Lenz’ „Zerbin oder die Neuere Philosophie“ erzählt fiktive Lebensgeschichte eines gescheiterten, in Unmoral gefallenen Moralphilosophen. Martin Kagel ist Moral jedoch „weniger die Absicht als der Gegenstand“ dieser Erzählung , weil an ihrem Ende keine normative Moral steht. Die Ansicht, dass es in Lenz’ Dichtung nicht um die moralische Belehrung des Lesers geht, wird auch von Karin A. Wurst geteilt. Sie beruft sich auf Lenz’ eigene Aussagen, nach denen es in seiner Prosa nicht um „moralische Endzwecke“ oder „philosophische Sätze“ gehe. Martin Rector bezeichnet „Zerbin“ als eine „ästhetische Wahrheitsprobe“ der Lenz’schen theoretischen Schriften zur Moralphilosophie. Das Ergebnis sei die Infragestellung der Realisierbarkeit des aufklärerischen Autonomie-Ideals und die Entlarvung seines Risiko-Potenzials zur unmoralischen Handlung. Roland Krebs wagt die These, dass der Schluss der Geschichte – Zerbins Selbstmord – zeige, „dass es unmöglich ist, völlig nach dem Gesetz der Eigenliebe zu leben, dass die Stimme sich des Gewissens sich nicht auf Dauer unterdrücken lässt“ . In dieser Arbeit soll untersucht werden, wie diese „Stimme des Gewissens“ beziehungsweise die Moral in „Zerbin oder die Neuere Philosophie zum Ausdruck kommt, und inwieweit Lenz darin die Möglichkeit der Verbindung von Eigenliebe und Moral offen lässt.
Gliederung
1. Einleitung
2. Der moralische Fall eines Moralphilosophen
2.1. Zerbin - Ein stolzer Charakter mit einer Vorliebe für Moralphilosophie
2.2. Beruflicher Aufstieg, emotionale Enttäuschung
2.3. Liebesbestätigung und moralphilosophische Umorientierung
3. Ursachen für Zerbins Gesinnungswandel
3.1. Psychologische Erklärungen
3.2. Willensschwäche durch Verlust der Konkupiszenz
4. ,Zerbin’ als Dekonstruktion zeitgenössischer Moralkonzeptionen
4.1. Gellerts Sittenlehre als Stolperfalle
4.2. Warnung vor der Modephilosophie
4.3. Das Problem der Ganzheitlichkeit
5. Tugend ohne „Plan“
5.1. Marie – natürlich tugendhaft
5.2. Bewusstes moralisches Verhalten durch die „starkgewordene Vernunft“
6. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Lenz’ „Zerbin oder die Neuere Philosophie“[1] erzählt fiktive Lebensgeschichte eines gescheiterten, in Unmoral gefallenen Moralphilosophen. Martin Kagel ist Moral jedoch „weniger die Absicht als der Gegenstand“ dieser Erzählung[2], weil an ihrem Ende keine normative Moral steht. Die Ansicht, dass es in Lenz’ Dichtung nicht um die moralische Belehrung des Lesers geht, wird auch von Karin A. Wurst geteilt. Sie beruft sich auf Lenz’ eigene Aussagen, nach denen es in seiner Prosa nicht um „moralische Endzwecke“[3] oder „philosophische Sätze“[4] gehe. Martin Rector bezeichnet „Zerbin“ als eine „ästhetische Wahrheitsprobe“[5] der Lenz’schen theoretischen Schriften zur Moralphilosophie. Das Ergebnis sei die Infragestellung der Realisierbarkeit des aufklärerischen Autonomie-Ideals und die Entlarvung seines Risiko-Potenzials zur unmoralischen Handlung. Roland Krebs wagt die These, dass der Schluss der Geschichte – Zerbins Selbstmord – zeige, „dass es unmöglich ist, völlig nach dem Gesetz der Eigenliebe zu leben, dass die Stimme sich des Gewissens sich nicht auf Dauer unterdrücken lässt“[6]. In dieser Arbeit soll untersucht werden, wie diese „Stimme des Gewissens“ beziehungsweise die Moral in „Zerbin oder die Neuere Philosophie zum Ausdruck kommt, und inwieweit Lenz darin die Möglichkeit der Verbindung von Eigenliebe und Moral offen lässt.
