Jan Philipp Reemtsma kategorisiert die Texte Überlebender des Holocaust als "Überlebensmemoiren".
Was das Charakteristische dieser unterschiedlichen literarischen Formen ist, was ihren Gegenstand und die Wirkung dieser Literatur ausmacht, ist Gegenstand meiner Arbeit.
Dabei findet das Werk von Imre Kertesz in besonderer Weise Beachtung, da es mir den Zugang zur Problematik des "Berichten-Wollens" verbunden mit dem Wissen des "Nicht-Vermitteln-Könnens" der Erfahrungen des Konzentrationslagers auf eindrucksvolle Weise aufgezeigt hat.
Es bleibt Reemtsma gleichwohl zuzustimmen, dass diese Texte etwas über unsere Welt auszusagen in der Lage sind, worüber wir auch als Unbeteiligte aufgeklärt werden können.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Das Leid
Die Deutungsautorität
Die Memoiren Überlebender
Eine neue Textgattung?
Haupt- oder Nebengattung?
Überleben als erzwungenes Einverständnis
Resümee
Literaturverzeichnis
Vorwort
Ich beschäftige mich in meiner Hausarbeit hauptsächlich mit Texten von Jan Philipp Reemtsma. Darin geht es, wie dem Titel der Arbeit zu entnehmen ist, um Texte der Überlebenden des Holocaust.
Dessen Verständnis der, wie er es nennt, Überlebensmemoiren haben mir Problembereiche aufgezeigt, die mir zuvor nicht bewusst waren. Deshalb haben sie auch meinen Umgang mit der Originallektüre stark geprägt. Die theoretische Abhandlung vollziehe ich vor dem Hintergrund der von mir gelesenen Originallektüre. Ich bin mir dabei sehr wohl bewusst, dass es sich dabei nur um einen kleinen Ausschnitt der bestehenden Texte handeln kann.
Tief beeindruckt hat mich aber vor allem die Lektüre der Texte von Imre Kertesz. Deshalb werde ich zum Ende der Arbeit verstärkt auf diesen zu sprechen kommen.
Um den Kreis da aufzuknüpfen, wo er am Ende geschlossen wird, beginne ich die Arbeit mit einem, wie mir scheint, wesentlichen Zitat aus dem Galeerentagebuch von Kertesz.
Nicht Gott ist tot, die Seinsbedingungen haben sich geändert. Nicht die Werte sind zusammengebrochen, ihre Brauchbarkeit ist fraglich geworden. Nicht die Wahrheit hat sich geändert, sie wird bloß anders gehandhabt. Entfremdung gab es wahrscheinlich auch schon im Mittelalter, und das Absurde wird im Altertum ebenso offensichtlich gewesen sein wie heute. Das individuelle Sein ist nur ein Traum. Und desgleichen sind es alle Werte – solange die Werte nicht eines Tages wichtiger werden als das Sein: Dann und nur dann könnte in der menschlichen Geschichte etwas qualitativ Neues geschehen; dies wäre der Wendepunkt der Geschichte, von dem an der Mensch substantiell anders leben würde, nicht mehr auf der Stufe seiner immanenten Triebe, sondern nach seinen Werten, die er als primäre Seinsbedingung ansehen würde. Dazu reicht aber das Beispiel von Einzelnen absolut nicht aus, dazu müsste der Mensch offenbar eine biologische Veränderung durchmachen; und es ist fraglich, ob ein derart durchgeistigtes Wesen noch zur bloßen Selbsterhaltung fähig wäre in einer Natur, die bloße Selbsterhaltung schamlos als ihr einzig erkennbares moralisches Gesetz verkündet.[1]
Das Leid
In dem Text Die Memoiren Überlebender[2] untersucht Reemtsma die Wirkung von Literatur. Genauer: die Wirkung einer ganz speziellen Art von Literatur und er bezeichnet sie als eine weltweit neue Art von Literatur des vergangenen Zwanzigsten Jahrhunderts.
Einleitend weist er daraufhin, dass Literatur immer auch ein Ausdruck von Leid gewesen ist.
Der Unterschied zu der tradierten Literatur vor dem Zwanzigsten Jahrhundert bestand aber, abgesehen von der Ausnahme, welche die Regel bestimmt (etwa Dostojewskis Aufzeich-nungen aus einem Totenhaus), darin, dass erfahrenes Leid seine „literarische Salonfähigkeit“ nur über einen Umweg gefunden hat und nicht von der Person geschildert wurde, die dieses Leid erfahren hat. „Literarisch salonfähig“ wurde es durch die Aufarbeitung von Schriftstellern.[3] Dabei ist es unerheblich, ob es beispielsweise einen Odysseus, wie ihn uns etwa Homer oder aber auch Dante usw. geschildert haben, tatsächlich gegeben hat oder nicht. Es ist, nach Reemtsma, sogar besser, dass es diese Personen, deren Leid dem Rezipienten geschildert wird, im wirklichen Leben gar nicht gegeben hat bzw. nicht gibt.
