Der Fokus der Magisterarbeit wurde auf Globalisierungskritik und Geschlechterverhältnisse gerichtet. Es wurde untersucht, wie geschlechtersensibel die globalisierungskritische Bewegung im bundesdeutschen Kontext arbeitet und wie eine mögliche feministische Globalisierungskritik aussehen könnte. Das Thema wurde aus zwei Richtungen bearbeitet. Zum einen wurde die Globalisierungskritik der globalisierungs-kritischen Bewegung auf ihren Zugang zu Geschlecht befragt. Zum anderen wurden die Debatten der Frauen- und Geschlechterforschung auf ihren Beitrag zur Globalisierungsthematik hin untersucht. Die globalisierungskritische Bewegung wurde systematisch vorgestellt und auf ihre Aktualität überprüft. Dabei interessierte besonders, was das qualitativ Neue dieser Bewegung ausmacht. Die Bearbeitung des Themas dieser Arbeit wurde anhand der Methoden der Bewegungssoziologie sowie unter Hinzunahme zweier ExpertInneninterviews geleistet, die eigens für die Arbeit durchgeführt wurden.
Inhalt
I. Einleitung
1. Fragestellung
2. Forschungstand
3. Methode und Aufbau der Arbeit
II. Die globalisierungskritische Bewegung
1. Die Gegebenheiten der globalisierungskritischen Bewegung
1.1 Globalisierung
1.2 Entstehungsgeschichte
1.3 Die Bewegung vor Seattle: Inkubationsphase
1.4 Die Bewegung nach Seattle: Konsolidierungsphase
1.5 Neues Altes
2. Die globalisierungskritische Bewegung im Spiegel der Theorien Neuer Sozialer Bewegungen
2.1 Definition
2.2 Dimensionen
2.2.1 Denkweisen – Framing
2.2.2 Struktur der Anhängerschaft
2.2.3 Organisationsgrad
2.2.4 Strategien und Aktionsrepertoires
III. Exemplarischer Exkurs: Attac
1. Die Entstehung Attacs: Gründe für den Erfolg
2. Attac-D
2.1 „Globalisierung ist kein Schicksal – eine andere Welt ist möglich“
2.2 Organisation / Kommunikationswege
2.3 Sozialstruktur der Mitglieder
2.4 Aktionsrepertoires
2.5 Kritik an Attac
3. Geschlechtsspezifische Themen in Attac
3.1 Quote
3.2 FeministAttac
3.2.1 Gründung und Struktur von FeministAttac
3.2.2 Positionen von FeministAttac
3.2.3 Frauenpolitische Aktionen des Netzes FeministAttac
IV. Geschlechterverhältnisse und Globalisierung
1. Geschlecht, Geschlechtersensibilität, Feminismus
2. Allgemeine Einschätzungen
3. Geschlechtersensible und feministische Debatten um Globalisierung
3.1 Globalisierung und Flexibilisierung in den Industriestaaten
3.2 Migration, globaler Frauenhandel und Gewalt gegen Frauen
3.3 Einflusschancen von Frauenbewegungspolitik
3.4. Die Entwicklungspolitische Debatte
3.4.1 Die „globalisierte Frau“
3.4.2 Die ökofeministische Perspektive: der „Bielefelder Ansatz“
4. Die Debatten der Frauen- und Geschlechterforschung zur globalisierungskritischen Bewegung
V. Feministische Interventionen?
1. Gendersensible NGOs und Globalisierungskritik
1.1 DAWN
1.2 WEDO
1.3 WLUML
1.4 WIDE
1.5 NRO-Frauenforum
2. Ergebnisse der ExpertInneninterviews
2.2 „Im Kopf ist das allen klar“ – Interview mit Ilona Johanna Plattner
2.3. „Es ist die Konkurrenz unter Frauen!“ – Interview mit Brigitte Young
VI. Conclusio
Literatur
I. Einleitung
„Die Soziale Bewegung gegen die Globalisierung politisiert heute ureigenste Themen des Feminismus. Genau genommen wirft die Bewegung der GlobalisierungskritikerInnen eine zentrale alte Frage des neuen Feminismus neu auf: die Frage, ob es Freiheit ohne Gleichheit geben kann.“ (Holland-Cunz 2003: 208)
Beinahe kein Treffen internationaler Regierungsorganisationen in den letzten Jahren blieb ohne Protest. GlobalisierungskritikerInnen waren stets zur Stelle, um ihrem Un-behagen angesichts der Globalisierungsprozesse Ausdruck zu verleihen. Ihre Kritik zielt auf soziale Ungerechtigkeit und die Missachtung der Menschenrechte im Zuge der Globalisierung.
Wie Eingangs zitiert, thematisieren die GlobalisierungskritikerInnen dabei „ureigenste Themen des Feminismus“. Soziale Gerechtigkeit und die Achtung der Menschenrechte sind Forderungen, die von den Frauenbewegungen beständig vorgebracht wur-den. Gleichheit als die Grundbedingung von Freiheit lässt die Frage offen, was Gleichheit hier überhaupt bedeutet. Geht Gleichheit über die Forderungen nach gleichen Rechten und gleichen Zugangsbedingungen zu politischen Entscheidungsprozessen, also nach „mehr Demokratie“, hinaus? Beinhaltet die Grundvoraussetzung von Freiheit nicht auch materielle Gleichheit? Müssen Freiheit und materielle Gleichheit nicht sogar als gegenseitige Möglichkeitsbedingungen verstanden werden?[1] Ist Demokratie also nur mit sozialer Gerechtigkeit denkbar? Diese Fragen werden nun auch von der Bewegung der GlobalisierungskritikerInnen gestellt. Feministische Anliegen und Globalisierungskritik erscheinen somit als integrale Bestandteile der gleichen Thematik.
