In ihrer politikhistorischen Fallstudie arbeitet die Autorin in Form eines Forschungsberichts unter Verwendung einiger bisher unveröffentlichter Archivalien, insbesondere aus dem Bereich Nordrhein-Westfalen, die Stellung der Freien Demokratischen Partei (FPD) zur Entnazifizierung Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre auf. Dabei erinnert die Autorin auch an in dieser politischen Partei aktiv tätige und verdeckt wirkende ehemalige höhere Wehrmachts-, NSDAP und HJ-Funktionäre und skizziert deren – teilweise erfolgreiche – Versuche organisierter Einflußnahmen, auch als strategisch wirksame konspirative Maßnahmen, insbesondere im Bereich der niedersächsischen, westfälischen und nordrheinischen FPD.
Wilma Ruth Albrecht (geboren 1947 in Ludwigshafen am Rhein) ist eine deutsche Sozial- und Sprachwissenschaftlerin mit den Arbeitsschwerpunkten Literatur-, Politik- und Architekturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Wilma Ruth Albrecht ist seit 1972 beruflich als Wissenschaftlerin, Stadt- und Regionalplanerin und Lehrerin tätig. Sie publizierte unter anderem Unterrichtseinheiten zur produktiven Rezeption im schulischen Deutschunterricht (in Diskussion Deutsch 1977 und Deutschunterricht 1978), zur Kritik der Entnazifizierung in Deutschland nach 1945 (u.a. in Blätter für deutsche und internationale Politik 1978 und Neue Politische Literatur 1979), zu Bildungsreform und Sozialindikatoren (u.a. in die horen 1981 und Blätter für deutsche und internationale Politik 1981), zur Textverständnis- und Textverständlichkeitsforschung (in deutsche sprache 1986) und zur politiksoziologischen Regional-, Regions- und Stadtgeschichte (u.a. in Österreichische Zeitschrift für Soziologie 1983; Landschaft und Stadt 1983;
Inhaltsverzeichnis
0. Vorbemerkung
1. Ziele der alliierten Entnazifizierungspolitik
2. Differenzen in den Methoden der alliierten Entnazifizierungspolitik
2.1. Die Hauptmethode der Durchführung der Entnazifizierung in der SBZ und den westlichen Besatzungszonen
2.2. Entnazifizierungskonzepte in der US-amerikanischen und britischen Zone
2.2.1. Entnazifizierungskonzept in der US-amerikanischen Zone
2.2.2. Entnazifizierung in der britischen Zone
2.2.3. Zusammenfassung
3. Die Haltung der Liberalen zur Entnazifizierung und Versuche der Einflussnahme
3.1. Die Neuformierung des politischen Liberalismus in den Westzonen nach dem Zweiten Weltkrieg
3.2. Die programmatischen Forderungen der Liberalen zur Entnazifizierung
3.3. Politische Stellungnahmen liberaler Parteimitglieder in den Landtagen zur Entnazifizierung
3.4. Versuche der Einflussnahme von FDP/DVP/LDP-Politikern auf die inhaltliche Umsetzung der Entnazifizierung
3.5. Initiativen und Vorstellungen der FDP für eine bundeseinheitliche Abschlussgesetzgebung der Entnazifizierung
4. Nationalsozialistische Unterwanderung und Kooperation mit der FDP- Bruderschaft und Naumannkreis
4.1. „Die Bruderschaft“
4.2. Der „Naumannkreis“
4.3. Die Abwiegelungsversuche der FDP-Führung
5. Zusammenfassung
Anmerkungen
0. Vorbemerkung
Am Beispiel der Haltung der FDP1) zur Entnazifizierung2) lässt sich aufzeigen, mit welchen Mitteln die Restauration in Westdeutschland betrieben, mit welchen Argumenten sie gerechtfertigt wurde, welchen sozioökonomischen Kräften sie nützte und welches Ausmaß sie - bis hin zur Refaschisierung - annehmen konnte.
Dabei muss wie in allen Bereichen der deutschen Nachkriegsgeschichte - so auch und gerade bei der Umsetzung der Entnazifizierung – die Abhängigkeit deutscher Politiker von den Alliierten berücksichtigt werden, wobei der Einfluss der Deutschen mit der Zeit zunahm.
Damit wird auch der agitatorischen Argumentation der Liberalen, sie hätten ihre Entnazifizierungsvorstellungen nie realisieren können, entgegengetreten.
