Charles Perraults Contes sind weltberühmt. Als Blaubart, Der kleine Däumling, Der gestiefelte Kater, Frau Holle und Die drei Männlein im Walde, Rotkäppchen, Dornröschen und Aschenputtel gingen sie durch die Übersetzungen Ludwig Tiecks und die Adaptionen Ludwig Bechsteins und der Gebrüder Grimm in die deutsche Märchentradition ein. In etlichen Punkten unterscheiden sich diese Adaptionen jedoch deutlich vom französischen Ursprungstext. Marc Soriano versucht nachzuweisen, dass das Unbewusste des Autors Charles Perrault eine große Rolle bei der Ausarbeitung der Märchen spielte. Die vorliegende Hausarbeit beschäftigt sich mit der psychoanalytischen Betrachtung der Contes, die Marc Soriano in seinen Werken <Les Contes de Perrault> (1968) und <Le dossier Charles Perrault> (1972) ausführt.
Zunächst sollen allgemeine Angaben zu Charles Perrault und den Contes das Umfeld der Analyse näher beleuchten und das Verständnis erleichtern. Anschließend werden ganz allgemein Möglichkeiten und Grenzen einer tiefenpsychologischen Märcheninterpretation aufgezeigt. Der Hauptteil widmet sich der psychoanalytischen Interpretation nach Soriano. Als Ergänzung dienen entsprechende Ausführungen von Bruno Bettelheim. Abschließend erfolgt eine Bewertung der Contes und ihrer Interpretation.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Autor: Charles Perrault (1628-1703)
3 Werk: Les Contes (1691-1697)
4 Möglichkeiten und Grenzen einer tiefenpsychologischen Märcheninterpretation
4.1 Psychoanalytische Interpretation nach Sigmund Freud
4.2 Analytisch-Tiefenpsychologische Interpretation nach Carl Gustav Jung
5 Psychoanalytische Interpretation der Contes nach Marc Soriano
5.1 Autor: Charles Perrault
5.1.1 Das Zwillingsmotiv
5.1.2 Die Rolle der Eltern
5.1.3 Konkurrenz und Dominanz
5.1.4 Identitätsprobleme und sexuelle Unsicherheit
5.1.5 Kompensation und Überwindung
5.2 Werk: Les Contes
5.2.1 Das Zwillingsmotiv
5.2.2 Die Rolle der Eltern
5.2.3 Konkurrenz und Dominanz
5.2.4 Identitätsprobleme und sexuelle Unsicherheit
5.2.5 Kompensation und Überwindung
6 Schlussbemerkung
7 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Charles Perraults Contes sind weltberühmt. Als Blaubart, Der kleine Däumling, Der gestiefelte Kater, Frau Holle und Die drei Männlein im Walde, Rotkäppchen, Dornröschen und Aschenputtel gingen sie durch die Übersetzungen Ludwig Tiecks und die Adaptionen Ludwig Bechsteins und der Gebrüder Grimm in die deutsche Märchentradition ein. In etlichen Punkten unterscheiden sich diese Adaptionen jedoch deutlich vom französischen Ursprungstext. Marc Soriano versucht nachzuweisen, dass das Unbewusste des Autors Charles Perrault eine große Rolle bei der Ausarbeitung der Märchen spielte. Die vorliegende Hausarbeit beschäftigt sich mit der psychoanalytischen Betrachtung der Contes, die Marc Soriano in seinen Werken Les Contes de Perrault (1968) und Le dossier Charles Perrault (1972) ausführt.
Zunächst sollen allgemeine Angaben zu Charles Perrault und den Contes das Umfeld der Analyse näher beleuchten und das Verständnis erleichtern. Anschließend werden ganz allgemein Möglichkeiten und Grenzen einer tiefenpsychologischen Märcheninter-pretation aufgezeigt. Der Hauptteil widmet sich der psychoanalytischen Interpretation nach Soriano. Als Ergänzung dienen entsprechende Ausführungen von Bruno Bettelheim. Abschließend erfolgt eine Bewertung der Contes und ihrer Interpretation.
2 Autor: Charles Perrault (1628-1703)
Als siebtes Kind von Pâquette Leclerc und Pierre Perrault wird Charles Perrault am 12. Januar 1628 in Paris geboren. Sein Zwillingsbruder François stirbt nur sechs Monate nach der Geburt. Der gehobenen finanziellen und sozialen Stellung der Familie entsprechend lässt Pierre Perrault, der als Jurist am Pariser Parlament tätig ist, seinen Kindern eine fundierte, naturwissenschaftlich orientierte Ausbildung zukommen. Charles Perrault tritt zunächst in die Fußstapfen seines Vaters, studiert Jura und wird 1651 als Anwalt zugelassen. Im Dienst seines Bruders Pierre, « receveur général des Finances de Paris », erlangt er Zutritt zu den Pariser Adelskreisen, wo er sich als geistreicher Unterhalter und Literat einen Namen macht. In der Politik steigt er schon bald zum kulturpolitischen Mitarbeiter und Berater des mächtigen Finanzministers Colbert auf, der ihn zunächst zum Sekretär der « Petite Académie », der späteren « Académie des Inscriptions et Belles-Lettres », und schließlich zum « contrôleur des Batiments de Sa Majesté » ernennt. 1671 tritt er der Académie Française bei; 1681 übernimmt er ihren Vorsitz. 1672 heiratet er die 19‑jährige Marie Guichon, mit der er vier Kinder bekommt. Nach dem Tod seiner Frau 1678 und dem Tod Colberts 1683 legt Perrault seine politischen Ämter nieder, um sich ganz der Schriftstellerei und der Erziehung seiner Kinder zu widmen. In der Nacht vom 15. auf den 16. Mai 1703 stirbt Charles Perrault in Paris.
