Im Westen ist Jonas Mekas als avantgardistischer Filmemacher und vor allem als Erfinder und Schöpfer einer neuen autobiografischen Filmform bekannt, den Filmtagebüchern. Die geringe Anzahl der Studien über Mekas steht in diametralem Gegensatz zu seinem Ruhm und seiner Bedeutung. Das geht vor allem auf die Schwierigkeit zurück, für sein Werk geeignete Kategorien der Beschreibung zu finden. Das Ziel der vorliegenden Hausarbeit ist es, diesem Gegensatz mit einem kleinen Beitrag meinerseits über den berühmtesten Künstler meines Heimatorts etwas entgegenzuwirken. Ich werde Jonas Mekas im Kontext des New American Cinema konstituieren, ihn als Filmessayist par excellence darstellen und seine Selbstvergewisserung durch das Filmemachen als Kunst als ein gesteigertes Bedürfnis nach Identität nachzuweisen versuchen. Das Filmen wie das Schreiben gehören bei Jonas Mekas zu den bahnbrechenden „identitätsstiftenden“ individuellen Handlungen, denen er als eine unter Tausenden von Displaced Persons auch seinen Namen verdankt. Th. W. Adorno hat diese Situation sehr treffend ausgedrückt: „Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen“.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Jonas Mekas im Kontext des New American Cinema
3 Essayistische Motive in den Filmtagebüchern von Mekas
4 Fallbeispiel Reminiscences of a Journey to Lithuania
4.1 Kurzer Plot des Filmes
4.2 Die Selbstdarstellung Mekas in seinen Filmen
4.3 Die Erinnerung und die Zeit
5 Schlussbetrachtungen
6 Bibliografie
7 Filmografie
1 Einleitung
Waldeinsamkeit
Die mich erfreut,
So morgen wie heut
In ewiger Zeit,
O wie mich freut
Waldeinsamkeit
(Tieck IV, 132)
Durch die Allegorie der Waldeinsamkeit, die in der Spiegelsymmetrie der Verse eingeschlossen ist, erzeugt Tieck eine Reflexionsfigur des in sich verspiegelten Subjektes und verweist auf einen selbstreflexiven Index, der die poetische Schrift mit der Schrift der Natur konvergieren lässt. Fast zwei Jahrhunderte später fängt ein Emigrant in New York die Natur so zu verfilmen an, wie sie in seinem Heimatland Litauen aussah: mit Schnee, voller Blumen, Bäume und Wind. Er verwendet „das Motiv der Romantik im modernen Kontext: die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart“ (Möbius 1991, 22). Er filmt nicht nur die Natur, sondern auch sich selbst und seine unmittelbare Umgebung. Diese Person trägt auch einen Namen, sie heisst Jonas Mekas und zählt zu den ganz grossen noch lebenden Kunstlegenden des 20. Jahrhunderts. Im Westen ist Jonas Mekas als avantgardistischer Filmemacher und vor allem als Erfinder und Schöpfer einer neuen autobiografischen Filmform bekannt, den Filmtagebüchern. Mekas porträtiert die New Yorker Avantgarde-Kunstszene und politische, kulturelle, soziale Geschehnisse genauso wie seine private Familie und entwickelt mit den filmischen Mitteln der Doppelbelichtung, der Jump-cut-Methode, Single Frame und manipulierten Filmgeschwindigkeiten eine eigenartige Filmästhetik. Fast alle seine Filme sind mit narrativem, meist lyrischem extra-diegetischem Voice-Over kommentiert und mit Musik begleitet, was sehr an die Stummfilmästhetik erinnert. Den Titel für den Film Walden übernahm Mekas von Henry David Thoreaus gleichnamigen zivilisationskritischen Buch, der "Bibel" der Verweigerer, Hippies und Bürgerrechtler. Zusammen mit anderen Filmdiaries wie Reminiscences of a Journey to Lithuania (gefilmt 1964-1968, montiert 1968-1969), Lost, Lost, Lost (1949-1975), Paradise Not Yet Lost also known as Oona`s Third Year ( 1977-1979) und He stands in a desert Counting the Seconds of his Life (1969-1985) gelten diese Werke inzwischen als Meilensteine des “First Person Cinema”[1].
