Der Roman „Berlin Alexanderplatz“ wird im Allgemeinen als Kompendium moderner Erzählverfahren gesehen. Er bricht radikal mit der Erzähltradition des bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts. Dies zeigt sich unter anderem in der häufigen Unterbrechung des Erzählkontinuums, in der Montagetechnik, in der Vielfalt der Stilebenen und dem Einsatz unterschiedlicher Erzählperspektiven. Im exemplarischen Charakter des Erzählten kann von Anfang an eigentlich kein Zweifel bestehen. Autor Alfred Döblin rückt durch Vorwegnahmen und Zusammenfassungen des Geschehens, durch ironische Brechungen der Erzählerrolle, durch scheinbar undiszipliniertes, dadurch amüsierendes und irritierendes Erzählen die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Wie der Darstellung und auf die Bedeutung des Erzählten. Der Modus der Erzählung schwankt vom souverän auktorialen Bänkelsänger, der weit außerhalb des Geschehens positioniert ist, bis zum bloßen Reflektor, der sich seinem Stoff ergibt und verschiedenes Material einfach zusammen montiert.
Die Untersuchung der Erzählhaltung bzw. die genaue Betrachtung der Rolle des Erzählers ist daher in „Berlin Alexanderplatz“ sehr komplex. Ich möchte auf der einen Seite den Erzähler und seine Erzählperspektive grob für den gesamten Roman beleuchten, aber auf der anderen Seite auch ins Detail gehen. So unterscheide ich in meiner Ausarbeitung zwischen der Rolle bzw. der Erzählhaltung des Erzählers im Vorspann sowie in den Einleitungen und jener in den eigentlichen Handlungsabläufen in den neun Büchern.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ist Döblin ein allwissender Erzähler?
3. Die Rolle des Erzählers und des Lesers
4. Analyse der Erzählhaltung im Außengerüst
4. Analyse der Erzählhaltung im Handlungsablauf
6. Analyse der Erzählhaltung, der Perspektive und des Modus’ am Romananfang
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der Roman „Berlin Alexanderplatz“ wird im Allgemeinen als Kompendium moderner Erzählverfahren gesehen. Er bricht radikal mit der Erzähltradition des bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts. Dies zeigt sich unter anderem in der häufigen Unterbrechung des Erzählkontinuums, in der Montagetechnik, in der Vielfalt der Stilebenen und dem Einsatz unterschiedlicher Erzählperspektiven. Im exemplarischen Charakter des Erzählten kann von Anfang an eigentlich kein Zweifel bestehen. Autor Alfred Döblin rückt durch Vorwegnahmen und Zusammenfassungen des Geschehens, durch ironische Brechungen der Erzählerrolle, durch scheinbar undiszipliniertes, dadurch amüsierendes und irritierendes Erzählen die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Wie der Darstellung und auf die Bedeutung des Erzählten. Der Modus der Erzählung schwankt vom souverän auktorialen Bänkelsänger, der weit außerhalb des Geschehens positioniert ist, bis zum bloßen Reflektor, der sich seinem Stoff ergibt und verschiedenes Material einfach zusammen montiert.
Die Untersuchung der Erzählhaltung bzw. die genaue Betrachtung der Rolle des Erzählers ist daher in „Berlin Alexanderplatz“ sehr komplex. Ich möchte auf der einen Seite den Erzähler und seine Erzählperspektive grob für den gesamten Roman beleuchten, aber auf der anderen Seite auch ins Detail gehen. So unterscheide ich in meiner Ausarbeitung zwischen der Rolle bzw. der Erzählhaltung des Erzählers im Vorspann sowie in den Einleitungen und jener in den eigentlichen Handlungsabläufen in den neun Büchern.
Das Erzählprofil ist allgemein durch Vielfältigkeit, rasche Wechsel (Dynamik) und dem Aufeinanderfolgen von gegensätzlichen Erzählsituationen geprägt (DUNZ: 1995, S. 104). Die Montagetechnik und die Wechsel der Erzählsituationen lenken von der festen Erzählposition ab (DUNZ: 1995, 109). Erzählperspektiven und Darstellungsmodi wechseln andauernd zwischen epischem Bericht, Erzählerkommentar und Leseransprache oder sogar Ansprache der Romanpersonen. JÄHNER erläutert, dass kaum einer der großen Romane der Moderne ein derart einprägsames Erzählgerüst besitze wie „Berlin Alexanderplatz“ (vgl. 1984, S. 33). Ich möchte in meiner Hausarbeit etwas Klarheit im Gewirr von Erzählsituationen und Erzählperspektiven schaffen.
