Ab dem ersten Band der "Philosophie der symbolischen Formen" hatte Cassirers Gesamtwerk schon die Richtung von der neukantianischen Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie und philosophischen Anthropologie hin eingeschlagen. Der Kantische Begriff des "Raums" wird von Cassirer aber weiterhin verwendet und erscheint nun in wechselnden Kontexten. Dieser Umstand darf aber nicht in die naheliegende Vermutung münden, Cassirer habe Kants Raumbegriff willkürlich modifiziert bzw. aus seinem angestammten Kontext zu extrahieren versucht. Wie ich zu zeigen beabsichtige, ist fast vom Gegenteil auszugehen: Nicht nur nach neuen Anwendungsmöglichkeiten für die erkenntniskritischen Anteile in Kants Raum-Zeit-Theorem fragte Cassirer unausgesetzt mit Nachdruck, auch war ihm an der Einordnung von den Begriffen der gerade entstehenden Disziplinen Psychologie und Verhaltensforschung in die Terminologie der überlieferten Philosophie gelegen. Cassirer versucht in allen Phasen seines Gesamtwerkes, auf die metaphysische Denkweise Kants zurückzukommen und sie mit den Erkenntnissen aus anderen Wissenschaften zu versöhnen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung und methodologische Vorbemerkungen
2 Die erkenntnistheoretische Erörterung des Kantischen „Raumes“ bei Cassirer in Hinsicht auf die Relativitätstheorie
2.1 Physikalische Folgerungen aus der allgemeinen Relativitätstheorie
2.2 Mathematische Folgerungen aus der nichteuklidischen Geometrie
3 Die Erörterung des Kantischen Raumbegriffs im Kontext der „symbolischen Formen“
3.1 Der sprachliche Kontext im ersten Band der PSF
3.2 Der Raum als mythisches Gebilde
4 Spuren der Cassirerschen Arbeit am Raumbegriff Kants in der neueren philosophischen Anthropologie
Bibliographie
1 Einleitung und methodologische Vorbemerkungen
Immanuel Kant gibt in der „Kritik der reinen Vernunft“ von 1781 (im Folgenden: KrV) im ersten Abschnitt der „Transzendentalen Ästhetik“ zum Begriff des Raumes folgende transzendentalphilosophische Erklärung ab:
„Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden. Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängige Bestimmung angesehen, und ist eine Vorstellung a priori, die notwendiger Weise äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt.“[1]
Diese Bemerkungen Kants bilden den Gipfel einer geistesgeschichtlichen Entwicklung, die ihren Ausgang bei der mechanischen Physik Isaac Newtons (1643-1727) nahm und bis zur Postulierung der allgemeinen Relativitätstheorie durch den Physiker Albert Einstein (1879-1955) im Jahre 1916 eine fast unbestrittene Gültigkeit besaß. Newton hatte das noch von Aristoteles stammende, endliche und abgeschlossene Welt- und Raumbild mit der Erde als unbewegliches Zentrum durch die Vorstellung eines unendlichen Raumes ersetzt, in dem überall im Kosmos dieselben Kraft- und Bewegungsgesetze herrschen. Maßgeblich für das Thema der vorliegenden Hausarbeit sind dabei Newtons Ansätze vom „absoluten Raum“, die er 1687 mit den folgenden Worten ausführt: „Der absolute Raum, der aufgrund seiner Natur ohne Beziehung zu irgendetwas außer ihm existiert, bleibt sich immer gleich und unbeweglich.