Denn der ästhetische Mehrwert der Beschäftigung mit solchen Texten würde verloren gehen, wenn dem Rezipienten das Distanzgefühl zum Leidenden verloren geht.[4]
Wieso? Ganz einfach. Wer sich mit dem tragischen Schicksal eines Menschen auseinander-setzt, und durch diese Beschäftigung mit der Schilderung dieses Erlebten berührt wird, muss Konsequenzen ziehen. Diese müssen sich nun nicht darin äußern, dass der entsprechende Rezipient dieser Person beispringt und etwa Hilfe anbietet. Er muss mit sich und dem Text alleingelassen, entscheiden, wie er zu dem geschilderten Sachverhalten steht. Es würde also eine wo nicht moralische so doch zumindest emotionale Nötigung entstehen, der er sich dann zu stellen hat. Sich dieser Nötigung zu stellen, wird nicht jeder bereit sein. Von fremden Leid zu hören ist das eine, es nachzuvollziehen etwas anderes.
Insofern bieten fiktive Geschichten die Möglichkeit, eine personale Distanz aufzubauen, die es rechtfertigt, dass Buch nach erfolgter Lektüre aus der Hand zu legen, und sich dem realen Geschehen im wirklichen Leben zu widmen, bis zu dem Zeitpunkt, an welchem man sich wieder mit und durch die Lektüre von den Anstrengungen im wirklichen Leben erholen will.
Lesen dient in diesem Sinne also eher dem Ablenken von den Sachverhalten und Zwängen, die in der Welt sind. Natürlich kann es umgekehrt der Fall sein, dass das Lesen über Sachverhalte, Zustände und Begebenheiten der Welt, aufklärt. Und der Reiz liegt gerade darin, dass man sich als Lesender über Seinszustände informiert und sie zugleich vor dem eigenen Erfahrungshorizont vergleichen kann, ohne sie selber gemacht haben zu müssen. Es ist ja gerade die Neugierde, die den Menschen dazu bringt, Geschichten zu hören, und im Geschichten erzählen wird unter anderem eben auch diese Neugierde zu befriedigen versucht.
Gleichwohl bleibt es dabei. Fiktive Schilderungen über Einzelschicksale, egal ob sie realen Vorbildern nachempfunden wurden oder nicht, können dem Rezipienten etwas über den Zustand der Welt sagen und zeigen. Es bleibt aber eben auch dem Rezipienten überlassen, die geschilderten Berichte für das eigene Verständnis zu deuten. Er kann das Geschilderte vor seinem individuellen Erfahrungshorizont vergleichen und es für wichtig oder aber auch für unwichtig erachten. Deshalb kann er von fremden Leid lesen, und sich zugleich vorstellen, selbst betroffen zu sein. Es obliegt damit seiner Vorstellungskraft und natürlich auch der Güte des Textes, inwieweit er sich vom Geschilderten ergriffen fühlt oder nicht.
Die Deutungsautorität
Diesem Verständnis der Wirkungsweise von Literatur setzt Reemtsma ein neues Verständnis gegenüber. Er spricht in diesem Kontext auch von einem „ästhetischen Mehrwert“.[5]
Wie im vorigen Kapitel geschildert, kann sich der Leser durch einen literarischen Text ergriffen fühlen oder nicht. Dies liegt natürlich zunächst am Inhalt des Buches. So beschäftigt sich beispielsweise die Novelle Billy Budd von Herman Melville mit dem Einzelschicksal, und eben auch Leid, des jungen Matrosen Billy Budd.[6]
Im Affekt erschlägt dieser den Waffenmeister des Kriegsschiffes, welcher ihn in der Kajüte des Kapitäns und vor demselbigen lügenhafterweise belastet, und wird deshalb hingerichtet. Dies ist eine tragische Geschichte und sie kündet, wenn auch fiktiv, von Leid und von Unrecht, welches sich so tatsächlich in der realen Welt ereignen kann.
Was hat es nun mit dem oben angesprochenen Begriff des ästhetischen Mehrwerts auf sich?