2. Der moralische Fall eines Moralphilosophen
2.1. Zerbin - Ein stolzer Charakter mit einer Vorliebe für Moralphilosophie
In „Zerbin oder die neuere Philosophie“ erzählt ein fiktiver Herausgeber als warnendes Exempel, wie er erklärt, die angeblich wahre Geschichte des an den Umständen des Lebens gescheiterten selbsternannten Moralphilosophen Zerbin.
Dieser wird als einziger Sohn eines reichen, skrupellosen Kaufmanns geboren, der sein Vermögen durch illegale Geldgeschäfte vermehrt. Zerbins Jugendzeit ist durch die Bemühungen seines Vaters geprägt, ihm sein kriminelles Handwerk beizubringen. Die Einstellung des Vaters widerstrebt Zerbins Vorstellungen vom menschlichen Zusammenleben. Seine „Gradheit des Herzens“[7] schützt ihn vor der negativen väterlichen Einflussnahme. Bereits in seinen Jugendtagen zeigt sich bei Zerbin ein außergewöhnliches Autonomiebestreben. Er hält es für „unwürdig, den Umständen nachzugeben“[8]. Aus Furcht davor, „der Obermacht der väterlichen Gewalt nicht [ ] lange widerstehen [zu] können“[9], flieht er aus dem Elternhaus. Die Befreiung aus der unmoralischen Beeinflussung ist mehr durch sein Autonomiebestreben als durch sein intuitiv entwickeltes Moralbewusstsein motiviert. Der Erzähler spielt Zerbins ambivalenten Moralvorstellungen an, indem er die „Gradheit des Herzen“ doch lieber „Stolz“[10] nennt.
Zerbin fasst den Entschluss, sich aus eigener Kraft in der Gesellschaft einen Namen zu machen, einen neuen, eigenen „fremden Namen“[11]. Als erfolgreicher Mann will er zurückkehren und seinen Vater zur Wiedergutmachung seiner Taten, zur Wohltätigkeit zwingen. Doch auch dieser scheinbar aus Gerechtigkeitssinn gefasster Plan ist egoistisch motiviert: Noch besser gefällt Zerbin der Gedanke, das Erbe des Vaters nach dessen Tod zu spenden, um „in den Zeitungen von sich reden zu machen“[12]. Für Zerbin ist das Zur-Schau-Stellen von Wohltätigkeit kein Widerspruch zu einer tugendhaften Lebensweise.
Sein großes Ziel ist die vollständig selbstbestimmte Lebensführung: Er möchte „sich selbst alles zu danken [ ] haben“[13]. Sein Stolz und seine „kühne[ ], glühende[ ] Einbildungskraft“[14] machen ihn blind für die realen Verhältnisse. Er erkennt nicht, dass sein gesellschaftlicher Aufstieg von der Anerkennung, und – da er mittellos ins Leben startet – auch der Unterstützung seiner Mitmenschen abhängig ist. Das vollkommen autonome Leben erweist sich als „Luftschloss aller seiner [egoistischen] Wünsche“[15].
Zerbins Einbildungskraft lässt ihn sich zum Moralphilosphen berufen fühlen. In Leipzig beginnt er ein Philosophie-Studium bei der historischen Persönlichkeit Professor Christian Fürchtegott Gellert. „Gellerts Moral war, wie natürlich, sein Lieblingsstudium“[16], sie erfüllt ihn. Er lernt sie auswendig, offenbar um sie jederzeit gegenwärtig zu haben und gemäß ihren Grundsätzen handeln zu können. Der ambitionierte Jungakademiker mit dem „offenen Kopf“[17] betreibt auch andere Wissenschaften, wie die Mathematik, für die er viel Talent hat, mit Leidenschaft und „geheimen, ungezierte[m] Fleiß“[18]. Am Autonomie-Gedanken festhaltend, verbirgt Zerbin seine Anstrengungen, um „den guten Ausgang“[19] selbstständig herbeizuführen.