1. Ziele der alliierten Entnazifizierungspolitik
Da das deutsche faschistische System nicht vom deutschen Volk selbst gestürzt worden war, sondern von den Alliierten der „Anti-Hitler-Koalition“ lag auch die Entscheidung über die Art und Weise der Entnazifizierung in Deutschland in deren Befugnisse.
Schon auf der Krim-Konferenz einigten sich die Siegermächte darauf,
„(...) alle Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen und einer schnellen Bestrafung zuzuführen sowie eine im gleichen Umfang erfolgende Wiedergutmachung der von den Deutschen verursachten Zerstörungen zu bewirken; die Nationalsozialistische Partei, die nationalsozialistischen Gesetze, Organisationen und Einrichtungen zu beseitigen, alle nationalsozialistischen und militärischen Einflüsse auf das öffentliche Leben des deutschen Volkes auszuschalten und in Übereinstimmung miteinander solche Maßnahmen in Deutschland zu ergreifen, die für den zukünftigen Frieden und die Sicherheit der Welt notwendig sind“.3)
In dieser Erklärung wurde lediglich das Ziel der Entnazifizierung anvisiert sowie ein Negativkatalog von Maßnahmen erstellt, der sich auf die Ausschaltung der herrschenden politischen Elite des nationalsozialistischen Regimes erstreckte. Methode und Umfang der Realisierung dieser Vereinbarung blieb den Ausführungsbestimmungen der einzelnen alliierten Besatzungsmächte überlassen. Die sich damit ergebenden Unterschiede in der Entnazifizierung bedingten eine Vereinheitlichung, die die Richtlinien des Potsdamer Abkommens sowie die entsprechenden Kontrollratsgesetze bewirken sollten.4)
Diese Gesetze und Direktiven, die im wesentlichen auf us-amerikanischen Vorstellungen fußten5), beinhalteten eine Vorstellung von Entnazifizierung, die zu durchaus grundlegenden Veränderungen in der Sozial- und Machtstruktur in Deutschland führen konnten.
Die politischen Säuberungsmaßnahmen bezogen sich auf verschiedene institutionelle Sektoren: Auflösung des Militärs, Veränderung des staatlichen Verwaltungsapparates durch Ausschluss aktiver Nationalsozialisten aus der Verwaltung sowie Ausschaltung aktiver Nationalsozialisten und/oder Personen, die den deutschen Faschismus förderten, aus wirtschaftlichen Entscheidungsorganen, womit auch eine Demokratisierung der Einrichtungen, die über die Verfügungsgewalt privater Produktionsmittel entschieden, erreicht werden sollte.
Das heißt aber nicht, dass das den alliierten Entnazifizierungsbestimmungen zugrunde liegende Konzept auf Sozialisierung hinauslaufen sollte. Auch rechtfertigt es nicht die Behauptung, dass dieses Konzept „mit den Zielen der deutschen Linken“6), den Sozialisierungsforderungen von SPD und KPD übereinstimmte, und zwar aus folgenden Gründen:
a) Sozialisierung bedeutet die gesellschaftliche Aneignung der sich in privater Verfügung und Besitz befindenden Produktionsmittel. Im Potsdamer Abkommen und den Kontrollratsgesetzen wurden jedoch nur Vereinbarungen getroffen hinsichtlich der Dezentralisierung der Wirtschaft, der Beschlagnahme und Kontrolle von Konzernen, Trusts etc., die Kriegsproduktion betrieben, durch die Alliierten sowie der Ausschaltung von Militaristen und aktiven Nationalsozialisten als Positionsträger in der Wirtschaft, das meint in Institutionen, die Verfügungsgewalt über private Produktionsmittel besitzen und den Arbeitsprozess organisieren.7)
b) Verbal wurde eher von der SPD Sozialismus als politisches Ziel verkündet, die KPD strebte dagegen nach der Errichtung der „neuen demokratischen Republik“ bzw. „der antifaschistischen, demokratischen Republik“8), - die vielleicht als Schritt zum Sozialismus interpretiert werden kann - , wobei die Forderungen nach politischer Säuberung sich mit den Vorstellungen der Alliierten partiell deckten.
Vielmehr ging es den Alliierten darum Voraussetzungen zu schaffen, damit Deutschland, wie es im Potsdamer Abkommen heißt, „sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage von neuem wiederaufbauen“9) kann.