Historisch betrachtet erscheint das Verhältnis von Sozialen Bewegungen und Frauenbewegungen als ambivalent. Einerseits weckten Soziale Bewegungen stets Hoffnungen auf Freiheit und Gleichheit, andererseits „vergaßen“ sie dabei häufig den Blick auf das Geschlechterverhältnis. So sind Frauenbewegungen jeweils im Zuge von und in Abgrenzung zu den Sozialen Bewegungen entstanden.[2] Im Rahmen sozialer Bewegungen, die nicht selten für Alle zu sprechen suchten, bildeten sich meist andere Bewegungen, um ausgeblendete Unterdrückungsmechanismen zu thematisieren. Dies galt und gilt vor allem für Repressionen, Diskriminierungen und Ungleichheit aufgrund von Geschlecht.[3]
Die Vermutung, dass sich für Frauen auch in dieser Bewegung die gleichen historischen Erfahrungen wiederholen könnten, liegt also zunächst nahe.
Auf den ersten Blick erscheint es, als ob erneut auch die globalisierungskritische Bewegung den Blick auf Geschlecht vermeidet. Geschlechterverhältnisse zu problematisieren scheint in den Reihen der GlobalisierungskritikerInnen bis heute ein wenig aussichtsreiches Unterfangen zu sein:
„Wenn, wie so oft in den letzen Jahren von ‚Globalisierung’ gesprochen wird, ist von Frauen – oder allgemeiner: von den Geschlechterverhältnissen – kaum die Rede“ (Leitner/Ostner 2000: 39).
Von daher interessiert insbesondere, ob die globalisierungskritische Bewegung womöglich die Chance nutzt, den „gender bias“ Sozialer Bewegungen der Vergangenheit aufzuheben.
Eine andere Welt ist möglich?
Die Welt, für deren Alternative diese Bewegung kämpft, ist nach wie vor gekennzeichnet vom ökonomischen und strukturpolitischen Missverhältnis zwischen den reichen westlichen Ländern im Norden und dem armen Süden. Im Zuge der Globalisierung verschärfen sich diese Prozesse, und die soziale Krise der südlichen Länder scheint nun auch den Norden zu erreichen.
Am „Ende der Geschichte“[4] formiert sich vor den Augen einer breiten Öffentlichkeit augenscheinlich eine Neue Soziale Bewegung. International hat sich diese Bewegung mittlerweile als anerkannter Gesprächspartner in Fragen zur sozialen und ökonomischen Gerechtigkeit etabliert. In Deutschland, dem Kontext der vorliegenden Arbeit, werden VertreterInnen der Bewegung inzwischen zu etablierten Talkshows eingeladen und von Politikern „umschmeichelt“. Die GlobalisierungskritikerInnen werden hofiert von bürgerlichen Medien ebenso wie von Vertretern der Weltwirtschaft. Ehe-malige offizielle Finanzexperten nehmen ihre Forderungen teilweise auf und plädieren für einen „fairen Kapitalismus“. Mit dem Schock des 11. Septembers wurde allenorten zugestanden, dass die Globalisierung tatsächlich eine „Gerechtigkeitslücke“ aufweise, gegen die, so die landläufige Argumentation, nun auch die so genannte Dritte Welt mit fatalen Methoden aufbegehre. Gerade deswegen gelte es, die Anliegen der Globalisierungskritik aufzugreifen und eine andere, sozialere Weltpolitik einzuleiten.
In der konkreten Auseinandersetzung wurden die GlobalisierungskritikerInnen bisher meist mit weitaus weniger offenen Armen empfangen, als dies einige Medienberichte und die Reihen an etablierten „Sympathisanten“ glauben machen. Demonstrierende, die sich nicht bereitwillig von diesen vereinnahmen lassen wollten, wurden von den Einsatzkräften der jeweiligen Staatsgewalt äußerst massiv daran gehindert, zum Teil kam es zu Schwerverletzten und Todesfällen, so beispielsweise in Chiapas, Seattle, Prag, Göteborg, Genua und Evian. Diese massive Abwehr sowie die mediale Aufmerksamkeit im Zuge dieser Ausschreitungen sind Anzeichen dafür, dass die tatsächliche Infragestellung der globalen Prozesse, und die Thematisierung der damit einhergehenden weltweiten sozialen Ungerechtigkeiten, bisher kaum gebilligt werden. Die globalisierungskritische Bewegung hat sich im Laufe der Zeit also zu einer einflussreichen außerparlamentarischen Instanz entwickelt. Die globalisierungskritische Bewegung hat demnach heute große gesellschaftspolitische Relevanz. Dies macht sie auch für die Sozialwissenschaften interessant. Sich mit der Bewegung der GlobalisierungskritikerInnen auseinander zusetzen macht allerdings nicht nur Sinn, da es sich um ein neues und vielbeachtetes Phänomen handelt. Vielmehr noch scheint in dieser Bewegung eine große Chance zu liegen: Die Chance, „Feminismus als demokratisches Projekt“ (Gerhard 1999) zu reformulieren.
1. Fragestellung
In der vorliegenden Arbeit wird der Blick also auf Globalisierungskritiken und Geschlecht gerichtet.[5] Hintergrund der Fragestellung ist jedoch nicht das Vorhaben, die Genderperspektive als unerledigtes Anliegen der globalisierungskritischen Bewegung aufzudecken. Es geht vielmehr um die Gemeinsamkeiten der Anliegen der Frauenbewegung und der Bewegung der GlobalisierungskritikerInnen. Thematisieren sie nicht eigentlich dieselben Angelegenheiten?