J onas Mekas wurde am Weihnachtsabend des Jahres 1922 in Semeniškiai, Litauen, geboren. Als Jüngling besuchte er das Gymnasium in Biržai, später arbeitete er in der Redaktion der Biržai-Zeitung und war Schüler des Juozas-Miltinis-Theaterstudios. 1944 flüchtete er zusammen mit seinem Bruder Adolfas aus Litauen und verbrachte vier Jahre seines Lebens in einem Lager für Displaced Persons in Deutschland. Während dieser Zeit besuchte er unregelmässig Philosophie- sowie Literaturvorlesungen an der Universität Mainz, war Mitarbeiter der litauischen Presse in Deutschland und verlegte eine Avantgarde-Zeitschrift. In Litauen geniesst Mekas einen herausragenden Ruf als Dichter. Er veröffentlichte in litauischer Sprache mehrere Bücher mit Poesie, Essays und (zusammen mit seinem Bruder Adolfas) Märchen. 1991 erschienen seine Tagebücher auf englisch unter dem Titel I Had Nowhere To Go. Die Tagebuchaufzeichnungen umfassen die Jahre von 1944 bis 1954 und befassen sich vor allem mit der Situation eines Menschen, der seine Heimat verlassen hat. Der Reiz des Buches besteht auch in seinem fragmentarischen Charakter als Anknüpfung an die Romantik. Wie in seinen Filmen verwischt Mekas bewusst die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion – so verweben sich die Schilderungen seiner Erlebnisse mit Gedichten und Essayfragmenten. Einzelne Abschnitte seiner Tagebücher lassen sich als eigenständige Werke lesen. Der Erzähler bezieht nicht so sehr einen emotionslosen sondern vielmehr einen beobachtenden Standpunkt. Wie in einem Dokumentarfilm montiert er Details aus dem Alltagsleben und Ausschnitte aus Gesprächen zu einer anschaulichen Darstellung der Atmosphäre in den sogenannten DP-Lagern und den ersten Jahren im Exil.
Als im Jahre 1949 Adolfas und Jonas Mekas in Williamsburg, einem von Exilanten bewohnten Stadtteil von Brooklyn, New York, ankommen, begegnen sie als Europäer einer neuen Kultur, Sprache und Natur[2]. Doch was sie am meisten interessiert sind Filme. Bereits zwei Wochen später leiht sich Jonas Geld um seine erste Bolex 16mm-Kamera kaufen zu können und beginnt die Momente des Lebens, seines und das der anderen Exilanten in den USA, zu verfilmen[3].
Wie Papier und Bleistift liegt die Kamera immer und allzeit griffbereit, Beiläufiges und Entscheidendes zu dokumentieren, die Natur[4] zu beobachten, subjektiven Blicken zu folgen.
Im Cinema 16, einem der bekanntesten Filmclubs New Yorks, der von Amos Vogel geführt wird, entdeckt er die avantgardistischen Filme und widmet sein Leben und Werk fortan der Festsetzung des Filmes als Kunstform. In seinem Bestreben für ein unabhängiges, freies und persönliches Kino gründet er die Anthology Film Archives, die Film-Makers' Cooperative, das Film Culture Magazine, schreibt von 1958 bis 1978 Filmkritiken für The Village Voice und lehrt an Instituten für Filmkunst. In den zahlreichen Filmkritiken, die er für die legendäre Zeitschrift The Village Voice verfasst, entwickelt er eine eigene Sprache, in der Theorie, Literatur, Film, Analyse, Alltag, Filmemachersein und Erfahrung ein- und aufgehen. Er führt einerseits einen auf der Idee der künstlerischen Freiheit und Spontaneität basierenden Diskurs und anderseits einen Authentizitäts-diskurs, der dem Moment der Aufnahme als energetischen künstlerischen Prozess Priorität einräumt.
The biographical legend called „Jonas Mekas“ weaves its way through the multitextured landscape of sixties cinema like a thin sinew touching every fold, every recess. There is no single vantage from which to discern its fluid embrace. Different witnesses have couched the legend in the tireless passion and obstinacy of a religious seer or the makeshift ferocity of a guerilla leader operating on many fronts at once. The sheer scope of Mekas`s headlong activism, the number of dimensions within the film culture with which he was engaged, is matched only be the range of voices and roles he assumed for himself – proselytizer, organizer, producer, publisher, documentarist, polemicist, friend and enemy, potentate and madman. (Arthur 1992, 20)
Die geringe Anzahl der Studien über Mekas steht in diametralem Gegensatz zu seinem Ruhm und seiner Bedeutung. Das geht vor allem auf die Schwierigkeit zurück, für sein Werk geeignete Kategorien der Beschreibung zu finden. Das Ziel der vorliegenden Hausarbeit ist es, diesem Gegensatz mit einem kleinen Beitrag meinerseits über den berühmtesten Künstler meines Heimatorts etwas entgegenzuwirken. Ich werde Jonas Mekas im Kontext des New American Cinema konstituieren, ihn als Filmessayist par excellence darstellen und seine Selbstver-gewisserung durch das Filmemachen als Kunst als ein gesteigertes Bedürfnis nach Identität[5] nachzuweisen versuchen. Das Filmen wie das Schreiben gehören bei Jonas Mekas zu den bahnbrechenden „identitätsstiftenden“ individuellen Handlungen, denen er als eine unter Tausenden von Displaced Persons auch seinen Namen verdankt. Th. W. Adorno hat diese Situation sehr treffend ausgedrückt: „Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen“.
