Die Professionalisierung der deutschen Soziologie, die bis heute nur als bedingt vollzogen an-gesehen werden kann, nahm ihren Ursprung nach Meinung vieler Autoren bei einigen wenigen Persönlichkeiten, welche nahezu alle vor oder während des zweiten Weltkrieges emigrierten und nach 1945 allmählich nach Deutschland zurückgekehrt waren. Zu nennen sind hier René König, welcher zu Beginn der 50er Jahre die Kölner Schule begründen sollte, die Frankfurter Theodor Adorno und Max Horkheimer und Helmut Schelsky, der auch während des NS-Regimes Deutschland nicht verließ. Die Institutionalisierung des Faches als anerkannte Hochschuldisziplin mit einheitlichen Lehrinhalten aber war nach Bude und Neidhardt „das Werk einer Nachkriegskohorte von Soziologen, die durch die „Heroen“ der 50er angezogen und beeindruckt waren, sich seit Ende der 50er Jahre dann aber zunehmend verselbständigten und ... zunehmend den Ton angaben“ . War also diese (Nachkriegs-)“Kohorte der Disziplinmacher“ eine Gründergeneration, wie Burkart Lutz vermutet ? Oder sind die Ursprünge der Professionalisierung der deutschen Soziologie bei den klassischen Theoretikern der 20er Jahre zu suchen ?
Die vorliegende Arbeit soll an ausgewählten Beispielen aufzeigen, welchen Professionalisierungsbeitrag die Generation der 1945 zwischen 15 und 20jährigen in einer Zeit leistete, in der die Etablierung der Soziologie als anerkanntes Fach „von oben“ von statten ging: Die DGS war bereits gegründet als es noch keine Professoren für Soziologie gab, und Professoren wiederum waren habilitiert bevor soziologische Lehrstühle eingerichtet wurden. Zwar stand dies einem „organischen Wachsen“ der Disziplin entgegen, doch bot sich durch fehlende Strukturvorgaben Raum für die subjektive Entfaltung des jeweiligen Wissenschaftlers und dem für ihn/ sie relevanten Forschungsbereich. Eine Vielzahl methodischer und theoretischer Ansätze waren das Resultat. Wenngleich diese Art der „Selbstprofessionalisierung“ viele Vorteile für den einzelnen Forscher mit sich brachte, hatte sie auch den folgenschweren Nebeneffekt, daß die Soziologen dieser Zeit lange Jahre nicht gewohnt waren, Verantwortung für die von ihnen zu vermittelnde Lehre und den soziologischen Nachwuchs zu übernehmen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Analyse der Biographien
2.1 Burkhart Lutz
2.1 Renate Mayntz
2.3 Dieter Claessens
3. Typenbildung anhand der Lebensläufe
4. Gemeinsamkeiten in Biographie und Professionalisierungsgeschichte der Nachkriegsgeneration – Versuch einer Typologie
5. Literaturverzeichnis
1. Einführung:
Die Professionalisierung der deutschen Soziologie, die bis heute nur als bedingt vollzogen an-gesehen werden kann, nahm ihren Ursprung nach Meinung vieler Autoren bei einigen weni-gen Persönlichkeiten, welche nahezu alle vor oder während des zweiten Weltkrieges emigrier-ten und nach 1945 allmählich nach Deutschland zurückgekehrt waren. Zu nennen sind hier René König, welcher zu Beginn der 50er Jahre die Kölner Schule begründen sollte, die Frank-furter Theodor Adorno und Max Horkheimer und Helmut Schelsky, der auch während des NS-Regimes Deutschland nicht verließ. Die Institutionalisierung des Faches als anerkannte Hochschuldisziplin mit einheitlichen Lehrinhalten aber war nach Bude und Neidhardt „das Werk einer Nachkriegskohorte von Soziologen, die durch die „Heroen“ der 50er angezogen und beeindruckt waren, sich seit Ende der 50er Jahre dann aber zunehmend verselb-ständigten und [ ... ] zunehmend den Ton angaben“[1]. War also diese (Nachkriegs-)“Kohorte der Disziplinmacher“[2] eine Gründergeneration, wie Burkart Lutz vermutet[3] ? Oder sind die Ursprünge der Professionalisierung der deutschen Soziologie bei den klassischen Theoreti-kern der 20er Jahre zu suchen[4] ?
