„[…] und ich frage mich gelegentlich bin das ich, oder bin ich schon so wie die im Fernsehen“ (Sportfreunde Stiller)
Das menschliche Alltagsbewusstsein wird in der Regel von einem naiven Realismus beherrscht. Der Mensch nimmt als unumstößlich an, dass die Welt um ihn herum tatsächlich so ist, wie er sie sieht, riecht, hört, schmeckt und fühlt. Nur was mit den eigenen Sinnen wahrgenommen wird, existiert wirklich. In Hinblick auf ihre Funktionsweise in heutigen Gesellschaften wird der Vorwurf laut, dass Massenmedien - insbesondere das Fernsehen - diese Wirklichkeit verzerren, indem sie die individuelle Wahrnehmung manipulieren. Obwohl die meisten Mitglieder der Gesellschaft um die Inszenierung der Bilder in audiovisuellen Massenmedien wissen und selbst über die Reiz-Reaktions-Kette von Angebot und Nachfrage mitbestimmen, orientieren sie sich an den massenmedialen Vorgaben. Jeder verhält sich zunehmend so, wie es von „denen“ im Fernsehen vorgelebt wird. Die Realität rückt immer mehr in den Hintergrund und gesellschaftliche wie kulturelle Werte verändern sich. Nach der Ansicht realistischer Theoretiker sind die Auswirkungen verheerend. Alle Prozesse einer Gesellschaft - das gilt auch für die politischen - werden zunehmend kommerzialisiert. Der einzelne Mensch verschwindet zudem in Form von „Nullen“ und „Einsen“ im Cyberspace.
Die folgende Arbeit wird sich jedoch nicht vorrangig mit den Auswirkungen von gesellschaftlichen Veränderungen im Zeitalter der audiovisuellen Massenmedien auseinandersetzen, sondern im Schwerpunkt geht es darum zu zeigen, welchen Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Wandel unterliegt und die Funktionsweise dieser Gesetzmäßigkeiten zu untersuchen.
Wie der Titel dieser Arbeit „Konstruktion politischer Öffentlichkeit in TV Talkshows“ verspricht, steht im Folgenden die konstruktivistisch orientierte Medien- und Kulturtheorie Siegfried J. Schmidts im Mittelpunkt sowie deren Konsequenzen für den politischen Öffentlichkeitsbegriff einer Gesellschaft. Als Beispiel fungieren dabei die politischen Gesprächsrunden Sabine Christiansen und HART aber fair.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Radikaler Konstruktivismus
2.1 Grundannahmen des Radikalen Konstruktivismus
2.2 Kritik am Radikalen Konstruktivismus
3. Soziokultureller Konstruktivismus - eine Medientheorie?..
3.1 Entwicklung des Kommunikationsbegriffes
3.2 Entwicklung des Kulturbegriffes.
3.3 Entwicklung des Medienbegriffes...
3.4 Medien + Kultur = Medienkultur
3.5 Zusammenfassung
4. Gesellschaftlicher Wandel durch Massenmedien
4.1 Massenmedien als Instrumente der Wirklichkeitskonstruktion
4.1.1 Modularisierung von Wirklichkeit
4.1.2 Modalisierung von Wirklichkeit
4.2 Massenmedien als Instrumente der Sozialisation
4.2.1 Fernsehen beeinflusst Prozesse sozialer Differenzierung und Entdifferenzierung
4.2.2 Fernsehen beeinflusst die Inszenierung und Thematisierung von Gefühlen
4.2.3 Fernsehen beeinflusst das Verhältnis von Kultur und Gedächtnis
4.3 Kritik an den Massenmedien am Beispiel Fernsehen
4.4 Gesellschaftlicher Wandel am Beispiel politischer Fernsehrunden
4.4.1 Einführung in die Kontroverse um die Mediatisierung von Politik
4.4.2 Die politischen Fernsehrunden in Deutschland - eine Bestandsaufnahme
4.5 Zusammenfassung
5. Fernsehtypische Inszenierungselemente in den ‚Polit-Talks’
Sabine ChristiansenundHART aber fair
5.1 Gegenstand der Analyse
5.1.1 Auswahlkriterien
5.1.2 Aufbau der Analyse.
5.2 Das Setting von Polit-Talks..
5.2.1 Kurzportrait und Setting vonSabine Christiansen
5.2.2 Kurzportrait und Setting vonHART aber fair
5.3 Untersuchung des Themenhaushalts von Polit-Talks
5.3.1 Das Agenda Setting beiSabine ChristiansenundHART aber fair
5.3.2 Zwischenfazit
5.4 Untersuchung der Teilnehmerstruktur in Polit-Talks..
5.4.1 Die Gäste beiSabine Christiansen
5.4.2 Die Gäste beiHART aber fair...
5.4.3 Zwischenfazit
5.5 Untersuchung der Moderation, sowie der Sendungs- und
Argumentationsstrukturen in Polit-Talks
5.5.1 Sendungsstruktur und Moderation beiSabine Christiansen..
5.5.2 Sendungsstruktur und Moderation beiHART aber fair...
5.5.3 Zwischenfazit
5.6 Technisch-visuelle Vermittlung bei beiden Polit-Talks
6. Fazit
7. Ausblick
8. Anhang
8.1 Allgemeine Abkürzungen
8.2 Fernsehproduktionen
8.3 Aufsätze und selbständige Publikationen
8.4 Artikel im Internet, Internetadressen und Datum des Abrufs
8.5 Materialien
1. Einleitung
„[…] und ich frage mich gelegentlich bin das ich, oder bin ich schon so wie die im Fernsehen“ (Sportfreunde Stiller)
Das menschliche Alltagsbewusstsein wird in der Regel von einem naiven Realismus beherrscht. Der Mensch nimmt als unumstößlich an, dass die Welt um ihn herum tatsächlich so ist, wie er sie sieht, riecht, hört, schmeckt und fühlt. Nur was mit den eigenen Sinnen wahrgenommen wird, existiert wirklich. In Hinblick auf ihre Funktionsweise in heutigen Gesellschaften wird der Vorwurf laut, dass Massenmedien - insbesondere das Fernsehen - diese Wirklichkeit verzerren, indem sie die individuelle Wahrnehmung manipulieren. Obwohl die meisten Mitglieder der Gesellschaft um die Inszenierung der Bilder in audiovisuellen Massenmedien wissen und selbst über die Reiz-Reaktions-Kette von Angebot und Nachfrage mitbestimmen, orientieren sie sich an den massenmedialen Vorgaben. Jeder verhält sich zunehmend so, wie es von „denen“ im Fernsehen vorgelebt wird. Die Realität rückt immer mehr in den Hintergrund und gesellschaftliche wie kulturelle Werte verändern sich. Nach der Ansicht realistischer Theoretiker sind die Auswirkungen verheerend. Alle Prozesse einer Gesellschaft - das gilt auch für die politischen - werden zunehmend kommerzialisiert. Der einzelne Mensch verschwindet zudem in Form von „Nullen“ und „Einsen“ im Cyberspace.
Die folgende Arbeit wird sich jedoch nicht vorrangig mit den Auswirkungen von gesellschaftlichen Veränderungen im Zeitalter der audiovisuellen Massenmedien auseinandersetzen, sondern im Schwerpunkt geht es darum zu zeigen, welchen Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Wandel unterliegt und die Funktionsweise dieser Gesetzmäßigkeiten zu untersuchen.
Hatte die traditionelle Epistemologie bohrend danach gefragt, was unsere Erkenntnisse im Lichte von (absoluten) Wahrheits- und Objektivitätsansprüchen wert sind, so hat sich die Erkenntnistheorie in der Mediengesellschaft an der Frage orientiert, wie wir erkennen, welche Prozesse dabei ablaufen und wie diese empirisch konditioniert sind. (Schmidt 1999b, S. 120)
Wie der Titel dieser Arbeit „Konstruktion politischer Öffentlichkeit in TV Talkshows“ verspricht, steht im Folgenden die konstruktivistisch orientierte Medien- und Kulturtheorie Siegfried J. Schmidts im Mittelpunkt sowie deren Konsequenzen für den politischen Öffentlichkeitsbegriff einer Gesellschaft. Als Beispiel fungieren dabei die politischen GesprächsrundenSabine ChristiansenundHART aber fair.[1]Die zentrale Annahme ist dabei, dass die (Massen)Medien „unsere alltäglichen Instrumente der Wirklichkeitskonstruktion“ (Schmidt 1999b, S.120ff) sind. Somit wirken sie maßgeblich auf gesellschaftliche Sozialisationsprozesse ein. Dies wird am Gesellschaftssystem „Politik“ aufgezeigt. Politische Informationssendungen spielen für die Vermittlung politischen Geschehens an die Bürger demokratischer Gesellschaften eine gewichtige Rolle. Das Fernsehen ist dabei nicht nur als passiver Vermittler zu betrachten, sondern beeinflusst durch seine spezifischen Aufmerksamkeitsregeln auch Inhalte und vor allem Formen politischer Wirklichkeit. Davon sind nicht nur die Rezipienten, sondern vor allem die politischen Akteure selbst betroffen. Sie stehen daher unter Druck, die Medien in einer Form für sich zu gewinnen, die sich als vorteilhaft erweist. Die Präsentation der Politik passt sich daher zunehmend den Medienformaten an. Politische Fernsehrunden stehen deswegen unter Verdacht, seriöse politische Diskurse in substanzlose Selbstdarstellungen von Politikern und dreiste Propaganda verkommen zu lassen. Einseitige Manipulation der gesellschaftlichen Systeme durch die Medien ist laut Schmidt jedoch auszuschließen; er konstatiert vielmehr, dass sich alle Teilsysteme der Gesellschaft wechselseitig beeinflussen. „So lange die Medien noch menschliche Benutzer brauchen und von Menschen beobachtet werden, determinieren sie unsere Kulturen noch nicht.“ (Schmidt 1994a, S.39) Dreh- und Angelpunkt sind für Schmidt also die verantwortungsbewussten Mediennutzer und Medienakteure. In diesem Punkt nähert sich Schmidt dem realistischen Menschenbild der Aufklärung an. In der Aufklärung gilt der Mensch bekanntermaßen als selbstbestimmt handelndes, verantwortliches Wesen. Ob sich das nun tatsächlich in der Form bestätigen lässt, wird wie bereits angedeutet ein Teilaspekt der vorliegenden Arbeit sein.
