Selbtbestimmung und Integration - große Leitziele der Sonderpädagogik?! Inwieweit sind diese in der Wirklichkeit von Menschen mit Autismus verwirklicht? Bei der Beschäftigung mit dieser Personengruppe wird sehr schnell deutlich, dass sie auf Grund ihrer Verhaltensauffälligkeiten noch sehr vielen Vorurteilen schutzlos ausgeliefert sind. Wegen der fehlenden bzw. eingeschränkten verbalen Kommunikationsmöglichkeiten verklingt ihre Stimme oft ungehört. Sie brauchen speziell auf ihre Bedürfnisse ausgerichtete Einrichtungen, die ihnen Hilfe und Unterstützung dabei bieten, sich in der für sie chaotischen Welt zurecht zu finden,um schließlich ihren Platz darin zu finden. Dabei möchten sie nicht bevormundet werden, sondern als gleichwertige Persönlichkeiten mitbestimmen dürfen.
Die vorliegende Arbeit widmet sich diesem Thema und stellt im letzten Teil die Tagesstätte für erwachsene Menschen mit Autismus in Nürnberg vor. Immer im Mittelpunkt die Fragestellung, inwieweit die Integration und Selbstbestimmung von Menschen mit Autismus gefördert und unterstützt wird.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Sonderpädagogische Leitideen in ihrer Bedeutung für das Leben von Menschen mit Behinderung
2.1 Integration
2.2 Normalisierung
2.3 Selbstbestimmung
2.4 Kurze Zusammenfassung
3. Ursachen und Wesensmerkmale des Autismus
3.1 Erscheinungsbild des frühkindlichen Autismus
3.1.1 Wahrnehmung
3.1.2 Kommunikation und Sprache
3.1.3 Motorische Kontrolle und autonome Funktionen
3.1.4 Sozialverhalten
3.1.5 „Inselbegabungen“
3.1.6 Kognition
3.1.7 Selbstverletzende Verhaltensweisen
3.1.8 Kurze Zusammenfassung
3.2 Mögliche Ursachen des frühkindlichen Autismus
3.2.1 Hirnorganische Ursachen
3.2.2 Chemische und biochemische Verursachungstheorien
3.2.3 Genetische Verursachungstheorien
3.2.4 Psychologische und psychogenetische Verursachungs theorien
3.2.5 Theorien im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen
3.2.6 Kurze Zusammenfassung
4. Die Tagesstätte für erwachsene Menschen mit Autismus in Nürnberg
4.1 Der Personenkreis - beispielhaft dargestellt an drei Biographien
4.1.1 Anna
4.1.2 Michael
4.1.3 Erik
4.2 Tages - und Wochenstruktur
4.3 Das Angebot der Tagesstätte
4.3.1 Kommunikationsorientierte Förderung
4.3.2 Wahrnehmungsorientierte Förderung
4.3.3 Beziehungsorientierte Förderung
4.3.4 Förderung der Selbständigkeit
4.3.5 Einzelförderangebote
4.3.6 Erwachsenenbildung
4.3.7 Heilpädagogisches Reiten
4.3.8 Kurze Zusammenfassung
4.4 Der Arbeitsbereich - ein vielversprechender Anfang auf einem weiten Weg
4.4.1 Praktika
4.4.2 Assistenzdienste
4.4.3 Grenzen der Eingliederung
5. Der Beitrag der Tagesstätte zu einem möglichst normalen und selbstbestimmten Leben
5.1 Integration
5.2 Normalisierung
5.3 Selbstbestimmung
6. Schlussgedanken
7. Bibliographie
Anhang
Quelle 1: Gespräch mit Michael (Name geändert)
Quelle 2: Gespräch mit Anna (Name geändert)
Quelle 3: Faltblatt der Tagesstätte
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1:Integrationsebenen
Abbildung 2: Dimensionen und Handlungsebenen der Normalisierung
Abbildung 3: Wahrnehmung
Abbildung 4: Zehenspitzengang
Abbildung 5:Organisationstafel
Abbildung 6: Tagesplan
Abbildung 7: Wochenplan
Abbildung 8: Kommunikationstafel
Abbildung 9 und 10: FC in der Tagesstätte
Abbildung 11: Werken mit Handführung
Abbildung 12: Förderung der Selbständigkeit
Abbildung 13: Umgang mit Geld
Abbildung 14: Bildungs - und Förderplan Seite 1
Abbildung 15: Bildungs - und Förderplan Seite 2
Abbildungsverzeichnis Seite
Abbildung 16: Zielplanung für Einzelförderung
Abbildung 17: Beschreibung der Einzelförderung
Abbildung 19: Beschreibung der einzelnen Fördereinheiten
Abbildung 20: Beobachtungsbogen
Abbildung 21: Erwachsenenbildung
Abbildung 22 und 23: Heilpädagogisches Reiten
1. Einleitung
Mit Beschluss des Rates der Europäischen Union ist das Jahr 2003 zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen erklärt worden. Themen wie Gleichstellung, Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung sind seitdem Inhalt von Werbespots im Fernsehen.
Alle Aktionen im Zuge des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderung verfolgen das Ziel, die Allgemeinheit zum Umdenken gegenüber ihren Mitmenschen anzuregen, die von einer Behinderung betroffen sind. Es soll deutlich werden, dass alle Menschen ein Recht darauf haben, ein Leben in Würde und Selbstbestimmung zu führen.
Dieser Wechsel der Perspektive wird von der Europäischen Union mit folgenden Schlagworten beschrieben:
- nicht mehr ausgrenzende Fürsorge, sondern
uneingeschränkte Teilhabe;
- nicht mehr abwertendes Mitleid, sondern völlige Gleichstellung;
- nicht mehr wohlmeinende Bevormundung, sondern das Recht auf Selbstbestimmung.
Bereits in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts setzte durch den Gedanken der Normalisierung ein Umdenken gegenüber Menschen mit Behinderung ein. Und auch die in den 70er Jahren aufkommende Integrationsbewegung leistete einen entscheidenden Beitrag diesen Menschen einen angemessenen Platz in der Gesellschaft einzuräumen. Mit dem Schlagwort „Nichts über uns ohne uns!“ meldeten sich Menschen mit Behinderung in neuerer Zeit schließlich selbst zu Wort und forderten mehr Selbstbestimmung.
