Eine Darstellung der technischen, formalen und inhaltlichen Veränderungen des Kinobetriebs durch die Digitalisierung des Mediums und der Projektionsmechanismen.
Digitialisierung Mutationsära oder Scheinrevolution?
Der Film ist älter geworden als die meisten Filmemacher, doch sein Ende, so ist in Bezug auf die fortschreitende Digitalisierung immer wieder zu hören, gilt als vorprogrammiert. Welche Veränderungen das Medium Film durch seine Digitalisierung erfahren wird oder bereits erfahren hat und welche Konsequenzen aus diesem allmählichen Entwicklungsprozess, den Alexander Horwath1 als Mutationära2 bezeichnet, für Filmmuseum und Filmwissenschaft resultieren, soll in diesem Essay gezeigt und diskutiert werden.
So sei zunächst danach gefragt, inwieweit es sinnvoll ist, den fortschreitenden Digitalisierungsprozess als Mutationsära zu bezeichnen. Welche Veränderungen erfährt die Filmkultur durch ihre Digitalisierung, worin äußert sich die von Horwath erkannte Mutation?
In seiner Darstellung der Geschichte und Technologie des bewegten Bildes3 zeigt Peter C. Slansky in der Entwicklung vom Kino über das Fernsehen und dessen Digitalisierung bis hin zu computergestützten Formaten wie MPEG-Dateien sowie der digitalen Postproduktion analoger Filmaufnahmen, dass die Tendenz der Digitalisierung audiovisueller Medien keine neue ist. Auch Horwath betont, dass die Mutation schon seit einiger Zeit2 im Gange sei, der allgemeine Trend der Digitalisierung kein neues Phänomen. Der immer wieder auftauchende Begriff der digitalen Revolution im Sinne eines radikalen Umsturzes oder einer schlagartigen Erneuerung, wie etwa mit der Einführung des Tonfilms in den späten 20er Jahren, erweist sich demnach als sachlich nicht korrekt. So betont auch John Belton den langsamen Prozessualcharakter der Digitalisierung4 und bestätigt Horwaths Begriff einer Mutationsära .
Dass die Distanzierung vom Medium Film seit der Einführung des Videos kein Phänomen des 21. Jahrhunderts ist, zeigt etwa der seit den 80er Jahren kontinuierliche Stellenabbau im Hause Kodak5. Den Ursprung jener Mutationsära der Digitalisierung meint John Belton im Bereich der digitalen Postproduktion von Special Effects verorten zu können4. Als Vorreiter einer solchen nicht-linearen, digitalen Montage und Befürworter der Digitalisierung des Films hebt Kay Hoffmann insbesondere den Star-Wars-Regisseur George Lucas und Francis Ford Coppola hervor, die im Bereich des Digitalen einerseits die Technologie zur Verwirklichung ihrer kreativen Fiktionen nutzen und andererseits in den wegfallenden Material- und Entwicklungskosten ökonomische Vorteile, sowie eine Verbesserung des Drehablaufs dank digitaler Ausspielung sehen6. Die kreative Palette der Filmemacher hat sich fortlaufend erweitert7, so stellt Star-Wars-Regisseur George Lucas in Bezug auf den digitalen Schnitt fest. Und in der Tat konnte sich die Digitalmontage bis heute weitestgehend durchsetzen: Alexander Horwath betont, dass bei Pixar zu 100% - aber auch bei Live-Action-Filmen bis zu 70 Prozent dessen, woraus der Film besteht, digital entstanden ist.8 Die Mehrzahl der internationalen Kinoproduktionen wird digital geschnitten, um anschließend wieder gefazt zu werden, wie man den Transfer von Videomaterial auf Film bezeichnet.