Kapitel zwei setzt sich mit der Theorie des Radikalen Konstruktivismus auseinander. Diese theoretische Einführung ist unentbehrlich, da sie für die vorliegende Untersuchung wichtige Begrifflichkeiten hervorgebracht hat und sich auf ihr Schmidts Theorie des soziokulturellen Konstruktivismus gründet.
In Kapitel drei wird gezeigt, wie Siegfried J Schmidt die Theorie des Radikalen Konstruktivismus weiterentwickelt und einen Paradigmawechsel vom Naturalismus zum Kulturalismus vollzieht. Damit entsteht Schmidts Theorie des „Soziokulturellen Konstruktivismus“. Wie bereits erwähnt handelt es sich dabei um eine Kultur- und Medientheorie, die auf der Annahme basiert, dass Kognitions-, Kommunikations-, Kultur- und Mediensysteme in einem sich wechselseitig beeinflussenden Kreislauf zusammenhängen. Die in dieser Theorie entwickelten Thesen werden in der Analyse der Polit-Talks zur Anwendung kommen.
In Kapitel vier werden auf der Grundlage von Schmidts Medientheorie Wandlungsprozesse innerhalb der Kulturen einer Gesellschaft und deren Wechselbeziehungen zum Massenmedium Fernsehen beschrieben. Im Mittelpunkt steht dabei das Verhältnis von Politik und Fernsehen. Somit dient dieses Kapitel als Vorbereitung für die anschließende Untersuchung.
Kapitel fünf widmet sich der Analyse und einem Vergleich der oben genannten Polit-Talks. Die Analysekriterien sind dabei fernsehtypische Inszenierungselemente wie Setting, Themenspektrum, Teilnehmer-, Sendungs- und Gesprächsstrukturen als auch technisch-visuelle Darbietung. Dabei wird deutlich, dass das Fernsehen zwar durchaus manipulativ auf die Gesellschaft einwirkt, sich jedoch einerseits selbstreferenziell und andererseits den Zuschauererwartungen entsprechend modifiziert.
Im Abschließenden Fazit wird zunächst anhand der Ergebnisse der Analyse auf die Konstruktionsmechanismen des Massenmediums Fernsehen eingegangen. Anschließend werden entsprechende Konsequenzen für die Öffentlichkeit, am Beispiel politischer Öffentlichkeit, erörtert. Anhand der Ergebnisse der Analyse wird schließlich der empirische Beweis für die dargelegte Medientheorie Schmidts geliefert.
2. Radikaler Konstruktivismus
Es wird vorab darauf hingewiesen, dass die folgenden Kapitel dem Anspruch einer vollständigen Darstellung des Konstruktivismus nicht gerecht werden können. Für den weiteren Fortgang der Arbeit ist es ausreichend, einen knappen Abriss dessen zu zeigen, was sich unter dem Begriff des „neuen“[2]Konstruktivismus (heute besser bekannt als Radikaler Konstruktivismus) fassen lässt, wie er Anfang der siebziger Jahre als „Theorie der systemischen Beobachtung“ (Jensen 1999, S.9ff) in Kalifornien entsteht. Die vielen historischen Paradigmawechsel in der Philosophie und die unzähligen interdisziplinären, wissenschaftlichen Verflechtungen, aus denen sich der Diskurs des (Radikalen) Konstruktivismus konstituiert, können hier lediglich angedeutet werden.
2.1 Grundannahmen des Radikalen Konstruktivismus
Die Hauptvertreter dieser Theorie sind Humberto Maturana, Francisco Varela, Gerhard Roth, Heinz von Foerster sowie Ernst von Glasersfeld. Wie Schmidt immer wieder betont, handelt es sich dabei nicht um eine homogene Doktrin, sondern um einen interdisziplinären Diskurs. Die Grundthese des Diskurses besagt, dass menschliches Wissen nicht passiv empfangen, sondern immer aktiv aufgebaut ist. Damit konstruiert jedes Individuum seine eigene Wirklichkeit. Dieses aktive Aufbauen, oder anders formuliert dieses Konstruieren von Wirklichkeit geschieht im jeweiligen Gehirn. Damit spielt es in der Theorie des Radikalen Konstruktivismus die zentrale Rolle des „Wirklichkeitskonstrukteurs“. Das Gehirn ist selbstreferenziell geschlossen und kann sich nur auf seine eigenen Operationen beziehen. Äußere Reize können es im besten Fall irritieren, jedoch nie erreichen.
Die wichtigste Grundannahme des Radikalen Konstruktivismus besagt,
dass alles Wissen, wie immer man es auch definieren mag, nur in den Köpfen von Menschen existiert und dass das denkende Subjekt sein Wissen nur auf der Grundlage eigener Erfahrung konstruieren kann. Was wir aus unserer Erfahrung machen, das allein bildet die Welt, in der wir bewusst leben. (Glasersfeld 1995 S.22)
Oder anders formuliert:
Menschen sind autopoietische, selbstreferenzielle, operational geschlossene Systeme. Die äußere Realität ist uns sensorisch und kognitiv unzugänglich. Wir sind mit der Umwelt lediglich strukturell gekoppelt. […] Die so erzeugte Wirklichkeit ist keine Repräsentation, keine Abbildung der Außenwelt, sondern eine funktionelle, viable Konstruktion, die von anderen Menschen geteilt wird […] (Siebert 2003, S.5ff)
Diese Kernthese beinhaltet viele Termini, wie ‚autopoietisch’, ‚operational ge-schlossen’, ‚selbstreferenziell’ oder ‚viabel’. Da diese Begriffe auch für Schmidts soziokulturellen Konstruktivismus grundlegend sind, werden sie anschließend explizit erklärt.
Die entscheidende Grundvoraussetzung aus der Systemtheorie ist, nach Luhmann, die „Theorie selbstreferentieller Systeme“.
Die Theorie selbstreferentieller Systeme behauptet, daß eine Ausdifferenzierung von Systemen nur durch Selbstreferenz zustande kommen kann, das heißt dadurch, daß die Systeme in der Konstitution ihrer Elemente und ihrer elementaren Operationen auf sich selbst […] Bezug nehmen. (Luhmann 2002a, S.25)
Systeme werden darin als geschlossene Systeme betrachtet, deren Prozesse und Operationen ausschließlich im ihrem Inneren ablaufen. Die Umwelt bleibt jedoch vor allem als identitätsschaffende Differenz für das System mit seinen internen Operationen weiterhin elementar wichtig. Als neue Leitdifferenz, welche die alte System/Umwelt-Differenz in sich aufnimmt, schlägt Luhmann „die [Leit]Differenz von Identität und Differenz [Nicht-Identität]“ (ebd., S.26) vor. Durch diesen Wechsel wird es möglich von Selbstbeschreibungen oder Selbstbeobachtungen in Systemen zu sprechen.
Die Kybernetik - Heinz von Foerster gilt als dessen geistiger „Vater“ - schließt sich in diesem Punkt der Systemtheorie Luhmanns an, indem sie in erster Instanz Subjekt und Objekt voneinander trennt und auf eine unabhängige Welt außerhalb des Individuums verweist. Daran anschließend beschäftigt sich die Kybernetik zweiter Ordnung mit Systemen, die ihrerseits Beobachtungen ausführen.[3]Die Beobachterabhängigkeit allen Erkennens wird folgendermaßen beschrieben: Beschreibungen werden immer zu Beschreibungen von sich selbst: zum Beispiel Verstehen verstehen, Lernen lernen, Erkennen erkennen usw. (vgl. von Foerster 1994, S.46ff)
Die grundlegenden Themen der Kybernetik zweiter Ordnung sind ebenfalls „Selbstreferenz“ und „Geschlossenheit“. Dies bedeutet, dass ein Organismus sein Verhalten so lange rekursiv errechnet, bis sich dieses als stabil erweist. Dabei müssen die Operationen mit den jeweiligen einschränkenden Bedingungen übereinstimmen. Ein Organismus kann Wissen aufgrund seiner kognitiven Prozesse nur für sein eigenes Verhalten ausbilden. Daraus folgt, dass das Ergebnis von Beobachtungen keine subjektunabhängige objektive Welt abbildet, sondern von dem Organismus errechnet bzw. erzeugt wird.
Sowohl die Prinzipien der „Selbstreferenz“ und „operativen Geschlossenheit“ als auch die Funktion des „Beobachtens“ legt Siegfried J. Schmidt im soziokulturellen Konstruktivismus seinen vier Systemen (Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur) zu Grunde.(vgl. Kapitel 3)
Aus der Neurobiologie übernimmt der Konstruktivismus den Begriff der „Autopoiese“. Die beiden Neurobiologen Maturana und Varela entwerfen in den 70er Jahren die heutige Theorie der Organisation von Lebewesen. Diese bringt in neuartiger Weise zwei Gebiete zusammen, die zuvor praktisch unabhängig voneinander existierten: „die Theorie der Organisation von Lebewesen [Biosystemtheorie] und die Theorie der Wahrnehmung und Erkenntnis [Kognitionstheorie].“ (Roth 1987, S.258) Autopoiese[4]stellt das wichtigste Kriterium des Lebendigen in lebenden Systemen[5]dar.