Bereits während seiner politischen Laufbahn veröffentlicht Perrault satirische Burlesken (z. B. L’Éné ï de burlesque, 1648), Oden (z. B. Ode sur le mariage du roi, 1660) und Elogen (z. B. Éloges du cardinal Mazarin, 1666), allerdings mit mäßigem Erfolg. Kulturpolitische Brisanz bekommt 1687 der Vortrag seines Gedichts Le Siècle de Louis le Grand vor der Académie: Mit seinem Loblied auf das Zeitalter Louis XIV, das er der Antike als überlegen betrachtet, löst Perrault die « Querelle des Anciens et des Modernes » aus. Wirklich und dauerhaft berühmt wird er jedoch durch die Contes, eine Märchensammlung, die er zwischen 1691 und 1697 für seine Kinder zusammenstellt und die zur Grundlage für viele der Grimm’schen Märchen wird. (Rouger 1967, LV-LXI; Soriano 1984, 223-241, 266-317, 493-496)
3 Werk: Les Contes (1691-1697)
Perraults Contes unterteilen sich in drei Contes en vers und acht Contes en prose. Im Recueil de l’Académie francaise ist im September 1691 die in Versen verfasste Novelle La Marquise de Salusses ou la Patience de Griselidis zu lesen. Im November 1693 wird Les Souhaits ridicules in der Zeitschrift Le Mercure galant abgedruckt. Beide Texte erscheinen 1694 in einer Sammelausgabe zusammen mit Peau d’Ane. Allen drei Contes en vers lässt sich eindeutig Charles Perrault als Autor zuordnen.
Anders ist dies bei den Contes en prose, die 1697 unter dem Titel Histoires ou Contes du temps passé, avec des moralités: Contes de ma mère l’Oye veröffentlicht werden. In der Sammlung enthalten sind La belle au bois dormant, Les Fées, Cendrillon ou la petite pantoufle de verre, Le petit chaperon rouge , La Barbe bleue, Le maître Chat ou Le Chat botté, Le petit Poucet und Riquet à la houppe, die zum großen Teil der mündlichen Überlieferung entstammen.[1] Der Autor des Werks wird nicht genannt. Die Genehmigung zum Druck durch das « privilège du roi » wird an den damals 18-jährigen « sieur P. Darmancour » (Rouger 1967, LXVIII) erteilt, den jüngsten Sohn Charles Perraults. Er ist es auch, der die den Contes vorangestellte Widmung an die Nichte des Königs unterzeichnet. Heute geht man davon aus, dass die Contes in der Gemeinschaftsarbeit von Vater und Sohn entstanden sind, wobei Charles Perrault den wohl größeren Anteil daran trägt. Möglicherweise will er durch den Verweis auf seinen Sohn dessen Karriere im Dienste des Königs vorantreiben, oder aber ein erneutes Aufflammen der « Querelle » verhindern. Den maßgeblichen Einfluss Charles Perraults in der Zusammenarbeit versucht Marc Soriano darüber hinaus durch seine psychoanalytische Interpretation der Contes nachzuweisen.