Vor dieser Folie soll in der vorliegenden Arbeit überprüft werden, wie diese Gemeinsamkeiten in der globalisierungskritischen Bewegung sowie innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung reflektiert werden
Die Sensibilität für Geschlecht innerhalb der Bewegung selbst soll untersucht werden. Ebenso werden die Auseinandersetzungen über die globalisierungskritische Be-wegung bearbeitet. Dazu interessiert, ob geschlechtersensible und feministische De-batten existieren, die ihren Blick auf Globalisierung richten, und wie diese ausgestaltet sind. Welchen Beitrag leistet die Frauen- und Geschlechterforschung zur Globalisierungskritik? Daran schließt sich die Frage an, ob und wie diese Debatten in der Bewegung der GlobalisierungskritkerInnen aufgenommen werden.
Zum besseren Verständnis soll die globalisierungskritische Bewegung zudem auf ihre Aktualität hin überprüft werden. Was ist das qualitativ Neue an dieser Bewegung? Überdies interessieren die Gegebenheiten der GlobalisierungskritikerInnen. Was sind ihre eigentlichen Anliegen? Wie sind sie organisiert?
Es soll untersucht werden, ob diese Anliegen Anknüpfungspunke für Gender- oder feministische Perspektiven bieten. Wie geschlechtersensibel ist die globalisierungskritische Bewegung?
Ziel der vorliegenden Arbeit ist also, die globalisierungskritische Bewegung vorzustellen und ihre Zugänge zu Geschlecht zu diskutieren. Ausblickend soll nach einer geeigneten feministischen Globalisierungskritik gefragt werden.
2. Forschungstand
Zur globalisierungskritischen Bewegung sind in den letzten fünf Jahren, seit den Protesten von Seattle gegen das WTO Treffen 1999, einige Publikationen erschienen, in denen vor allen Dingen untersucht wird, „was die GlobalisierungskritikerInnen eigentlich wollen“ (Aguiton 2002; Grefe/Greffrath et al. 2002). Der Fokus wird hier gerne auf den Aufstand der Zapatistas im lakandonischen Urwald Mexikos gelegt.[6] Hierzu gibt es mittlerweile unzählige Veröffentlichungen gerade auch aus dem linken Spektrum (vgl. gruppe demontage 1998; Brand 2002). Wirklich systematische sozialwissenschaftliche Untersuchungen der globalisierungskritischen Bewegung als Ganzes liegen in dem Sinne nicht vor. Lediglich die Studie über die italienischen GlobalisierungskritikerInnen von Andretta et al. versucht, über den empirischen Weg Zugang zu dieser Bewegung zu bekommen, dies vor allem nach den Ereignissen in Genua 2001 (Andretta/Della Porta et al. 2003) (s.u.).
Des Weiteren gibt es mittlerweile zahllose Veröffentlichungen aus der Bewegung selbst, die jedoch meist eher auf der Ebene von Augenzeugenberichten und Selbstmythisierung verbleiben (Bourdieu 1998a; Bové/Dufour 2001; Klein 2001; Mies 2001a und viele andere mehr).
Aus soziologischer Perspektive wurde die Bewegung bisher sehr marginal behandelt. Im bundesdeutschen Kontext erschien eine Ausgabe des Forschungsjournals Neue Soziale Bewegung zu diesem Thema (Forschungsgruppe NSB 2002). Der Bewegungssoziologe Dieter Rucht widmete der Bewegung seit Anbeginn seine Aufmerksamkeit, ebenso der Politikwissenschaftler Claus Leggewie. Im deutschsprachigen Raum kreisen die Untersuchungen stets um das Netzwerk Attac. Andere existente Gruppen werden kaum beachtet (Grefe/Greffrath et al. 2002; eine Ausnahme ist Habermann 2002; Lohmann 2002; Lucke 2002). Lediglich ein Sammelband gibt bisher einen Überblick über den gesamten globalisierungskritischen Kontext (Walk/Boehme 2002b). In all diesen Veröffentlichungen wird der Blick jedoch nicht auf das Geschlechterverhältnis der Bewegung beziehungsweise ihrer Positionen gerichtet.
Demgegenüber existieren in der Frauen- und Geschlechterforschung inzwischen vielfältige Beiträge zur Globalisierungsthematik (vgl. die Arbeiten von Erna Appelt, Christa Wichterich, Uta Ruppert und vielen anderen mehr). Zur globalisierungskritischen Bewegung selbst allerdings sind bisher so gut wie keine Veröffentlichungen aus einer Geschlechterperspektive vorgelegt worden. Über einige wenige Seiten in Büchern (wie zum Beispiel Holland-Cunz 2003) gehen die Auseinandersetzungen bisher nicht hinaus. Lediglich Christa Wichterich und Maria Mies thematisieren im Rahmen ihres eigenen Engagements die Bewegung der GlobalisierungskritikerInnen in ihren Veröffentlichungen.
Publikationen, die in ähnlicher Weise wie die vorliegende Arbeit das Thema Globalisierungskritik und Geschlecht zu bearbeiten versuchen, liegen nicht vor.
Angesichts der dürftigen Forschungslage stellt diese Arbeit also ein Novum in der Auseinandersetzung mit der globalisierungskritischen Bewegung dar. Diese Herausforderung möchte sie hiermit annehmen.