Ein autopoietisches System ist nach dieser Theorie ein System, das zirkulär die Komponenten produziert, aus denen es besteht, das sich also über die Herstellung seiner Bestandteile selbst herstellt und erhält. (ebd., S.258)
„Leben produziert Leben, und nichts von außen kann Leben hinzufügen.“ (Luhmann 1995, In: Berghaus 1999, S.53) Berghaus veranschaulicht dies am Beispiel einer Uhr: Die kleinen Zahnrädchen entsprechen dabei den Subsystemen und die Uhr dem lebenden Gesamtsystem. Im Gegensatz zu einem autopoietischen System, sind Uhren von Uhrmachern gemacht. Ihr Regelwerk kommt somit von außerhalb. Folglich produziert sie sich nicht selbst. Wären Uhren autopoietische Systeme, würden sie ihr Regelwerk selbst erstellen. (vgl. Berghaus 1999, S.51ff) Autopoietische Systeme im Sinne Maturanas erzeugen durch ihr Operieren ihre eigene zirkuläre Organisation und dies fortwährend. Aus diesem zirkulären Prozess resultiert die Selbstreferenz der lebenden, autopoietischen Systeme und macht diese sowohl organisationell als auch operativ geschlossen sowie ihrer Umwelt gegenüber autonom. Die Theorie Maturanas und Varelas besagt allerdings nicht, dass autopoietische Systeme strukturell unveränderlich sich. (Im Gegensatz zu Luhmann). Grundsätzlich sind lebende Systeme dynamisch und unterliegen „ständigem strukturellem Wandel“ (ebd., S.95), in dem ihre Umwelten[6]auf sie einwirken. Diese Einwirkungen werden allgemein als Störungen oder Irritationen bezeichnet. Lebende Systeme sind also mit ihren Umwelten immer strukturell gekoppelt:
wann immer eine strukturelle, plastische zusammengesetzte Einheit [oder anders bezeichnet: lebendes autopoietisches System] gestört wird, folgt daraus strukturelle Kopplung […] und zwar […] mit denjenigen Strukturen des Mediums, die den Störungsbereich der Einheit darstellen. (Maturana 1987, S.102)
Durch solche systemexternen Ereignisse sind Systeme aber nur „modellierbar und nicht steuerbar“ (Schmidt 1987, S.23). Strukturelle Veränderungen können allerdings nur innerhalb des Rahmens der Autopoiese stattfinden. Mit anderen Worten sind Veränderungen nur vom System realisierbar, solange seine Fähigkeit erhalten bleibt, sich selbst zu erhalten und weiterzuproduzieren.[7]Dieser Grundsatz gilt ebenso für Einwirkungen auf das System seitens anderer lebender Systeme.[8]
Zwei plastische Systeme werden aufgrund ihrer sequentiellen Interaktionen dann strukturell gekoppelt, wenn ihre jeweiligen Strukturen sequentielle Veränderungen erfahren, ohne daß die Identität des Systems zerstört wird. (Maturana 1982, S.150f; In: Schmidt 1987, S.24ff)
In seinem soziokulturellen Konstruktivismus legt Schmidt Maturanas und Varelas Konzept von „Autopoiese“ allen Interaktionen von Systemen zugrunde.(vgl. Kapitel 3)
Maturana und Varela untersuchen des Weiteren das Phänomen der Kognition und gehen dabei vom Gebrauch der Sprache aus. Was immer gesagt werde, werde von einem Beobachter zu einem anderen Beobachter gesagt. Daraus folgern sie: „Wir sind Beobachter und lebende Systeme, und als lebende Systeme sind wir Beobachter.“ (Maturana, 1987, S.91) Die daraus resultierenden Auswirkungen auf Maturanas Begriff von Kommunikation werden in Kapitel 3.1 gezeigt. In Anlehnung an Maturana bezeichnet Schmidt lebende Systeme auch als „kognitive Systeme“ und das Leben wiederum als Prozess der Kognition. (Schmidt 1987, S.23)
Der Neurophysiologe und Konstruktivist Gerhard Roth überträgt Maturanas Konzept der operationalen Geschlossenheit des Nervensystems und der autopoietischen Organisation lebender Systeme auf das Gehirn. Er begreift das Gehirn als „funktional geschlossenes System, […] das nur seine eigene „Sprache“ versteht und nur mit seinen eigenen Zuständen umgeht.“ (ebd., S.14) Als Subsystem des autopoietischen lebenden Systems ist es organisationell und operationell geschlossen. Nervenimpulse stellen Informationseinheiten dar, die zwischen dem Wahrnehmungsapparat und dem verarbeitenden Gehirn hin und her geschickt werden. Sie agieren dabei völlig unspezifisch bzw. funktionieren nach evolutionstheoretisch über lange Zeit entwickelten Gesetzmäßigkeiten. Das Gehirn hat demnach keinen direkten Zugang zur Welt, sondern ist über die Sinnesorgane und das Nervensystem mit der Wirklichkeit„verbunden“.[9]
Der reale Organismus besitzt ein Gehirn, das eine kognitive Welt erzeugt, eine Wirklichkeit, die aus Welt, Körper und Subjekt besteht und zwar in der Weise, daß dieses Subjekt sich diese Welt und diesen Körper zuordnet. Dieses kognitive Subjekt ist […] eine Art ›Objekt‹ der Wahrnehmung. (Roth 1985, In: Schmidt 1987, S.16)
Schmidt formuliert das so: „Wir können Wahrnehmungen nicht selbst wahrnehmen, wir sind Wahrnehmungen. Wahrnehmung ist die Selbstdarstellung des Gehirns.“ (ebd., S.16) Diese Funktionsweise des Gehirns wird, so Roth, durch lange Lernprozesse geprüft, die teils angeboren sind, teils individuell oder gesellschaftlich ausgebildet werden. Das Gehirn kann individuelle Wirklichkeit somit nur unter spezifischen sozialen Bedingungen entwickeln: „In diesem Sinne ist die von unserem Gehirn konstituierte Wirklichkeit eine soziale Wirklichkeit […], obwohl sie in der Tat kein Fenster nach außen hat.“ (ebd., S.17) Damit nähert sich der Radikale Konstruktivismus langsam soziokulturellen Argumentationsweisen an, die in Kapitel 3 konkretisiert werden.
Die reale Welt konfrontiert die darin lebenden Systemen ständig mit unendlich vielen verschiedenen Reizen oder, um es in Luhmanns Worten auszudrücken, mit Komplexität. Wenn das Gehirn versuchen würde, dieser Komplexität gerecht zu werden, wäre es aufgrund von Reizüberflutung nicht überlebensfähig. Es muss diese Komplexität reduzieren, indem es selektiert und nur bestimmte Reize verarbeitet.[10]
Diese Komplexitätsreduktion der Realität durch die Kognition ermöglicht es dem Menschen, komplexe Entscheidungen in kurzer Zeit zu treffen, da er ja nicht mehr mit ‚Rohdaten’ über die Umwelt, sondern mit bereits ‚aufbereiteten’ und durchstrukturierten Daten zu tun hat. (Roth 1987, In: Schmidt 1990, S.65)
Von Foerster schließt sich mit seiner Theorie selbstorganisierender Systeme, die er aus dem Forschungskontext der Kybernetik entwickelt, weitgehend Roths Ausführungen an. Laut ihm kann „die Welt da draußen“ im Gehirn nicht wiedergegeben werden, sondern es gilt:
Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung“ (von Foerster 1994, S.40), […] denn tatsächlich gibt es ja »da draußen« weder Licht noch Farbe, es gibt lediglich elektromagnetische Wellen. (ebd., S.44)
Im 19. Jahrhundert wird erstmals der Begriff ‚Erkenntnistheorie’[11]eingeführt, welchen Descartes schließlich in der Idee des Geist-Körper-Dualismus weiterentwickelt, der seitdem die Grundlage aller erkenntnistheoretischen Denkweisen bildet - auch des Radikalen Konstruktivismus, in dem die körperlichen Systeme unabhängig von den geistigen operieren.Der Grundzug der konstruktivistischen Epistemologie besteht darin,
daß die Welt, die da konstruiert wird, eine Welt des Erlebens ist, die aus Erlebtem besteht und keinerlei Anspruch auf »Wahrheit« im Sinne einer Übereinstimmung mit der ontologischen Wirklichkeit erhebt. (Glasersfeld 1994, S.28; Hvh.i.O.)
Wissen und Erkenntnis sind somit kein passives Empfangen, sondern das Ergebnis von Handlungen eines aktiven Subjekts. Die Erkenntnislehre wird so zu einer Untersuchung der Art und Weise, wie der Intellekt aus dem Fluss des Erlebens eine einigermaßen dauerhafte, regelmäßige Welt konstruiert. (vgl. ebd., S.30)[12]Für die Zukunft „lernen“ zu können[13], liegt allem Lebenden zugrunde. Den Prozess des Lernens definiert Glasersfeld als In-Beziehung-Setzen von etwas bereits Erlebten mit einem weiteren Erlebnis. Aus diesem regelmäßigen In-Beziehung-Setzen entwickeln sich wieder neue Erfahrungen, die zum Teil schon einmal in einer ähnlichen Art und Weise erlebt worden sind.[14]Laut Glasersfeld, kann ein Bewusstsein den Fluss des Lebens nur aufgrund des regelmäßigen Vergleiches von „Wiederholung“ und „Neuem“ strukturieren. Aus diesem ständigen Prozess des Vergleichens konstruiert sich jedes Individuum letztlich auch seine „individuelle Identität“ (ebd., S.31ff). „Diese Struktur ist, was der bewusste kognitive Organismus als »Wirklichkeit« erlebt“ (ebd., S.36). Damit bewegt sich Glasersfeld weg von der traditionellen erkenntnistheoretischen Epistemologie, die das „Ziel von Wahrnehmung, Erkenntnis und Wissenschaft in einer möglichst wahrheitsgetreuen Darstellung der Wirklichkeit sieht, [hin] zu einer instrumentalen Anschauung“ (Glasersfeld 1992, S.22). Anstelle von Verifikation und Falsifikation von Wissen redet Glasersfeld von Viabilität, was im Allgemeinen mit „Gangbarkeit“ übersetzt wird. Viabilität selektiert nach „Brauchbarkeit im Bereich der Erlebenswelt und des zielstrebigen Handelns.“ (ebd., S.22) Menschliches Wissen soll demnach keine wissenschaftlichen Wahrheiten enthüllen, sondern es lediglich ermöglichen, bestimmte Ziele zu erreichen. Während es bei Viabilität im biologischen Bereich ums Überleben von Organismen geht, handelt es sich im kognitiven Bereich „um die Viabilität von Theorien um mentales Gleichgewicht“. (Glasersfeld (1996) zitiert in: Diesbergen 1999, S.31, Anm.14) Es bildet somit das zentrale Kriterium für Wissen, Theorien und Konzepte im radikal-konstruktivistischen Rahmen.[15]
2.2 Zusammenfassung und Kritik am Radikalem Konstruktivismus
Die Richtigkeit der im Radikalen Konstruktivismus vertretenen antirealistischen Erkenntnistheorie wird wie oben gezeigt im Rekurs auf naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse aus Biologie, Neurophysiologie und Kognitionspsychologie „bewiesen“. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen wird der Radikale Konstruktivismus von vielen Seiten vehement kritisiert. Ihm wird unter anderem vorgeworfen solipsistisch[16]zu sein, also nur die eigene Person mit ihren Erfahrungen als existierend gelten zu lassen. Diesem Einwand begegnet der Radikale Konstruktivismus allerdings mit der Unterscheidung zwischen einem epistemologischen und einem ontologischen Solipsismus. Der Radikale Konstruktivismus vertritt einen epistemologischen Solipsismus, welcher besagt, „dass ich als erkennendes Wesen wie ein geschlossenes System funktioniere und keine „Außenwelt“ erkennen kann. Damit wird jedoch, wie Glasersfeld verschiedentlich betont, die ontologische Realität keineswegs geleugnet.“ (Diesbergen 1998, S.28) Diese kann höchstens rekursiv erfahren werden, sobald der Organismus an die Grenzen stößt, „die das Medium dem Verhalten setzt“ (Schmidt 1987, S.36).