Ungeachtet der Rätsel um die Urheberschaft erlangten die Contes en prose ebenso wie die Contes en vers durch zahlreiche Übersetzungen und Adaptionen weltweite Bekanntheit und gelten heute als zentraler Bestandteil der europäischen Kultur. (Rouger 1967, XIII-XXI, LXIII-LXX; Soriano 1984, 21-26, 68, 80, 359-363)
4 Möglichkeiten und Grenzen einer tiefenpsychologischen Märcheninterpretation
Um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert bildet sich in der psychologischen Forschung die Tiefenpsychologie heraus, als deren bedeutendster Vertreter bis heute der Wiener Psychiater Sigmund Freud (1856-1939) gilt. Mit Hilfe der Psychoanalyse will er in das unbewusste Seelenleben seiner Patienten vordringen und auf diese Weise nervlich und psychisch bedingte Leiden heilen. Sein Schüler Carl Gustav Jung (1875-1961) erweitert Freuds medizinisch-therapeutischen Ansatz zu einer „umfassenden Kulturpsychologie“ (Giehrl 1970, 10), die das gesunde ebenso wie das ungesunde Denken, Fühlen und Handeln des Menschen zu erklären versucht. Im Zentrum steht auch hier das Unbewusste, dass in der Tiefe der menschlichen Seele verborgen liegt. In Mythen, Sagen und Märchen, als deren Ursprung die Träume gelten, glauben die Forscher zeiten- und kulturenübergreifende Hinweise darauf zu finden. Ihre Traum- und Märchendeutung dient in erster Linie nicht der Märchenforschung, sondern soll Hypothesen und Theorien der Tiefenpsychologie stützen und ergänzen. (Giehrl 1970, 9, 10)
4.1 Psychoanalytische Interpretation nach Sigmund Freud
Freud „versucht in seiner Psychologie eine kausale Erklärung der Triebvorgänge“ (Giehrl 1970, 27) zu geben, wobei er sich auf das persönliche, individuelle Unbewusste beschränkt. Nach seiner Auffassung wird die Psyche nachhaltig in der Kindheit geformt. Eine ungesunde, schädigende Formung kann später als Neurose oder Psychose zu Tage treten. Freud betrachtet den Traum als die Erfüllung eines infantilen Wunsches egoistischer und sexueller Natur, der durch Erziehung sowie soziale und moralische Anpassung ins Unbewusste verdrängt wurde. Traumsymbole, die auf diesen Wunsch verweisen, werden demnach grundsätzlich sexuell interpretiert und erhalten eine feste Bedeutung. Analog wird dies auf das Märchen und seine Symbolik übertragen.[2] (Giehrl 1970, 24-27, 36-45)
Grundsätzlich steht Soriano der Freud’schen Psychoanalyse aufgeschlossener gegenüber als der analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs. Freuds Leistung besteht für Soriano darin, dass er die Entwicklung des Einzelnen nicht ausschließlich als individuelle Erfahrung betrachtet, sondern eingebettet sieht in die Geschichte der ganzen Menschheit. Für entscheidend hält er die Beobachtung der persönlichen und sozialen Zensur, die moralisch oder gesellschaftlich inakzeptable Gedanken und Gefühle ins Unbewusste verdrängt. Er bezeichnet dies als « la grande aventure de l’homme qui discipline ses pulsions et s’élève, par une série de prises de conscience , de l’animalité à l’humanité » (Soriano 1984, 472). Eine rein sexuelle Interpretation von Märchensymbolen und -motiven ohne Berücksichtigung des Kontexts hält Soriano jedoch für unzureichend. (Soriano 1984, XVII-XX , 472, 473)
4.2 Analytisch-Tiefenpsychologische Interpretation nach Carl Gustav Jung
Carl Gustav Jung sieht den Traum als einen symbolischen Selbstausdruck des Unbewussten in seinem jeweiligen Zustand. Er unterscheidet dabei zwischen dem persönlichen und dem kollektiven Unbewussten. Ersteres bildet sich aus den Lebenserfahrungen, Gedanken und Gefühlen der einzelnen Person. Letzteres umfasst Seeleninhalte, die der Einzelne aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Familie, einer sozialen Gruppe, einem Volk etc. besitzt und die wiederum sein persönliches Unbewusstes prägen. Zu diesen Seeleninhalten zählen die Instinkte und die so genannten Archetypen. Als Archetypen bezeichnet Jung bestimmte Urbilder, die als Figuren, Vorstellungen oder Erscheinungen auftreten können und die unabhängig von Zeit, Kultur und allen individuellen Einflüssen im Seelenleben eines jeden Menschen verankert sind. Diese Urbilder finden sich auch und insbesondere im Märchen.[3] (Giehrl 1970, 28-33, 46-49)
An der analytischen Psychologie kritisiert Soriano vor allem die Annahme einer unveränderlichen « nature humaine » (Soriano 1984, 472), welche die Möglichkeit des Fortschritts in der menschlichen Entwicklung ausschließt. Für Soriano entspringt die Archetypenlehre dem Wunsch des Menschen, seelische Vorgänge zu klassifizieren und einem eindeutigen Ursprung zuzuordnen. Mythen und Märchen mit ihren stets ähnlichen Themen und Motiven werden zur Erklärung der menschlichen Psyche herangezogen. Soriano bezweifelt jedoch die Wissenschaftlichkeit und Objektivität eines solch einseitigen Deutungsversuchs. Daneben sieht er darin die Gefahr der Vereinfachung, da hochkomplexe und sich ständig verändernde psychische Erscheinungen auf eine sehr beschränkte Anzahl von Ursachen zurückgeführt werden. Dies wirkt sich auch auf die Märcheninterpretation selbst aus, indem der historische, kulturelle und soziale Kontext völlig außer Acht gelassen wird: « Au nom d’une constance affirmée, on considère comme négligeables des divergences, des différences, des transformations notables entre des versions historiques du même conte » (Soriano 1984, 467). (Soriano 1984, 463-473)
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[1] Die Schreibweise der Märchentitel richtet sich nach Rouger, G. (Hrsg.) (1967): Contes de Perrault.
[2] Vgl. dazu: Freud, Sigmund (1900): Die Traumdeutung.
[3] Vgl. dazu: Jung, C. G. (1909): Die Traumanalyse.
- (1928): Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychologie des Traumes.
- (1945): Vom Wesen der Träume.
- Citation du texte
- Rebekka Hahn (Auteur), 2007, Les Contes de Charles Perrault: Psychoanalytische Interpretation nach Marc Soriano, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84610
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