3. Methode und Aufbau der Arbeit
Die Besonderheit dieser Arbeit liegt darin, die Verknüpfung der Analyse der globalisierungskritischen Bewegung mit der Untersuchung der geschlechtersensiblen beziehungsweise feministischen Debatten um Globalisierungskritik zu leisten.
Das Thema wird also aus zwei Richtungen bearbeitet, die jedoch integral sind. Zum einen wird die Globalisierungskritik der globalisierungskritischen Bewegung auf ihren Zugang zu Geschlecht befragt. Zum anderen werden die Arbeiten der Frauen- und Geschlechterforschung auf ihren Beitrag zur Globalisierungsthematik hin untersucht. Diese beiden Blickwinkel stehen folglich inhaltlich nebeneinander, auch wenn sie in vorliegender Arbeit aufeinander folgen.[7]
Die globalisierungskritische Bewegung soll in der vorliegenden Arbeit mit Methoden der bewegungssoziologischen Forschung vorgestellt und systematisiert werden. Der bewegungssoziologische Zugang erscheint besonders geeignet, die GlobalisierungskritikerInnen als Neue Soziale Bewegung zu fassen. Er eröffnet die Möglichkeit, sie mit anderen, früheren Sozialen Bewegungen zu vergleichen und die Frage nach der Aktualität der Bewegung zu stellen. Der Fokus der Arbeit wird, wie erwähnt, auf den bundesdeutschen Kontext gelegt. Da es sich bei der globalisierungskritischen Bewegung allerdings um eine globale Bewegung handelt, werden internationale Entwicklungen und Zusammenhänge stets mitberücksichtigt.[8] Aufgrund der ungenügenden sozialwissenschaftlichen Literatur, welche für die Fragestellung relevante Sachverhalte behandelt, wurden im Weiteren zwei Expertinneninterviews für die vorliegende Arbeit durchgeführt. Sie werden für die Untersuchung herangezogen. Durch die Wahl der Expertinnen soll ein Blick auf die Schnittstellen zwischen geschlechtersensiblen Perspektiven und Globalisierungskritik gewährleistet werden. Ilona Plattner, die Sprecherin der AG in Attac FeministAttac verfügt aufgrund ihrer Position über eine Innenansicht der globalisierungskritischen Bewegung. Die zweite Expertin, Prof. Dr. Brigitte Young, arbeitet als Globalisierungsexpertin im wissenschaftlichen Beirat von Attac und hat zugleich den Enquetebericht des deutschen Bundestags „Globalisierung der Weltwirtschaft“ mitverfasst. Sie soll eine Außenperspektive auf die globalisierungskritische Bewegung bieten. Aufgrund ihrer inhaltlichen Dichte wurden beide ExpertInneninterviews vollständig in den Anhang der vorliegenden Arbeit eingearbeitet. Zusätzlich dazu werden verstärkt Internetquellen herangezogen.
Diese Arbeit versucht also ein sehr breites Themenfeld zu bearbeiten, die Fülle kann aufgrund der angedachten Verknüpfung der Analysen und der damit einhergehenden Fokussierung auf bestimmte Aspekte nicht immer in aller Ausführlichkeit dargestellt werden. Da sie aber zum besseren Verständnis der globalisierungskritischen Bewegung beiträgt, wird bewusst versucht, der Vielfalt der Thematik durch die intensive Verwendung erläuternder Fußnoten gerecht zu werden.
In einem ersten Schritt wird der Blick zunächst auf die Gegebenheiten der globalisierungskritischen Bewegung gerichtet (Kapitel II). Hier interessiert besonders, wie neu diese Bewegung ist und was diese neue Qualität auszeichnet. Im Weiteren wird die globalisierungskritische Bewegung mit Hilfe bewegungssoziologischer Analysedimensionen untersucht und systematisch als Neue Soziale Bewegung vorgestellt. Bereits an dieser Stelle wird im Hinblick auf die Fragestellung die Frage nach der Kategorie Geschlecht mit in die Systematisierung einbezogen. Ziel dieser Systematisierung soll sein, die globalisierungskritische Bewegung mit ihren vielfältigen Facetten – besonders ihren Denkweisen – zu fassen und vorzustellen. Gefragt wird nach ihrem Organisationsgrad, der sozialen Struktur der Mitglieder und dem Aktionsrepertoire der Bewegung.
Diese Schritte ergeben, dass speziell für den bundesdeutschen Kontext ein Bewegungsnetzwerk politische und mediale Relevanz hat: das Netzwerk Attac. Daher wird in einem weiteren Teil der Arbeit exemplarisch Attac Deutschland (Attac-D) vorgestellt. Es wird ebenfalls anhand der bereits verwendeten Analysedimensionen untersucht und auf den Zugang zu Geschlecht hin befragt (Kapitel III).
Der Schwerpunkt wird im Folgenden auf die Debatten der Frauen- und Geschlechterforschung zur Globalisierung gelegt (Kapitel IV). An dieser Stelle richtet sich der Blick auf konkrete gendersensible oder mögliche feministische Globalisierungskritiken. Es geht in dieser Richtung weniger um Globalisierungskritiken, die um die Kategorie Geschlecht erweitert wurden, sondern vielmehr um geschlechtersensible beziehungsweise feministische Debatten, die ihren Blick nun kritisch auf Globalisierung richten.
Die Repräsentanz dieser Globalisierungskritik innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung wird daran anschließend in einem weiteren Teil erörtert (Kapitel V). Es interessiert, ob und wie diese Debatten Eingang in die globalisierungskritische Bewegung finden und ob sich darüber hinaus eine konkrete globalisierungskritische und gendersensible politische Praxis aufzeigen lässt.