Doch trotz all dieser Bewegungen, die Menschen mit Behinderungen dazu verhelfen sollen, nicht mehr auf der Schattenseite des Lebens zu stehen, sondern als gleichwertige Bürger anerkannt zu werden, gibt es nach wie vor Benachteiligungen, Vorurteile und Ausgrenzungen. Noch allzu oft ist es diesen Menschen nicht möglich ein Leben so normal und selbstbestimmt wie möglich zu führen.
Im Rahmen dieser Diplomarbeit geht es darum inwieweit dies für Menschen mit autistischem Verhalten möglich ist.
Bei der Beschäftigung mit dieser Personengruppe wird sehr schnell deutlich, dass sie auf Grund ihrer Verhaltensauffälligkeiten noch sehr vielen Vorurteilen schutzlos ausgeliefert sind. Wegen der fehlenden bzw. eingeschränkten verbalen Kommunikationsmöglichkeiten verklingt ihre Stimme oft ungehört. Sie brauchen speziell auf ihre Bedürfnisse ausgerichtete Einrichtungen, die ihnen Hilfe und Unterstützung dabei bieten, sich in der für sie chaotischen Welt zurecht zu finden, um schließlich ihren Platz darin zu finden. Dabei möchten sie nicht bevormundet werden, sondern als gleichwertige Persönlichkeiten mitbestimmen dürfen.
Die gesamte Diplomarbeit gliedert sich in 4 Hauptteile:
Im ersten Teil geht es darum die Leitideen Integration, Normalisierung und Selbstbestimmung in ihrer Bedeutung für Menschen mit Behinderung genauer darzustellen.
Im zweiten Teil erfolgt eine Beschreibung des Erscheinungsbildes und der Bedingungsfaktoren von autistischen Verhaltensweisen. Durch die ausführliche Darstellung der besonderen Wesensmerkmale des Autismus soll deutlich werden, auf welche Bedürfnisse und Besonderheiten eine Einrichtung ausgerichtet sein muss, die diese Menschen auf ihrem Weg unterstützen will.
Im darauf folgenden Abschnitt, geht es um die Darstellung der Tagesstätte für erwachsene Menschen mit Autismus in Nürnberg.
Die Einrichtung hat sich zum Ziel gesetzt Menschen mit Autismus zu begleiten, ihnen zu helfen eigene Vorstellungen vom Leben zu entwickeln und diese auch weitestgehend zu verwirklichen. Die Akzeptanz für Menschen mit autistischem Verhalten in der Gesellschaft zu vergrößern und dadurch den Weg hin zur Integration und aktiver Teilhabe zu ebnen, verstehen die MitarbeiterInnen der Tagesstätte als selbstverständliche Aufgabe.
Im letzten Teil dieser Arbeit soll schließlich versucht werden aufzuzeigen, ob und inwieweit es Menschen mit autistischem Verhalten durch die Unterstützung der Tagesstätte in Nürnberg möglich ist, ein selbstbestimmtes Leben integriert in unsere Gesellschaft zu führen und wo sie dabei noch auf Grenzen stoßen.
2. Sonderpädagogische Leitideen in ihrer Bedeutung für das Leben von Menschen mit Behinderung
Im Laufe der Entwicklung der Wissenschaft Sonderpädagogik gab es immer wieder unterschiedliche Strömungen, die sich mit der Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderung befassten.
Daraus haben sich drei große Leitideen entwickelt, die das pädagogische Denken und Handeln grundlegend beeinflussen.
2.1. Integration
„ Nicht behindert zu sein, ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, dass jedem von uns jederzeit genommen werden kann.
Lassen Sie uns die Behinderten und ihre Angehörigen auf ganz natürliche Weise in unser Leben miteinbeziehen. Wir wollen ihnen die Gewissheit geben, dass wir zusammengehören. Damit helfen wir nicht nur ihnen, sondern auch uns selbst. Denn wir lernen im Umgang mit ihnen wiederzuerkennen, was wichtig ist im Leben “ (aus der Weihnachtsansprache 1987 v. Richard v. Weizsäcker, in: Lindmeier / Wilder 2001, 13). ¾ Begriffsklärung „Integration“
Was bedeutet Integration eigentlich? Allzu oft wird diese Frage in der öffentlichen Diskussion mit dem Satz „Integration ist die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung“ beantwortet. Damit wird diese umfassende Idee lediglich beschränkt auf den Teilaspekt der schulischen Integration. Doch sie ist mehr als das und sie darf und soll auch nicht „mit dem Schulschluss enden“. Was passiert dann am Nachmittag, in den Ferien oder gar nach der Schulzeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die mit einer Behinderung ihr Leben bewältigen müssen.
Integration muss sich auf alle Lebensbereiche beziehen. Die vorschulische und schulische Integration sind dabei unbestritten sehr wichtig, um die Möglichkeit zu erhalten, gegenseitige Ängste abzubauen, Vorurteile gar nicht erst entstehen zu lassen und damit eine Beziehung zwischen Kindern mit und ohne Behinderung zu schaffen, in dem das Miteinander als etwas völlig selbstverständliches erlebt wird. Es geht darum eine Bereitschaft zu wecken, den anderen Menschen in seiner Individualität anzunehmen und ihn in seinem „Andersein“ zu akzeptieren.
Nirje definiert Integration in diesem Sinne als „ die Beziehung zwischen Menschen[, die] auf der gegenseitigen Anerkennung der Integrität des anderen und auf gemeinsamen Grundwerten und Rechten beruht “ (Nirje und Perrin 1999, 25). Er gibt sechs Integrationsebenen an, die ich in der folgenden Tabelle darstellen möchte und die meiner Ansicht nach ein sehr umfassendes Verständnis von Integration wiedergeben, das alle Lebensbereiche mit einschließt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Integrationsebenen (vgl. Nirje und Perrin 1999, 25f)
Das für Außenstehende oft unverständliche Verhalten von Menschen mit Autismus, macht es oft sehr schwer eine wirkliche Integration in die Gesellschaft zu erreichen.
Vor allem auf Grund ihrer Probleme im sozialen Bereich, sowie in der Kommunikation stehen diese Menschen meist abseits. Es gelingt nur mit großer Mühe Kontakte aufzubauen und diese aufrecht zu erhalten. Susanne Schäfer beschreibt diese Schwierigkeit: „ Selbst wenn ich mit Nachbarskindern wie Ines zusammen war, so war ich auch, oder gerade dann allein - so als wenn ich auchäußerlich gesehen alleine gewesen wäre. » Autistic aloneness « nennen das die Fachleute. Die Eltern versuchten alles mögliche, mich mit anderen Kindern zusammen zu bringen, drängten mich (...), » sozial « zu werden “ (Schäfer 2002, 61).