“[2] Newton entwirft also den Raum als eine von den Körpern unabhängige und selbständige Realität, wobei jedoch, wie Martina Löw betont[3], die althergebrachte und bis heute im Alltagsdenken dominante Vorstellung des Raumes als „Container“ – der mit verschiedenen Elementen angefüllt werden kann, als „leerer“ Raum aber immer existent bleibt – nicht grundlegend verworfen, vielmehr erst metaphysisch verankert wird. Und dies, obwohl – wie der zeitgenössische Physiker Stephen W. Hawking es 1988 geltend machte – für Newtons Mechanik das Modell des „relativen Raumes“ ausreichend gewesen wäre. Schon zu Newtons Lebzeiten war indes der aus seinem Konzept folgende Dualismus von Raum und Materie[4] heftig umstritten, weil die Analysier- und Beschreibbarkeit des Raumes lediglich durch die Erkenntnismittel der euklidischen Geometrie gewährleistet war. Vor allem Gottfried W. Leibniz (1646-1716) wendete sich gegen Newtons metaphysische Idee des gegenständlichen Raumes und hob stattdessen die Räumlichkeit von Körpern hervor. In seinem dritten Brief an Samuel Clark schreibt Leibniz 1715/1716: „Ich habe mehr mehrfach betont, daß ich den Raum ebenso wie die Zeit für etwas rein Relatives halte; für eine Ordnung der Existenzen im Beisammen, wie die Zeit eine Ordnung des Nacheinander ist.“[5]
Kant, dessen Raum- und Zeitlehre zum Großteil ebenfalls auf der Grundlage der physikalischen Probleme und in Auseinandersetzung mit dem Streit der Naturwissenschaften des 18. Jahrhunderts entstanden war, kannte sowohl den Raumbegriff Newtons wie den Leibniz´. In seinen Frühschriften hatte er noch geschwankt, welchen Standpunkt er einnehmen sollte; unter dem Einfluß des Schweizer Mathematikers Leonhard Euler tendierte er zunächst zu einer Position, die der Lehre vom „absoluten Raum“ näher stand als der Leibnizschen von den „Lagerelationen“. In diese Zeit fällt Kants vorkritische Abhandlung „Von dem ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Raum“ von 1769, in der Kant noch für eine Gültigkeit der Newtonschen Begriffe vom „absoluten Raum“ und von der „absoluten Zeit“ eintrat, indem er sie durch eine rein geometrische Betrachtung zu stützen versuchte. Spätestens aber mit seiner Inauguraldissertation von 1770, in der er die beiden Raumbegriffe Newtons und Leibniz´ gegenüberstellte, vollzog Kant jene berühmte „kopernikanische Drehung“[6], die kritische Wendung zur Transzendentalphilosophie, deren Methodik die KrV maßgeblich bestimmen sollte. Hier vernichtet er mit wenigen Worten die Vorstellung Newtons vom Raum als einem „Behälter“, während die Vorstellung Leibniz´ sogar noch grundlegender irre, weil sie von einem Wegfall des Raumes in dem Moment ausginge, in dem auch die wirklichen Dinge aufgehoben sind: „Kant wendet sich gegen die Vorstellung, Raum habe eine eigene Realität. An den Prinzipien euklidischer Geometrie festhaltend, kommt er bereits in seiner Dissertation zu dem Ergebnis, daß der Raum ein >>absolut erstes formales Prinzip der Sinnenwelt << (...) sei. Damit transformiert er den absoluten Raum Newtons von einem physikalischen Konzept in ein erkenntnistheoretisches Verständnis.