Wenn die Realisierung der alliierten Entnazifizierungspolitik zu einer Stärkung der Kräfte, die sich den Sozialismus als politisches Ziel gesetzt hatten, geführt hätte, dann hätte das nur daran gelegen, dass aus deren Reihen die konsequentesten Antifaschisten kamen.
2. Differenzen in den Methoden der alliierten Entnazifizierungspolitik
Entscheidend für die Erklärung der Unterschiede in der Praktizierung der alliierten Entnazifizierungspolitik ist – abgesehen vom Stellenwert selbst, den die Entnazifizierung im Gesamtkonzept der jeweiligen alliierten Besatzungsmacht besaß – die Methode, mit der sie realisiert wurde. Das heißt: Welche sozialen Gruppen und Schichten wurden mit der Durchführung der Entnazifizierung betraut, welcher Einfluss auf die Gestaltung wurde ihnen zugestanden und über welche Institutionen erfolgte die politische Säuberung ?
Dabei zeigten sich schon früh Unterschiede zwischen den westlichen Alliierten und der UdSSR.
2.1. Die Hauptmethode der Durchführung der Entnazifizierung in der SBZ und den westlichen Besatzungszonen
Die UdSSR stützte sich bei der Durchführung der Entnazifizierung formal auf Antifaschisten und förderte parallel schon früh deren politische Tätigkeit.
So heißt es im Befehl Nr. 2 der Sowjetischen Militäradministration (SMA) vom 10. Juni 1945 in Artikel 1:
„Auf dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland ist die Bildung und Tätigkeit aller antifaschistischen Parteien zu erlauben, die sich die endgültige Ausrottung der Überreste des deutschen Faschismus und die Festigung der Grundlage der Demokratie und der bürgerlichen Freiheiten in Deutschland und die Entwicklung der Initiative und Selbstbetätigung der breiten Massen der Bevölkerung in dieser Richtung zum Ziele setzten.“10)
Diese Methode stärkte diejenigen Kräfte, die nicht durch den Nationalsozialismus diskreditiert waren und in der Zeit des Zusammenbruchs des deutschen Faschismus die Säuberung von aktiven Nationalsozialisten und Kriegsverbrechern zunächst selbständig in „revolutionärer Selbstjustiz“ (Fürstenau) in Angriff nahmen. Sie stellten auch zu Anfang die Kandidaten für die örtlichen Verwaltungen, die die Reorganisation des öffentlichen Lebens vornahmen.11) Diese Art „revolutionärer Selbstjustiz“ wurde in den westlichen Besatzungszonen nicht nur unterbunden sondern auch geahndet.12) Stattdessen konsultierten die westlichen Alliierten Institutionen wie Kirchen oder suchten Einzelpersonen, die als antifaschistisch und/oder fachlich qualifiziert galten, für die Verwaltungstätigkeit zu gewinnen.13)
Wohl ist damit der Hauptunterschied in der Umsetzung der Entnazifizierung zwischen der UdSSR einerseits und Frankreich, England und der USA andererseits gekennzeichnet, doch auch innerhalb der westlichen Besatzungsmacht gab es Modifikationen, die sich in den Bestimmungen und Praxis der jeweiligen Besatzungsmacht zur politischen Säuberung niederschlugen, auf die nachfolgend eingegangen wird. Dabei steht Säuberungspolitik in der US-amerikanischen und britischen Zone im Vordergrund, die französische Entnazifizierungspolitik erweist sich als weniger bedeutend.
2.2. Entnazifizierungskonzepte in der US-amerikanischen und britischen Zone
2.2.1. Entnazifizierungskonzept in der US-amerikanischen Zone
Die grundlegenden Vorstellungen über die Politik der Entnazifizierung der US-Besatzungsmacht finden sich in der US-Besatzungsdirektive JCS 1067 und dem Militärgesetz Nr.8 vom 26. September 1945.14)
Die Direktive bestimmte 1) die Auflösung und das Verbot der Naziorganisationen, vor allem NSDAP, SS, SA und anderer, 2) das Außerkraftsetzen der rechtlichen Normen des Nationalsozialismus und 3) den Ausschluss aktiver Nationalsozialisten und Militaristen sowie der Gegner alliierter Politik aus wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Einrichtungen in Deutschland, wobei aktive Militaristen und Nationalsozialisten definiert wurden als a) Amtsträger der NSDAP, ihrer Untergliederungen sowie der militärischer Einrichtungen, b) Beteiligte an Naziverbrechen gegen die Menschheit, c) Ideologen des Nationalsozialismus und Militarismus sowie d) moralische, politische und materielle Förderer des Nationalsozialismus.15)
Dieser Anweisung unterlag der Gedanke individueller Schuld, der Bestrafung und der Sühne der nationalsozialistischen Positionsträger.