Ein weiterer Kritikpunkt am Radikalen Konstruktivismus bzw. an der Systemtheorie lautet, dass in der Theorie nie vom Menschen an sich die Rede ist, sondern nur von Systemen. Jedes menschliche Individuum ist in Luhmanns Systemtheorie ein Konglomerat autopoietischer, eigendynamischer, nichttrivialer Systeme“ (Luhmann 2002b, S. 82). Der Konstruktivismus entwickelt sich ähnlich zu Luhmanns Systemtheorie (ausführlicher dazu in Scholl 2002, S.8ff), so dass auch „kognitive Konstruktivisten das Subjekt bisher nicht hinreichend als tätiges Subjekt gesehen haben“ (Schmidt 1992, S.12).[17]Die einzige Tätigkeit des Subjekts, respektive des Beobachters, läge im Beschreiben. Janich sieht darin das „pragmatische Defizit“ des Radikalen Konstruktivismus. (vgl. Janich 1992)
Einer der schwerwiegendsten Kritikpunkte ist jedoch der Vorwurf Janichs, im Radikalen Konstruktivismus einen „inkorporierten Reduktionismus auszumachen[18]“ (Schmidt 1992ff, S.13, Scholl 2002, S.12ff, Schmidt 1987, S.39ff).
„Der konstruktivistische Diskurs ist seit Jahren bemüht, den »naturalistischen Fehlschluss« des biologischen Konstruktivismus zu überwinden.“[19](Weber 2002, S.24) Einer der vehementesten Vertreter des Radikalen Konstruktivismus, Siegfried J. Schmidt, vollzieht ebenfalls einen Paradigmawechsel. So wendet er sich von der radikalen und naturalistischen Ausrichtung des Konstruktivismus ab, und bewegt sich hin zu einer stärker kulturalistischen Ausrichtung, die er selbst Soziokultureller Konstruktivismus nennt.(vgl. Kapitel 3 und 4)Hier beobachtet und beschreibt er die Gesellschaft „durch das Nadelöhr Kognition, die rekursiv mit Medien und Kultur verknüpft wird“ (Scholl 2002, S.9).
3. Soziokultureller Konstruktivismus - eine Medientheorie?
Als hauptsächlicher Vertreter und Namensgeber der soziokulturellen Ausprägung des Konstruktivismus gilt Prof. Siegfried J. Schmidt, welcher heute auch einer der bekanntesten Herausgeber von Schriften und Sammelbänden (vgl. Schmidt 1994a, S.44) der Theorie des Radikalen Konstruktivismus ist. Gerhard Johann Lischka bezeichnet Schmidt als„Radikale[n] Konstruktivist der Second Generation“ (ebd., S.44), weil dieser sich mit den „Urvätern“ des Radikalen Konstruktivismus R. Maturana, Ernst von Glasersfeld und Heinz von Foerster intensiv auseinandergesetzt hat und selbst auch ein vehementer Vertreter dieser Theorie war. Im Laufe der letzten fünfzehn Jahre vollzieht Schmidt jedoch einen Paradigmawechsel, weg vom Radikalen hin zum Soziokulturellen Konstruktivismus. Schmidt schließt sich dabei an den „Social Construktionism“ von Kenneth J. Gergen an[20]. Schmidt entwickelt darin ein Verständnis von „Kommunikation“ in dem
[…] Beschreibungen und Erklärungen durch kognitive Systeme im Rahmen und unter den Bedingungen sozialer Interaktion und Kommunikation erfolgen. M.a.W. kognitive Systeme, […] konstruieren kommunikativ soziale Wirklichkeitsmodelle[21]auf der Basis ihrer biologischen und psychischen Operationsmöglichkeiten im Rahmen ihrer Kultur. (Schmidt 1992a, S.11)
Was Schmidt unter Kultur versteht, baut direkt auf seinen Kommunikationsbegriff auf und wird später explizit geklärt. Nur soviel vorab: Für Schmidt geht „die gesellschaftliche, sinnhafte Konstruktion von Umwelt in jeden individuellen Wahrnehmungsprozess ein.“ (ebd., S.42)
Zum einen vollzieht sich diese Konstruktion kognitiv im Individuum als empirischen „Ort“ […] Zum anderen vollzieht sich die Konstruktion aber auch kommunikativ-kulturell in den Diskursen sozialer Systeme in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften. (Merten, Klaus und Schmidt, Siegfried J. und Weischenberg, Siegfried 1994, S.13)
Auf den Vorwurf hin, der Radikale Konstruktivismus sei vom Subjekt (also dem Menschen) entleert und somit „entsozialisiert“, haben mehrere Konstruktivisten versucht, sozial-konstruktivistische Theorien zu entwickeln. So zum Beispiel Hejl oder Rusch[22]. Den folgenden Kapiteln liegt allerdings einzig der Soziokulturelle Konstruktivismus von Siegfried J. Schmidt zu Grunde. Eine der zentralen Kernaussagen Schmidts widerspricht dabei sowohl dem Vorwurf des inkorporierten Reduktionismus als auch dem Vorwurf der subjektiven Willkürlichkeit.(vgl. 2.2)
[…] Wirklichkeitskonstruktionen von Aktanten sind subjektgebunden, aber nicht subjektiv im Sinne von willkürlich, intentional oder relativistisch. Und zwar deshalb, weil die Individuen bei ihren Wirklichkeitskonstruktionen im geschilderten Sinne immer schon zu spät kommen[23]: Alles, was bewußt wird, setzt vom Bewußtsein aus unerreichbare neuronale Aktivitäten voraus; alles, was gesagt wird, setzt bereits das unbewusst erworbene Beherrschen einer Sprache voraus; worüber in welcher Weise und mit welchen Effekten gesprochen wird, all das setzt gesellschaftlich geregelte und kulturell programmierte Diskurse in sozialen Systemen voraus. Insofern organisieren diese Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion sich selbst und erzeugen dadurch ihre eigenen Ordnungen der Wirklichkeit(en). (Schmidt 2000, S.47f)
Auf dieser Grundlage entwickelt Schmidt ein Konzept soziokultureller Wirklichkeitskonstruktion, das sich selbst trägt und sich in Form eines Kreislaufes von vier Instanzen, nämlich von Kognition, Kommunikation, Medien, und Kultur manifestiert.[24]
Dieser Funktionszusammenhang von Kognition, Kommunikation, Kultur und Medien bildet eine sich selbst konstituierende und sich selbst tragende und legitimierende Prozesseinheit, die eben jene temporär stabilisierten Prozesszustände bzw. Prozessresultate herausbildet, die den wahrnehmenden Aktanten als Elemente von (für die sinnvollen, da von ihnen erzeugten) Wirklichkeiten erscheinen und so auch interpretiert werden. (Schmidt 1999b, S.122ff)
Die Individuen produzieren auf der Basis ihrer soziokulturell geregelten Aktivitäten Wahrnehmungseinheiten sowie Kommunikations- und Handlungsresultate, die anhand ihrer kulturell geprägten Ordnungs- und Deutungsmuster gleichzeitig sinnvolle Komponenten ihrer Wirklichkeit(en) darstellen. Die Konstruktionen laufen meist unbewusst ab und sind von „bewussten Wirklichkeitsentwürfen zu unterscheiden, die in gesellschaftlichen Teilsystemen, wie Journalismus, Kunst oder Werbung kreativ erstellt werden.“ (ebd., S.124) Hier deutet sich bereits an, dass es gesellschaftliche Teilsysteme gibt, die durchaus bewusst Wirklichkeitsentwürfe konstruieren. Allerdings stellen sie für das Individuum immer Konstruktionsofferten zweiter Ebene dar. (vgl. die Beobachter-Theorie Luhmann und von Foersters in 2.1)
Dieser rasche Blick auf einige zentrale Aspekte […] legte den Schluss nahe, daß der Konstruktivismus sich offenbar als eine Kognitionstheorie funktional differenzierter […] Mediengesellschaften entwickelt hat. (Merten, Klaus und Schmidt, Siegfried J. und Weischenberg, Siegfried 1994, S.19)
3.1 Entwicklung des Kommunikationsbegriffes
Kommunikation wird im Alltagsverständnis als „Bedeutungsvermittlung zwischen Lebewesen“ (Burkart 1998, S.20) verstanden. Aufgrund der operationalen Geschlossenheit jedes einzelnen autopoietischen, lebenden Systems ist die Übertragung einer Botschaft von einem Sender zu einem Empfänger nicht mehr möglich. Kommunikation ist für Schmidt, im Anschluss an Luhmann, nur dann möglich, wenn die Kommunikationspartner Mitteilung, Information und Verstehen voneinander unterscheiden können (vgl. Schmidt und Feilke 1995, S.279). Im Gegensatz zu Luhmann[25]sieht Schmidt jedoch Kommunikation nicht als selbstreferentiell-geschlossenes System an, da es immer Individuen sind, die miteinander kommunizieren, also nicht Kommunikation mit sich selbst.
Im Bereich der face-to-face-Kommunikation beobachtet man, wie Argument auf Argument, Antwort auf Frage […] usw. folgen. Im Bereich massenmedial vermittelter Kommunikation stellt man fest, wie z.B. Texte sich auf Texte beziehen: Themen werden aufgegriffen, Texte zitiert, parodiert oder kommentiert, übersetzt, interpretiert oder kanonisiert. In dieser Perspektive bzw. Beschreibungsweise wird bewusst ausgeblendet, daß es - bis heute - immer Individuen sind, die Texte produzieren, die sprechen und zuhören. (Schmidt 1994c, S.73).