Betrachtet man daher die oben nach Nirje zitierten Ebenen der Integration, so muss man leider feststellen, dass Menschen mit Autismus noch lange nicht als voll integriert bezeichnet werden können. Bei der Ebene der gesellschaftlichen Integration lässt sich feststellen, dass Menschen mit Autismus in unserer Gesellschaft noch weit davon entfernt sind, als gleichwertige Bürger anerkannt zu werden und mitbestimmen zu dürfen. Die meisten von ihnen besitzen keine verbalen Kommunikationsmöglichkeiten und finden erst über die Methode der Gestützten Kommunikation eine Möglichkeit ihre Meinung kundzutun. Dies Facilitated Communication ist jedoch sehr umstritten und so scheitert ihre Mitbestimmung an der öffentlichen Bereitschaft ihre „Stimme“ überhaupt zu hören.
Dass Menschen mit Autismus integriert sein wollen drückt Erik - ein junger Mann, der die Tagesstätte für erwachsene Menschen mit Autismus in Nürnberg besucht - sehr deutlich in seinem Prosastück aus, das später (siehe Punkt 4.1.3.) noch zitiert werden wird. Ihr großes Problem ist nur leider allzu oft die Tatsache, dass sie nicht verstanden oder gehört werden und man sie auf Grund überholter Klischees nicht immer ernst zu nehmen scheint.
Der Wille dieser Menschen am Leben ihrer Umwelt teil zu haben und der Wunsch mitzubestimmen ist da, was fehlt ist die Bereitschaft ihnen dabei zu helfen und ohne Vorurteile auf sie zuzugehen.
Auch wenn ihnen kein auf den ersten Blick sichtbares Stigmata im Sinne von Gofmann anhaftet, so scheitert ihre Integration meist daran, dass andere Menschen ihrem Verhalten verständnislos gegenüberstehen und sich nicht die Mühe machen herauszufinden, was diese Menschen damit auszudrücken versuchen. ¾ Integration vs. Inclusion Abschließend möchte ich noch kurz darauf eingehen, dass die Idee der „Integration“ nicht mit dem Begriff der Inclusion verwechselt bzw. gleichgesetzt werden darf.
Während Integration von einem Zustand der Separation ausgeht und versucht, Menschen mit Behinderung in die bestehende Gesellschaft einzugliedern, geht Inclusion davon aus, dass es von Anfang an ein Zusammenleben in Gleichheit und Akzeptanz gibt, ohne dass es erst zur Ausgrenzung kommt. Menschen mit Behinderung sollen von Geburt an vollwertige und gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft sein und damit auch vollständig in die regulären Strukturen und gesellschaftlichen Angebote eingebunden sein. Inclusion ist also eine Haltung, die auf der Überzeugung beruht, dass alle Menschen gleichberechtigt sind und geachtet und geschätzt werden sollen. Damit strebt sie die Veränderung bestehender Strukturen und Auffassungen dahingehend an, dass die Unter- schiedlichkeit der einzelnen Menschen die Normalität ist. Jeder Mensch soll die Unterstützung und Hilfe erhalten, die er für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben benötigt
Inclusion stellt somit einen niemals endenden Prozess dar, bei dem Kinder und Erwachsene mit Behinderung die Chance bekommen, in vollem Umfang an allen Gemeinschaftsaktivitäten teilzunehmen, die auch Menschen ohne Beeinträchtigungen offen stehen.
„Inclusion International“, eine der größten Nichtregierungsorganisationen im Bereich Behinderung, setzt sich für dieses Ziel ein und versucht das Leben der 60 Millionen Menschen mit geistiger Behinderung zu verbessern. Zu diesem Zweck arbeitet sie mit den Vereinten Nationen und deren Sonderorganisationen zusammen. Mit diesen gemeinsam, kämpft „Inclusion International“ dafür, dass die Interessen von Menschen mit geistiger Behinderung sowohl auf nationaler als auch auf internationaler politischer Ebene berücksichtigt werden und dass auch für sie alle Menschenrechte in gleicher Art und Weise Gültigkeit besitzen. Ein wichtiger Schritt in Richtung Chancengleichheit und weg von Separation waren die 1993 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten „Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chancengleichheit für Behinderte“, die entscheidend auch durch die Initiative von „Inclusion International“ angeregt wurde, die auf Menschenrechtsverletzungen gegenüber Menschen mit geistiger Behinderung aufmerksam machte. Mit diesen so genannten „Standard Rules“ werden viele Lebensbereiche angesprochen, in denen die gleichberechtigte Teilhabe noch nicht hergestellt ist und es werden gleichzeitig Mittel und Wege benannt wie diese zu erreichen ist. So beziehen sich die Forderungen beispielsweise auf die Sicherstellung integrativer Bildungsangebote, auf aktive Eingliederung in den Arbeitsmarkt mit gleichzeitiger behindertengerechter Gestaltung der Arbeitsplätze, auf behindertengerechte Freizeit- und Sportangebote bis hin zum Zugang von Literatur auch für Menschen mit Sinnesschädigungen (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1993).
2.2. Normalisierung
„ All people with intellectual disability are citiziens of their country, no less entitled than their fellow citizens to consideration, respect and protection under the law. People with intellectual disability shall live, learn, work and enjoy life in the community and shall be accepted and valued as any other citizen is accepted or valued ”
(Lachwitz / Breitenbach 2002, 6).
Die historische Entwicklung des Normalisierungsprinzips wird im allgemeinen immer mit drei Namen verbunden. Daher soll auf den folgenden Seiten das Gedankengut von Niels Erik Bank-Mikkelsen, Bengt Nirje und Wolf Wolfensberger dargestellt werden, den drei „Pionieren“ dieser Leitidee.
¾ Niels Erik Bank-Mikkelsen
In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam in den skandinavischen Ländern immer mehr Kritik an der Anstaltsunterbringung von Menschen mit geistiger Behinderung auf, welche bis zum zweiten Weltkrieg noch als vorbildlich gegolten hatte.
Im dänischen Gesetz zur Sozialfürsorge von 1959, welches durch den Juristen Niels Erik Bank-Mikkelsen initiiert wurde, wurde das Normalisierungsprinzip auf Grund der öffentlichen Diskussion schließlich erstmals formuliert. Die Ziele der Leitidee sind in diesem Gesetz in dem Satz: „ Letting the mentally retarded obtain an existance as close to normal as possible “ (Thimm 1985, 5) zusammengefasst. In der Folge entfaltet Bank-Mikkelsen auf zahlreichen Vorträgen die Bedeutung des Gedankens, Menschen mit geistiger Behinderung Lebensumstände zu ermöglichen, die denen eines normalen Lebens möglichst entsprechen.