2.2. Beruflicher Aufstieg, emotionale Enttäuschung
Der Plan zur Selbstständigkeit scheint aufzugehen, Zerbins Karriere als Akademiker beginnt. Er darf einen Mathematik-Kurs abhalten und Professor Gellert, der auf den umfangreich gebildeten Musterschüler aufmerksam wird, vermittelt ihm eine Stelle als Privatlehrer des „reichen jungen Grafen“[20] Altheim. Zerbin sieht die Annahme Gellerts Gunstbezeugung nicht als Widerspruch zu seinem Plan an, „sich bloß durch seine eigenen Kräfte emporzubringen“[21], da diese Beziehung seine Karriere voranbringt. Die finanzielle Abhängigkeit vom Grafen sieht er ebenfalls nicht als Beschränkung an. Durch seine „natürliche Anhänglichkeit an andere Leute“[22] und sein „Teilnehmen an den [deren] kleinsten Umständen“[23] gewinnt er Vertrauen zu seinem Geldgeber, so dass aus der Geschäftsbeziehung eine Freundschaft entsteht. Zu diesem Zeitpunkt ist Zerbin noch in der Lage, die von Gellerts empfindsamer Moralphilosophie geforderte Teilnahme an den Interessen seiner Mitmenschen in die Tat umzusetzen. Als er „andere Begierden [entdeckt], die auch befriedigt sein wollten“[24], zeigt sich jedoch, dass seine „natürliche Anhänglichkeit“ seinem Autonomie-Ideal im Weg steht und dessen Realisierung unmöglich macht.
In der niederen Adelsgesellschaft, in die Zerbin durch seine Stellung eingeführt ist, sind Gellerts Moralphilosophie, ist das bürgerliche Tugendideal ohne Bedeutung. Als Renatchen Freundlach, die Schwester des mit Altheim bekannten Bankiers Freundlach, den unerfahrnen Zerbin mit ihren Reizen betört, gibt es für diesen kein anderes Lebensziel, als Renatchen für sich zu gewinnen. Die Verführungsspielchen der galanten Libertinage sind jedoch strategischer Natur: Sie hat es nicht auf Zerbin, sondern auf den Grafen Altheim abgesehen, den sie mit ihrem freizügigen Verhalten eifersüchtig machen will. Als ihre Intrige Erfolg zeigt, wird sich Zerbin seiner Rolle als Köder bewusst und zweifelt an seiner Liebenswürdigkeit. Da auch sein ehemals bester Freund Altheim sich von ihm abwendet, muss Zerbin nicht nur ohne Liebe, sondern auch ohne Freundschaft auskommen.
Er kann seine Enttäuschung über das ungerechte Verhalten seiner Mitmenschen ihm gegenüber nicht verarbeiten, sie beherrscht seine Gedanken. Der ehemals so ambitionierte Jungakademiker ist nicht mehr in der Lage, seine Studien weiterzuführen und zu unterrichten. Da er sich nicht traut, Altheim auf ausstehenden Lohn anzusprechen, gerät er zudem in große Schulden. Um doch noch Selbstbestätigung in der Liebe zu finden, sucht Zerbin nach einer ehrlicheren Frau. In Hortensie, der vielbelesenen Tochter seines Hauswirts, hofft Zerbin, diese Frau zu finden. Sie zeigt sich dem jungen Magister gegenüber zwar aufgeschlossen, verfolgt jedoch nur ökonomische Interessen. Sie reagiert abweisend auf seine vorehelichen Annäherungsversuche, um Zerbin zur Heirat zu zwingen. Eine Zweck-Heirat widerspricht Zerbins Liebesideal, er sehnt sich nach wirklich empfundener und auch körperlicher Liebe. Zum zweiten Mal in seinen Hoffnungen auf Liebe getäuscht, dazu schwer verschuldet, fällt Zerbin in den vorherigen depressiven Zustand zurück.