Im Anschluss an Maturana, bezeichnet auch Schmidt Kommunikation nicht als Austausch von Informationen, sondern als „parallele Produktion von Informationen im Bewusstsein der Kommunikationspartner“ (Schmidt 1990, S.52). Information existiert für ihn somit praktisch nicht.
Der Informationsbegriff ist nämlich als Ausdruck der kognitiven Unsicherheit des Beobachters nur im Bereich der Beschreibung gültig und repräsentiert kein tatsächlich in einem mechanistischen Phänomen im physikalischen Raum wirksames empirisches Element. (Maturana In: Dettmann 1999, S.168)
Die Bildung eines sozialen Systems beinhaltet folglich für Schmidt die dauernde strukturelle Kopplung seiner Mitglieder.
Kommunikation ist gebunden an Kommunikationsmittel (akustische, optische, usw.), die über sinnliche Rezeptoren der kommunizierenden Individuen aufgenommen werden. Über das Nervensystem gelangen die Signale schließlich ins Gehirn, woraus dann dort die Informationseinheit konstruiert wird. Das bedeutet jedes Individuum konstruiert anhand seiner bisher gemachten Erfahrungen die Informationseinheit, die ihm am wahrscheinlichsten erscheint.[26]Kein Individuum ‚A’ kann dabei jemals sagen, welche Information ein Individuum ‚B’ gerade aus den von ‚A’ mitgeteilten Signalen konstruiert hat. Selbst wenn ‚B’ sinnvoll antwortet, wird seine Antwort wiederum nach den Bedingungen, Bedürfnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten von ‚A’ konstruiert. (Schmidt 1990, S.69) Im Rahmen dieser Theorie, muss Verstehen folglich als
ein subjektgebundener Prozeß der Konstruktion von Sinn aus Anlaß der Wahrnehmung von Medienangeboten aufgefasst werden, wobei dieser Prozeß von vielfältigen Anforderungen, Bedingungen und Erwartungen bestimmt ist. (ebd., S.52)
Die oben genannten vielfältigen Anforderungen, Bedingungen und Erwartungen sind einerseits die jeweils subjektiven und eigenen Erfahrungshorizonte jedes einzelnen Individuums, andererseits aber auch soziale Regeln und Muster, denen vergesellschaftete Individuen trotz aller Subjektivität unterliegen. Verstehen ist für Schmidt also „ein Mittel zur Kontrolle subjektiver Kognitionen […], aber [auch] ein kognitiv-sozialer Mechanismus zur Selektion erwünschter Denk- und Verhaltensweisen.“ (Schmidt 1992a, S.17) Die treibende Kraft für die Kommunikation liegt in Luhmanns Prinzip der doppelten Kontingenz[27]begründet. „Kontingent heißt: Alles ist so, aber auch anders möglich“ (Berghaus 2004, S.108) Doppelte Kontingenz bedeutet, dass sowohl bei „Alter“ als auch bei „Ego“ das Prinzip der Kontingenz gilt. Bestimmte Kommunikationsmittel haben zum Beispiel im Lauf der Zeit gesellschaftlich generalisierte Bedeutungen zugewiesen bekommen und stellen somit soziale Normen und Regeln dar. (vgl. Schmidt 1990, S.69) Jedes Individuum wird irgendwann in diese bereits sinnhaft konstituierte Umwelt hineingeboren und muss diese sozial bestimmten Regeln und Normen in Interaktionen mit den anderen erlernen.[28]
Sprachliche Äußerungen oder schriftliche Texte enthalten oder besitzen daher nicht Bedeutungen; Sie erhalten erst Bedeutungen durch die kognitiven Leistungen von Individuen in konkreten sozio-kulturellen Zusammenhängen (ebd., S. 70)
Kollektives Wissen orientiert und reguliert also individuelles Handeln. Es kann sich bei den einzelnen Individuen allerdings nur dann manifestieren, wenn diese sozial handeln bzw. zu sozialem Handeln erzogen werden. (vgl. Schmidt 1993, S.239) Schmidt versteht unter Sozialem Handeln ein
[...] kommunikativ gerichtetes Handeln, das über Erwartungserwartungen reflexiv auf die Ebene sozialen bzw. kollektiven Wissens gerichtet ist und sich konventionalisierter Ausdrucksformen bedient." (ebd., S.239). „Das soziale Handeln von Individuen ist immer schon „getränkt“ von sozialen Beziehungen, Orientierungen und Einschränkungen. (Schmidt 1996, S.31)
Die kognitiven Erwartungserwartungen und Unterstellungen von bestimmten Verhaltens- bzw. Handlungsmustern bei den jeweils anderen bilden die Grundlage von sozialem Handeln und somit auch von Kommunikation. An dieser Stelle zeichnet sich bereits ab, dass bei Schmidt Kommunikation, Kognition und kulturelle Prozesse zusammen hängen.(vgl. 3.2)
Wie gezeigt wurde, bilden kognitive und kommunikative Systeme jeweils eigenständige Systeme, denen es dennoch möglich ist, miteinander zu „interagieren“. Gelungene Kommunikation gilt aufgrund des„Geschlossenheitsprinzips“für Schmidt zunächst als unwahrscheinlich (vgl. Luhmann[29]). Wie ist es trotzdem möglich, dass kognitive Systeme untereinander kommunizieren und sich überhaupt eines wiederum eigenständigen Systems, wie dem der Kommunikation, „bedienen“ können?
Damit Kommunikation ein Bewußtsein zu systemspezifischen Operationen „anreizen“ kann, müssen Medienangebote, also etwa sprachliche Texte, verwendet werden, auf die das Bewußtsein gemäß seiner Organisationsform reagieren kann. […] Sprachliche Texte koppeln Bewußtsein und Kommunikation aneinander. Was aber das Bewußtsein mit den Medienangeboten macht, ist nach den vorangegangenen Überlegungen nicht genau vorhersagbar, da Medienangebote nicht „ins Bewusstsein eindringen“, sondern lediglich Anlässe für selbstorganisierende kognitive Operationen bieten. (Schmidt 1990, S.75)
Indem also ein von einem Aktanten produziertes Medienangebot als eine mitgeteilte Information verstanden wird, auf das geantwortet wird, ,,[...] kommt Kommunikation als sozialer Prozeß der tatsächlichen Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen zustande" (ebd., S.22).
Versteht man Kommunikation nicht als Austausch von Informationen zwischen kognitiven Systemen […], sondern als systemspezifische Sinnkonstruktionen aus Anlaß der Wahrnehmung von Medienangeboten (wie Texten, Bildern, usw.), dann wird man auf den Zusammenhang zwischen Kultur, Kommunikation und Medien verwiesen. (Schmidt 1992b, S.438)
3.2 Entwicklung des Kulturbegriffs
Wie oben bereits angesprochen, ist der Kulturbegriff Schmidts eng mit seiner Kognitionstheorie[30]und seinem Kommunikationsbegriff verbunden. In seinem Buch „Kognitive Autonomie und soziale Orientierung“ (1994) präsentiert Schmidt zunächst eine Übersicht „der verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen und Konzeptionen von der Anthropologie bis zur Kulturologie“ (Schmidt 1994c, S.203). Als Ergebnis dieser Auseinandersetzung formuliert Schmidt seinen Kulturbegriff, als
einen „(historisch und sozial variablen) generativen Mechanismus […], der es Anwendern möglich macht, eine komplexe und nicht voraussagbare Menge »kultureller Aktivitäten« i.w.S. zu erzeugen, die von anderen als »zu dieser Kultur gehörig /mit dieser Kultur kompatibel« akzeptiert werden. Dieser Mechanismus kann sich über die Zeit hinweg wandeln, ohne seine Identität verlieren zu müssen. In diesem Sinne konzeptualisiere ich Kultur im Anschluß an R. Beninger als Programm. […] Dieses Programm ist […] dynamisch und lernfähig und erlaubt die Ausdifferenzierung von Sub-Programmen für spezifische Zwecke. Kultur kann […] charakterisiert werden als Ausführungsprogramm für Sozialität auf der kognitiven, kommunikativen und sozial-strukturellen Ebene. (ebd., S.242ff)
Daraus folgt, dass Kommunikationsinstrumente Teil der Kultur sind, da es ohne sie keine Verbreitung von Kommunikationsinhalten und semantischen Referenzen geben kann. Unter diesen Umständen könnte Kultur nicht hervorgebracht, nicht repräsentiert und auch nicht übertragen werden.[31]Der Erwerb des Systems einer mimisch-gestischen, phonetischen oder graphischen Symbolik in einer Gesellschaft (inklusive der Möglichkeit der Beobachtung) ist somit die Basis dafür, dass zwischen den Handlungspartnern situativ hinreichende Übereinstimmung anzunehmen ist. Denn „erst Kommunikation verwandelt die Kontingenz des möglicherweise Gemeinten in eine semantische Ordnung“ (Schmidt 1994c, S.96) und „kognitiv autonome Systeme [können] strukturell gekoppelt werden“[32](Schmidt 2000, S.31)
Während das Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft bestimmt ist durch die strukturelle Architektur der grundlegenden Dichotomien, lässt sich in allen Gesellschaften so etwas wie ein Programm zur Thematisierung, Bewertung und normativen Einschätzung dieses Modells beobachten: Und dieses Programm nenne ich Kultur. (Schmidt 1994a, S.28)
Damit ist Kultur offensichtlich mit dem Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft verbunden. „Es geht also nicht um eine Opposition Kultur vs. Gesellschaft, sondern um den »Vollzug von Gesellschaft« gemäß dem Programm Kultur im Format von kollektiven wie individuellen Sinnkonstruktionen.“ (ebd., S.436; Hvh.i.O.)