Abschließend werden die Ergebnisse dieser Untersuchungen zusammengefasst und diskutiert, welche möglichen Schlüsse sich daraus zur Beantwortung der Frage nach gendersensiblen Perspektiven in der bundesdeutschen globalisierungskritischen Bewegung ergeben. Ein Ausblick auf eine mögliche feministische Globalisierungskritik soll am Ende der Arbeit gegeben werden (Kapitel VI).
II. Die globalisierungskritische Bewegung
1. Die Gegebenheiten der globalisierungskritischen Bewegung
Im Folgenden wird von der globalisierungskritischen Bewegung die Rede sein. Mit dieser Benennung, welche sich auch in den zum Thema erschienenen Veröffentlichungen durchgesetzt hat (vgl. Wahl 2002; Walk/Boehme 2002b), entgeht man dem Problem, eine zu verkürzte Bezeichnung der Bewegung zu verwenden, wie das bei Begriffen wie Anti -Globalisierer oder NO -Globals der Fall wäre.[9]
Bevor die globalisierungskritische Bewegung aus einer bewegungssoziologischen Perspektive analysiert wird (vgl. Abschnitt 2), soll zunächst ein knapper Überblick über die Konstellationen dieser neuen Bewegung gegeben werden. Ziel des Kapitels ist es, Einblick in die Gegebenheiten dieser Neuen Sozialen Bewegung zu geben, um mögliche geschlechtersensible und feministische Perspektiven besser verorten zu können. Die oben beschriebene Vorgehensweise macht es nötig, vorab zu klären, vor welchem Hintergrund die globalisierungskritische Bewegung agiert und welchen Begriff von Globalisierung man zugrunde legen kann.
1.1 Globalisierung
Globalisierungsgegner, Anti-Globalisierer, No-Globals und GlobalisierungskritikerInnen, dies sind die Bezeichnungen, welche die neuen Bewegungen sich selbst gaben oder durch die Medien erhalten haben. Sie eint, dass sie sich alle – kritisch oder ablehnend – auf Globalisierung beziehen.
Das Schlagwort Globalisierung führt seit Anfang der 1990er Jahre ein merkwürdiges Eigenleben. Mehr und mehr trat der Begriff aus dem Schatten der Wirtschaftsdiskussionen in die Öffentlichkeit und begann dort eine steile Karriere. Bücher wie „Die Globalisierungsfalle“ (Martin/Schuhmann 1996) oder das „Schwarzbuch Globalisierung“ (Mander 2002) avancierten zu Bestsellern.
Festzustellen ist, dass weltweite Wirtschaftsaktivitäten kein neues, sondern vielmehr ein historisches Phänomen sind. Die Ausdehnung und Internationalisierung der Wirtschaft auf eine weltweite Sphäre begann bereits mit der Entdeckung der Neuen Welt und deren ökonomischer (Aus)Nutzung. Kolonialisierung gilt gemeinhin als die Vorbedingung der Herausbildung des Kapitalismus. Zudem gelten eine ungleiche geographische Entwicklung und die dadurch ermöglichten, kontinuierlich expandierenden Märkte als Grundzug und Bedingung des Kapitalismus (vgl. Marx/Engels 1970).[10] Daher orientierten sich bereits die sozialen Bewegungen des letzten Jahrhunderts an genau dieser Erkenntnis und betonten die internationale Solidarität der kämpfenden Klassen mit der globalen Losung „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ (ebd.), geleitet von der Einsicht, dass es sich beim kapitalistischen System um ein weltumspannendes handelt. Was also genau bezeichnet „Globalisierung“ und was ist das entscheidend Neue an diesem Begriff? Worin liegt das Geheimnis seiner inflationären Verwendung und welchen qualitativen Gewinn bringt dieser Begriff in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung?
Eines scheint bei der Betrachtung der verschiedenen Herangehensweisen an Globalisierung deutlich zu werden: Eine einheitliche Definition des Begriffs Globalisierung gibt es nicht.
Um dennoch ein besseres Verständnis der Bewegung zu erzielen, die sich kritisch auf Globalisierung bezieht, wird folgend der Begriff Globalisierung erörtert. Hierbei wird vor allem Bezug genommen auf die Abhandlungen zur Globalisierung des Sozialwissenschaftlers Klaus Müller, da in diesen ein recht sachlicher Überblick über die unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Ansätze zur Globalisierung gegeben wird.[11]
Was also macht die neue Qualität der Globalisierung aus?
In ihrer allgemeinsten Definition kann man Globalisierung beschreiben als „raum-zeitliche Ausdehnung sozialer Praktiken über staatliche Grenzen hinaus, die Entstehung transnationaler Institutionen und die Diffusion kultureller Muster“ (Müller 2002: 8).
Dieser Prozess der Globalisierung unterscheidet sich von früheren Formen der Modernisierung durch seinen Tiefgang, seine Geschwindigkeit und seine Reichweite. Mit der Globalisierung, so Müller, tauchen eine Reihe von so genannten Weltproblemen auf: Probleme der Umwelt, allen voran die Klimakatastrophe, Armut und globale soziale Ungleichheit, globale Finanzmärkte mit ihren gravierenden Folgen für ganze Volkswirtschaften und zunehmende Migration. Der gemeinsame Bezug dieser Probleme findet sich im von Müller konstatierten Missverhältnis zwischen staatlich zentrierter Politik und global verzweigten Produktionsbeziehungen (Müller 2002).
