Die Arbeit versucht der Frage nach der Vorgehensweise Beyers bei der Komposition seines Romans "Flughunde" nachzugehen. Wie vermag Beyer diese für das Werk so charakteristische Mischung zu erzeugen, die einen Gegenstand zugleich banal als auch schockierend in seiner Bösartigkeit aufscheinen lässt? Die folgenden Seiten wollen dieser Frage nachgehen, indem vor allem der Aspekt betrachtet wird, den sowohl Magenau als auch Graf als so bedeutend hervorheben: Über die Analyse der Figurenperspektivik in Beyers Roman kann möglicherweise ein Zugang zur Machart des Texts geschaffen werden. Es sollen im Folgenden die beiden dominierenden Erzählerstimmen, die des Wachmanns Hermann Karnau sowie diejenige Helgas, Goebbels’ ältester Tochter, daraufhin untersucht werden, aus welcher Perspektive sie das Geschehen beleuchten. Außerdem ist nicht nur jede Stimme für sich, sondern die Art, auf die Beyer beide miteinander verwebt, das Trennen und Zusammenfließen der beiden so unterschiedlichen Erzählerstimmen, von Interesse. Ausgehend von diesen Ergebnissen kann schließlich versucht werden, Rückschlüsse auf die Wirkungsweise jener Mittel zu ziehen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung – Versuch einer Einordnung
2 Zur Erzählperspektive
2.1 Zur Perspektive Hermann Karnaus
2.2 Zu Helgas Perspektive
2.3 Die Verbindung beider Perspektiven
3 Schlussbemerkung – Karnau und Helga als Chiffren für Perspektiven auf Zeitgeschichte
4 Literaturverzeichnis
1 Einleitung – Versuch einer Einordnung
In der Geschichtsschreibung ist nichts so schwer zu fassen wie die Gegenwart, die, da sie im stetigen Wachsen begriffen ist, jeden Versuch der Ordnung und Systematisierung bis ins Unmögliche erschwert. Warum sollte es der Literaturgeschichtsschreibung anders ergehen, wenn sie sich an die neueste, an die aktuelle Gegenwartsliteratur und damit an die Zeit nach der politischen Wende wagt?
Marcel Beyers Roman „Flughunde“, erschienen 1995, eröffnet neben anderen, vielfältigen Problemkreisen auch den der Einordnung in ein im Werden begriffenes System der Gegenwartsliteratur. Bei dem Versuch, sich andeutende Tendenzen zu lokalisieren, stieß Guido Graf auf eine Reihe von Autoren, die heute daran interessiert sind
„die eigene Gegenwart überhaupt erst zu verstehen, ihr das Risiko einer Tiefenstruktur zuzugestehen, auf die Gefahr hin, von Strudeln und Obsessionen erfasst zu werden, die im glücklichsten Fall für Stagnation im Hier und Jetzt sorgen.“[1]
Gemeint sind diejenigen Autoren, die sich bemühen, das Paradoxon einer Gegenwart der Vergangenheit aufzulösen und in ihren Werken darzustellen. Graf ordnet Marcel Beyer diesem Autorenkreis zu. Er stellt Beyer damit neben Thomas Lehr mit seinem erst 2001 erschienenen „Frühling“ und Bernhard Schlink, dessen „Vorleser“ von 1995 mittlerweile sogar Eingang in den schulischen Lektürekanon gefunden hat. Einen ähnlichen, thematisch fokussierten Zugang versucht Jörg Magenau zu eröffnen, wenn er feststellt: „Zweifellos hat der Körper in der Literatur Hochkonjunktur.“[2] Er postuliert eine Strömung der „neue[n] ‚neue[n] Innerlichkeit’“[3]. Unter den Autoren, die seiner Meinung nach zu dieser Strömung gehören, hebt er besonders Ulrike Kolb hervor, die 1995 einen Text mit dem Titel „Danach“ veröffentlichte. Interessant ist hier vor allem die Erzählperspektive, da ein Ich-Erzähler seinen Tod durch Ertrinken schildert und anschließend als vom Körper losgelöste Seele über dem eigenen Leichnam schwebt, um die Sektion zu bewundern. Eine Legitimation findet diese bemerkenswerte Perspektive in der Tochter des Erzählers – das Paradoxon wird als Trauerfiktion des Mädchens entlarvt.