Sein Ziel war es eine Gleichstellung aller Menschen mit Behinderung mit anderen Bürgern der Gesellschaft zu erreichen. Dies beinhaltete unter anderem auch das Recht auf Behandlung, Unterricht und Ausbildung, das vielen Menschen mit Behinderung bis dahin noch versagt wurde.
Zusammenfassen lassen sich seine Ideen mit dem Postulat: Menschen mit geistiger Behinderung so zu behandeln, wie man selbst gerne behandelt werden möchte.
- Bengt Nirje
Die Idee verklingt nicht ungehört, sondern zieht ihre Kreise und so formuliert der Schwede Bengt Nirje schließlich auf der Basis von Bank-Mikkelsens Vorstellungen acht Prinzipien der Normalisierung, die heute, wenn es um dieses Thema geht, meist zitiert werden.
Normalisierung meint demnach:
- die Möglichkeit, an einem normalen Tagesablauf teilnehmen zu dürfen. Das heißt der Mensch mit geistiger Behinderung soll zum Beispiel nicht eher schlafen gehen müssen als seine Geschwister, nur weil er behindert ist oder aber falls er in einer Heimeinrichtung lebt, weil das Personal eher Feierabend macht. Nirje fordert, dass dem „Bedürfnis des einzelnen nach einem persönlichen Tagesablauf (...) Rechnung getragen werden (muss)“ (Nirje, Perrin 9).
- eine Trennung von Wohnen, Arbeit und Freizeit. Während das Zuhause ein Ort der Geborgenheit ist, an dem man selbst sein kann, ist die Schule oder Arbeitsstätte im Wesentlichen ein eher öffentlicher Ort. Die Freizeit hingegen ist da, um persönlichen Neigungen nachzugehen und soziale Kontakte zu knüpfen.
In großen Anstalten für Menschen mit Behinderung finden meist all diese Bereiche an einem Ort ihre Erfüllung. Dies schränkt jedoch stark ein und verhindert die Möglichkeit sich auch außerhalb einer geschützten Umgebung zu behaupten und Kontakte zu Menschen ohne Behinderung zu knüpfen.
- die Möglichkeit, den normalen Jahresablauf mit seinen Feiertagen, Ferien und Familienfeiern zu erleben. Die meisten Menschen halten es für selbstverständlich mindestens einmal im Jahr in Urlaub zu fahren, dort neue Eindrücke zu gewinnen und sich körperlich und seelisch zu erholen. Auch für Menschen mit geistiger Behinderung sollte dies möglich sein. Aber auch der Wechsel der Jahreszeiten, den jeder von uns zum Beispiel durch Umgestaltung der Wohnungsdekoration, einen veränderten Speiseplan und wechselnde Freizeitbeschäftigung jeder wahrnimmt, wird in großen Anstalten für Menschen mit Behinderung oft nicht ausreichend erkennbar. Das Personal, welches leider allzu oft unterbesetzt ist, hat mit der täglichen Routine zu viel zu tun, als dass noch Zeit für das Basteln neuer Dekoration, für Ausflüge an Baggerseen oder zum Eis laufen zur Verfügung steht. Was den Menschen mit Behinderung hier oft bleibt ist Monotonie.
- die Gelegenheit zu haben, die normalen Entwicklungserfahrungen eines
Lebenszyklus machen zu können, d.h. auch der Mensch mit geistiger Behinderung ist Kind, Jugendlicher und Erwachsener mit den jeweiligen Wünschen und Bedürfnissen, die jedes Lebensalter mit sich bringt. Es muss auch Jugendlichen mit Behinderung offen stehen die eigenen Fähigkeiten zu erkunden und Selbstvertrauen aufzubauen. Dazu sind vor allem vielfältige soziale Erfahrungsräume nötig, in erster Linie mit Gleichaltrigen. Integrative Schul- und Freizeitgruppen haben hier eine große Bedeutung.
Normaler Lebenslauf bedeutet aber auch die Möglichkeit, in einem bestimmtem Alter das Elternhaus zu verlassen und eigene Wege zu gehen. Für Menschen mit geistiger Behinderung, aber auch deren Eltern ist das ein langer und oft schmerzhafter Prozess, der einige Probleme mit sich bringt. Der Auszug aus dem Elternhaus ist ein entscheidender Entwicklungsschritt, der mit der entsprechenden Hilfe durch Fachpersonal bewältigt werden kann. Kleinere Wohneinheiten oder betreute Wohnformen sollen hier als Alternative zum Alleinwohnen dienen.
- die Respektierung von Wünschen, Entscheidungen und Bitten von Menschen mit Behinderung. Das beinhaltet natürlich auch die Bereitschaft der Umwelt, den Menschen Aufmerksamkeit zu schenken, die nonverbale Kommunikationsformen benötigen, um sich verständlich zu machen. Dieser Punkt ist vor allem auch ein großes Anliegen von Menschen mit Autismus, welche nur selten über verbale Ausdrucksmöglichkeiten verfügen. Durch die Methode der Gestützten Kommunikation (FC =Facilitated Communication) beginnen jedoch viele von ihnen ihre Emotionen und Wünsche zu artikulieren. Was noch allzu oft auf Seiten der Umwelt fehlt ist die Bereitschaft diese Aussagen nicht ungehört verklingen zu lassen.
- in einer zweigeschlechtlichen Welt zu leben. Auch Menschen mit geistiger Behinderung sehnen sich nach Liebe, Zuneigung und Zärtlichkeit und niemand hat das Recht ihnen diese Bedürfnisse auf Grund ihres IQs zu verwehren.
- Einen normalen wirtschaftlichen Lebensstandard zu haben. Auch Menschen mit geistiger Behinderung haben das Recht auf finanzielle Unterstützung, wie es auch allen anderen Bürgern durch die Sozialgesetzgebung gewährt wird. Das bedeutet auch einen angemessenen Lohn für Arbeit zu erhalten. Hier gerät das sehr niedrige Entgelt der Werkstätten immer wieder in die Kritik, denn es reicht oft nicht als Basis für ein selbstbestimmtes Leben, in dem man sich persönliche Wünsche in gewissem Rahmen auch erfüllen kann.
