K.; S.11
[17] ebd.; S.45
[18] Michaelis-Jena, R.; S.42
[19] Chong-Chol, K.; S.48
[20] vgl. Michaelis-Jena, R.; S.42ff
[21] vgl. Chong-Chol, K.; S.48
[22] vgl. Michaelis-Jena, R.; S.49
[23] vgl. ebd.; S.10
[24] Woeller, W.; S.28
[25] vgl. Chong-Chol, K., S.14
[26] ebd.; S.20ff
[27] www.maerchenlexikon.de/archiv/archiv/huth02.htm
[28] vgl. Chong-Chol, K.; S.91ff
[29] Lutz, C.; S.67
[30] ebd.; S.7
[31] Kasten, H.; Online-Familienhandbuch
[32] Sohni, H.; S.12
[33] Kasten, H.; Band I, S.8
[34] Sohni, H.; S.14
[35] ebd.; S.25
[36] vgl. ebd.; S.14
[37] ebd.; S.11
[38] Frick, J.; S.98ff
[39] Kasten, H.; Online-Familienhandbuch
[40] Kasten, H.; Band II, S.169
[41] vgl. Frick, J.; S.231ff
[42] vgl. Frick, J.; S.23
[43] vgl. Frick, J.; S.236
- Quote paper
- Ulrike Kögel (Author), 2006, Geschwisterbeziehungen in Märchen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85707
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