(...) Raum wird nun zum ordnenden Prinzip, das jeder Erfahrung vorausgeht: (...). Raum, so Kant, ist etwas, das die Menschen durch ihre Vorstellung schaffen. Das sinnlich Wahrgenommene wird zur Anschauung, indem es im Bewußtsein in eine Ordnung oder in eine Form gebracht wird, der man den Namen Raum gibt. Räumlichkeit, und zwar sowohl die Räumlichkeit der Dinge als auch die Räumlichkeit zwischen Dingen, die in der Konstruktion geschaffen wird, ist dabei keine beliebige Konstruktion. Sie folgt festgelegten Prinzipien, welche vor jeglicher Erfahrung bereits angelegt sind: den Prinzipien euklidischer Geometrie, welche zu jener Zeit die einzig denkbare Geometrie ist. Raum erfüllt für Kant die Funktion, das Wahrgenommene wie mit einer Schablone zu ordnen. In diesem Sinne ist er ideel (sic!), im Ergebnis jedoch auch real.“[7] Was Löw hier mit wenigen Worten beschreibend umreißt, ist in Wahrheit ein in der KrV weit verzweigtes Argumentationsgeflecht, das sich keineswegs auf die kritischen Erörterungen Kants zur „Transzendentalen Ästhetik“, die sich mit der Möglichkeit von Erkenntnis von sinnlich Gegebenem beschäftigt, beschränkt, sondern in der KrV seinen Fortgang in der „Transzendentalen Logik“ findet, in der Kant die Möglichkeit von über die apriorischen Anschauungsmodi von Raum und Zeit hinausgehenden Verstandesleistungen („synthetische Sätze a priori“) untersucht; hier fragt Kant nach der Möglichkeit von Erkenntnis in Raum und Zeit,
„in welchen wir, wenn wir im Urteile a priori über den gegebenen Begriff hinausgehen wollen, dasjenige antreffen, was nicht im Begriffe, wohl aber in der Anschauung, die ihm entspricht, a priori entdeckt werden und mit jenem synthetisch verknüpft werden kann, welche Urteile aber aus diesem Grunde nie weiter, als auf den Gegenstand der Sinne reichen, und nur für Objekte möglicher Erfahrung gelten können.“[8]
Um diese Verknüpfungen nach den Regeln der Logik – nach Kant die „Wissenschaft der Verstandesregeln“ –, also um diejenigen Bedingungen des Denkens, unter denen der Verstand überhaupt zu einer Vorstellung des Raumes gelangt, geht es vorrangig in der vorliegenden Hausarbeit. Dabei wird zu beachten sein, daß Cassirer in seiner Symboltheorie eben diese logische Reflexion Kants einer eigenen Deutung unterzieht, die ihren unmittelbaren Ausdruck bspw. in Cassirers Rückgriff auf den Geschichtsphilosophen Giambattista Vico[9] in Cassirers Schrift „Zur Logik der Kulturwissenschaften“ von 1942 oder in der Erwähnung eines Goethe-Wortes in dem Aufsatz „Form und Technik“ von 1930 findet: „>>Der Mensch erfährt und genießt nichts<<, so sagt Goethe, >>ohne sogleich produktiv zu werden. Dies ist die innerste Eigenschaft der menschlichen Natur.<<“[10] Vico und Goethe vertreten in der Hauptschaffensphase Cassirers seine Leitidee, daß die Naturerkenntnis des Menschen, die Erkenntnis seiner eigenen wie der ihn umgebenden Natur, nur durch seine produktiven, hervorbringenden Leistungen, verstanden werden kann. Die Kultur des Menschen ist es, die seinem Verständnis von der Natur den Stempel aufprägt, nicht die Natur selbst.