- dass der Standard für Einrichtungen, wie Schulen, Arbeits- und Wohnstätten dem der Mitbürger entspricht. Das bedeutet beispielsweise, „daß eine Wohnstätte für Menschen mit geistiger Behinderung niemals für mehr Personen geplant werden darf, als die Nachbarschaft leicht im Rahmen des normalen örtlichen Lebens aufnehmen kann“ (Nirje / Perrin , 20). Vor allem heißt das jedoch auch, dass Einrichtungen für Menschen mit Behinderung gleich welcher Art nicht isoliert angelegt werden sollten.
Zusammenfassend kann man zu Nirjes Gedanken sagen, dass er das Ziel verfolgte, dass alle Menschen, und damit auch jeder Person mit geistiger Behinderung die gleichen Vorraussetzungen eingeräumt werden müssen.
- Wolf Wolfensberger
Wolfensberger versuchte das Normalisierungsprinzip unter soziologischen Gesichtspunkten neu zu formulieren. Da Menschen in unserer Gesellschaft auf Grund ihrer sozialen Rolle eingestuft werden, bedeutet Normalisierung für ihn in erster Linie die soziale Rolle von Menschen mit Behinderung aufzuwerten. Dies will er zum einen durch die Aufwertung des Images und zum anderen durch die Aufwertung der Kompetenz erreichen. Diese beiden Dimensionen, die er als Interpretation und Interaktion bezeichnet, bezieht er wiederum auf drei Handlungsebenen, jene der Person, jene der mittleren sozialen Systeme und jene der Gesellschaft.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Dimensionen und Handlungsebenen der Normalisierung
Betrachtet man bei Wolfensberger lediglich die Ebene der Person, so könnte der Eindruck entstehen, er meint mit Normalisierung die einseitige Anpassung von Menschen mit Behinderung an die Normen der Gesellschaft, was jedoch eine Fehldeutung wäre. Man muss alle drei Ebenen gleichzeitig betrachten um nachzuvollziehen, was er unter Normalisierung versteht.
Zusammenfassend kann man sagen, dass es Wolfensberger um die Bereitstellung positiv bewerteter sozialer Rollen für Menschen, die in der Gefahr stehen gesellschaftlich negativ bewertet zu werden, geht.
2.3. Selbstbestimmung
„ Zu oft entscheiden andere für uns in Dingen, die unser eigenes Leben betreffen. Manchmal sogar, ohne uns in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen. Eltern und Helfer meinen oft, wir müssten beschützt werden. Sie wagen es nicht, ein Risiko einzugehen oder uns etwas riskieren zu lassen. Sie meinen sie seien dafür verantwortlich. Deshalb nehmen sie oft selbst die Sache in die Hand. Auf diese Weise halten sie uns davon ab, Dinge selbst zu tun. Sie erlauben uns nicht, etwas zu versuchen, zu scheitern und wieder von vorne zu beginnen. Wir bekommen keine Gelegenheit zum Lernen. Das behindert die Entwicklung. Wir selbst wissen, was das Beste für uns ist und wir können selbst auswählen “ (Grundsatzaussagen der Internationalen Liga von Vereinigungen für Menschen mit geistiger Behinderung im Juli 1993 in Utrecht, nach: Frühauf, 1994, 51f).
- Geschichtliche Entwicklung des Selbstbestimmungsgedankens
Menschen mit geistiger Behinderung standen im Laufe der Geschichte eher auf der Schattenseite des Lebens. Auch wenn sich an ihrer Situation, vor allem seit der Gründung der Lebenshilfe und dem Aufkommen des Normalisierungs und Integrationsgedankens in den letzten Jahrzehnten viel verbessert hat, müssen sie auch heute noch für ihre Rechte kämpfen. Tatsächlich entscheiden Menschen, die von einer kognitiven Beeinträchtigung betroffen sind, sehr viel weniger über sich und ihre Lebensumstände als andere Bürger unseres Landes.
Erst in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beginnt der Begriff der „Selbstbestimmung“ in die Geistigbehindertenpädagogik Einzug zu halten, während vorher vorrangig die Leitideen der Normalisierung und Integration diskutiert wurden.
So sucht man beispielsweise in den KMK-Empfehlungen, die Anfang der 80er Jahre formuliert wurden, noch vergebens nach dieser „neuen Idee“ in der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung.
Nach dem 1994 von der Bundesvereinigung der Lebenshilfe veranstalteten Kongress „Ich weiß doch selbst, was ich will...“ steht der Begriff der Selbstbestimmung im Mittelpunkt der Diskussion (vgl. Fornefeld 2000, 148).
Die Idee, die hinter diesem Begriff steht, stammt - wie auch schon die Leitziele der Integration und Normalisierung - aus dem angelsächsischen und skandinavischen Raum. Bereits in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts schlossen sich Menschen mit einer Körperbehinderung dort im Zuge der „Independent living“ Bewegung zusammen, um gegen bevormundende und entmündigende Verhältnisse in den Großanstalten zu protestieren (vgl.ebenda). „Mittlerweile hat dieser Appell behinderte Menschen in vielen Ländern erreicht und ermutigt (...)“ (ebenda), und so hat die Selbstbestimmungsidee neue Akzente gesetzt.
Es geht hierbei in erster Linie darum, den Menschen mit Behinderung gleich welcher Art mehr zuzutrauen, sie ernst zu nehmen, Bevormundungen abzubauen und im Gegenzug diese Menschen selbst entscheiden zu lassen. Das beginnt bei banalen und alltäglichen Dingen, wie der Frage, was möchtest du trinken, essen, welche Kleidung möchtest du tragen und reicht bis zu Entscheidungen, wie zum Beispiel, wo möchtest du wohnen oder arbeiten. Es geht darum, nicht über den Menschen mit Behinderung zu entscheiden, sondern darum seine Äußerungen ernst zu nehmen und wenn, dann mit ihm über sein Leben zu entscheiden, ganz nach dem Motto „Nichts über uns ohne uns!“(Lindmeier/Wilder 2001, 61). Nach Mühl bedeutet Selbstbestimmung zunächst „die Möglichkeit des Individuums, Entscheidungen zu treffen, die den eigenen Wünschen und Bedürfnissen oder den eigenen Wertvorstellungen entsprechen“ (Mühl 1994, 93).