Nun, als Leser habe ich die Erwartungshaltung, dass mich diese Novelle auf sprachlich hohem Niveau unterhält, mir zugleich aber auch erklärt, was es mit der Welt „auf sich hat“. Diesen Anspruch hat der Leser aber, wenn er Interesse an Literatur entwickelt, generell.
So verstanden bedeutet ästhetischer Mehrwert also eine Erwartungshaltung beim Leser, die vom Text entweder bedient wird oder nicht.
Die Kapitelüberschrift lautet nun Deutungsautorität. Was hat es damit auf sich? Reemtsma spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer neuen Literaturgattung.[7] Diese weltweit gültige neue Literaturgattung nennt er eben die „Memoiren Überlebender“.
Ich möchte sie, mangels eines besseren Ausdrucks, >>Überlebensmemoiren<< nennen: es sind autobiographische Aufzeichnungen, und in ihrem Zentrum steht die Tatsache, dass ihre Verfasserinnen oder Verfasser Opfer von extremer Gewalt geworden sind. Sie sind auch dort, wo dies nicht thematisiert wird, dennoch insgesamt Ausdruck einer Leidens-, Schmerz- und Überwältigungserfahrung, und - das ist nun das Besondere – sie werden darum gelesen, mehr noch: es wird ihnen aus diesem Grunde [sic,M.D.] eine Deutungsautorität zugesprochen.[8]
Opfer von extremer Gewalt geworden sind alle diese Betroffenen aus einem Grund. Und das sind die deutschen Arbeits- und Vernichtungslager in der Zeit des faschistischen Deutschlands.
Deutungsautorität soll nun aber sowohl dem Text als auch den Verfasserinnen und Verfassern eingeräumt werden. Dazu Reemtsma:
Wir sind der Überzeugung, dass sie etwas Verbindliches und Wichtiges zu sagen haben, und wir meinen, dass sie, weil sie über diesen entsetzlichen Ort – er heiße Judenhaus, Buchenwald oder Auschwitz – etwas zu sagen haben, uns etwas über die Welt mitteilen können, was für uns von Wichtigkeit ist, und zwar über die ganze Welt [sic, M.D.].[9]
In ihren Texten, Memoiren wie Reemtsma sie nennt, sprechen die Opfer. Und sie sprechen nicht nur „über die ganze Welt“, sie sprechen auch in all den Sprachen, die in den Lagern gesprochen wurden.[10]
Die Memoiren Überlebender
Reemtsma spricht im Zusammenhang mit den Texten, die vor allem nach 1945 entstanden sind und die Lagererfahrungen der Inhaftierten zum Gegenstand haben von Memoiren Überlebender.
Der Begriff der Überlebenden ist aussagekräftig genug. Zu überleben war der unmenschliche Zustand in den Lagern. Nur sind diejenigen, die mit dem Leben davongekommen sind, in der Mehrzahl in eine neue Situation gelangt, die der Welt außerhalb des Lagers notwendiger-weise fremd war.
Ich möchte nur darauf verweisen, dass man in diesem Zusammenhang auch sehen muss, dass die Situation in den Lagern vielfach nur zu überstehen war, indem eben auch die Opfer zu Tätern wurden. Jorge Semprun beschreibt in seinem Buch Was für ein schöner Sonntag! die Situation, in der er sich als Mitglied des kommunistischen Widerstands im Lager befand.[11]
Er reflektiert darüber, dass er Menschen bewusst in den Tod schicken musste, um Mitglieder der eigenen Organisation zu retten. Wer in Buchenwald beispielsweise den Arbeitsdienst im Steinbruch zugewiesen bekam, hatte eine ungleich geringere Überlebenschance als jemand, der Arbeiten mit nötiger Fachkompetenz zu verrichten hatte.
[...]
[1] Kertesz, Imre. Galeerentagebuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH 1999. 2. Aufl. S. 51.
[2] Reemtsma, Jan Philipp. Die Memoiren Überlebender. In: Mord am Strand. Allianzen von Zivilisation und Barbarei. Berlin 2000. S. 227-253.
[3] Ebd. S. 229.
[4] Ebd. S. 230.
[5] Ebd. S.230.
[6] Melville, Herman. Billy Budd. Zürich: Diogenes Verlag AG 1981.
[7] Reemtsma, Jan Philipp. a.a.O. S. 229.
[8] Ebd.
[9] Ebd. S. 230.
[10] Ebd. S.229.
[11] Semprun, Jorge. Was für ein schöner Sonntag !.Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1999.
- Citation du texte
- Marco Dietze (Auteur), 2002, Überlebensmemoiren - Gedanken von Jan Philipp Reemtsma zu den Texten Überlebender des Holocaust, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85007
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