Ernst Cassirer (1874-1945), dem wichtigsten Vertreter der neukantianischen „Marburger Schule“ neben Paul Natorp und Hermann Cohen, waren die Schriften Kants durch die intensive Lektüre der interpretatorischen Werke Cohens bestens bekannt. 1910 erschien Cassirers erstes eigenständiges Buch „Substanzbegriff und Funktionsbegriff“ (im Folgenden: SF). In diesem Buch behandelt Cassirer „die schwierige Frage, welche besonders gearteten Begriffe in den exakten Naturwissenschaften auftreten und welches die logische Struktur solcher Denkformen wie Zahl, Raum und Zeit, Energie usw. ist. Besonders interessiert Cassirer der Wandel des Begriffssystems beim Übergang von einer Wissenschaft zur anderen, z. B. von der Mathematik zur Physik oder von der Physik zur Biologie. (...) Cassirers Begriffstheorie erwies sich für alle theoretische Erkenntnis als sehr fruchtbar. Indem Cassirer die Prinzipien und Methoden des Verstandes von dem Gespenst der Absolutheit befreite, zeigte er den funktionalen Charakter dieser Prinzipien und Methoden als geschmeidige Werkzeuge unserer Erkenntnis auf.“[11] Im Jahre 1917 entwarf Cassirer die Idee einer „Philosophie der symbolischen Formen“, die in die Veröffentlichung der gleichnamigen, dreibändigen Werkreihe (im folgenden: PSF; Band I erschien 1923, Bd. II 1925 und Bd. III 1929, einen vierten hatte Cassirer noch kurz vor seinem Tode geplant) mündete, die sein Hauptwerk bildet und deren Themen – „Die Sprache“, „Das mythische Denken“ und die „Phänomenologie der Erkenntnis“ – in gewisser Weise einen Bruch mit Cassirers bis dahin neukantianisch geprägter Entwicklungslinie und außerdem eine radikale Öffnung auch auf andere Wissenschaften (die Biologie, die Sozialwissenschaften, die Verhaltensforschung und die Sprachwissenschaften, aber gerade auch die philosophische Phänomenologie) hin bedeuten: „Die Einseitigkeit der Kant-Cohenschen Erkenntnistheorie war ihm auf einmal ganz deutlich: Es ist nicht nur die menschliche Vernunft, die uns das Tor zur Erkenntnis der Wirklichkeit öffnet, vielmehr ist es das Ganze des menschlichen Geistes, mit all seinen Funktionen und Motivierungen, seinen Vorstellungen, seinen Gefühlen, seinem Wollen und seinem logischen Denken, das eine Brücke schlägt vom Ich zur Wirklichkeit und das unseren Begriff der Realität konstituiert.“[12]
Neben dieser enormen, selbst gestellten Aufgabe, das Ganze menschlicher Kultur gemäß seiner geistigen Spiegelung in der Reihe der symbolischen Formen zu beschreiben, sind für das Thema der vorliegenden Hausarbeit vor allem die simultan laufenden Bemühungen Cassirers von Bedeutung, die Ergebnisse aus der Relativitätstheorie zu reflektieren und auf Kant zurück zu beziehen.[13] Besondere Beachtung verdient dabei das 1921 erschienene Buch „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen“ (im Folgenden: ER), in dem Cassirer eine Neudeutung der Kantischen Apriori von Raum und Zeit unter Berücksichtigung der relativistischen Erkenntnisse aus der Physik und der Mathematik unternimmt.
Ebenfalls unter diesem Gesichtspunkt werde ich im Folgenden auf das Hauptwerk selbst und diejenigen abgeschlossenen Schriften kurz nach der Schaffensphase der PSF (bis 1927) zu sprechen kommen. Hier behandelt Cassirer den „Raum“ in einem erkennbar anderen als dem naturwissenschaftlichen Kontext und diese Schriften belegen Cassirers Bereitschaft zur Diskussion mit Psychologen und Kunstwissenschaftlern in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren. Es wird neben der PSF auch von der von Orth/Krois herausgegebenen Aufsatzsammlung „Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927-1933“, darin besonders die Abhandlungen „Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie“ (im Folgenden: SSP) von 1927 und „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“ (im Folgenden: MÄTR) von 1931, die Cassirers Interpretation des Raumbegriffs im Lichte des Theorems der „symbolischen Formen“ widerspiegeln, zu sprechen sein.
In einem dritten, abschließenden Teil meiner Hausarbeit werde ich auf die späten Schriften Cassirers, besonders „Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur“ (im folgenden: WM) hinweisen, eine Schrift, in der Cassirer noch einmal die wesentlichen Grundzüge seiner Philosophie der symbolischen Formen rekurriert; in der Konsequenz wird hier auch nach den Nachwirkungen zu fragen sein, die das Cassirersche Werk in der neueren kulturwissenschaftlichen Diskussion hat.
