Seit C.G. Jung Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die tiefenpsychologische Deutung von Märchen und Mythen als therapeutische Methode zur Behandlung von Neurosen einsetzte, haben Volksmärchen mehr und mehr Beachtung in der Psychologie gefunden. So leitete sich die Theorie ab, daß das Märchen für das „kollektive Unterbewußte“ einer Gesellschaft steht, da es eine übergeordnete Wahrheit und allgemeine Gültigkeit für sich beansprucht und mit Archetypen und „Handlungsträgern ohne Tiefenhaftigkeit“ (vgl.Lüthi,1947) fungiert. Sieht man die Märchensymbolik nun als Ansammlung kollektiv tradierter Bilder „wie der Mensch es immer schon gemacht hat“, dann erweist sich das Märchen als Heilmittel für seelisch desorientierte und kranke Menschen, um einen „Weg aus dem Chaos“ zu finden.
Im Folgenden möchte ich nun anhand der überlieferten Märchen „Hans mein Igel“, „Das Eselein“ (vgl.Grimm,1985) und „Siebenhaut“ (vgl.Bechstein,1966) das Krankheitsbild der Borderline-Persönlichkeitsstörung aufzeigen. Schwerpunktmäßig soll hierbei Hans mein Igel bearbeitet werden, da es mir als besonders anschaulich erschien, die Symptomatik des Borderline-Syndroms aufzuschlüsseln. Zunächst möchte ich einen kurzen Überblick zum Krankheitsbild geben und nach den Inhaltsangaben der ausgewählten Märchen eine vergleichende Analyse anführen. Mein Hauptaugenmerk wird sich auf Symptome und Bewältigungsstrategien in verschiedenen Lebensphasen der jeweiligen Protagonisten richten.
Abschließend möchte ich mich in einem gesonderten Teil der symbolischen Darstellung von Krankheit und ihrer Heilung als Metamorphosen widmen.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung
III. Inhaltsangaben
1. „Hans mein Igel“
2. „Das Eselein“
3. „Siebenhaut“
IV. Die Vorbedingungen der Verwandlung
1. Der Kinderwunsch
2. Die Kindheit
3. Die Reifung
V. Die Metamorphosen
1. Die pränatale Verwandlung
1.1 Halb Mensch, Halb Igel
1.2 Der Esel
1.3 Die Schlange
2. Die Verwandlung als Erlösung
2.1 Die Verbrennung des Stachelkleides
2.2 Die entrissene Eselshaut
2.3 Das Häuten der Schlange
VI. Nachwort
VII. Quellen- und Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Seit C.G. Jung Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die tiefenpsychologische Deutung von Märchen und Mythen als therapeutische Methode zur Behandlung von Neurosen einsetzte, haben Volksmärchen mehr und mehr Beachtung in der Psychologie gefunden. So leitete sich die Theorie ab, daß das Märchen für das „kollektive Unterbewußte“ einer Gesellschaft steht, da es eine übergeordnete Wahrheit und allgemeine Gültigkeit für sich beansprucht und mit Archetypen und „Handlungsträgern ohne Tiefenhaftigkeit“ (vgl.Lüthi,1947) fungiert. Sieht man die Märchensymbolik nun als Ansammlung kollektiv tradierter Bilder „wie der Mensch es immer schon gemacht hat“, dann erweist sich das Märchen als Heilmittel für seelisch desorientierte und kranke Menschen, um einen „Weg aus dem Chaos“ zu finden.
Im Folgenden möchte ich nun anhand der überlieferten Märchen „Hans mein Igel“, „Das Ese-lein“ (vgl.Grimm,1985) und „Siebenhaut“ (vgl.Bechstein,1966) das Krankheitsbild der Bor-derline-Persönlichkeitsstörung aufzeigen. Schwerpunktmäßig soll hierbei Hans mein Igel be-arbeitet werden, da es mir als besonders anschaulich erschien, die Symptomatik des Border-line-Syndroms aufzuschlüsseln. Zunächst möchte ich einen kurzen Überblick zum Krank-heitsbild geben und nach den Inhaltsangaben der ausgewählten Märchen eine vergleichende Analyse anführen. Mein Hauptaugenmerk wird sich auf Symptome und Bewältigungsstrategi-en in verschiedenen Lebensphasen der jeweiligen Protagonisten richten.
Abschließend möchte ich mich in einem gesonderten Teil der symbolischen Darstellung von Krankheit und ihrer Heilung als Metamorphosen widmen.
II. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung
Bei meiner Darstellung des Krankheitsbildes berufe ich mich auf O. Kernberg und C. Rohde-Dachser, die sich lange Jahre mit Frühstörungen im Allgemeinen und später der Borderline-Störung explizit beschäftigt haben. Das Borderline-Syndrom ist also den Störungen der Per-sönlichkeitsentwicklung in den ersten Lebensjahren zuzuordnen und bedeutet in seiner wört-lichen Übersetzung „Grenzzustand“ oder „Grenzfall“. Diese Bezeichnung weist nun schon da-raufhin, daß sich das psychiatrische Krankheitsbild in einem Grenzgebiet zwischen Neurosen und Psychosen befindet und Betroffene bestimmte innerpsychische Strukturen aufgrund eines Mangelerlebnisses nur unzureichend entwickeln konnten. Dieses Mangelerlebnis beruht meist auf einem traumatischen Erlebnis des „Nicht-angenommen-worden-Seins“, d.h. daß z.B. die Mutter-Kind-Symbiose im Säuglingsalter nicht stattfand und somit ein natürlicher Ablösungs-prozeß nicht möglich wurde. Das Kind bleibt auf der Entwicklungsstufe der Abhängigkeit ste-hen.
Zu den typischen Symptomen der Krankheit gehören sicherlich die Spaltung in „Gut“ und „Böse“ („Schwarz-Weiß-Denken“), Störungen und Unsicherheiten bezüglich des Selbst-bildes, ungenügenden Schutz vor Reizüberflutung, d.h. „Nichtverdrängenkönnen“, chronische Ängste, z.B. vor dem Verlassen werden, intensive aber instabile Beziehungen, bei denen auf den Partner immer wieder Erfahrungen des „Nicht-Angenommenseins“ projeziert werden („Ich hasse Dich - verlass` mich nicht“). Des weiteren sind Gefühle der Leere, Sinnlosigkeit, Orientierungslosigkeit, Kontakt- und Wahrnehmungsstörungen, Trennungs- und Bindungs-ängste, sowie Sucht- und Zwangssymptome Charakteristika für eine Borderline-Persönlich-keitsstörung. Auch auffallend aggressives Verhalten, insbesondere Autoaggression bis hin zu Suizidversuchen, sind in schweren Fällen nicht selten.
Wie hier schon ersichtlich, zeigt sich das Syndrom auf äußerst vielfältige Weise und wird daher, durch seine diffusen Ausprägungen und den damit verbundenen Schwierigkeiten der Therapierung, zu den schweren Persönlichkeitsstörungen mit hoher Rückfallquote gezählt. Dennoch wirken an Borderline erkrankte Menschen oft angepaßt und gesund, da sie Lebens-bewältigungsmechanismen entwickeln, die sowohl krankhafte als auch gesunde Anteile haben und die akuten psychotischen und neurotischen Phasen von gesunden und klaren Phasen ab-gewechselt werden. Nur wenige Erkrankte bedürfen einer stationären Therapie; doch das Er-kennen der Krankheit und Erlernen von Verhaltensstrategien würde manchen Betroffenen und dessen Angehörigen das Leben erleichtern.
Da eine ausführliche Beschreibung der Ursprünge und der verschiedenen Stadien des Border-line-Syndroms den Rahmen meiner Arbeit sprengen würde, werde ich mich auf die Einblicke, die eine psychologische Interpretation der ausgesuchten Märchen bietet, beschränken.
III. Inhaltsangaben
1. Hans mein Igel
Ein reicher Bauer, der von den anderen Bauern wegen seiner Kinderlosigkeit verspottet wird, ruft in einem unbedachten Moment aus, daß er sich nichts sehnlicher wünsche als ein Kind „und sollt`s ein Igel sein“(Grimm,1985,S.460). Bald darauf wird seine Frau schwanger und gebärt einen Sohn, der „war oben ein Igel und unten ein Junge“(Grimm,1985,S.460). Nachdem der Junge auf den Namen „Hans mein Igel“ getauft worden ist, wird er, aufgrund seiner Stacheln, mit ein wenig Stroh hinter den Ofen verbannt.
Eines Tages bringt Hans` Vater ihm, auf seinen Wunsch hin, einen Dudelsack vom Markt mit, und Hans mein Igel beschließt daraufhin, zur Freude seines Vaters, den Hof auf ewig zu verlassen. Auf einem Hahn reitend, nur mit Schweinen und Eseln im Gefolge, zieht er in den Wald, um dort viele Jahre mit Dudelsack spielen und Schweine hüten zu verbringen.
Als sich aber ein König im Wald verirrt, und Hans mein Igel bittet, ihm den Weg zurück in sein Königreich zu weisen, verlangt Hans als Belohnung dafür das erste, das ihm vor seinem Schloß begegnen würde. Der König nun täuscht Hans mit einem falschen Schreiben und als ihn seine Tochter bei seiner Ankunft entgegenläuft und begrüßt, erzählt er ihr von seinem falschen Versprechen, und sie ist froh, daß sie dem Igelmann nicht folgen muß. Derselbe Vorfall trägt sich kurz darauf mit einem anderen König zu, nur daß dieser sein Versprechen ehrlich gibt und seine Tochter in die bevorstehende Heirat mit dem Fremden einwilligt.