Nach Soeffner emergiert Kulturwelt aber nur dann, wenn der Mensch seine Umwelt kultiviert. (vgl. Soeffner 1988, S.4f). Um aber seine Umwelt kultivieren zu können, muss er fähig sein, diese wahrzunehmen. Da aber jede Wahrnehmung des kognitiven Systems stets selbst konstruiert ist(vgl. 2.1), erschafft sich der Mensch einen Raum, in dem seine Unterscheidungen, seine phonetisch-symbolischen Kataloge als „Codes“ etabliert sind. Über diese kann er anschließend kommunizieren. Den Raum nennt Soeffner auch „Kultur(um)welt“, also „das vom Menschen bewusst Geformte“, welches dann „dem Gesetz der natürlichen Künstlichkeit“ (ebd., S.4) unterliegt. Für Schmidt ist Kultur folglich kein Modell von, sondern ein Modell für Verhalten[33]. (Schmidt 1992b, S.427)
Um sich innerhalb der Kultur(um)welt zu orientieren und dem Gegenüber Handlungsweisen verständlich zu machen, dient den Individuen die Sprache. (vgl. Feilke 1994, S.18). Die sprachliche Reaktion gibt dem Sender somit grundsätzlich Aufschluss über den Erfolg der kommunikativ eingesetzten und symbolisierten Unterscheidungen. Aus dem jeweiligen Feedback leiten die Sprechhandelnden Kommunikator und Kommunikant den Erfolg der Kommunikation ab.
Die Unterscheidungen, mit deren Hilfe wir als Sprecher einer Sprachgemeinschaft operieren, stammen aus dem Sprechhandeln und sind in ihrer Leistung auf Sprechen als sozial bestimmte Tätigkeit bezogen (Schmidt 1994c, S. 94). Spracherwerb läßt sich bestimmen als Erwerb eines Instrumentariums zur Kopplung von Kognition und Kommunikation mit Hilfe artikulierter Zeichenkomplexe (=Medienangebote), ohne daß damit die operative Autonomie kognitiver, wie kommunikativer Systeme aufgehoben würde. (Schmidt 2000, S.29).
Das die Symbolisierung „lesende“ kognitive System ist seinerseits darauf angewiesen, einen Zugang zu einem wiederum angemessenen Handeln zu finden, aus welchem sich sinnhaftes Handeln ergibt. Da aber die gesamte Umwelt symbolisiert und folglich codiert ist, heißt dies, dass nicht nur das gesprochene Wort und die mit ihm transportierten Unterscheidungen, sondern auch Verhalten, Einstellungen sowie Werte und Normen über Kommunikationsinstrumente erlernbar sind. Damit aber erhält der Begriff der Kultur seinen prägenden Charakter, Mit ihm ist nämlich „sowohl eine spezifische Zugangsweise und Aktivität des Menschen auf sich selbst, seine Mitmenschen und seine Umwelt hin (einschließlich der von ihm geschaffenen) als auch die Produkte dieser Aktivität“ (Soeffner 1988, S.3) verbunden.
Das Erlernen des korrekten Gebrauchs der Symbole und Zeichen erfolgt über das zu interpretierende System Gesellschaft. „Die fundamentale Erfahrung des Anderen ist die von Angesicht zu Angesicht. Die Vis-à-vis-Situation ist der Prototyp aller gesellschaftlichen Interaktion“. (Berger und Luckmann 1980, S.31) Die Kulturneulinge[34]„erlesen“ sich das gesellschaftliche Kulturprogramm aus ihrem alltäglichen Umgang mit anderen kognitiven Systemen, also unter Anleitung der Gesellschaft. Jedes Mitglied der Gesellschaft ist damit zugleich Teil und gesellschaftliche Umwelt der Gesellschaft. Jedes Individuum ist auf diese Weise als Gesellschaftszugehöriger sowohl innerhalb als auch außerhalb des Systems. Damit sind Individuen nicht nur Kommunikationsinstrumente, sondern auch Kommunikationsmedien: Sie codieren Texturen und Symbole und übermitteln diese verbal oder mimisch mit ihrem Körper. Für Neulinge sind diese Individuen Teil ihrer kommunikativen Umwelt. Kultur mutiert für eine Gesellschaft, welche ein „intersubjektiv geteiltes soziokulturelles Wissen“ (Schmidt 1994d, S.616) verwaltet, zu einem „Modell von Kultur als Ordnung symbolischer Ordnungen“ (Schmidt 1994c, S.203). Schmidt fasst dies folgendermaßen zusammen:
»Kultur« nenne ich das sozial verbindliche und sozialisatorisch reproduzierte Programm zum Abgleich (sozusagen zum Tuning) individuell erzeugter Wirklichkeitskonstrukte, wobei in diesem Tuning die Kriterien der Wirklichkeitsgeltung entwickelt, erprobt und legitimiert werden. Insofern verkörpert Kultur das grundlegende Prinzip derSelbstorganisationallen Lebens, Denkens und Kommunizierens. (Schmidt 2000, S.41; Hvh.i.O.)
Laut Schmidt hat das Gesamtprogramm „Kultur“ somit die wichtige Funktion, die Komplexität zu reduzieren, mit der jede Gesellschaft ständig umgeben und konfrontiert ist.[35]Darauf wird in der Wirkungsanalyse von Polit-Talks vertieft eingegangen(vgl. Kapitel 5);insbesondere in Hinblick auf die Themenwahl.(vgl. 5.3)„Damit stiftet Kultur individuelle wie soziale Identität und kompensiert die doppelte Kontingenz, die Kommunikation bestimmt“ (Schmidt 1992b, S.435) und macht Kommunikation dadurch zwischen kognitiven Systemen wahrscheinlicher.
Da sich Gesellschaften in einem ständigen Wandlunsprozess befinden, in dessen Rahmen sie sich immer weiter ausdifferenzieren, also „neu emergierende Sozialsysteme“ (ebd., S.435) ausbilden, muss auch das Programm „Kultur“ Subprogramme ausbilden. „Diese Subprogramme müssen die Basiskonstanten des Gesamtprogramms Kultur beibehalten, soll die Identität einer Gesellschaft auch nach funktionaler Differenzierung gewahrt bleiben.“ (ebd., S.435) Allerdings können diese Subprogramme in einer ausdifferenzierten Gesellschaft, wie beispielsweise der westlichen Industriegesellschaft, hochgradig spezifiziert sein. Sowohl die Individuen, die Teil dieser Gesellschaft sind als auch Beobachter können dabei unmöglich alle kulturellen Manifestationen überschauen und den einzelnen Subprogrammen zuordnen. Das Gesamtprogramm Kultur ist folglich nicht beobachtbar. Es materialisiert sich „nur in seinen Anwendungen durch Aktanten[36], aber es erschöpft sich nicht darin.“ (ebd., S.437) Sowohl dem Beobachter als auch dem Aktanten erscheint die Kultur, laut Schmidt, immateriell oder geistig und somit als „jenseits der Individuen“ (ebd., S.437) existierend. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass kulturelle Manifestationen und damit auch das Gesamtprogramm Kultur die Lebenszeit des einzelnen Individuums überdauert. Anders gesagt: Kultur kann in Gesellschaften nur über viele Generationen hinweg entstehen.
Elemente von Kultur werden nach dem Prinzip der Viabilität benutzt, das heißt je nachdem wie nützlich diese der einen oder anderen Subkultur aus der Perspektive der Individuen erscheinen. So wirken Subkulturen unter Umständen scheinbar inkohärent oder sogar kontradiktorisch, statt kompatibel zum Gesamtprogramm Kultur. Subprogramme sind jedoch immer kompatibel. Das hängt damit zusammen, dass Gesellschaften
aus Gründen der Identitätserhaltung nur solche Programmanwendungen tolerieren […], die aus der Sicht von Teilnehmern mit den Eckwerten […] des Wirklichkeitsmodells kompatibel sind -, wobei die Einschätzung der Kompatibilität - je nach Programmtyp - wiederum hohe Grade an Kontroversheit zulassen kann. (ebd., S.437)
Man kann also verkürzt sagen, dass „die Kultur einer funktional differenzierten Gesellschaft als Ganzes zunehmend unbeobachtbar wird.“ (Schmidt 1994a, S.33) Gleichzeitig ist aber „jedes einzelne Detail innerhalb der Spezialkulturen in einem bisher unbekannten Maße beobachtbar geworden“ (ebd., S.33).(vgl. 4.2.1)
Schmidts Auffassung von „kulturellem Verhalten“ übernimmt er von Maturana und Varela. Diese verstehen darunter „jene Verhaltenskonfigurationen, die im Rahmen der kommunikativen Dynamik eines sozialen Milieus ontogenetisch erworben werden und über Generationen stabil bleiben.“(ebd., S.437)
Es handelt sich beim Kulturprogramm Schmidts im weiteren Sinne um eine Art hochgradig empirische Praxisanleitung für die einer Gesellschaft angehörenden Individuen. Und da diese Betriebsanleitung mit in Kommunikationsinstrumenten sichtbaren Codes operiert, repräsentiert sie primär nichts anderes, als kommunikationsfähig gemachte Bedeutungen von Dingen, Personen und Geschehensabläufen. Auf diese Weise stellt nicht ein Objekt an sich Kultur dar, sondern das, was seiner codierten Bedeutung innewohnt. Damit aber lässt Kommunikation selbst erst Kultur entstehen: ergo ist Kommunikation Kultur und Kultur ist Kommunikation.
Das Programm für diese sozial verbindliche kommunikative Gesamtinterpretation des Wirklichkeitsmodells einer Gesellschaft nenne ichKultur.Daraus folgt: Es gibt keine Gesellschaft ohne Kultur und keine Kultur ohne Gesellschaft, und beide werden getragen von kognitiv und kommunikativ aktiven Individuen. (Schmidt 2000, S.35, Hvh.i.O.)
Schmidt konzeptualisiert Kultur demnach als „kommunikative Thematisierung des Wirklichkeitsmodells einer Gesellschaft.“ (Schmidt 1992b, S.441)
Kultur programmiert Kognition und Kommunikation mit Hilfe kollektiv geteilten Wissens und ermöglicht damit eine hinreichend verlässliche Kopplung von Kognition und Kommunikation über Medienangebote. Kultur materialisiert sich in der Anwendung durch Aktanten, und diese Anwendung muss kontinuierlich kommunikativ thematisiert werden; denn sie wird nur dann gesellschaftlich relevant, wenn sie auch eine relevante Öffentlichkeit erreicht und sich dort genügend lange etablieren kann. (Schmidt 1994a, S.32)
3.3 Entwicklung des Medienbegriffs
Der Begriff „Medien“ bündelt für Schmidt eine ganze Reihe von Faktoren:
- Konventionalisierte Kommunikationsmittel, d.h. Zeichen (semiotische Kommunikationsmittel) verwendbarer Materialien, einschließlich der Konventionen ihres Gebrauchs (z.B. Schrift samt Grammatik und Semantik)
- Medien als Materialien der Kommunikation und als technische Transportmittel (Fernseher, Buch, Zeitung, Schallplatte, Satellit, usw.)