Eine besondere Schwierigkeit für das Thema dieser Hausarbeit wird – aus dem Umstand heraus, daß Cassirer kein einheitliches, systematisches Werk vorlegte – darin bestehen, die Spuren des Kantischen Raumbegriffs noch dort nachzuweisen, wo Cassirers Werk ab dem ersten Band der PSF schon die Richtung von der neukantianischen Erkenntnistheorie[14] zur Kulturphilosophie und Philosophischen Anthropologie hin eingeschlagen hat, der Begriff des Raumes von Cassirer aber weiterhin verwendet wird und nun in wechselnden Kontexten erscheint. Dieser Umstand darf aber nicht in die naheliegende Vermutung münden, Cassirer habe Kants Raumbegriff willkürlich modifiziert bzw. aus seinem originären Kontext zu extrahieren versucht. – Wie zu zeigen sein wird, ist fast vom Gegenteil auszugehen: Nicht nur nach neuen Anwendungsmöglichkeiten für die erkenntniskritischen Anteile in Kants Raum-Zeit-Theorem fragte Cassirer unausgesetzt und mit Nachdruck, auch war ihm an der Einordnung, einer Art von Übersetzungstätigkeit an den Begrifflichkeiten der gerade entstehenden Psychologie und Verhaltensforschung in die Terminologie der überlieferten Philosophie hoch gelegen. Cassirer versucht permanent in allen Phasen seines Werkes, auf die metaphysische Denkweise Kants zurückzukommen, sie mit den Erkenntnissen aus den anderen Wissenschaften zu versöhnen und jene auch für diese fruchtbar zu machen.[15]
Die benannte Schwierigkeit ist mithin eine doppelte: Nicht nur ist zu zeigen, welche Grenzen der Kantische Raumbegriff in der Reflexion Cassirers auf die relativistischen Ergebnisse aus der modernen Physik und Mathematik notwendigerweise finden muß. Auch geht es mir um die prinzipiell möglichen „Entgrenzungen“ – mit aller Vorsicht, die an dieses Wort anzulegen ist – , die im Kantischen Apriori in dem Augenblick freigesetzt werden, in dem die relative Bedeutung des Raums und der Zeit gegenüber der Position des Betrachters deutlich wird: Wenn Raum und Zeit nicht mehr als im Erkenntnissubjekt getrennte Anschauungsformen gedacht werden können, sondern eine Beziehung unterhalten, die sich relativ zum Standpunkt des Subjekts verändert, dann kann das für die statische Ausrichtung des Apriori der sinnlichen Erkenntnis auf Raum und Zeit als unveränderlich gedachte Größen nicht ohne Auswirkung bleiben; es muß als theoretischer Begriff ebenso verändert werden, um als philosophisch-methodischer Begriff gültig bleiben zu können.
Die Beantwortung der das inhaltliche Vorgehen meiner Arbeit bestimmenden Frage „Löst sich Cassirer vom Raumbegriff Kants?“ kann sich demnach nicht in der Feststellung erschöpfen, daß Cassirer die Ansätze aus den anderen Wissenschaften aufgriff und sie auf die Kantische Denkweise anwendete, sie ihr „überstülpte“. Dies hätte eine völlige Deformierung der Kantischen Lehre zur Folge und würde auch der Tragweite des präzisen Cassirerschen Denkens und ebenso seiner genauer Kenntnis der Kantischen Terminologie nicht gerecht werden. Vielmehr ist nach den Fortschritten zu fragen, die Cassirers Denken auf der Grundlage seiner neukantianischen Herkunft in Richtung auf die neueren Ergebnisse der Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften machte. Diese Fortschritte beinhalteten, wie ich zu zeigen beabsichtige, keine Um-, sondern vielmehr eine Neudeutung und Weiterentwicklung der Kantischen Transzendentalphilosophie und bildeten einen wichtigen Beitrag zur neueren Standortbestimmung der Philosophie als Humanwissenschaft, für die die drei Bände der PSF das beste Zeugnis ablegen.