Die vorliegende Arbeit soll an ausgewählten Beispielen aufzeigen, welchen Professionalisie-rungsbeitrag die Generation der 1945 zwischen 15 und 20jährigen in einer Zeit leistete, in der die Etablierung der Soziologie als anerkanntes Fach „von oben“ von statten ging: Die DGS war bereits gegründet als es noch keine Professoren für Soziologie gab, und Professoren wie-derum waren habilitiert bevor soziologische Lehrstühle eingerichtet wurden. Zwar stand dies einem „organischen Wachsen“ der Disziplin entgegen, doch bot sich durch fehlende Struktur-vorgaben Raum für die subjektive Entfaltung des jeweiligen Wissenschaftlers und dem für ihn/ sie relevanten Forschungsbereich. Eine Vielzahl methodischer und theoretischer Ansätze waren das Resultat. Wenngleich diese Art der „Selbstprofessionalisierung“[5] viele Vorteile für den einzelnen Forscher mit sich brachte, hatte sie auch den folgenschweren Nebeneffekt, daß die Soziologen dieser Zeit lange Jahre nicht gewohnt waren, Verantwortung für die von ihnen zu vermittelnde Lehre und den soziologischen Nachwuchs zu übernehmen. So gestaltete sich für viele Kinder ihrer Zeit das Verhältnis von Forschung, der damit verbundenen Selbstdar-stellung und Lehre, die beispielsweise einen Konsens bei Studieninhalten zur Erlangung eines Soziologiediploms abverlangt, als ein schwieriges Unterfangen. Besonders anschaulich wird dieser Konflikt, wenn man sich die, teilweise mit ausgeprägten Feindseligkeiten einhergehen-de, Schulenbildung der deutschen Nachkriegssoziologie vor Augen führt.
An der Kölner Schule, hinter welcher der Einfluß von René Königs Vorstellung der Möglich-keit einer objektiven Soziologie stand, konnte man bis in die 70er Jahre zwar „Volkswirt-schaftslehre sozialwissenschaftlicher Richtung“ studieren, einen eigenen Hauptfach- oder gar Diplomstudiengang der Soziologie gab es bis dato aber nicht. Diese Konsequenz ergab sich aus dem Verständnis der Soziologie als eine wissenschaftliche Disziplin, die aber nicht mit ei-ner Berufsqualifikation gleichzusetzen ist, sondern als empirische Einzelwissenschaft eine Brücke zwischen Philosophie und Ökonomie schlagen soll.[6] Wie sein Kollege Helmut Schels-ky war König an einer konkreten, praxisnahen, empirisch nachweisbaren Forschungsweise in-teressiert und prägte dementsprechend mit der Kölner Methodologie die empirische Sozialforschung mit Standardtexten, die innerhalb und außerhalb der Soziologie Anerkennung fanden. Die Biographie von Renate Mayntz, die in Berlin aufwuchs und nach zwischenzeitlichen Aufenthalten in den USA einen Lehrstuhl in Köln annahm, soll in dieser Arbeit Aufschluß über die beschriebene soziologische Strömung geben.
Die Praxisorientierung Schelskys läßt sich an seinem Bemühen festmachen, einflußreiche Institutionen und Netzwerke auch außerhalb der Universität zu etablieren, zu nennen wäre hier vor allem das „Mammutprojekt“ der Sozialforschungsstelle Dortmund. Mit seinen vielfältigen Publikationen[7] förderte er den institutionellen Ansatz und Sinn und Verstehen sozialer Prozesse im Allgemeinen. Die vorliegende Arbeit enthält Auszüge aus der Professionalisierungsgeschichte Dieter Claessens, der 1962 dem Ruf für ein Vollordinariat als zweite Professur neben Schelsky folgte.
Bedauerlicherweise fand zwischen Schelsky und König aufgrund einer intimen Feindschaft[8], trotz ihres ähnlichen Verständnisses von Soziologie, nie der wünschenswerte wissenschaftliche Austausch statt.