[4] Neben einer Vielzahl anderer namhafter Autoren rechnet Magenau auch Beyer zu dieser Strömung. Er erklärt den Rückzug auf den menschlichen Körper mit dem „Verlust historischer Gewissheit […], der nach Bedeutung nur noch unmittelbar dort suchen läßt, wo keine Reduktion mehr möglich scheint: in und unter der Haut des menschlichen Körpers.“[5] Marcel Beyers „Flughunde“ sei für diese Poetik ein Paradebeispiel, da der Nationalsozialismus als „Zugriff auf den menschlichen Körper“ interpretiert werde.[6] Dabei bestehe die große Kunst Beyers vor allem darin, den fanatischen Tontechniker Karnau, Leiter einer Sonderforschungsgruppe und möglichen Mittäter am Mord der sechs Kinder Joseph Goebbels’, „als freundlichen Herrn erscheinen zu lassen.“[7]
Aus dieser Feststellung erwächst unweigerlich die Frage nach der Vorgehensweise Beyers. Denn wie vermag Beyer diese Mischung zu erzeugen, die einen Gegenstand zugleich banal als auch schockierend in seiner Bösartigkeit aufscheinen lässt? Die folgenden Seiten wollen dieser Frage nachgehen, indem vor allem der Aspekt betrachtet wird, den sowohl Magenau als auch Graf als so bedeutend hervorheben: Über die Analyse der Figurenperspektivik in Beyers Roman kann möglicherweise ein Zugang zur Machart des Texts geschaffen werden. Es sollen im Folgenden die beiden dominierenden Erzählerstimmen, die des Wachmanns Hermann Karnau sowie diejenige Helgas, Goebbels’ ältester Tochter, daraufhin untersucht werden, aus welcher Perspektive sie das Geschehen beleuchten. Außerdem ist nicht nur jede Stimme für sich, sondern die Art, auf die Beyer beide miteinander verwebt, das Trennen und Zusammenfließen der beiden so unterschiedlichen Erzählerstimmen, von Interesse. Ausgehend von diesen Ergebnissen kann schließlich versucht werden, Rückschlüsse auf die Wirkungsweise jener Mittel zu ziehen.
Es sei zudem darauf hingewiesen, dass eine Reduktion des Romans auf zwei Erzähler eine starke Vereinfachung der Erzählweise Beyers darstellt, die jedoch nötig ist, um zum einen den Fokus auf die Stimmen der beiden Protagonisten zu lenken und zum anderen den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen.
2 Zur Erzählperspektive
Die weiter oben beschriebene Fokussierung auf zwei Erzählerstimmen legitimiert sich auch dadurch, dass die „Handlung des Romans mit Ausnahme eines kurzen Stücks in Kapitel VII durch zwei Erzähler wiedergegeben [wird], die sich abwechseln.“[8] Bereits der erste Abschnitt des Romans – vernachlässigt man das Eingangszitat aus den Tagebüchern Goebbels – wird von einer dieser Stimmen erzählt: „Eine Stimme fällt in die Stille des Morgengrauens ein: Zuerst Aufstellen der Wegweiser. Die Pfähle mit dem Hammer tief einrammen in den weichen Erdboden. Mit aller Kraft. Die Schilder dürfen nicht wegsacken.“[9] Dieser Abschnitt ist in gewisser Hinsicht exemplarisch für das Erzählen beider Protagonisten: Die Verwendung des Präsens als Erzähltempus ist charakteristisch für den gesamten Erzählprozess. Die Frage, ob es sich um ein historisches Präsens handelt, das eine Erzählung aus der Retrospektive nahe legte, ist insofern von Bedeutung, dass Helga nicht bis zum Ende des Romans überlebt. Künzel bringt dies zu der Annahme, es sei „die Stimme einer Toten, die Marcel Beyer sprechen lässt.