[...]
[1] Kant, 1995; S. 85f. (B 39); dementsprechend ist für Kant auch die Zeit die andere „formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt“ (B 51), wird aber mehr dem „innern Sinn“ zugeordnet: „Wenn ich a priori sagen kann: alle äußere Erscheinungen sind im Raume, und nach den Verhältnissen des Raumes a priori bestimmt, so kann ich aus dem Prinzip des innern Sinnes ganz allgemein sagen: alle Erscheinungen überhaupt, d. i. alle Gegenstände der Sinne, sind in der Zeit, und stehen notwendigerweise in Verhältnissen der Zeit.“ (ebd.) – Zur Erklärung der Kantischen Terminologie ist zu ergänzen: Die sinnliche Erkenntnis kann sich auf von der Erfahrung unabhängig („a priori“) oder auf durch Erfahrung („a posteriori“) stattfindende Wahrnehmungen erstrecken. Die Erkenntnis von Gegenständen findet nur statt, wenn diese durch „Anschauung“ gegeben sind. Durch den „Verstand“ werden die Anschauungen zu „Begriffen“. Sinnliche Anschauungen sind nach Kant „rein“, wenn sie keine „Empfindung“ beinhalten. Die Empfindung ist die Wirkung eines Gegenstandes auf die „Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben affiziert werden“. Diejenige Anschauung, die sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt „empirisch“. Die „Erscheinung“ ist der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung. In der Erscheinung heißt für Kant das, was der Empfindung korrespondiert, die „Materie“ und die Ordnung des Mannigfaltigen der Erscheinung in der Anschauung die „Form“ der Erscheinung. Diese korrespondiert mit der „reinen Form der Sinnlichkeit“ und liegt nach Kant „im Gemüte a priori bereit“; ihre Anschauung heißt deshalb auch „reine Anschauung“ (vgl. B 33 – B 35). Ferner ist der Begriff der „Apperzeption“ von Belang, das ist bei Kant das „Bewußtsein seiner selbst“ (ebd.; S. 114 (B 68)); die „transzendentale Einheit“ der Apperzeption ist „diejenige, durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einem Begriff vom Objekt vereinigt wird“ (ebd.; S. 181f. (B 139)).
[2] zitiert aus Löw, 2001; S. 25
[3] vgl. Löw, ebd.; Für eine präzise Bestimmung des Newtonschen Raumbegriffs zentral, jedoch für die vorliegende Hausarbeit eher marginal ist die Feststellung Löws anzusehen, daß Newton mit der Unterscheidung vom „absoluten“ und „relativen Raum“ (letzterer wird von Newton als ein Oberbegriff für die im Behälterraum durch Relationen entstehenden Teilräume, die aus den Beziehungen zwischen den Körpern und dem Behälter bestehen, verwendet) zwar ein für die weitere Entwicklung der Physik wegweisendes Ergebnis erreicht hatte, dieses aber aufgrund des zu Newtons Lebzeiten vorherrschenden jüdisch-christlichen Weltbildes zu keinem weiteren Einfluß gelangte. (S. 26f.) Erst mit den Überlegungen der modernen Mathematik zur nichteuklidischen Geometrie um 1830 (Gauß, Lobatschewskij und Bolyai) und schließlich mit Entwicklung der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestand die Möglichkeit, die Vorüberlegungen Newtons durch eine breite, die einzelnen Wissenschaftszweige überbrückende methodische Vorgehensweise zu fundieren. Die Thematik des Verhältnisses von Absolutheit und Relativität bzgl. des Raumes werde ich deshalb erst an späterer Stelle, im Zusammenhang mit Cassirers Reflexion über die Relativitätstheorie von Einstein und Minkowski abhandeln.