Obwohl ein weiteres diese beiden Hauptvertreter verband - die Ablehnung gegenüber der Kritischen Theorie und der historisch-existentialistischen Soziologie der Frankfurter Schule, die mit Theodor Adorno und Max Horkheimer die Zielsetzung einer umfassenden Theoriebildung verfolgte und somit an die frühen soziologischen Klassiker anknüpfte. Zwar besetzte Burkart Lutz zu keiner Zeit einen Lehrstuhl in Frankfurt, sondern war dort lediglich über vier Jahre freier Mitarbeiter und Projektleiter und rechnete sich selbst keiner der drei erwähnten Schulen zu, dennoch verweist seine Annäherung an die Soziologie durch die Auseinandersetzung mit Marx und sein Interesse für die europäische Soziologie, wie sich im Folgenden herausstellen wird (explizit für die Industriesoziologie), in Richtung Frankfurt.
Da ich mit meiner Hausarbeit in Bezug auf die Autobiographien keineswegs einen Anspruch auf Vollständigkeit habe[9], sondern vielmehr mein Augenmerk auf ausgewählte Fragestellungen zur Professionalisierung legen möchte, halte ich es an dieser Stelle für wichtig, meine Herangehensweise zu dokumentieren.
2. Analyse der Biographien
Als wichtig erscheint mir zunächst, aus Kindheits- und Jugendbeschreibungen des jeweiligen Soziologen/in entscheidende Erlebnisse herauszuarbeiten, welche den Weg zur Soziologie ebneten, da hier bereits der soziologische Blick oder das „soziologische Material“[10], um mit Claessens zu sprechen, seinen Ursprung findet. Des weiteren werde ich die Lebensläufe jeweils für sich auf die Hypothese der Gründergeneration hin untersuchen, d.h. inwieweit die Soziologen nach 1945 an alte Theorien angeknüpft haben bzw. neue Theorien und methodologisches Rüstzeug entwickelten. Hierbei spielt sowohl die Professionalisierung der Lehre als auch die aktive Professionalisierung als Errichtung neuer Zuständigkeitsbereiche und Forschungsfelder eine Rolle. Mit den Kriterien, welche nach Hesse für eine gelungene Professionalisierung einer Berufsdisziplin stehen[11], d.h. den zwei konstitutiven Charakteristika eines eigenen Berufsverbandes und eines hohen gesellschaftlichen Status, sowie den zweckmäßigen Charakteristika eines bestehenden Ethikcodes, einer theoretisch fundierten und lang andauernden Ausbildung und dem Dienst an der Allgemeinheit zum Wohl und der Stabilität der Gesellschaft, versuche ich mich dann der Professionalisierung der drei ausgewählten Nachkriegssoziologen und der deutschen Nachkriegssoziologie im Allgemeinen anzunähern. Schlußendlich soll ein Fazit etwaige Parallelen zwischen den Biographien aufzeigen, um, wenn möglich, ganz im Sinne des positivistischen und nomothetischen Ansatzes der Kölner Schule Generalisierbarkeiten für die Nachkriegskohorte der Soziologen herzuleiten.