“[10] Vorausgesetzt, dass ein Ich-Erzähler einer Legitimation bedarf, wie sie auch bei Ulrike Kolbe geleistet wird, gibt es in Helgas Fall kein erzählendes Ich, welches die Handlung aus der Retrospektive wiedergeben könnte. Ostrowicz plädiert aus diesem Grund plausibel dafür, das Tempus nicht als historisches, sondern als Präsens eines unmittelbaren Erlebens zu lesen.[11] Daraus ergibt sich eine große Nähe zum Erzählgegenstand; ein distanzierter Blick im Sinne eines alles überschauenden oder gar omnipotenten Erzählers fehlt. Die Folge für den Leser ist nicht nur ein Eindruck des Assoziativen und Subjektiven, ausgelöst durch die unmittelbare Teilnahme an den inneren Monologen der Figuren, sondern darüber hinaus auch eine große Intimität: Dem Leser wird Raum gegeben, die Erzählung selbst assoziativ einzuordnen, das Geschehen moralisch zu werten. Angenommen, es existiert eine solche Deckungsgleichheit von erzählendem und erlebendem Ich, dann sind die Ich-Erzähler zu einer solchen distanzierten Wertung nicht fähig. Das Resultat besteht in einer starken Intimität, mit der der Leser in die Gedankengänge der Figuren einbezogen wird. Wie der Blick des Lesers dabei gerade durch die unterschiedlichen Perspektiven der Figuren auf den Gegenstand gelenkt wird, soll in den folgenden Punkten untersucht werden.
2.1 Zur Perspektive Hermann Karnaus
Hermann Karnau ist der erste Erzähler, der auftritt. Bereits die ersten Ereignisse, die er berichtet, lassen Rückschlüsse auf seine Person zu. Er ist von Beruf Tontechniker im Dienste der nationalsozialistischen Propaganda. Seine Aufgabe besteht darin, für große Kundgebungen virtuos angelegte Beschallungsanlagen zu installieren, die den Zuhörern „die Eingeweide durchwühlen.“[12] Mit seiner Tätigkeit steht auch seine hervorstechende Eigenschaft in Verbindung: Er ist ein Mensch, dessen Wahrnehmung fast ausschließlich durch das Gehör bestimmt wird. In seiner durchweg von einer emotionslos-analysierenden Außensicht geprägten Sichtweise sind Geräusche scheinbar die einzigen Reize, die Emotionen bei ihm hervorrufen können. Dies zeigt sich deutlich in der Abscheu, die er empfindet, als ein Fahrgast in der Straßenbahn rülpst: „Ein Rülpsen. Da hat jemand gerülpst in meiner Nähe. Und meine Nackenhaare sträuben sich, noch bevor mir die Natur des Geräusches deutlich wird.“[13] Auch wenn an dieser Stelle ebenfalls nur indirekt über die Beschreibung der körperlichen Reaktionen auf seine Gefühlslage geschlossen werden kann, wird hier deutlich, wie sensibel Karnaus akustisches Empfinden ist. Der so vor allem auditiv wahrgenommenen Außenwelt steht Karnau mit einer deutlichen Distanz gegenüber, die vor allem in zynischen Kommentaren deutlich hervortritt:
„Alle sind frisch getrimmt, bis auf die Ohren runter, mit ausrasiertem Nacken, wo stoppelübersäte Kopfhaut schimmert. Gestoppeltes. Am Ziel wäre man wohl erst, wenn man sie noch kupieren könnte.“[14]