[4] vgl. diesen Kontext auch in Cassirers Kapitel „Materie, Äther, Raum“ in Recki (Hrsg.), 2001; S. 52-58. Cassirer betont hier, daß die neuere Physik über den Mittelbegriff des „Feldes“ zwar „nicht in inhaltlicher, aber in methodischer Hinsicht wieder auf dem Wege zu Descartes begriffen scheint“ (S. 55), indem sie auf dessen „Substanz“-Begriff, der das physische Sein der Körper und das geometrische Sein der Ausdehnung in ein und denselben Gegenstand denkt, zurückkommt.
[5] zitiert aus Löw, 2001; S. 26
[6] Mit Cassirer ist die Frage nach dem Raum hinsichtlich dieses wesentlichen Einschnitts in Kants Entwicklung folgendermaßen präzise zu formulieren: Bezüglich des Problems, ob der reinen Form des geometrischen Raumes ein Wirkliches zugrunde liegt, in dem die letzte Ursache für die inneren Maßverhältnisse dieses Raumes zu suchen ist, ist die Frage „nicht so [zu fassen], das ein Wirkliches als Realgrund des Raumes, sondern daß der Raum als Idealgrund im Aufbau und Fortgang der Wirklichkeits erkenntnis erscheint“. (Cassirer in Recki (Hrsg.), 2001; S. 106
[7] ebd.; S. 29f. Löw rekurriert direkt im Anschluß an diese Feststellung auf eine Argumentation, die Kant in der KRV (vgl. dort, S. 473 (B 459)) im zweiten Hauptstück der „Transzendentalen Dialektik“ (im Kapitel „Die Antinomie der reinen Vernunft“) in der Form einer Antithese führt. Die zusammenfassende Formulierung Löws aber – der Raum sei „ideell, im Ergebnis jedoch auch real“ – beinhaltet und verwischt im einzelnen ein gewichtiges erkenntnistheoretisches Problem, handelt es sich doch hierbei um einen der inneren Widersprüche in der KRV, um deren Auflösung sich der Neukantianismus so angestrengt bemühte. Der Punkt ist: Kant verhandelt an dieser Stelle gar kein mit dem Prädikat „real“ versehenes „Ergebnis“, das sich am Raum zeigt (und auch keine irgendwie geartete Mischform von Realität und Idealität), sondern er betont lediglich gegen die idealistische Auffassung Leibniz´, daß es eine „Weltgrenze“ für die intelligible Sinnenwelt, mithin einen Vorrang des mundus phaenomenon vor dem mundus intelligibilis, nicht geben könne. Das Ergebnis dieser Bestimmung lautet für Kant also nicht – wie Löw es suggeriert –, daß sich das Vorhandensein des Raumes als die „Form der Erscheinungen selbst“ (Kant) und eben diese Erscheinungen gegenseitig logisch implizieren, sondern nur umgekehrt (im Sinne der Antithesis!), daß sich aus einer nicht-sinnlichen Anschauung der wirklichen Dinge keine (weder positive noch negative) synthetischen Schlüsse ziehen lassen; m.a.W.: daß sich vom kritischen Standpunkt aus eben keine direkte Verbindung zwischen ideeller und realer Erkenntnisart herstellen läßt. – Da dieser Punkt von Bedeutung für die Behandlung des kantischen Raumbegriffs durch Cassirer von Bedeutung ist (vgl. hier: Kap. 2.1.), sei schon an dieser Stelle auf ihn verwiesen; ferner ist o. im Text daher zunächst die Rede von der „Transzendentalen Logik“ Kants, da sie eben die in Frage stehende Möglichkeit synthetischer Sätze a priori untersucht, die sowohl der sinnlichen Wahrnehmung Gewißheit über ihren apriorischen Gegenstand „Raum“ verschafft als auch den Begriff „Raum“ hinsichtlich seiner Urteilsfähigkeit durch den Verstand überprüft.