Als nun Hans mein Igel so viele Schweine gezüchtet hat, „daß der ganze Wald voll war“ (Grimm,1985,S.463), begibt er sich zu seines Vaters Hof. Dieser freut sich nun gar nicht, daß sein mißratener Sohn noch am Leben ist; doch als Hans , nach einem großen Schlachtfest, erneut seinen „Göckelhahn“ beschlagen läßt und in die Ferne zieht, ist er beruhigt.
Nun macht er sich auf den Weg zum ersten König, dessen Tochter ihm versprochen worden war und wird dort mit Bajonetten empfangen. Dennoch schafft es Hans mein Igel die Wachen zu überwinden und zum König zu gelangen. Dieser gibt ihm, aus Angst um sein Leben, die Königstochter heraus und läßt ihnen einen Wagen mit Geld und Gut herrichten. Doch kaum sind die beiden unweit der Stadt, sticht Hans die verlogene Prinzessin zur Strafe blutig und schickt sie so zurück in ihres Vaters Königreich.
Im zweiten Königreich hingegen wird der Igelmann mit Jubel empfangen und sogleich mit der Königstochter vermählt. Als aber die Prinzessin sich des nachts vor den Stacheln ihres Gemahlen fürchtet, erklärt dieser, daß er vor ihrem Ehebett seine Igelhaut abstreifen würde und befiehlt den Dienern sie gleich darauf zu verbrennen. Als dies nun geschieht, erscheint unter dem Igelkleid zwar eine Menschengestalt, die jedoch „kohlschwarz, wie gebrannt“ ist (Grimm,1985,S.465). Nur durch einen Arzt, nach dem der König gesandt hat, und der Hans mein Igel salbt und balsamiert, wird er weiß und „ein schöner junger Herr“ (Grimm,1985, S.465), der dann auch das Reich des alten Königs erbt. Jahre darauf versöhnt sich Hans mit seinem Vater und nimmt ihn zu sich in sein Königreich.
2. Das Eselein
Ein Königspaar wünscht sich nichts inniger als ein Kind, doch als ihr Wunsch endlich in Erfüllung geht, gebärt die Königin einen Esel anstatt eines Menschenkindes. Wenngleich die Mutter das Eselein am liebsten den Fischen zum Fraß vorwerfen würde, besteht der König darauf, daß sein Kind, von Gott gegeben, als Sohn und königlicher Erbe erzogen werden soll.
So wächst das Eselskind behütet auf und ist auch sonst von „fröhlicher Art“ (Grimm,1985, S.578). Da es Lust an der Musik verspürt, lernt es, obwohl sein künftiger Lehrer ihm dieses nicht zutraut , einer Laute die schönsten Töne zu entlocken.
Als es aber einmal spazieren geht und sein Spiegelbild im Wasser eines Brunnens sieht, ist es betrübt und macht sich mit einem Gesellen auf in die weite Welt. In einem Königreich angekommen, bitten sie um Einlaß, doch nur durch des Eseleins bezauberndes Lautenspiel wird ihnen dieser gewährt. Obwohl der Esel bei seinem Eintritt ausgelacht wird, besteht er darauf, weder bei den Knechten noch beim Kriegsvolk zu speisen und möchte beim König selbst zu Tische sitzen. Dieser Forderung stimmt der König zu und erlaubt ihm sogar neben seiner einzigen Tochter Platz zu nehmen. Das Eselein weiß sich „fein und säuberlich zu betragen“ (Grimm,1985,S.579) und so bleibt es lange Zeit am Königshof bis es eines Tages traurig wird und zum Verdruß des Königs Abschied nehmen will. Als der König ihm nun Gold, Kostbarkeiten, Schmuck und gar sein halbes Königreich anbietet, um ihn wieder glücklich und zufrieden zu sehen, lehnt er ab, und erst als der König ihm die Hand seiner Tochter anbietet, freut er sich und nimmt an. Es wird Hochzeit gefeiert, und sobald das Brautpaar sich in seine Schlafkammer zurückzieht, läßt der König einen Diener spionieren, ob der Esel sich „ fein artig und manierlich betrüge“(Grimm,1985,S.579). Dieser sieht nun, daß das Eselein, mit der Braut allein, seine Eselshaut abstreift und sich darunter ein schöner Jüngling verbirgt; am Morgen aber zieht der Jüngling sich die Eselshaut erneut über.
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- Arbeit zitieren
- M.A. Tanja Witzel (Autor:in), 2001, Das Borderline-Syndrom in ausgewählten Tierkinder-Märchen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85321
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