Den nächsten wichtigen Schritt der Digitalisierungsära sieht Belton in der Einführung des digitalen Tons, wobei er die Verbreitung jener Technologie für noch nicht abgeschlossen9 erklärt und die mit einem digitalen Soundsystem ausgestatteten Filmtheater auf etwa 50% schätzt. Dieser Prozentsatz dürfte in den letzten Jahren weiter angestiegen sein. Dennoch setzen die Verleiher momentan noch auf Multistandard-Kopien, die sowohl in modernen Kinos mit digitalem Soundsystem als auch in Sälen mit klassischer Dolby-Stereo-Ausstattung aufgeführt werden können10. Auch in dieser Entwicklung lässt sich eine eher allmähliche Mutation und kein radikaler Bruch mit bisherigen Aufführungsmethoden erkennen. Zwar mag die Technologie als solche revolutionär sein, doch hat sie ihre Sprengkraft auch im Bereich des digitalen Tons noch nicht vollends entwickelt. Die ökonomische Dimension war es, die ausschlaggebend für den Sieg des digitalen Tons über die sechs-spurige magnetische Dolby- Tonspur im 70mm-Vorführformat w ar, die zunehmende Qualitätsverbesserung der neuen Technologie wird den digitalen Ton schließlich auch über das bisherige 35mm-Dolby-SVA System triumphieren lassen. In Bezug auf die fortschreitende Innovationswelle der Tonausstattung betont Belton, dass sie insbesondere vom Interesse der Industrie am Heimkino sowie an Soft- und Hardware für die häusliche Unterhaltung vorangetrieben8 werde, die sich mithilfe im Kino eingeführter Standards ein Markenzeichen zu setzen versucht, um die Lukrativität der Heimelektroindustrie voll ausschöpfen zu können. Diese bewusste Veränderung der Wahrnehmungsgewohnheiten und des Rezeptionsverhaltens der Konsumenten führt auch Alexander Horwath neben dem ökonomischen Faktor als wesentlichen Katalysator der digitalen Mutation an und mutmaßt in Bezug auf das digital projizierte Bild, dass es schon jetzt ( ) als richtiger erlebt wird, weil es den sonstigen visuellen Wahrnehmungsgewohnheit mehr entspricht. Der normale Benutzer entscheidet, was sich durchsetzt.11
Mit dieser Feststellung verweist Horwath auf einen bisher noch nicht angesprochenen Bereich der Digitalisierung, die jüngste digitale Innovation: digitale Produktion und ihre Projektion. In der Umstellung von Produktion und Projektion auf digitale Standards liegt nun in der Tat die von so vielen als Revolution gefürchtete Veränderung: Der endgültige Verzicht auf den herkömmlichen 35mm-Filmstreifen12, der Verlust seiner Materialität, Geschichte und Identität.
Die ökonomischen Vorzüge digitaler Produktion und Projektion sind nicht zu leugnen: So verweist Belton in Bezug auf die mit nicht-digitalen Filmkameras entstanden Produktionen auf die hohen Negativkosten und beziffert sie für teure Blockbusterstreifen wie Titanic oder Star Wars mit bis zu 55 Millionen US-Dollar13. Dank der verhältnismäßig niedrigen Kosten digitaler Aufnahmetechnologien von miniDV über DVcam bis zu HDV lässt sich insbesondere im Bereich des Independent-Kinos ein Zuwachs hochwertiger aber preiswerter Produktionen feststellen14.
Kay Hoffmann hebt auch die ökonomischen Vorteile der digitalen Projektionstechnologie hervor und betont, dass zwar die Anschaffung eines digitalen Projekters augenblicklich noch mit einem erheblichen Kostenaufwand verbunden sei15, doch die wegfallenden Kopierungs- und Transportkosten sich zumindest positiv auf die Kalkulation der Verleiher ausschlagen würden16.
Ein weiterer bereits in Bezug auf die Digitalisierung des Tons angesprochener Aspekt ist die mit der Digitalisierung des Films einhergehende Erschließung neuer Märkte17. So ist heute die Weitervermarktung eines Films auf dem Heimunterhaltungsmarkt durch DVD, Video, und Fernsehsender seine größte Einnahmequelle18.
Trotz dieser offensichtlichen wirtschaftlichen Vorteile einer flächendeckenden Digitalisierung, sieht Alexander Horwath gerade in der Unklarheit der Finanzierung einer ganzheitlichen Umstellung auf digitale Produktions- und Projektionsverfahren eine mögliche Behinderung des Digitalisierungsprozesses19. Und auch Belton versichert, dass sie (die Kinobetreiber) sich die Digitalisierung gar nicht leisten können. Es wird sich zeigen, ob die immer stärker vertikal organisierten transnationalen Medienkonglomerate in der Digitalisierung eine Investition sehen und inwieweit auch Hardwarelieferanten als Sponsoren auftreten könnten. So hat etwa Boeing Aircraft die Finanzierung einer Umrüstung angeboten, um hierbei das firmeneigene Satelliten-Verleihsystem zu vermarkten20.
Bei allen Umrüstungskalkulationen sollte stets berücksichtigt werden, dass insbesondere durch zukünftige Aufrüstungen der noch nicht vollends perfektionierten Technologien21 /22 hohe Folgekosten entstehen können. Auch die Schwierigkeit, digitale Standard-Codes mit den unterschiedlichen Unternehmen zu vereinbaren und sie vor dem Problem der Videopiraterie23 zu schützen, stellt eine Behinderung dar, die noch viel Zeit und Geld beanspruchen wird.