[8] Kant, a.a.O.; S. 118 (B 73)
[9] vgl. Cassirer, 1961; S 9f. Der menschliche Geist, so führt Cassirer aus, kann sich in seinem Willen zur Erkenntnis entweder auf „Wirkliches“ richten; dann kann er aber seinen Gegenstand nur nach einzelnen Merkmalen beschreiben. Oder er verlangt nach einer „adäquaten Idee“, die ihm die Natur oder das Wesen des Gegenstandes zeigt. „Aus diesem Dilemma gewinnen wir nach Vico erst dann einen Ausweg, wenn wir den Bereich des mathematischen Wissens wie den der empirischen Naturerkenntnis überschreiten. Die Werke der menschlichen K u l t u r sind die einzigen, die in sich die beiden Bedingungen vereinen, auf denen die vollkommene Erkenntnis beruht; sie haben nicht nur ein begrifflich-erdachtes, sondern ein durchaus-bestimmtes, ein individuelles und historisches Sein.“ (ebd.; S. 10)
[10] Cassirer in: Orth/Krois (Hrsg.), 1985; S. 66
[11] Gawronsky in: Schilpp (Hrsg.), 1949; S. 14f.
[12] ebd.; S. 18
[13] Orth prägt, obwohl mit Einschränkungen, für Cassirer das Prädikat des Denkers der zwei Kulturen: „Übernimmt man das Bild von den zwei Kulturen, dann ist es unvermeidlich Cassirer beiden Kulturen zuzuordnen. Er ist sowohl ein kompetenter Kenner der mathematischen Naturwissenschaften seiner Zeit (einschließlich ihrer Geschichte) als auch ein Geisteswissenschaftler von stupender Gelehrsamkeit und beachtlicher ästhetischer und literarischer Sensibilität.“ (Orth in: Orth/Krois (Hrsg.), 1985; S. 169)
[14] Irene Kajon hebt hervor, daß Cassirer in seiner Erkenntnistheorie nachdrücklich von Cohen und dessen Gesichtspunkt der transzendentalen Methode beeinflußt war, unter dem dieser die einzelnen Werke Kants ins Auge faßte: „Darin erblickte Cassirer nun die >>originale Wendung<< von Cohens Kantauffassung: Gegenstand der Erkenntnistheorie ist nicht die Natur, sondern unsere Naturerkenntnis; das Sein ist im Wissen begründet. (...) Die transzendentale Methode führt uns dazu, daß Bewußtsein nicht als einen Teil der Natur, sondern als das Insgesamt jener apriorischen Grundsätze, die die Möglichkeitsbedingungen unserer Erkenntnis der Gegenstände darstellen, aufzufassen. (...) Cassirer betont, daß damit (mit Cohens Ineinssetzung von der Einheit des Bewußtseins und der Einheit der synthetischen Grundsätze; Anm. von mir) für Cohen der Gegensatz von subjektiv und objektiv obsolet geworden ist, und verweist auf den Gedanken einer komplementären Zusammengehörigkeit von Möglichem und Wirklichem, von Begriff und Gegenstand, von Idee und Sache.“ (Kajon in: Braun/Holzhey/Orth (Hrsg.), 1988; S. 250)
[15] So charakterisiert bspw. Ernst Wolfgang Orth die Cassirersche Lehre von den symbolischen Formen folgendermaßen: „Das Eigentümliche dieser Lehre ist, daß sie streng erkenntnistheoretisch und kulturphilosophisch zugleich ist.“ (Orth in der Einleitung von: Braun/Holzhey/Orth (Hrsg.), 1988; S. 8) Ähnlich Susanne K. Langer: „Sein (Cassirers; Anm. von mir) Festhalten an Kant entsprang nicht einer unbegründeten, gefühlsmäßigen Neigung zum Kantianismus, sondern es hatte seine Quelle in dem Bedürfnis nach einer neuen, tiefergehenden Deutung der Welt.“ Langer in: Schilpp, 1949; S. 264
- Quote paper
- M.A. Frederik Schlenk (Author), 2004, Cassirers Transformation des Kantischen Raumbegriffs, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84190
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