Das Gesetz Nr. 8 der US-Besatzungsmacht fußte auf einem Mentalitätskonzept, nämlich der Einstellung der Bevölkerung zum Nationalsozialismus, und förderte somit den Kollektivschuldgedanken.
In der Praxis hatte dies zur Folge, dass es nun weniger um die Beschränkung des Einflusses aktiver Partei“genossen“ auf die Gestaltung des gesellschaftlichen und politischen Lebens ging als um die Etablierung eines Systems individueller Bestrafung.16)
Wesentlich sind auch die Bestimmungen, die sich auf die Mitwirkung Deutscher an der Entnazifizierung beziehen. Wird in der Direktive JCS 1067 Teil I, 9 eine politische Betätigung und damit politische Beteiligung ausdrücklich verboten, so ermächtigt das Militärgesetz Nr. 8 zur Mitgestaltung und Mitverantwortung Deutscher an der Entnazifizierung.
Nachdem 1945 vorläufige deutsche Landesregierungen von der US-Militärregierung eingesetzt worden waren, die sich fast ausschließlich aus rechts-bürgerlichen Politikern der Weimarer Republik zusammensetzten, forderte am 4. Dezember 1945 General Clay diese Landesregierungen auf, einen Gesetzentwurf zur Entnazifizierung auszuarbeiten.
Am 5. März 1946 wurde das sogenannte „Befreiungsgesetz“ für die US-amerikanische Besatzungszone verabschiedet.17) Es führte nicht nur die Individualisierung in die Entnazifizierung ein sondern auch ein Verfahren, das sich am Strafverfahren orientiert, obgleich ausdrücklich betont wird, dass dieses Gesetz kein Strafgesetz sei. Dennoch wird in Artikel 2 die Einzelfallbetrachtung analog des Strafgesetzes festgelegt:
„1. Die Beurteilung des Einzelnen erfolgt in gerechter Abwägung der individuellen Verantwortlichkeit und der tatsächlichen Gesamthaltung; darnach wird in wohlerwogener Abstufung das Maß der Sühneleistung und der Ausschaltung aus der Teilnahme am öffentlichen und kulturellen Leben des Volkes bestimmt mit dem Ziel, den Einfluß nationalsozialistischer und militaristischer Haltung und Ideen auf Dauer zu beseitigen.
2. Äußere Merkmale wie die Zugehörigkeit zur NSDAP, einer ihrer Gliederungen oder einer sonstigen Organisation sind nach diesem Gesetz für sich allein nicht entscheidend für den Grad der Verantwortlichkeit. Sie können zwar wichtige Beweise für die Gesamthaltung sein, können aber durch Gegenbeweise ganz oder teilweise entkräftet werden. Umgekehrt ist die Nichtzugehörigkeit für sich allein nicht entscheidend für den Ausschluss der Verantwortlichkeit.“
Die Vorsitzenden der einzurichtenden Spruchkammern, die nach Auswertung der von jedem 18jährigen Deutschen auszufüllenden Fragebogen bzw. Meldebogen Sühnemaßnahmen für die Hauptschuldigen, Belasteten (Aktivisten, Militaristen, Nutznießer) und Minderbelastete zu verhängen hatten, sollten und die Vorsitzenden der Berufungskommission mussten sogar nach Artikel 25 (3) „die Befähigung zum Richteramt oder zum höheren Verwaltungsdienst“ haben. Damit wurde bewusst ein Element eingeführt, das die Entnazifizierung konterkarieren sollte, denn es war natürlich bekannt, dass die Justiz „in Deutschland traditionell als politisches Kampfmittel von oben nach unten, von rechts nach links fungierte.“18)
Die zuerst erarbeitete Gesetzesvorlage wurde zunächst von der US-Militärregierung nicht gebilligt, weil sie mit der Kontrollratsdirektive Nr. 24, die ein Kategoriensystem für die Ausschaltung von Nationalsozialisten vorsah, nicht vereinbar war.19)
Deshalb musste dem Gesetz eine Anlage, eine sogenannte „Liste“ beigefügt werden, die klare Positionen für die Bestimmung der Hauptschuldigen (Gruppe I) und der Belasteten (Gruppe II) aufführte und damit dem Gesetz ansatzweise einen „revolutionären Impetus“ verlieh.