2 Jonas Mekas im Kontext des New American Cinema
Die Geschichte des Experimentalfilms der USA seit den 60er Jahren ist eng mit der Person Jonas Mekas verbunden, der vor allem durch seine Filmtagebücher wie Walden (auch bekannt als Diaries, Notes und Sketches ) und zahlreiche kritische, poetische, essayistische Schriften zum Film zur zentralen Figur in der Entwicklung der New American Cinema Bewegung wurde.
In Amerika organisiert sich in den sechziger Jahren erstmals eine Gruppierung künstlerischer Avantgarde, die sich auf einen Kreis in New York ansässiger Filmschaffenden beschränkt, sich jedoch gerade durch diese Distanz zu Hollywood, räumlich wie ideell, definiert. Was sie eint ist weniger ein gemeinsamer Stil als vielmehr ihre problematische Aussenseiterrolle, in die sie die Zensur, die Polizei und heftige Kritik durch die Medien von vorneherein drängt.[6]
Parallel zu seinen Aktivitäten als Filmemacher war Mekas auch Editor, Schriftsteller, Promoter und darüber hinaus ein unermüdlicher Vorkämpfer für die Sache des unabhängigen Experimentalfilms. Im Jahre 1959 fordert er als selbstbewusster Künstler die Erneuerung des Mediums Film:
Every breaking away from the conventional, dead, official cinema is a healthy sign. We need less perfect but more free films. If only our younger film-makers – I have no hopes for the old generation – would really break loose, completely loose, out of themselves, wildly, anarchically! There is no other way to break the frozen cinematic conventions that through a complete derangement of official cinematic senses. (Mekas 1972, 1)
Während in den ersten Nachkriegsjahren die amerikanische wie auch die französische und deutsche Avantgarde sich in ihren Filmen um die Wiederentdeckung der formalen, experimentellen, nichtnarrativen Traditionen der 20er Jahre bemühte[7] ging es Jonas Mekas um ein bewusstes Gegenkino zu Hollywood. Seine Ästhetik des „Guerillakrieges“ hatte den psychologisch-realisti-schen ebenso wie den poetischen Subjektivismus im Visier. Vor allem aber ging es darum, die ökonomische Vormachtsstellung Hollywoods auf den Kinomärkten der westlichen und der Dritten Welt zu unterlaufen. Nichts weniger als ein antiimperialistischer Kampf gegen die Massenmedien stand in den 60er Jahren auf der Tagesordnung. So schreibt Jonas Mekas 1964:
[...]
[1] Das „First Person Cinema“ kreist um das Nächstliegende, die Person des Autors. Das beschränkt den Horizont, vertieft aber die Wahrnehmung.
[2] Vgl. das Zitat: “The soul of a European is full of deep grooves, molds, forms of past cultures. He may even die with his grooves, without escaping them. That is his fate.” (Mekas 1972, 27)
[3] Vgl. das Zitat: „When you were first starting to shoot here“, asks MacDonald, „did you feel that you were primarily a recorder of displaced persons and their struggle, or were you already thinking about becoming a filmmaker of another sort? In: D.E. James, S. 220
[4] Jonas Mekas Œuvre ist sehr stark von der Romantik beeinflusst. Die Verbindung von Poesie, Musik und Natur und ein ausgeprägter Individualismus sind die wesentlichen Merkmale sowohl in der Romantik als auch der New American Cinema Bewegung. Ein Ausgangspunkt der romantischen Philosophie ist die Einschätzung, dass das Problem einer Vermittlung von Subjekt und Objekt in der Transzendentalphilosophie Kants zwar angesprochen, aber keineswegs gelöst sei. Als bevorzugtes Medium der Offenbarung des Absoluten und mithin als Medium par excellence, um die Trennung der subjektiven und objektiven Sphäre aufzuheben, erscheint in der Romantik, im genannten Rekurs auf Schiller, vor allem die Kunst.
[5] Vgl. dazu das Zitat: „Ich habe das Gefühl, weder in Europa noch in Amerika zu sein. Ich fühle mich, als wäre ich an keinem Ort, am Rande eines leeren Raumes zwischen Elend und einem Traum“ (Mekas 1972).
[6] Leisen, Johannes (Hrsg.). New American Cinema Group. 35Millimeter: Texte zur internationalen Filmkunst. http://www.35millimeter.de/filmgeschichte/usa/1960/new-american-cinema-group.116.htm (03.09.2007).
[7] Wie z.B. die „Meister der Moderne“ wie Fernand Léger, Marcel Duchamp, Salvador Dali oder Man Ray und
ihre Faszination für die Automatik-Phantasie und das quasi maschinell Hergestellte, poetisch Unbewusste der Kinobilder.
- Quote paper
- Laima Maldunaite-Christ (Author), 2007, Jonas Mekas und das New American Cinema, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83732
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