Es lässt sich also erkennen, dass die fortschreitende Digitalisierung zwar nicht in der Lage ist, revolutionsartig von heute auf morgen eine hundertjährige Filmtradition zu beenden, sondern allmählich aufgrund ökonomischer Vorteile und kreativer Flexibilität über die digitale Nachbearbeitung von Filmen in den Bereich des Kinos eingedrungen ist und sich aufgrund der Perspektive auf eine langfristige Gewinnsteigerung, der erhofften Erweiterung des Marktes, sowie eines veränderten Wahrnehmungsverhalten der Zuschauer weiterhin stetig ausweiten wird. Insofern erweist sich der von Alexander Horwath geprägte Begriff einer Mutationsära in Bezug auf die Digitalisierung der Filmkultur durchaus als sinnvoll.
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1 Alexander Horwath (AH) ist seit 2002 Direktor des Österreichischen Filmmuseums Wien
2 Horwath, Alexander im Interview mit allesfilm.com; www.allesfilm.com/show_article.php?id=22022
3 in: Peter C. Slaksny (Hg.) Digitaler Film digitales Kino; UVK Verlag ©2003: S. 15-37
4 vgl. Belton, John: Das digitale Kino eine Scheinrevolution in montage/av 12/1/2003; S.7
5 vgl. Kipnis, Laura: Film and changing technologies in Hill, John/ Gibson, Pamela C. (Hg.) The Oxford Guide to Film Studies © 1998; S.596: Kodak has laid off at least 17.000 employees in the United States and over 30.000 workers abroad since the mid-1980s, in corporate belt-tightening occasioned by a series of bad forecasts about new technologies and heavy world-wide losses.
6 vgl. Hoffmann, Kay: Electronic Cinema On the Way to the Digital in Elsaesser, Thomas / Hoffmann, Kay: Cain, Able or Cable?; S.242/243
7 Lucas, George: Movies are an Illusion in: Premiere, Februar 1999; S.60
8 AH im Interview mit allesfilm.com; www.allesfilm.com/show_article.php?id=22022; S. 3
9 Belton, John: Das digitale Kino eine Scheinrevolution in montage/av 12/1/2003; S.7
10 Belton, John: Das digitale Kino eine Scheinrevolution in montage/av 12/1/2003; S.10
11 AH im Interview mit allesfilm.com; www.allesfilm.com/show_article.php?id=22022; S.1
12 vgl.: Belton ,John: Das digitale Kino eine Scheinrevolution in montage/av 12/1/2003; S.13
13 vgl.: Belton, John: Das digitale Kino eine Scheinrevolution in montage/av 12/1/2003; S.14
14 vgl.: Broderick, Peter: Moviemaking in Transition . in Scientific American © Nov. 2000; S.63
15 Die Preise liegen im Allgemeinen zwischen 200.000 und 300.000 US$
16 vgl.: Hoffmann, :Kay Electornic Cinema On the Way to the Digital in: Cain, Able or Cable? Thomas Elsaessar/Kay Hoffmann (Hg.); Amsterdam University Press © 1998; S.241 ff.
17 vgl.: Laura Kipnis: Film and changing technologies in The Oxford Guide to Film Studies John Hill/Pamela C. Gibson (Hg.); © 1998: S.597
18 vgl.: Belton, John: Das digitale Kino eine Scheinrevolution in montage/av 12/1/2003; S.17
19 AH im Interview mit allesfilm.com; www.allesfilm.com/show_article.php?id=22022; S.1: Es scheint einfach so zu sein, dass es derzeit noch kein ökonomisch sinnhaftes Modell gibt. (So stellt sich) schlicht die Frage: Wer zahlt die Umrüstung?
20 vgl.: Belton, John: Das digitale Kino eine Scheinrevolution in montage/av 12/1/2003; S.22
21 vgl.: Dupont, J.F.: Film and the Future Imaging in: SMPTE Journal; © Oktober 1999, S. 711: 35mm-Film weist eine sechsmal feinere Auflösung auf als HDTV.
22 In dem Aufsatz Das digitale Kino: Eine Momentaufnahme stellt Barbara Flückiger die zahlreichen technischen und ästhetischen Unterschiede zwischen Celluloidaufnahmen und digitalem Film dar und problematisiert zahlreiche Defizite der digitalen Technologie.
23 vgl.: Slaksny, Peter C: Geschichte und Technologie des bewegten Bildes in Slansky, Peter C (Hg.): Digitaler Film digitales Kino; UVK Verlag ©2003: S.32/33
- Citation du texte
- Felix von Boehm (Auteur), 2007, Digitale Mutation - Die Mutationsära der Digitalisierung des Films und ihre Auswirkungen auf Filmmuseum und Filmwissenschaft, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84644
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