Obwohl die deutschen Ministerpräsidenten sich dagegen wehrten, entschieden sie sich letztlich doch für Zustimmung, weil das Verfahren der Jurisdiktion die Möglichkeit bot, eine tiefgreifende Entnazifizierung auszuhebeln. In diesem Sinne äußerte sich der Ministerpräsident von Hessen Prof. Karl Geiler (parteilos), als er erklärte:
„Entscheidend für uns, dafür, daß wir es dann doch unterzeichnet haben, war der Umstand, daß die Jurisdiktion entgültig auf uns Deutsche übergehen sollte. Wir haben die Auffassung vertreten, daß die Durchführung der Denazifizierung eine deutsche Angelegenheit sein müsse, nicht aber eine Angelegenheit der Siegermächte. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend haben wir uns auf Grund der Zusage, daß nun wirklich die Sprüche der deutschen Kammern entscheidend sein sollten, entschlossen, das Gesetz zu unterzeichnen.“20)
Noch schien es, dass durch den Artikel 58 des Gesetzes eine völlige Paralysierung der Entnazifizierung verhindert werden könnte, wurde in ihm doch Personen untersagt, vor Erhalt ihres Spruchkammerbescheides im öffentlichen Dienst beschäftigt zu werden, stattdessen sollten sie nur zu „gewöhnlichen Arbeiten“ herangezogen werden.
Im weiteren Verlauf der Umsetzung der Entnazifizierung zeigte sich nun, dass die Länderregierungen und ihre Befreiungsminister sich schrittweise bemühten, den Einfluss der Spruchkammern zu stärken und auf die Aufhebung des Artikel 58 hinzuwirken.
Etappen auf diesem Weg waren die Heidenheimer Beschlüsse vom 18. Juli 1947, in denen eine Änderung der Artikel 33 und 58 gefordert wurde und den öffentlichen Anklägern die Möglichkeit eröffnet werden sollte, Personen, die unter die Kategorie I und II fielen in die Gruppe IV herabzustufen, sofern es sich um Personen handelt, die 1933-1937 der NSDAP beigetreten waren, automatisch in die NSDAP überführt wurden oder als einfache Parteigenossen in der Position eines Blockwartes wirkten. Am 29. September wurden Erleichterungen bei den Sühnemaßnahmen vorgenommen und am 7.10.1947 trat das „1. Änderungsgesetz zum Befreiungsgesetz des Länderrates der amerikanischen Zone“ in Kraft, das die Rechte des öffentlichen Klägers erweiterte, so dass nun auch Belastete zu Mitläufern erklärt werden konnten. Am 16.10.1947 wurde der Artikel 58 abgemildert und mit dem „2. Änderungsgesetz zum Befreiungsgesetz“ vom 25. März 1948 konnte auch die in Gruppe II als Belastete definierte Personen in eine niedrigere Gruppe eingestuft werden.
Der Hebel, mit dem die Entnazifizierung zu Fall gebracht werden sollte, bildete weniger das Kategoriensystem, das zu viele Personen erfasste, als vielmehr die Institutionalisierung des justiziellen Verfahrens, das mit der Propagierung von Verfahrensregeln nach Rechtsstaatsprinzipen die politische Säuberung untergrub.21)
2.2.2. Entnazifizierung in der britischen Zone
Für die Entnazifizierung in der britischen Zone war besonders die Kontrollratsdirektive Nr. 38 vom 12. Oktober 194622) von Bedeutung, da auf ihr die Zonenexekutivanweisung Nr. 54 von Anfang Februar 1947 und die Zonenexekutivanweisung Nr. 3 fußen, die am 14. April 1947 in Kraft traten. 23)
Auch die Briten übernahmen das Kategoriensystem der Entnazifizierung, doch ein damit einhergehender „revolutionärer Impetus“ lag ihnen fern. Dadurch konnte das mit ihr verbundene Ziel, institutionelle und organisatorische Voraussetzung für eine tiefgreifende Demokratisierung zu erreichen, von Anfang an leicht unterlaufen werden.