2.3. Liebesbestätigung und moralphilosophische Umorientierung
In völliger Verzweiflung begegnet der Liebeskranke Marie, der lebenslustigen Wirtschaftsgehilfin bäuerlicher Herkunft. Bei dieser ihm sozial untergeordneten Bediensteten hatte er sich Geld geliehen, um den Verlust seiner finanziellen Autonomie nicht vor dem höheren Gesellschaftskreis preisgeben zu müssen. Der offensichtlich emotional leidende junge Mann erweckt in Marie so großes Mitleid, dass sie ihm seine Schulden erlässt und weiteren Kredit anbietet. Von „Scham, Wut und Dankbarkeit“[25] überwältigt, bricht Zerbin in Tränen aus und wirft sich Marie an den Hals. Ebenso gerührt gibt sich das Mädchen ihm hin, es kommt zum Geschlechtsakt. Marie entwickelt für Zerbin nach der ungeplanten leidenschaftlichen Begegnung die größten Liebesgefühle. Bei Zerbin bewirkt die Erfahrung wahrer Zuneigung und körperlicher Liebe einen Sinneswandel: Er gibt den Glauben an die unbedingte Liebe auf und beschließt, anstatt des ihm verfallenen Bauernmädchens eine Frau von höherem Stand zu heiraten, die ihm zu einem größeren Vermögen verhilft – die steife Wirtstochter Hortensie. Die Befriedigung sexueller Begierden sieht Zerbin als von der Ehe unabhängiges Naturrecht, welches er mit Marie weiterhin auszuleben gedenkt. Mit dem Liebesideal verwirft Zerbin gleichzeitig Gellerts gesamte empfindsame Moralphilosophie. Aus ökonomischen Interesse betreibt er von nun an auch Politik- und Ökonomie-Wissenschaft, verbindet diese mit Studien des Natur- und Völkerrechts und begründet auf diesem Disziplinen-Gemisch eine funktionale Moralphilosophie, die das Ausleben seiner egoistischen Interessen rechtfertigt und in der Öffentlichkeit bezeichnenderweise großen Anklang erfährt.
[...]
[1] Lenz, Jakob Michael Reinhold: Zerbin oder die Neuere Philosophie. In: Ders.:Erzählungen. Zerbin, Der Waldbruder, Der Landprediger. Voit, Friedrich (Hrsg.). Stuttgart: Reclam 1988, S.3-30
[2] Kagel, Martin: Strafgericht und Kriegstheater.: Studien zur Ästhetik von Jakob Michael Reinhold Lenz . St. Ingbert: Röhrig 1997, S.41
[3] zitiert nach: Wurst, Karin A.: „Von der Unmöglichkeit, die Quadratur des Zirkels zu finden“. Lenz’ narrative Strategien in „Zerbin oder die neuere Philosophie“. In: Lenz-Jahrbuch. Sturm-und-Drang-Studien. Luserke, M., Weiß, Chrs. (Hrsg.). Bd. 3/1993. St. Ingbert: Röhrig 1993, S.65 (Original-Quelle: Lenz, J.M.R.: Werke u. Briefe, Bd. 2, S.675)
[4] Ebd.
[5] Rector, Martin: Zur moralischen Kritik des Autonomie-Ideals. Jakob Lenz’ Erzählung Zerbin oder die Neuere Philosophie. In: „Unaufhörlich Lenz gelesen“. Studien zu Leben und Werk von J.M.R. Lenz. Stephan, Inge (Hrsg.). Stuttgart (u.a.): Metzler 1990, S.294-308; hier: S.294
[6] Krebs, Roland: „In Marmontels Manier, aber wie ich hoffe nicht mit seinem Pinsel“
„Zerbin’ als ,moralische Erzählung“. In: „Die Wunde Lenz“ J.M.R. Lenz. Leben, Werk und Rezeption. Stephan, Inge u. Winter, Hans-Gerd (Hrsg.). Bern: Peter Lang 2003, S.129-143; hier: S. 142
[7] Lenz, J.M.R.: Zerbin
[8], S.4
[9] Ebd.
[10] Ebd.
[11] Ebd., S.5
[12] Ebd., S.5
[13] Ebd.
[14] Ebd., S.4
[15] Ebd.
[16] Ebd., S.5
[17] Ebd., S.6
[18] Ebd., S.6
[19] Ebd.
[20] Ebd.
[21] Ebd., S.5
[22] Ebd.
[23] Ebd.
[24] Ebd.
[25] Ebd., S.19
- Citar trabajo
- Juliana Hartwig (Autor), 2007, Die Spaltung von Tugend und Moral in J.M.R. Lenz’ "Zerbin oder die Neuere Philosophie", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84519
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