In der sozialwissenschaftlichen Debatte um Globalisierung lassen sich zwei Richtungen ausmachen. Zum einen geht es in den eher soziologisch fundierten Theorien um ein Verständnis von Globalisierung als radikale Transformation beziehungsweise Erosion der Moderne. Als Ursachen werden ein Zusammenwirken deregulierter Finanzströme, technologischer Innovationen, eines kulturellen Austauschs und Regierungsentscheidungen genannt (vgl. Giddens 2001).[12] Ulrich Beck beispielsweise als Vertreter dieser Theorierichtung unterscheidet die Begriffe Globalismus, Globalität und Globalisierung (Beck 1997).[13]
Die zweite Richtung innerhalb der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung um Globalisierung kann man unter dem Begriff einer politischen Ökonomie der Globalisierung fassen. Der Fokus dieser Richtung liegt auf der Dynamik der fortschreitenden internationalen Verflechtung, die aus dem Konflikt zwischen politischer Machterhaltung und wirtschaftlichen Interessen an Markterweiterung entsteht.[14]
Augenmerk wird also überwiegend auf die ökonomische Globalisierung und ihre Auswirkungen auf die Nationalstaaten gelegt. Diesen wird ein Autonomieverlust unterstellt, wobei dies in den Betrachtungen recht unterschiedlich bewertet wird. Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf vertreten diesbezüglich eher eine starke Globalisierungsthese (Altvater/Mahnkopf 1999), während Bob Jessop und Joachim Hirsch sich gegen die Rede vom Bedeutungsverlust der Nationalstaaten wenden (Hirsch 1995; Jessop 1997).
Als das entscheidend Neue am Phänomen Globalisierung, das auch eine solche Bezeichnung und die Einführung des Begriffes in die Sozialwissenschaften rechtfertigt, bezeichnet Müller die politischen Innovationen des 20. Jahrhunderts seit dem Ende des Kalten Krieges. Die Universalisierung der Demokratie als „das einzig noch tragfähige Prinzip legitimer Herrschaft“ (Müller 2002: 16) ist mit dem Globalisierungsprozess ebenso verbunden wie die „Etablierung eines Systems internationaler Institutionen mit universaler Mitgliedschaft“ (ebd.). Zu diesen politischen Innovationen kommen Erneuerungen auf ökonomischer Ebene. Der gesamte Prozess der Ökonomie ist beschleunigt und mit dem Internet grenzenlos geworden. Globale Finanzmärkte besitzen also aus dieser Perspektive tatsächlich eine neue Qualität, sie wären ohne die technologischen Innovationen unmöglich.
1.2 Entstehungsgeschichte
Globalisierungskritische Gruppen sind im Kommen. Wurden sie in der vergangenen Zeit eher ignoriert oder belächelt, spricht man ihnen heute Bedeutung zu. Sie werden nicht nur medial besonders stark in den Blick genommen. Auch Politiker und mittlerweile sogar internationale Organisationen sprechen für ihre Anliegen.[15]
Der neoliberale Diskurs um Deregulierung und Privatisierung und die Institutionen, welche diesen Diskurs praktisch umsetzen, vernachlässigen, so die Kritik, wesentliche Aspekte: Soziale Gerechtigkeit und demokratische Partizipation in diesen Prozessen würden ausgeblendet. Menschenrechte würden missachtet sowie die kulturelle Diversität nicht berücksichtigt. Ebenso fehle das Interesse an ökologischer Nachhaltigkeit.
Vorherrschend in den Berichten in den Medien, aber auch in den Veröffentlichungen aus der Bewegung selbst, ist das Bild einer „grundlegend neuen“ Bewegung, die in Seattle 1999 ihre Geburtsstunde erlebt habe.[16] Im Folgenden wird also, geleitet von der Idee, dass Seattle „eine Wasserscheide war“ (Shiva 2000: 16), die Bewegung vor und nach Seattle betrachtet, um mögliche Kontinuitäten und Brüche aufzuzeigen.[17] Was das tatsächlich Neue an dieser globalisierungskritischen Bewegung ist, wird anschließend ausgeführt.
1.3 Die Bewegung vor Seattle: Inkubationsphase
Anlässlich der WTO-Tagung 1999 versammelten sich in Seattle beinahe 50.000 Demonstrierende, um ihren Protest gegen die Politik der WTO, wie aber auch der neoliberalen Globalisierung im Allgemeinen zum Ausdruck zu bringen. Die WTO (World Trade Organization), ein seit 1994 existierender Zusammenschluss von 148 Staaten (Stand August 2004), ist ein Vertragswerk von nationalen Regierungen, welches aus dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) hervorgegangen ist. Ziel der WTO ist die Gewährleistung eines ungehinderten internationalen Verkehrs von Kapital, Gütern und Dienstleistungen.[18]
Bereits neun Monate vor dem WTO-Treffen organisierte sich ein breites Bündnis von Gruppen und Organisationen. Mehr als 1.400 Gruppen aus 89 Ländern (vgl. Rucht 2002) unterzeichneten eine Erklärung, in der ein Moratorium „on any new issues or further negotiations that expand the scope and power of the WTO” (gruppe demontage 1998; Smith 2001, zitiert bei Rucht 2002) gefordert wurde (zu den weiteren Inhalten der Kritik an WTO und Globalisierung siehe Abschnitt 2). Auch die US-amerikanischen Gewerkschaften schlossen sich dem Protest an, was den Aktionen insgesamt mehr Seriosität verlieh, konnte man sie so schließlich nicht mehr nur als Eskapaden linker Randgruppierungen geißeln.