2. Ist Döblin ein allwissender Erzähler?
Mit dieser Frage möchte ich mich in diesem zweiten Kapitel meiner Ausarbeitung beschäftigen. Um sie zu beantworten, habe ich verschiedenste Sekundär-Literatur herangezogen und daraufhin untersucht, inwiefern sie in Berlin Alexanderplatz vornehmlich eine auktoriale Erzählsituation ausgemacht hat, die ja in erster Linie durch einen allwissenden Erzähler gekennzeichnet ist.
Döblin gilt bei den meisten Autoren von Sekundärliteratur über das Werk im Großen und Ganzen als allwissender Erzähler. SCHWIMMER (1973, S. 38) bezeichnet den Erzähler Döblin als den olympisch thronenden, von hoch oben her alles arrangierenden Regisseur. Dies äußere sich vor allem in den zahlreichen Voraussagen über die kommenden Ereignisse und Entwicklungen. SCHWIMMER nennt hierzu als Beispiel eine Textstelle vom Ende des ersten Buches: „solange er Geld hatte, blieb er anständig… Dann aber ging ihm das Geld aus“ (S. 45). Auch wenn Döblin gelegentlich den Nichtwissenden spiele (S. 373: „Ich weiß nicht, was ich jetzt tun muß“), dann unterstreiche diese Ironie nur die alles beherrschende Stellung des Autors (ebd.). Auch BECKER unterstützt seine These. Er spricht von einem Erzähler, der von einem überlegenen und allwissenden Standpunkt aus den Ablauf des Geschehens skizziert und dokumentiert (1962, S. 99), während MÜLLER-SALGET von einem grundsätzlich überlegenen Erzähler spricht. Schon die Häufigkeit der direkten Kommentare, die herausgehobene Stellung der meisten als Prolog und Buchresümee sowie die Akzentsetzung mit Hilfe von Kapitelüberschriften, würden diese Überlegenheit des Erzählers verdeutlichen (vgl. 1988, S. 304). JÄHNER sieht in „Berlin Alexanderplatz“ ebenfalls einen grundsätzlich allwissenden Erzähler (vgl. 1984, S. 34), der von Selbstzweifeln ungetrübt mit imperatorischen Gesten übers Geschehen regiere, Biberkopf hierhin und dorthin setze und ihn wie eine Marionettenpuppe lenke. JÄHNER kommt zu dem Schluss, dass der Erzähler „gottähnlich und allwissend, wenig verschämt und rüde“ über der von ihm geschaffenen Welt throne (ebd.).
HURST dagegen stützt die These des allwissenden Erzählers nur bedingt. Für ihn ist der Erzähler kein allwissender Führer, der durch das sprachliche und stilistische Dickicht des Romas führt. Er ist keine ordnende und lenkende Kraft in der verwirrenden Flut von Fakten, Eindrücken und Wahrnehmungssplittern, die gleichermaßen auf Biberkopf und den Leser einstürzen.
Für ihn ist der Erzähler vielmehr nur „ein Teil dieser Vielfalt, ein Gestaltungselement, das nach dem umfassenden Montageprinzip geformt und verformt wird, das zuweilen in den Vordergrund tritt, gleich darauf wieder verschwindet, um in neuer Gestalt und unter neuen Vorzeichen wieder aufzutauchen.“ (1996, S. 246)
HURST vergleicht den Erzähler mit einer Kamera, der seiner Hauptgestalt gegenüber keine feste Stellung einnimmt, sondern ständig den Standort wechselt – eben wie eine Kamera, die einmal Nahaufnahmen in Zeitlupe gibt und das andere Mal aus weiter Entfernung Bilder mit verschwimmenden Umrissen zeichnet (1996, S. 247). Er kommt zu dem Schluss, „dass Döblins Montageprinzip letztlich zur Destruktion des auktorialen Erzählers und Negation der auktorialen Erzählsituation“ führt (ebd.). Zwar würden sich in der stilistischen Vielfalt der Szenen und Ereignisse immer wieder Tendenzen einer auktorialen ES andeuten, doch hinterließen diese keineswegs den Eindruck einer vorherrschenden Erzählsituation (ebd.). Um seine These zu untermauern, nennt HURST folgendes Textbeispiel aus „Berlin Alexanderplatz.“ (S. 53) „An der Haltestelle Lothringer Straße sind eben eingestiegen in die 4 vier Leute, zwei ältliche Frauen, ein bekümmerter einfacher Mann und ein Junge mit Mütze und Ohrenklappen. Die beiden Frauen gehören zusammen, es ist Frau Plück und Frau Hoppe. Sie wollen für Frau Hoppe, die ältere, eine Leibbinde besorgen, weil sie eine Anlage zum Nabelbruch hat. Sie waren zum Bandagisten in der Brunnenstraße, nachher wollen beide ihre Männer zum Essen abholen (…).“ Hier realisiere der Erzähler bis in letzter Konsequenz die Möglichkeiten der auktorialen ES. Er sei in dieser Situation allwissend, doch der direkt nachfolgende Absatz zeige, wie flüchtig und unbeständig diese auktoriale Erzählhaltung tatsächlich sei: „Kleine Kneipe am Rosenthaler Platz. Vorn spielen sie Billard, hinten in einer Ecke qualmen zwei Männer und trinken Tee. Der eine hat ein schlaffes Gesicht und graues Haar, er sitzt in der Pelerine: `Nun schießen Se los. Aber sitzen se still, zappeln Se nicht so.´ `Mich kriegen Sie heute nicht an s Billard. Ich habe keine Hand.´ Er kaut an einer trockenen Semmel, berührt den Tee nicht. `Sollen Sie ja gar nicht. Wir sitzen hier ja gut. (…).´“ (S. 54) In dieser laut HURST nahezu dramatischen Gestaltung der Erzählform, in der die Dialoge nur durch knappe Beschreibungen, Regieanweisungen quasi, ergänzt werden, sei kein auktorialer Erzähler mehr spürbar, dessen überlegenes, weit in die Zukunft reichendes Wissen im vorangegangenen Abschnitt noch zum Gegenstand einer narrativen Kapriole wurde (1996, S. 249).