-Selbstbestimmung vs. Selbständigkeit
Menschen mit geistiger Behinderung wird jedoch noch allzu oft die Möglichkeit der Selbstbestimmung abgesprochen, mit der Begründung, dass sie vor allem durch ein Mehr an sozialer Abhängigkeit (vgl. Hahn 1981) gekennzeichnet sind, wodurch Selbstbestimmung nur in begrenztem Maße realisierbar sei. Menschliche Abhängigkeit darf jedoch niemals im Widerspruch zum Leitziel der Selbstbestimmung gesehen werden, denn entscheidend „für die Entwicklung menschlicher Autonomie sind (...) vor allem die Gestaltungsprinzipien innerhalb von Abhängigkeitsbeziehungen“ (Frühauf 1994, 53).
Kein Mensch, egal ob mit oder ohne Beeinträchtigung, kann zu 100% selbständig oder selbstbestimmt sein. Bei Menschen mit einer Behinderung, die sich durch ein höheres Maß an Abhängigkeit von anderen Menschen unterscheiden, rückt also die Gestaltung der helfenden Beziehung in den Mittelpunkt, nicht die Tatsache überhaupt der Hilfe zu bedürfen. Die Fragen, die man sich als Betreuer oder vielleicht sogar als Mutter eines Menschen mit Behinderung stellen muss, ist also jene, inwieweit man ihn mitentscheiden lässt, ob man seine Bedürfnisäußerungen ernst nimmt, oder ob man sie gar einfach übergeht?
Die Selbstbestimmung eines Menschen wird also nicht in erster Linie durch seine Unselbständigkeit in bestimmten Bereichen eingeschränkt, sondern vor allem durch die Bereitschaft derer, von denen man abhängig ist. Nur wenn sich die Bezugs- oder Betreuungsperson auf die Wünsche des Menschen mit Behinderung einlässt, können diese auch befriedigt werden.
So kann beispielsweise ein Mensch mit einer geistigen Behinderung in der alltäglichen Selbstversorgung so selbständig sein, dass er sich kleinere Mahlzeiten selbst zubereiten kann, aber gleichzeitig hat er vielleicht Schwierigkeiten, über Zeitpunkt oder Auswahl des Essens zu entscheiden. Bei dieser Entscheidung ist er dann auf Hilfe von Außenstehenden angewiesen.
Die Befriedigung von Bedürfnissen, bei der man auf Hilfe anderer Personen angewiesen ist, setzt immer Kommunikation und die Bereitschaft der Betreuungsperson voraus, darauf einzugehen und dabei zu assistieren. Doch für viele Menschen mit einer geistigen Behinderung scheitert der Prozess der Selbstbestimmung schon bei der Mitteilung ihrer Entscheidungen, da ihnen die Kommunikationsmöglichkeiten dazu einfach fehlen.
Ein wichtiger Schritt in Richtung zu mehr eigener Entscheidungsfreiheit und weg von Bevormundung sind daher alle Formen der Unterstützten Kommunikation, wie z.B. Gesten, Kommunikationstafeln, Alpha talker und vieles mehr. Für Menschen mit Autismus hat sich hier vor allem die Methode der Gestützten Kommunikation, kurz FC (=Facilitated Communication), bewährt, durch die sie die Möglichkeit erhalten ihre Wünsche mitzuteilen und ihre Bedürfnisse zu befriedigen.
Damit auch Menschen mit großer Hilfeabhängigkeit, zum Beispiel durch eine schwere Körperbehinderung, nicht zwangsläufig fremdbestimmt leben müssen, hat sich das Modell der Assistenz bewährt. Der Mensch mit Behinderung wird dadurch zum Arbeitgeber für einen Assistenten, der ihm bei der Ausführung seiner Wünsche und Bedürfnisse hilft, ohne dabei jedoch auch für ihn zu entscheiden.
Zusammenfassend lässt sich also an dieser Stelle sagen, dass „ein hohes Maß an „Nicht-Können“ allein noch nicht rechtfertigt, einem Menschen grundsätzlich Selbstbestimmungsmöglichkeiten abzusprechen. [Auch wenn] Die Lebensrealität gerade von Menschen mit sehr schweren Behinderungen (...) heute in der Regel weit entfernt von dieser möglichen Synthese von Unselbständigkeit und Selbstbestimmung“ (Frühauf 1994, 56) ist.
2.4. Kurze Zusammenfassung
Eine Gesellschaft, in der die vielen verschiedenen Menschen ohne Angst und Vorurteile gleichberechtigt zusammen leben, ist noch ein schöner Traum. Aber ein Traum, für den sich zu kämpfen lohnt. Ob Menschen mit Behinderung oder ohne - alle wollen selbst entscheiden, wie und wo sie leben möchten.
(Von den TeilnehmerInnen des Kongresses „ Wir
wollen mehr als nur dabei sein! “ vom 20. September 2003 in Dortmund, Bundesvereinigung Lebenshilfe, aus: http://www.lebenshilfe.de/content/stories/index.cfm /key.957/secid.7/secid2.42)
Integration, Normalisierung und Selbstbestimmung - drei Ideen, die in erster Linie ein Ziel verfolgen: Menschen mit Behinderung zu vollwertigen und gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern in unserer Gesellschaft zu machen, die unter uns und nicht neben uns leben sollen.
In einigen Lebensbereichen sind wir noch ein Stück weit von der Verwirklichung dieser Leitideen entfernt. Auch aus diesem Grund hat die Europäische Union das Jahr 2003 zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen ausgerufen. Der Grundsatz "Nichts über uns ohne uns" soll zu einem Umdenken im Umgang mit Behinderten anregen: Aktive Teilhabe statt Ausgrenzung, Gleichstellung statt Mitleid, Selbstbestimmung statt Bevormundung.
Wichtig ist in erster Linie, dass Selbstbestimmung, Normalisierung und Integration keineswegs Ziele sind, die sich lediglich auf den pädagogischen Bereich beschränken. Sie haben immer und überall Gültigkeit. Nur durch ihre Verwirklichung wird das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung ohne Angst und Vorurteile Wirklichkeit und bleibt nicht bloß ein „schöner Traum“.
3. Ursachen und Erscheinungsbild des Autismus
„Autistische Menschen sind von Geburt an anders. Aber sie sind Menschen. Sie leben ihr Leben bloß auf andere, interessante, ungewöhnliche Weise“ (O´Neill 2001, 14).