In seinem Leben hat nur ein einziges Ziel wirklich Bedeutung – sein Projekt einer Kartografie sämtlicher Färbungen der menschlichen Stimme. Diesem Ziel ordnet er schon zu Beginn alles andere unter: „Wer diese Karte aller Stimmfärbungen anlegen will, der darf, wie Gall, sich von den Mitmenschen in seiner Arbeit nicht beirren lassen.“[15] Menschen betrachtet er als „Schallquelle […] nicht etwa ein Mensch mit Schmerzen“.[16] Die Motivation für die fanatische Jagd nach menschlichen Stimmäußerungen liegt in seiner Kindheit begründet, als das traumatische Erlebnis der Diskrepanz zwischen der Stimme, wie er sie bei allen Äußerungen wahrnimmt, und seiner auf Schallplatte aufgenommenen Stimme ihn zur Überzeugung bringt, seine Stimme sei hässlich: „Seitdem gibt es manchmal das plötzliche Verstummen mitten im Gespräch, wenn mir der Mißklang meiner Stimme zu Bewusstsein kommt.“[17] Damit in Verbindung steht Karnaus Abneigung gegen andere Menschen, vor allem Erwachsene. Er schließt sich selbst aus der Welt der Menschen aus und zeigt asoziale Verhaltenszüge.[18] Für ihn ist das gleichbedeutend mit einem Rückzug aus der Tagwelt der „Herrenstimmen, des Kreischens und des Lärms“[19] in die Nacht, in der „jeder Laut eine besondere Bedeutung“[20] hat. Die Brücke zwischen dieser Nachtwelt und seiner gesteigerten akustischen Sensibilität bilden die Flughunde, die ebenfalls zentrales Element seiner Kindheit sind. Verstärkt wird ihre Bedeutung durch ein in seinem Empfinden furchtbares Erlebnis in der Turnhalle, als eine einsame Fledermaus mit lautem Geschrei von seinen Kameraden gejagt wird.[21] Die Flughunde sind für ihn als Tiere der Nacht mit ihrem Gehörsinn zunächst Inbegriff des Rückzugs aus der lärmenden Tagwelt in seine Welt der Töne, Begleiter auf seiner Suche nach der wahren, unverstellten Stimme. Die Scham der eigenen Stimme wegen, das Meiden anderer Erwachsener, seine im Geheimen geführten Forschungen zur Stimme – sie bilden einen Kreislauf, der ihn immer weiter von den Mitmenschen weg zu derjenigen Distanz und dem Forschungsfanatismus bringen, die seine Perspektive auf das Geschehen bestimmen.
[...]
[1] Guido Graf: „ ‚Was ist die Luft unserer Luft?’. Die Gegenwart der Vergangenheit in neuen deutschen Romanen. In: W. und W. Freund (Hrsg.): Der deutsche Roman der Gegenwart. München 2001. S. 18.
[2] Jörg Magenau: „Der Körper als Schnittfläche“. In: Andreas Herb (Hrsg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Westdeutscher Verlag: Wiesbaden 1997. S. 107-121. S. 107.
[3] Jörg Magenau: „Der Körper als Schnittfläche“. S.107.
[4] Vgl. Magenau: „Der Körper als Schnittfläche“. S. 109-111.
[5] Magenau: „Der Körper als Schnittfläche“. S. 115.
[6] Magenau: „Der Körper als Schnittfläche“. S. 117.
[7] Magenau: „Der Körper als Schnittfläche“. S. 118.
[8] Phillip-Alexander Ostrowicz: Die Poetik des Möglichen: das Verhältnis von „historischer Realität“ und „literarischer Wirklichkeit“ in Marcel Beyers Roman „Flughunde“. Ibidem-Verlag: Stuttgart 2005. S. 25.
[9] Marcel Beyer: Flughunde. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1995. S. 9. Im Folgenden als „FH“ abgekürzt.
[10] Bernd Künzig: „Schreie und Flüstern – Marcel Beyers Roman Flughunde“. In: Andreas Herb (Hrsg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Westdeutscher Verlag: Wiesbaden 1998. S. 122-153. S. 128.
[11] Vgl. Ostrowicz : Die Poetik des Möglichen. S. 26.
[12] FH. S. 14.
[13] FH. S. 17.
[14] FH. S. 9.
[15] FH. S. 29.
[16] FH. S. 29.
[17] FH. S. 59.
[18] Vgl. Ostrowicz : Die Poetik des Möglichen. S. 30-31.
[19] FH. S. 43.
[20] FH. S. 42.
[21] Vgl. FH. S. 18-19.
- Arbeit zitieren
- Peter Grube (Autor:in), 2007, Die Figurenperspektive in Marcel Beyers Roman "Flughunde", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83628
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