Neben der auktorialen Erzählsituation ließen sich daher ebenso Elemente einer personalen ES feststellen (ebd.). Dies führt auch DUNZ aus, der erläutert, dass in den Einführungen und Vorreden die Erzählsituation nicht auktorial sei. Die Erzählfigur könne aber für den Begriff Persönlicher Erzähler, der für die allwissende Außensicht steht, Verwendung finden. (1995, S. 16 f.). HURST (1996, S. 250) schreibt zu diesem Thema folgendes: „Vor allem in der stellenweise so unmittelbar und plastisch wirkenden Schilderung der pathologisch bedingten Verzerrungen der Wirklichkeit, in der sich die Wahnvorstellungen und alptraumhaften Visionen Biberkopfs mischten, zeigt sich eine Tendenz zur personalen ES, die den Leser die beunruhigenden Veränderungen der Umwelt durch die Augen der Reflektorfigur Biberkopf selbst erleben lassen.“ Letztlich verharre die Darstellung nicht bei einer Erzählsituation oder erzeuge unter mehreren Erzählsituationen eine dominante, die das gesamte Werk präge, sondern sie werde getragen von einem Wechsel der Erzählsituationen. Döblins „Berlin Alexanderplatz“ sei folglich durch einen äußerst bewegten und kraftvollen Erzählrhythmus gekennzeichnet (vgl. HURST: 1996, 251 f.). Das heißt, dass die Beobachtung und Beurteilung, die Wahrnehmung und Darstellung der Welt und ihrer Phänomene, der Menschen und ihrer existenziellen Belange, der Großstadt und ihrer zahllosen Gesichter aus vielen verschiedenen Blickwinkeln möglich würden (ebd.).
Auch DUNZ (1995, S. 99) erklärt, dass sich „der Erzähler zunächst durch die Ich-Form, einer zwar anonymen Präsenz in der Erzählung (aber einer Abwesenheit als literarischer Charakter in der Geschichte) und einer auktorialen Allwissenheit beschreiben“ lässt. Doch der Erzähler nehme diese Überlegenheit im sechsten Buch zurück und relativiere damit die auktoriale Stellung. Er mache verschiedentlich ironische Bemerkungen zum Erzählgeschehen und stelle somit auch seine Rolle in Frage: „Es sind Männer, Frauen und Kinder, die letzteren meist an der Hand von Frauen. Sie alle aufzuzählen und ihr Schicksal zu beschreiben, ist schwer möglich, es könnte nur bei einigen gelingen.“ (216)
Auch BEKES schreibt, dass der Erzähler nur teilweise allwissend ist (vgl. 1995, S. 29): Er gebe sich zwar stellenweise als überlegener Erzählregisseur zu erkennen, der souverän über die Fakten verfüge und die Rezeptionshaltungen des Lesers zu steuern wisse. Er biete zwar Orientierungshilfen an, vermittle einen ersten Überblick über den Handlungsablauf, mache Methode und Ziel seiner Präsentation deutlich. „Doch wird man hier aufs Ganze gesehen kaum von auktorialer Allwissenheit sprechen können. Der Erzähler (…) weiß mehr als der Held und als der Leser, aber er weiß nicht alles.“ (ebd.) Bemerkenswert sei auch, dass im Verlaufe der Vorrede seine Aussagen immer allgemeiner, diffuser, ungenauer werden. Die Informationsdichte des Beginns werde nicht durchgehalten (ebd.).
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- Stefan Janssen (Autor), 2004, Der Erzähler und seine Erzählperspektive im Roman „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83834
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