Der Seattle-Protest verkörpert die bis dato größte und weithin beachtetste Aufbietung zur Globalisierungsthematik auf US-amerikanischem Boden. Nicht nur deswegen gelten diese Proteste vielen Medien, Sozialwissenschaftlern aber auch den Protestlern selbst als erster großer Auftritt der globalisierungskritischen Bewegung. Was aber hat zu diesen Protesten geführt? Was also war vor Seattle?
In Tabelle 1 am Ende des Abschnitts, sind ausgewählte globalisierungskritische Proteste vor Seattle aufgeführt. Daraus geht hervor, dass es seit Mitte der 1980er Jahre Proteste in ähnlicher Größenordnung wie Seattle gab. Es sind vor allem Pro-teste aufgeführt, die anlässlich von Gipfeln internationaler Organisationen statt-fanden, was den typischen Aktionsformen der globalisierungskritischen Bewegung entspricht. Lediglich das „Intergalaktische Treffen“ der Zapatistas im Sommer 1996 in Chiapas kann man als proaktives Treffen mit aufführen. Viele Gruppen waren bereits Jahrzehnte vor Seattle beständig aktiv und haben dabei wesentliche Teile der heutigen Globalisierungskritik vorweggenommen (vgl. Rucht 2002). Betrachtet man allein die bundesrepublikanische Szene, so gibt es gerade in den Initiativen, die sich mit den Problemen des Trikonts[19] beschäftigen, eine Kontinuität zu globalisierungskritischen Themen. Die Bundeskonferenz Internationalismus (BUKO, bis 2002 noch Bundeskonferenz entwicklungspolitischer Aktionsgruppen) zum Beispiel arbeitet seit 1977 zum Thema, ebenso wie die Zeitschriften IZ3W oder die Lateinamerika Nachrichten.[20]
Nur selten fanden die verschiedenen Gruppen sich zu übergreifenden Aktionen zusammen. Sie arbeiteten eher spezialisiert und in kleineren Zusammenhängen. Eine Ausnahme stellt jedoch die Kampagne gegen das Treffen der Weltbank und des IWF 1988 in Berlin dar. Hier versammelten sich im September des Jahres 1988 beinahe 80.000 Demonstrierende, und parallel gab es zahlreiche kleinere Veranstaltungen. In der damals vorgetragenen Kritik finden sich bereits die grundsätzlichen Anliegen, die später in Seattle vorgetragen wurden (zu den Protesten in Berlin vgl. Gerhards/Rucht 1992; Gerhards 1993). Auf die Ereignisse in Berlin folgte unter anderem der Brüsseler Protest gegen die Gründung der WTO.[21]
1.4 Die Bewegung nach Seattle: Konsolidierungsphase
Nach den Ereignissen von Seattle gab es beinahe nicht mehr zu überschauende Entwicklungen und Aktivitäten. Aus diesem Grunde sind in Tabelle 2, ebenfalls am Ende des Abschnitts, lediglich größere Auftritte der globalisierungskritischen Bewegung nach 1999 aufgeführt.[22]
Seit den Protesten von Genua im Sommer 2001 hat die Berichterstattung in den Medien über die Bewegung vor allem in Deutschland stark zugenommen (Lohmann 2002; Rucht 2002). Aus diesem Anlass wird im Folgenden der Blick besonders auf diese Ereignisse gerichtet. Nach der Einschätzung der meisten Autoren haben diese Begebenheiten nicht unwesentlich mit dem Aufstieg von Attac in Deutschland zu tun.
Anlass der Proteste von Genua war das G8-Treffen der Regierungschefs der führenden Industrienationen im Juli 2001. Die inhaltlichen Motive und Gründe der ProtestteilnehmerInnen ähnelten den vorangegangenen Kampagnen und Aktionen (vgl. Rucht 2002; Leggewie 2003). Zusätzlich wurde die Kritik am elitären Charakter der G8 als eines „Kartells der mächtigsten und reichsten Regierungen“ (Rucht 2002: 68) lauter. Die Thematisierung der politischen Ungleichheit und die Kritik am vermeintlich undemokratischen Charakter internationaler Regierungspolitik nahm zu. An den Protesten beteiligten sich ca. 200.000 Demonstrierende, unter denen sich auch ge-werkschaftliche und kirchliche Gruppen fanden. Der größte Teil kam aus den Neuen Sozialen Bewegungen der vergangenen Jahre (vgl. hierzu insbesondere Andretta/Della Porta et al. 2003). Mit friedlichen Demonstrationen versuchten die Demonstrierenden ihre Anliegen vorzutragen. Nach den Erfahrungen von Prag und Göteborg[23] war ganz Genua von den italienischen Behörden einer Festung gleich abgeriegelt und in verschiedene Zonen eingeteilt worden. Die Bevölkerung durfte an diesem Wochenende keinen Besuch erhalten und wurde aus Sicherheitsgründen aufgefordert, die Fenster geschlossen zu halten. Ziel der Demonstrierenden war es, in die Sicherheitszone, die so genannte Rote Zone, einzudringen, in welcher die Regierungschefs ihre Tagung abhalten wollten. Im Laufe dieser Versuche kam es zu außerordentlicher Polizeigewalt, wobei der junge Italiener Carlo Guiliani ums Leben kam.[24] Die Polizei ließ eine Schule räumen, in der die ProtestteilnehmerInnen ein unabhängiges Medienzentrum eingerichtet hatten. Die Begründung für die Räumung, welche in einem Blutbad endete, waren von der Polizei gefundene Molotov-Cocktails und andere vermeintliche Waffen. Wie sich im Nachhinein herausstellte, hatte die Polizei diese selbst hineingeschmuggelt, um einen Vorwand für die Räumung zu finden. Aufgrund dieser Eskalation der Proteste gab es ein enormes Ausmaß an Berichterstattung, und das erste mal seit der Entdeckung der globalisierungskritischen Bewegung durch die Medien wurde Sympathie für die Anliegen der Proteste und immer größere Kritik an der Polizeigewalt sowie an der Politik der internationalen Regierungsorganisationen geäußert (vgl. Lohmann 2002). Ein Effekt dieser Berichterstattung war das immer größere bekannt werden der Bewegung, welches zu einem enormen Zuwachs an Mitgliedern führte.[25]
1.5 Neues Altes
Auf Basis der Ergebnisse der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dieser neuen Protestwelle kann man einige Aspekte benennen, die die neue Qualität der Bewegung ausmachen.