- Medien als soziale Organisationen, die Produkte herstellen und verteilen, als Institutionen, für die bestimmte politische, ökonomische, rechtliche und andere Bedingungen gelten (z.B. Rundfunkanstalten oder Verlagshäuser)
(vgl. Schmidt 1990 S.77ff, Schmidt 1994c, S.83, Schmidt 1996, S.3, sowie Schmidt 1999b S.126)
Der Medienbegriff Schmidts beinhaltet natürlich auch die Medienangebote selbst.
- Medien in Form ihrer Angebote (z.B. literarische Texte, Rundfunk- und Fernsehsendungen, usw.) als Auslöser kommunikativer Prozesse (Schmidt 1996, S.3)
Letztere definiert Schmidt als „alle mit Hilfe konventionalisierter Materialien (Kommunikationsmittel) produzierten Kommunikationsanlässe.“ (Schmidt 1992b, S.439)
Diese allgemeine Definition von „Medien“ reichert Schmidt nun durch eine Fülle bekannter Spezifikationen an:
So kann zwischen Kommunikations-, Verbreitungs- und Speichermedien unterschieden werden. Medien können eingeteilt werden in verbale und nonverbale, körpergebundene und artifizielle, heiße und kalte (McLuhan), in analoge, digitale und immersive Medien (wie das Internet). Man kann zwischen Publikumsmedien und Massenmedien unterscheiden und so fort. (Schmidt 1999b, S.127)
Die massenhafte Entwicklung und Verwendung von Medienangeboten geschieht heute in eigenständigen, weithin industriell geprägten Organisationsformen. Der Begriff der „Massenmedien“ ist geboren. Darunter versteht Schmidt folglich „materiale Kommunikationsmittel, die unter Einsatz technischer Verfahren die massenhafte Herstellung und Verbreitung von Medienangeboten erlauben.“ (Schmidt 1994c, S.264)
Die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften ist laut Schmidt eng synchronisiert mit der Entwicklung von Massenmedien. „Medien entfalten Kommunikation, Kommunikation entfaltet Medien.“ (Schmidt 1992b, S.439f) Schmidt vertritt demnach eine andere Position als beispielsweise Niklas Luhmann inRealität der Massenmedien (1995). Für Letzteren bilden Massenmedien ein operational geschlossenes, autopoietisches, selbstreferentielles „Soziales System“, das von Außen nicht beeinflusst werden kann. Soziale Systeme existieren für Luhmann nur in Form von Kommunikation; und nur Kommunikation ist in der Lage zu kommunizieren.[37](vgl. 3.1)
Schmidt verwendet den Begriff „Sozialsystem“ in Verbindung mit Mediensystemen[38], versteht darunter jedoch keine autopoietischen Systeme im Sinne Luhmanns.[39](Medien-)Sozialsysteme sind für ihn „Medienteilsysteme“ (ebd., S.440),
[...]
[1]Die Auswahl vonSabine ChristiansenundHART aber fairwird unter 6.1.2 begründet.
[2]„Der neue Konstruktivismus bildet den Gegensatz zum älteren, geschichtlich schon bekannten Konstruktivismus in der europäischen Philosophie, sowie den Konstruktivismus der modernen Kunst.“ (Jensen 1999, S23) Zu einer ausführlicheren geschichtlichen Herleitung der Konstruktivismustheorie vgl. Jensen 1999, Teil 1 Erkenntnis, S.19 -79.
[3]von Glasersfeld entwickelt auf der Basis der Kybernetik ein Modell des Lernens als selbst gesteuerter Prozess. Selbststeuerung sieht er dabei als Prinzip der negativen Rückkoppelung. Erfolgreiche Operationsweisen werden gespeichert und können von Organismen wieder angewandt werden. (vgl. Diesbergen 1999, S. 35ff)
[4]Einen guten Überblick zur historischen Genese der Theorie der Autopoiese findet man in Maturana 1990, 1993 und 1996
[5]Die Biologie erwies sich als Leitwissenschaft, die […] lebende Systeme als holistische Ganzheit betrachtet“, somit die Auffassung vertritt, daß das wahrgenommene Ganze mehr als die Summe seiner beobachtbaren Teile sei. (vgl. Jensen 1999, S.365ff) Als Hauptwerke gelten hierbeiMaturana, H.R. (1970): Neurophysiology of Cognition, In: P. Garvin (Hg.)Cognition: A multiple view. Spartan Books, New York/Washington, S.3-23,Maturana, H.R. und F. Varela (1975): Autopoietic Systems, In: Biological Computer Laboratory , Report No. 9.4.University of Illinois, sowieMaturana, H.R. (1982): Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, Braunschweig-Wiesbaden: Vieweg (Wissenschaftstheorie. Wissenschaft und Philosophie Bd.19 autorisierte deutsche Fassung von W.K. Köck).Maturana spricht im Zusammenhang mit lebenden, autopoietischen Systemen auch von zusammengesetzten Einheiten, im Gegensatz zu einfachen Einheiten. (Vgl. Maturana 1987 S. 91ff) Allerdings können zusammengesetzte Einheiten, einem Beobachter trotzdem nur als einfache Einheiten erscheinen, da dieser die internen Prozesse als solche nicht wahrnehmen kann.
[6]Maturana verwendet hier den Begriff Medium, der sich wiederum aufteilt in Umgebung und Medium. Der Beobachter sieht maximal die Umgebung des beobachteten Systems und niemals dessen Medium. Die Umgebung muss allerdings nicht notwendigerweise Teil des Mediums sein. Vgl.: Maturana (1987) S.94ff, S. 100ff
[7]Maturana spricht an dieser Stelle von Erhaltung der Klassenidentität. Vgl. Maturana 1987 S.95)
[8]An dieser Stelle wird oftmals der Begriff der „Ontogenese“ verwendet. Darunter versteht Maturana die individuelle Entwicklungsgeschichte eines lebenden, autopoietischen Systems. Werden zwei Systeme (bzw. Organismen) füreinander zur gegenseitigen Quelle von Interaktionen, dann kommt es zu einer strukturellen Kopplung.
[9]Roth widerlegt in seinem AufsatzAutopoiese und Kognition(1986, In. Schmidt 1987, S. 256 -286) die Behauptung Maturanas, das menschliche Gehirn selbst sei ein autopoietisches System. Er legt ausführlich dar, dass das Gehirn funktionell sehr variabel arbeitet und dieser Funktionsbreite auch bedarf. Während autopoietische Systeme nur bedingt autonom gegenüber ihrer Umwelt wären, seien kognitive Systeme wie das Gehirn - und nur sie! - tatsächlich operational geschlossen. Maturanas Gleichsetzung von Leben und Kognition sei deswegen nicht haltbar.
[10]Jedem, der sich über die bei der Wahrnehmung ablaufenden neurobiologischen Prozesse umfassender informieren möchte sei an dieser Stelle Roth, G. (1985): Erkenntnis und Realität: Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit. In: Schmidt, Siegfried J. (1987): S. 229-255. Roth, G. (1986): Selbstorganisation - Selbsterhaltung - Selbstreferentialität: Prinzipien der Organisation der Lebewesen und ihre Folgen für die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt. In: Dress, A. (Hg.): Selbstorganisation. Die Entstehung von Ordnung in Natur und Gesellschaft. Piper. München, S. 149-180. Foerster, Heinz von (1994): Das Konstruieren einer Wirklichkeit. In: Watzlawick, Paul (1994) S. 39-60. sowie Piaget, J. (1950): Konstruktion der Wirklichkeit beim Kinde. Klett (dt. Übersetzung von J.U. Sandberger). Stuttgart
[11]Der Philosophiehistoriker Eduard Zeller spricht 1832 erstmals von „Erkenntnistheorie“, vergleiche Kropp Gerhard (1950): Erkenntnistheorie I. Allgemeine Grundlegung. Berlin: DeGruyter, Sammlung Göschen Bd. 807 IN: Jensen 1999, S.65
[12]Wie Glasersfeld anschließend noch betont, wird sich spätestens hier der metaphysische Realismus vom Konstruktivismus abwenden, da für ihn die Erkenntnislehre nicht durch biologische oder psychologische Betrachtungen verunreinigt werden darf. (vgl. Glasersfeld 1994, S.30)
[13]Dieses Phänomen bezeichnet Glasersfeld auch als »Induktion« (ebenda, S.31)
[14]Das stellt im Wesentlichen das Grundprinzip dar, auf dem Piaget seine Theorie Assimilation und Akkommodation im Rahmen der Aktionsschemata aufgebaut hat. (ebenda, S.34)
[15]Maturana verwendet übrigens hier das Konzept derValidierung, nach dem wissenschaftliche Erklärungen nicht durch das Kriterium der Wahrheit charakterisiert sind, sondern durch wissenschaftsinterne Verfahren für gültig, bzw. valide erklärt werden, oder nicht. (vgl. Weber 2003, S.186)
[16]Mit Solipsismus ist der erkenntnistheoretische Standpunkt gemeint, „der nur das eigene Ich mit seinen Bewusstseinsinhalten als das einzig Wirkliche gelten lässt und alle anderen Ichs mit der ganzen Außenwelt nur als seine Vorstellung annimmt.“ (Quelle: Der Große Duden, Bd. 5, Mannheim 1971) Mit anderen Worten, die Welt existiert lediglich in der Vorstellung einesIchsund diesesIch, welches diese Vorstellung ausbildet, stellt somit die einzige Wirklichkeit dar.