Zudem waren die Spruchkammern von Briten besetzt, so dass in der deutschen Öffentlichkeit ihre Tätigkeit als Siegerjustiz gewertet werden konnte.
„Da man kein allgemeines Meldesystem einführte, sondern nur die Leute überprüfte, die in bestimmten Positionen oder Berufszweigen beschäftigt waren, bzw. sich um eine Anstellung in diesen bewarben, war es vielen Nationalsozialisten möglich, soweit sie finanzielle Reserven hatten und dem automatischen Arrest entgangen waren, sich der Entnazifizierung überhaupt zu entziehen.“24)
Dadurch wurde als gesellschaftliche Gruppe nur die Beamtenschaft von der Entnazifizierung vollständig erfasst25), während andere Gruppen und Personen, deren Identifikation mit dem Nationalsozialismus sich nicht in der formalen Parteimitgliedschaft niederschlug, verschont wurden.26)
Auch wurde die Heranziehung Deutscher zur Mitarbeit an der Entnazifizierung sehr spät vorgenommen. Erst im Sommer 1947 entschloss sich die britische Militärregierung zur Ausarbeitung eines Rahmengesetzes zur Entnazifizierung, dass diese in die Verantwortung der Länderregierungen überführen sollte. Die Vorstellungen, die nun die Repräsentativorgane in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen entwickelten, ähnelten in hohem Maße den justiziellen Verfahren, die die Ministerpräsidenten und Länderregierungen in der US-Besatzungszone vorlegten.
So erarbeitete Dr. Artur Sträter (Justizminister NRW) ein Memorandum, das vom Zonenbeirat gebilligt wurde, dessen reaktionärer Charakter offensichtlich war:
„In diesen Rechtsgrundsätzen findet man im wesentlichen die Gedanken wieder, die schon in den diesbezüglichen Plänen des deutschen Widerstandes vom 20. Juli angelegt waren. Striktes Bestehen auf dem Rechtsprinzip, Wiederrückgängigmachung unberechtigter Vorteile, darunter vor allem die Rückversetzung der Beamten, die aus nationalsozialistischer Protektion gefördert worden waren, und die Ablösung aller Nationalsozialisten in politischen Schlüsselstellungen. Dies steht in auffälligem Gegensatz zu dem Befreiungsgesetz der amerikanischen Zone mit seiner Ahndung des politischen Irrtums und seinen gesellschaftsrevolutionären Tendenzen.“27)
Der vom Zonenbeirat verabschiedete Entwurf wurde jedoch von der britischen Militärregierung nicht gebilligt. Der Entwurf, den die Briten vorlegten, sah vor, dass die Verfahren gegen Personen, die der Kategorien I und II unterlagen, weiterhin von den Briten geführt wurden, erlaubte Revisionsverfahren schon abgeschlossener Fälle nur ausnahmsweise als Stichproben, insistierte auf der Durchführung der Kontrollratdirektive 24 und forderte die Anerkennung der Beendigung der Entnazifizierung im Bergbau durch die deutschen Behörden. Dieser Entwurf wurde wiederum von den Deutschen abgelehnt.
Auch der Versuch der britischen Militärregierung mit der „Verordnung Nr. 110 zur Übertragung der Entnazifizierungsaufgaben auf die Regierungen der Länder“ vom 1. Oktober 1947 blieb erfolglos, weil er im nordrhein-westfälischen und niedersächsischen Landtag keine Mehrheit fand. Umgekehrt wurden die Entnazifizierungsgesetze der Landtage von Schleswig-Holstein (4.2.1948) und NRW (29.4.1948) wiederum von den Briten abgelehnt.
Die schleppende Durchführung der Entnazifierung durch die Briten, die dieser Politik nur eine nachrangige Bedeutung zusprach, sowie die Verzögerungstaktik der deutschen Repräsentationsorgane sind als Hauptgründe dafür anzusehen, dass die englische Besatzungszone das „Hauptzentrum unveränderten Nazismus“28) blieb.
2.2.3. Zusammenfassung
1) Die Einflussnahme der Deutschen auf die alliierte Entnazifizierungspolitik in den westlichen Zonen erfolgte in der US-Zone Anfang Dezember 1945 und in der britischen Zone nach der Ernennung des Zonenbeirates (15.2.1946) erst im Sommer 1947.