2.1 Burkart Lutz
Burkart Lutz wuchs in einer Großfamilie in bildungsbürgerlichem Milieu auf, war somit schon in jungen Jahren mit Musik, Kunst und Literatur vertraut und gehörte einer katholischen Jugendbewegung an. Schon frühzeitig mußte er feststellen, wie entscheidend eine, dem allgemeinen historischen Kontext entgegengesetzte Gesinnung, einen Lebenslauf prägen kann. So begann er also im Sommer 1943 ein Mathematikstudium in München, um sich nicht mit den damaligen „Nazilehrern“ des, seinen Vorlieben entsprechenden geisteswissenschaftlichen Studiums, auseinandersetzen zu müssen. 1945 kehrte er, nach überstandenen Kriegsdienst, nach Deutschland zurück, um sich mit hoher Wißbegier, hohem intellektuellen Anspruch und Sensibilität für Historizität einem neuen Studium zuzuwenden. Doch der jugendliche Leichtsinn und die Auflehnung gegen vorgegebene Strukturen, welche sich im späteren Verlauf der Biographie als eine Art Charakteristikum seiner Handlungsweisen herausstellen soll, führten dazu, daß Lutz den Wiedereinschreibungstermin verpaßte und daraufhin eine Hilfskrafttätigkeit im Hausarchiv auf schloß Zeil übernahm, die für seine soziologische Laufbahn wegbereitend sein sollte. Während er dort die Akten der Herrschaft Kissleg sortierte, erschloß sich ihm ein Bild des friedlichen und kaum merklichen Übergangs von einer bäuerlich- dörflichen zu einer modernen Gesellschaft. Diese Entdeckung stand in solchem Widerspruch zu der neuzeitlichen Geschichte, die den Kampf zwischen der einheitsstiftenden Kirche und dem modernen Individualismus betonte, daß sie Burkart Lutz angesprochene Wißbegier reizen mußte. Hier schon zeigt sich sein soziologischer Blick, ohne daß er je eine entsprechende Ausbildung genossen hätte, die mit Begriffen wie dem sozialen Wandel und einem Instrumentarium der Gesellschaftsprognose aufwarten könnte.[12]
[...]
[1] Bude, H./ Neidhardt, F. „Die Professionalisierung der deutschen Nachkriegssoziologie“, S.406 in: Bolte, K. M./ Neidhardt, F. (Hrsg.) „Soziologie als Beruf“ Soziale Welt Sb.11, Baden – Baden 1998
[2] ebenda, S.405
[3] vgl. Lutz, B. „Soziologie als Entdeckung“ in Sahner, H. (Hrsg.) „Soziologie als angewandte Aufklärung“, Baden – Baden 2000
[4] vgl. ebenda, S.35ff
[5] Sowohl die soziologischen Fragestellungen, die analytischen und interpretativen Konzepte als auch das methodische Rüstzeug erarbeitete sich die Nachkriegsgeneration Schritt für Schritt selbst.
Vgl. Lutz, B. „Soziologie als Entdeckung“, S. 35 in: Sahner, H. (Hrsg.) „Soziologie als angewandte Aufklärung“, Baden – Baden 2000
[6] vgl. Lüschen, G. „25 Jahre deutscher Nachkriegssoziologie- Institutionalisierung und Theorie“, S. 19f in: Schaefers, B. „Soziologie in Deutschland“, Opladen 1995
[7] vgl. ebenda, S. 20
[8] vgl. Claessens, D. „Verspäteter Anfang eines Außenseiters“, S.47 in: Bolte, K. M./ Neidhardt, F. (Hrsg.) „Soziologie als Beruf“ Soziale Welt Sb.11, Baden – Baden 1998
[9] Wobei dieser Anspruch an sich schon, der Biographieforschung gemäß ein faux pas jedes Sozialwissenschaftlers wäre, da Lebensläufe immer Konstrukte des durch historische Kontingenzen und strukturelle Einflüsse geprägten Blickes sind.
[10] Claessens, D. „Verspäteter Anfang eines Außenseiters“, S.45 in Bolte, K. M./ Neidhardt, F. (Hrsg.) „Soziologie als Beruf“ Soziale Welt Sb.11, Baden – Baden 1998
[11] vgl. Lamnek, S. „Soziologie als Beruf in Europa – Ausbildung und Professionalisierung von Soziologen und Soziologinnen im europäischen Vergleich“, 1993
[12] Diese Darstellung bezieht sich auf folgende Biographien: Lutz, B. Die Einheit von Biographie und Beruf als Risiko und Chance“ in: Bolte, K. M./ Neidhardt, F. (Hrsg.) „Soziologie als Beruf“ Soziale Welt Sb.11, Baden – Baden 1998
und Lutz, B. „Soziologie als Entdeckung“, S. 35 in: Sahner, H. (Hrsg.) „Soziologie als angewandte Aufklärung“, Baden – Baden 2000
- Arbeit zitieren
- M.A. Tanja Witzel (Autor:in), 2004, Ausgewählte Biographien der deutschen Nachkriegssoziologie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85320
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