[17]Schmidt gibt hier vor allem die kritische Argumente von A. Ziemke und K. Stöber wider, welche im Anschluss an Hegel und Marx ihre Kritik gegen den Radikalen Konstruktivismus formulieren. Eine ähnliche Kritik formuliert auch P. Janich bei seinem Vergleich des Radikalen Konstruktivismus mit dem Konstruktivismus der Erlanger Schule. (vgl. vor allem Janich 1992)
[18]Wie ist es möglich eine Theorie mit universalistischem Anspruch, als solche durchsetzen zu wollen und fürwahrodernaturwissenschaftlich plausibilisiertzu erklären, wenn die Kernaussage eben dieser Theorie doch ist, dass der Mensch zu keiner objektiv wahren Erkenntnis kommen kann, sondern diese im individuellen Wahrnehmungsprozess selbst konstruiert. M.a.W., wenn es stimmt, dass Menschen als autopoietische Systeme die Wirklichkeit an sich überhaupt nicht erkennen können, dann ist auch die radikal konstruktivistische Kognitionstheorie empirisch leer und Wissenschaft, sowie philosophische Diskussionen an sich generell irrelevant. (vgl. Schmidt 1987, S.39)
[19]Gemeint ist damit eben genau der Hauptkritikpunkt: Der Radikale Konstruktivismus sei Reduktionistisch und zu weit vom Menschen entfernt. Der Begriff „naturalistisch“ rührt daher, dass eine neuere Einteilung den Konstruktivismus in naturalistisch (Radikal im Sinne der Kognitionstheorie) und kulturalistisch (Soziokulturell im Sinne der Medien- und Kulturtheorie) unterscheidet. (vgl. Einleitung und Weber 2002, S.23)
[20]Damit vertritt Schmidt darin die gegenteilige Meinung zur konstruktivistischen Unterscheidungslogik von Spencer Brown und Niklas Luhmann, welche behaupten, dass menschliche Beobachter ihre Operationen in einem «unmarked space» vollziehen. Für Schmidt ist klar, dass menschliche Beobachter „‹immer schon› in einem kulturell und sozialstrukturell sehr nachhaltig ‹markierten space› operieren. (Schmidt 1994c, S.47)
[21]Da der Begriff Konstruktion in der Umgangssprache für absichts- und planvolles Herstellen verwendet wird, weicht Schmidt lieber auf den Begriff „Emergenz“ aus: „In einer modernen Version spricht man von Emergenz, wenn durch mikroskopische Wechselwirkung auf einer makroskopischen Ebene eine neue Qualität entsteht, die […] allein in der Wechselwirkung der Komponenten besteht.“ (Schmidt 1994a, Anm. 7, S.40)
[22]Als Einführung zu den jeweiligen Theorien sei hier auf Hejl (1987): Konstruktion der sozialen Konstruktion und Rusch (1987): Autopoiesis, Literatur, Wissenschaft, beides in: Schmidt (1987), verwiesen.
[23]An dieser Stelle rechtfertigt Schmidt auch die Verwendung des Begriffes Emergenz anstelle Konstruktion damit „dass es zwischen dem Ablaufen der neuronalen Operation und dem Bewusstwerden dieser Operationen in der psychischen Dimension einen Zeitunterschied (etwa 3 Sekunden) gibt. […] Hinter diesen Prozess kommen wir nie zurück, da für alle bewussten Prozesse ein neuronales Substrat postuliert werden muss, hingegen nur ein Bruchteil der neuronalen Prozesse auch bewusst wird.“ (Schmidt 1994a, S.18)
[24]„An die Stelle einer empirischen Plausibilisierung konstruktivistischen Denkens, die kombinatorisch verfährt und sich an ausgewählten Forschungsresultaten fachwissenschaftlicher Einzeldisziplinen orientiert, tritt eine dezidiert philosophisch argumentierende Form diskursiver Selbstbegründung. Deren Ziel besteht darin zu explizieren, was wir in allem Denken, Reden und Handeln immer schon voraussetzen: nämlich Sinn“ Sandbothe 2003, Vorwort in Schmidt 2003, S.9)
[25]Luhmann stellt der weit verbreiteten Annahme, Kommunikation werde von kommunizierenden Individuen betrieben, seine Behauptung entgegen:,,[...] Menschen können nicht kommunizieren, nicht einmal ihre Gehirne können kommunizieren, nicht einmal das Bewußtsein kann kommunizieren. Nur die Kommunikation kann kommunizieren." (Luhmann 1995c, S.37)
[26]Die Informationseinheit, nennt Schmidt Kommunikat. Am Kommunikat müssen drei Dimensionen unterschieden werden: 1. die erzeugte Information 2. Assoziationen, Imaginationen und Gefühle 3. die ständig „mitlaufende“ Einschätzung der lebenspraktischen Relevanz der Beschäftigung mit einem Text (vgl. Schmidt 1990, S.70)
[27]Unter dem Begriff Doppelte Kontingenz versteht Luhmann die „konstitutive und auf Dauer gestellte wechselseitige Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit der Beziehungen zwischen Sinnsystemen“ (Krause 1996, S.90), respektive zwischen Alter und Ego. M. a. W., was Alter tut, bzw. was er dann demzufolge an unendlich vielen weiteren möglichen Operationen im Augenblick des Operierens auslässt, beeinflusst Ego in seiner Auswahl der Folgeoperation. Dabei ist entscheidend, dass nicht nur die tatsächlich von Alter gemachte Operation Ego die Entscheidungsfindung beeinflusst, sondern gerade die von Alter ausgelassenen Möglichkeiten, die auch noch hätten eintreten können, sind konstitutiv.
[28]Laut Schmidt ist es kein Zufall, dass menschliche Sprache einem „extrem langen Lernprozess“ (Schmidt 1994a, S.21) erworben wird. Das Kind lernt nicht „Lexikon und Grammatik, es lernt Lebenszusammenhang zu kommunizieren“ (ebd., S.21ff). Durch den in Beobachtungen stattfindenden Rückkopplungsmechanismus von Wahrnehmung, Sensomotorik, Gedächtnis und Kognition, entsteht deshalb im Laufe der sprachlichen Sozialisation die Gewissheit, dass die Elemente der Sprache mit festen Bedeutungen verbunden sind.
[29]Das Bewusstseinssystem ist somit in der Lage, Kommunikation zu irritieren, aber ein Bewusstseinsprozess, also beispielsweise ein Gedanke, findet niemals direkten Zugang in das Kommunikationssystem. Beide Systeme sind strukturell gekoppelt. Luhmann verschärft dieses Problem sogar noch, indem „er Kommunikation als ein eigenständiges System konzeptualisiert und es als autopoietisches, geschlossenes und autonomes System charakterisiert.“ (Schmidt 1994c, S.50)
[30]Die Kognitionstheorie, die Schmidt verwendet ist weitestgehend aus der Theorie des Radikalen Konstruktivismus übernommen und wird von ihm lediglich um die soziokulturelle Komponente erweitert. „Wahrnehmen“ ist für Schmidt, nicht nur eine Aktion des wahrnehmenden Individuums allein, sondern - und genau das macht seinen Konstruktivismus auch soziokulturell - es geschieht immer auch „in Handlungszusammenhängen […], die zugleich als Interpretationsspielraum dienen, weil sie mit Erfahrung, Wissen, Gedächtnis und Gefühl verbunden sind.“ (Schmidt 1994c, S.42)
[31]An dieser Stelle sei schon mal darauf hingewiesen, dass der Transport der angesprochenen Kommunikationsinstrumente in aller Regel über Medien läuft. In den Kommunikationsinstrumenten wiederum lagern die Kommunikationsinhalte, mittels derer sich kognitive Systeme informieren und möglicherweise auch kommunizieren können. Dazu später mehr.
[32]Mit dieser sehr vereinfachten Aussage ist freilich dem Kopplungsproblem zweier operativ geschlossener Systeme nicht genüge getan. Schmidt widmet diesem Problem ein eigenes Kapitel (Schmidt 1994c, S.89ff) und verweist des Weiteren auf das Konzept des Common sense als soziokulturelles Instrument struktureller Kopplung. (Schmidt 1994c, S.94ff, außerdem Feilke 1994): Common sense bezeichnet das kognitive und moralische Sediment unserer alltäglichen Erfahrungsprozesse als ein quasi-natürliches, institutionalisiertes Wissen. (vgl. 4.1 oder Feilke 1994, S.362)
[33]Was Schmidt mitVerhaltenmeint, wird später mit dem Begriffkulturelles Verhaltennoch genauer erläutert.
[34]Damit sind Individuen gemeint, die in eine bereits ausdifferenzierte medienkulturelle Gesellschaft hineingeboren werden oder ihr gerade erst beitreten.
[35]Für menschliche Handlungen und Kommunikationen gibt es in jeder Zeiteinheit prinzipiell unzählig viele Formen und Ausprägungen der Manifestation. Kultur grenzt diese Auswahl an Möglichkeiten ein.
[36]Damit sind eben kulturelle Aktivitäten gemeint, wie beispielsweise Kunstobjekte oder Riten.
[37]Schmidt kritisiert Luhmanns Zweistufenmodell (basale Selbstreferenz der Kommunikation und soziale Autopoiese) u.a. in diesem Punkt: „Da sich Luhmann für (eine bestimmte Leseart von) Maturanas Autopoiesebegriff entscheidet, ihn jedoch aufereignishafteSysteme bezieht, […] müssen eben alle organischen und psychischen Systeme (also Menschen) aus dem Modell verdrängt werden, bis nur nocheineDimension übrig bleibt: Kommunikation.“ (Schmidt 1996, S.34; Hvh.i.O.)
[38]Schmidt verwendet im Gegensatz zu Luhmann einen allgemeineren Systembegriff, der Systeme „als Einheit, die mehrere voneinander differierende Einheiten mit mindestens einem identischen Bezugspunkt umfasst. Auf diesen Grundlagen lassen sich Gesellschaften als „nichtlineare, vernetzte System-Komplexe“ modellieren […], deren Kausalstrukturen u.a. von den Entscheidungen zielorientierter agierender partieller Subsysteme (handelnder Menschen) abhängen.“ (Schmidt 1996, S.30)
[39]Zu einer detaillierteren Darlegung der kritischen Auseinandersetzung Schmidts mit Luhmann sei an Schmidt 1996 S.26ff verwiesen. Schmidt verwendet grundlegend den Begriff der „Autopoiese“ von Maturana und Varela.
- Arbeit zitieren
- Oliver Schill (Autor:in), 2006, Konstruktion von politischer Öffentlichkeit in TV Talkshows, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84646
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