2) Sie erstreckte sich sowohl auf die normative Regelung als auch die praktische Durchführung der Entnazifizierung.
3) Die deutschen Institutionen, die Vorschlags- und/oder Mitwirkungsrechte in den Besatzungszonen besaßen, waren allesamt von den jeweiligen Militärregierungen ernannt worden, besaßen somit keine Volkslegitimation.29)
4) Dem Versuch der Deutschen, auf die normativen Bestimmungen der Entnazifizierung einzuwirken, wurde durch die Alliierten klare Grenzen gesetzt. Er erstreckte sich deshalb hauptsächlich auf die Methoden der Durchführung der Entnazifizierung.
a) Durch das Gesetz Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus für die Länder Hessen, Bayern und Württemberg-Baden wurde der politische Ansatz der Entnazifizierung in ein rechtliches Verfahren verdreht, weil die Leitung der Spruchkammern Juristen einnahmen. Durch die damit einhergehende Individualisierung der Verfahren konnten die zunächst klar sozial definierten Kategorien aufgeweicht werden, damit besonders Betroffene der Kategorien I und II herabgestuft werden konnten;
b) In der britischen Zone wurde von deutscher Seite eine Verzögerungstaktik verfolgt, die sich in Kompetenzstreitereien zwischen Zonenbeirat, Landesregierungen und Landtage ausdrückte, um die Voraussetzungen zu schaffen, eine Paralysierung der Entnazifizierung einzuleiten.
5) Lag ursprünglich der Entnazifizierung mit dem Kategoriensystem der Gedanke zugrunde, die sozialen Schichten und Positionsträger, die den Nationalsozialismus aktiv unterstützten, förderten und von ihm profitierten, aus einflussreichen Positionen des öffentlichen Lebens auszuschalten, so wurde mit zunehmendem Einfluss der Deutschen und hier besonders der bürgerlichen Politiker rechtlich-individualisierende Elemente, insbesondere entlastende Gründe, in den Prozess der politischen Säuberung eingeführt. Damit entwickelte sich die Entnazifizierung nicht nur zu einem Chaos, sondern konnte insgesamt diskreditiert und hintertrieben werden.
3. Die Haltung der Liberalen zur Entnazifizierung und Versuche der Einflussnahme
Aus den vorausgegangenen Ausführungen wurde deutlich, mit welchen Methoden die Paralysierung der Entnazifizierung in den westlichen Besatzungszonen vorgenommen wurde.
Im folgenden Teil wird untersucht, inwieweit liberale Stellungnahmen zur Entnazifizierung mit den vorgestellten Methoden der Paralysierung korrespondierten und welche Versuche von FDP/DVP/LDP unternommen wurden, ihre Vorstellungen umzusetzen. Dieses doppelte Vorgehen ermöglicht es, Aussagen zu treffen, die sich nicht in der Wiedergabe liberalen Selbstverständnisses erschöpfen30), sondern Anspruch und Wirklichkeit miteinander zu konfrontieren.
3.1. Die Neuformierung des politischen Liberalismus in den Westzonen nach dem Zweiten Weltkrieg
Sogleich nach Kriegsende 1945 war es der politische Liberalismus, der sich als Stoßtrupp ökonomisch-politischer Restauration in Westdeutschland betätigte. Er konnte dies aus vor allem drei Gründen: Der politische Liberalismus besaß schon seit Jahrzehnten keine massenhafte Anhängerschaft, dementsprechend konstituierte er sich organisatorisch als Honoratiorenpartei und öffentlich als Wahlverein. Diese Organisationsform erlaubte es kapitalistischen Unternehmenseignern und/oder Lobbyisten verschiedener Kapitalfraktionen einflussreiche parteipolitische Ämter zu erlangen. Hinzu kam die Ideologie des Privatbesitzes (vor allem an Produktionsmittel), des freien Unternehmertums und der freien Marktwirtschaft mit ihrer rechtspolitischen Absicherung über das Konzept des Rechtsstaates, die sowohl Kontinuität als auch Distanz zur nationalsozialistischen Herrschaft herstellen konnte: Kontinuität über Restaurierung der Eigentumsverhältnisse, Distanz über Ablehnung des institutionellen Herrschaftsapparates.
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