Begibt man sich auf die Suche nach Beschreibungen von Menschen, die man heute als autistisch bezeichnen würde, so muss man in der Geschichte weit zurückschauen. Denn die Beschreibung des französischen Arztes Jean-Marc Gaspard Itard von einem etwa 12-jährigen Jungen, der 1799 in den Wäldern von Aveyron gefunden wurde, mutet wie eine typische Fallbeschreibung eines Kindes mit autistischem Verhalten an. Itard, der das Verhalten des „wilden Jungen von Aveyron“ in allen Einzelheiten dokumentierte, schreibt zum Beispiel von der strikten Widersetzung gegen jede Veränderung, davon, dass Gegenstände im Zimmer des Junge immer gleich angeordnet sein mussten und vielen anderen Verhaltensweisen, die in unserer Zeit zur Diagnose des Autismus geführt hätten. Im Falle der so genannten Wolfskinder spricht man in der heutigen Unterscheidung vom „psychogenen Autismus“.
Der Begriff „Autismus“ selbst taucht in dieser frühen Beschreibung dagegen noch nicht auf. Dieser wurde als Erstes von dem Psychiater Eugen Bleuler im Jahre 1911 geprägt und zwar im Zusammenhang mit seinen Forschungen auf dem Gebiet der Schizophrenie. Er bezeichnete mit diesem Terminus, der sich auf das griechische Wort „autos“, zu Deutsch „selbst“ zurückführen lässt, jedoch kein eigenständiges Krankheitsbild, sondern in erster Linie einen Zustand der extremen Zurückgezogenheit auf sich selbst, den er dem Krankheitsbild der Schizophrenien zuordnet (vgl. Dinges/Worm (Hrsg.) 2001, 19f).
Der amerikanische Kinderpsychiater Leo Kanner griff diesen Begriff dann im Jahre 1943 in seinem Artikel „Autistic disturbances of affective contact“ in Zusammenhang mit 11 Kinder auf, die Kanner im Laufe seiner medizinischen Tätigkeit vorgestellt wurden und bei denen er eine extremen Zurückgezogenheit erkannte.
Er ging jedoch einen entscheidenden Schritt über Bleuler hinaus, denn Kanner fasste autistisches Verhalten als Erster als eigenständiges Krankheitsbild bei Kindern auf. Ein Jahr später führte er für das von ihm beobachtete Verhalten den Begriff „early infantile autism“ (dt. frühkindlicher Autismus) ein, der so bis heute als medizinischer Ausdruck für dieses Erscheinungsbild erhalten blieb.
Etwa zur gleichen Zeit beschrieb auch der Wiener Kinderarzt Hans Asperger eine Gruppe von Jugendlichen mit abnormen Verhaltensweisen und auffälligen Gemeinsamkeiten im Sozialverhalten, die er in seiner Einrichtung in Wien beobachtet hatte. Er bezeichnete diese Kinder als „autistische Psychopathen“ und griff damit ebenfalls die Terminologie „Autismus“ von Bleuler für einen Zustand der extremen Bezogenheit auf das eigene Selbst auf.
Auf Grund der herrschenden politischen Verhältnisse dieser Zeit wussten Kanner und Asperger jedoch nichts von den Beobachtungen des jeweils anderen, obwohl sich die Kinder und Jugendlichen doch zum Teil sehr ähnlich verhielten. Im Laufe der Jahre stellten sich jedoch auch einige Unterschiede der beiden beschriebenen Gruppen heraus, was zu einer Aufspaltung des Autismusbegriffs in „AspergerSyndrom“ und „Kanner-Syndrom“ führte.
In der heutigen Diskussion wird die klare Abgrenzbarkeit der beiden Formen des Autismus zum Teil bestritten und man geht davon aus, dass „(...)das Asperger- Syndrom lediglich eine milde Form des Autismus bei recht intelligenten Kindern darstellt“ (http://www.m-ww.de/ krankheiten/psychischekrankheiten/autismus.html). Es wird diskutiert ob es sich um ein so genanntes „autistisches Kontinuum“ handelt, beim dem die Übergänge fließend sind.
In der klinischen Klassifikation unterscheidet man derzeit fünf Formen des Autismus:
1. Asperger-Autismus (F 84.5)
2. Frühkindlicher Autismus (F 84.0)
3. Atypischer Autismus (F 84.1)
4. Autismus mit atypischer Symptomatik (F 84.11)
5. Autismus mit atypischem Erkrankungsalter (F 84.10)
(vgl. DILLING, Horst, MOMBOUR, Werner; SCHMIDT, Martin (Hrsg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10 Kap. V (F), Forschungskriterien, Verlag Hans Huber, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle 1994) Da lediglich Personen mit frühkindlichem bzw. atypischem Autismus die Tagesstätte in Nürnberg besuchen, und somit der Personenkreis der AspergerAutisten dort nicht vertreten ist, beschränkt sich die folgende Beschreibung zu Ursachen und Erscheinungsbild auf den frühkindlichen Autismus, wie er von Leo Kanner zum ersten Mal beschrieben wurde.
3.1 Erscheinungsbild des frühkindlichen Autismus
„ Man kann Autismus nicht mit den meisten anderen Sorten von Behinderung vergleichen: Es ist anders, wenn sich ein Mensch mit gelähmten Beinen wünscht, gehen zu können, oder wenn ein Mensch, der blind ist, sehen können möchte, oder wenn ein Mensch, der eine geistige Behinderung hat, gerne « klüger » wäre.
Bei Autismus ist die Behinderung derart eng verbunden mit der eigenen Persönlichkeit, daßvielleicht gar keine Persönlichkeit mehrübrig bleiben würde, wenn man alles, was mit dem Autismus zusammenhängt, entfernen würde “ (aus dem autobiographischen Roman von Susanne Schäfer 2002, 166).
Im Folgenden sollen Verhaltensweisen und Auffälligkeiten in den verschiedensten Bereichen angeführt werden, die bei Menschen beobachtet werden können, die man als autistisch im Sinne des „frühkindlichen Autismus“ - wie ihn Leo Kanner zuerst beschrieben hat - bezeichnet. Hierbei versteht es sich von selbst, dass nicht jeder von ihnen alle Symptome gleichzeitig zeigen wird. Der Grad der Ausprägung der Züge ist von Person zu Person unterschiedlich und kann sich auch im Laufe der Entwicklung verändern (vgl. Dalferth 1987, 19).
3.1.1 Wahrnehmung
Wie oben erwähnt, liegt bei Menschen mit autistischem Verhalten eine Wahrnehmungsverarbeitungsstörung vor, wodurch es ihnen nicht möglich ist, sensible und sensorische Reize aus Umwelt, wahrscheinlich auch aus dem eigenen Körper, richtig zu koordinieren.
Um sich in der Umwelt zu orientieren, um sich auf die relevanten Dinge zu konzentrieren, bedarf es eines Filters, der das in der aktuellen Situation Nicht- Notwendige aussondert. Dieses Reglersystem im Gehirn scheint bei Menschen mit autistischem Verhalten in irgendeiner Weise gestört zu sein, d.h. ihnen fehlt sozusagen der Überblick, um sich aus der Vielfalt der angebotenen Reize für bestimmte Wahrnehmungselemente zu entscheiden. „Um von der Reizvielfalt der Umwelt nicht überflutet zu werden, reagiert ihr Wahrnehmungsmechanismus »überselektiv«“ (Janetzke 1993, 16), d.h. sie grenzen ihr Wahrnehmungsfeld stark ein, so dass ihre Sinne nur einen kleinen Ausschnitt aufnehmen.
Für Außenstehende erscheint es auf den ersten Blick bisweilen so, als seien sie taub, da sie auf Rufen oder laute Geräusche nicht reagieren. Da sie sich aber im Gegensatz dazu bei leisen Geräuschen nach diesen umdrehen, auf Musik und Wasserrauschen reagieren bzw. bestimmte Geräuschen, die uns „normal hörenden“ Menschen keine Probleme bereiten, in Panik geraten lassen, wird auf den zweiten Blick deutlich, dass sie nicht taub sein können. In Wahrheit schalten sie den Gehörsinn - bildlich dargestellt - in bestimmten Situationen einfach aus, da über diesen Sinneskanal viel mehr Informationen auf sie einströmen als über die Nahsinne, wie zum Beispiel Fühlen oder Riechen (vgl. Fischer, in: Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Weiterbildung (Hrsg.) 1997, 28).
Der Geruchs- und Geschmackssinn wird von vielen Menschen mit autistischem Verhalten bevorzugt, was schließlich zu Verhaltensweisen wie dem Beschnüffeln oder Ablecken von Personen und Gegenständen führen kann.
Über das Sehen strömen oft zu viele Reize auf sie ein. Dies wird dadurch kompensiert, dass sie selten Dinge oder Personen fixieren. Stattdessen werfen sie nur kurze Blicke auf diese. Man findet aber auch die recht häufig zu beobachtende „visuelle Meidung“, was bedeutet, dass der Mensch mit autistischem Verhalten bei zu komplexen visuellen Strukturen durch Bedecken der Augen oder Abwenden des Kopfes die Reizüberflutung zu vermeiden sucht. Auch der fehlende Blickkontakt, der bei Kindern mit autistischem Verhalten sehr schnell auffällt, ist auf die Störung in der Wahrnehmung zurückzuführen.
Dietmar Zöller beschreibt seine visuellen Eindrücke in seinem autobiographischen Werk „Ich gebe nicht auf“. An dieser Aussage wird deutlich, dass Menschen mit Autismus, oft mit verursacht durch ihre Probleme in der visuellen Wahrnehmung, Schwierigkeiten haben Gestik und Mimik anderer Personen zu erkennen und es ihnen wohl deshalb auch so schwer fällt soziale Kontakte aufzubauen. „(...) nach wie vor muß ich meine Augen besonders einstellen, um deutlich sehen zu können. Ich darf nicht gerade hingucken, sondern von der Seite. (...). Ein Blickkontakt, wie Therapeuten ihn wollen, geht nicht. (...) Die Störungen in der visuellen Wahrnehmung haben jahrelang mein Interesse für andere Menschen beeinträchtigt. Ich habe die Menschen als konturenlose Gebilde gesehen. Alles war verschwommen, teilweise verzerrt. Je länger ich jemanden angeschaut habe, desto schlimmer wurde es“ (Zöller 1992, 11f) .
Insgesamt lässt sich feststellen, dass Menschen mit autistischem Verhalten die Eindrücke, die sie mit ihren Sinnen empfangen, auf eine andere Art und Weise zu verarbeiten scheinen als wir.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Wahrnehmung (Petra Wolf, Leiterin der Tages stätte für erwachsene Menschen mit Autismus in Nürnberg)
Dieses Schaubild stellt den Weg dar, den eine Empfindung bis zur darauf folgenden Handlung geht. Bei Menschen mit autistischem Verhalten scheint es sowohl bei der Verarbeitung im Gehirn, sowie bei der Planung einer Handlung oder Bewegung Probleme zu geben.
Eine Störung in einer der „Stationen“ führt jedoch wiederum zu einer fehlerhaften Rückmeldung an die Sinne. Auf diese Weise erklärt sich die andere Wahrnehmung von Menschen mit autistischem Verhalten.
EEG-Messungen an zwei Vergleichsgruppen, von denen es sich bei einer um Menschen ohne, bei der anderen um Menschen mit autistischem Verhalten handelte, scheinen das Problem Mimik und Gestik zu verstehen, hirnorganisch nachzuweisen. Den beiden Gruppen wurden Bilder von sozialen Situationen, sowie von Gegenständen gezeigt. Bei Menschen, die kein autistisches Verhalten zeigten, wurden unterschiedliche Gehirnregionen angesprochen. Bei Menschen mit autistischen Verhaltensweisen wurden bei den Bildern, die soziale Situationen zeigten, die selben Bereiche im Gehirn aktiviert, wie bei den Gegenständen (vgl. Tagung: „Autismus-Diagnostik“ des Bundesverbandes Hilfe für das autistische Kind am 8.März 2003 in Magdeburg).
Dieses Experiment zeigt, dass die Probleme im sozialen Bereich möglicherweise durch eine Fehlfunktion des Gehirns verursacht ist.
Die Liste der Auffälligkeiten in diesem Bereich ließe sich fortsetzen, was aber den über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen würde, weshalb hier nur die Symptome genannt wurden, die am augenscheinlichsten und bei nahezu jedem Menschen mit autistischem Verhalten in irgendeiner Form oder auf irgendeiner Entwicklungsstufe zu finden sind.
3.1.2 Kommunikation und Sprache
“Not being able to talk doesn`t mean to have nothing to say”
Rosemary Crossley, in: Slotta 2002, 74
„A second distinctive feature was noted as the failure to use language for the purpose of communication. In three of the 11 cases, speech failed to develop altogether [S.N.] . The remaining eight rapidly developed a precocity of articulation which, coupled with unusual facility in rote memory, resulted in the ability to repeat endless numbers of rhymes, catechisms, lists of names, and other semantically useless exercises.[…]
[...]
- Citation du texte
- M.A. Simone Nuß (Auteur), 2003, Autismus. Leben so normal und selbstbestimmt wie möglich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84260
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