Neu ist zunächst der veränderte gesellschaftliche Hintergrund der Bewegung. Die „Globalisierung“ und ihre Institutionen, wie beispielsweise die WTO, sind Erscheinungen, die sich innerhalb der letzen zwanzig Jahre entwickelt haben (vgl. Bewernitz 2002). Diese neuen neoliberalen Institutionen scheinen eine eindeutigere Gegnerschaft zu ermöglichen. Der „gemeinsame Feind“, gegen den es zu mobilisieren gilt, ist einfacher zu erkennen und entfaltet dadurch stärkere Mobilisierungskräfte. Was in den Aktionen vor Seattle fehlte, war die Etikettierung als Gegner einer „neoliberalen Globalisierung“ (vgl. Gerhards 1993). Diese ist allerdings unmittelbar damit verbunden, auf welche Begrifflichkeiten diese neue Bewegung rekurriert. Waren in den 1970er Jahren und danach vor allem in antikapitalistischen Strömungen Begriffe wie Imperialismus, Kolonialismus oder Neokolonialismus auf der Tagesordnung, so hat diese Neue Soziale Bewegung den Begriff „Globalisierung“ übernommen. Der Sozialwissenschaftler und Geograph David Harvey vermutet, dass diese ehemaligen Begriffe „viel zu einfach [waren], um damit die Kompliziertheit der ungleichen raum-zeitlichen Entwicklung fassen zu können“ (Harvey 1997: 46).[26] Zudem kann man eine – auch durch die Medienöffentlichkeit – geschärfte Kritik an den Folgen inter-nationaler Finanztransaktionen und den Schuldenregimes ausmachen.[27] Die stärkere Einbeziehung von Gruppen aus dem Trikont und die daraus resultierende Internationalisierung der Bewegung lässt sich ebenfalls als Unterschied zu vorangegangenen Bewegungen konstatieren. Die außerordentliche Vielfalt der unterschiedlichen Gruppen, Interessen und Organisationen der globalisierungskritischen Bewegung, welche sich unter einer zunächst sehr allgemeinen politischen Thematik herausgebildet hat, überschreitet die Grenzen der Neuen Sozialen Bewegungen vergangener Zeit. Diese waren zumeist thematisch und national beschränkt. In diesem Sinne ist diese Vielfalt ein weiteres Novum der Bewegung.[28] Im Vergleich zu vorangegangenen sozialen Bewegungen scheint die globalisierungskritische Bewegung nicht über eine ausreichend homogene kollektive Identität ihrer Mitglieder zu verfügen, um sich übergreifend als gemeinsame „Generation“[29], als Klasse oder als unterdrücktes Geschlecht identifizieren zu können. Die Thematisierung der individuellen Lebensweise und Lebenswelt, welche als ein spezifisches Charakteristikum Neuer Sozialer Bewegungen ausgemacht wird (vgl. Rucht 1994), findet sich in den Auseinandersetzung der globalisierungskritischen Bewegung kaum, was man als weitere Neuheit konstatieren kann.[30] Die so genannte „Informationsrevolution“ (Harvey 1997: 38) spielt nicht nur eine Rolle für Veränderungen in der Produktion und Konsumption, sondern hat ebenso Auswirkungen auf die Mobilisierung, Vernetzung und Organisation von Sozialen Bewegungen. Insbesondere für die globalisierungskritische Bewegung kann man festhalten, dass sie unmittelbar auf diese neuen Kommunikationstechnologien zurückgreift, was ein weiteres Novum dieser Bewegung ausmacht. Dieses Nutzen vereinfacht und beschleunigt entscheidend die Mobilisierung und Vernetzung (Oy 2002). Ein so komplexes Netzwerk aus NGOs und Einzelpersonen wie beispielsweise Attac, bei welchem es auf möglichst schnellen und gleichen Informationsstand und weltweite Zusammenhänge ankommt, ist durch das Internet überhaupt erst möglich geworden (Grefe/Greffrath et al. 2002).
Das Erlangen von Medienöffentlichkeit als Ziel von Kampagnen Neuer Sozialer Bewegungen nimmt im Falle der globalisierungskritischen Bewegung stark zu (vgl. Lahusen 2002; Oy 2002). Im Vergleich zu früheren Bewegungen ist diese Medienorientierung beziehungsweise das medientaugliche Aufbereiten aller Aktionen und Kampagnen ein neues Phänomen, welches die globalisierungskritische Bewegung charakterisiert.[31]
Tabelle 1: Ausgewählte globalisierungskritische Proteste bis Seattle.
Quelle: (Rucht 2002: 62, Tabelle 1)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2: Ausgewählte globalisierungskritische Proteste nach Seattle.
Quelle: (Rucht 2002: 64, Tabelle 2), (web dok 9), (web dok 11), (web dok 33), (web dok 34).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wurden soeben die Gegebenheiten der globalisierungskritischen Bewegung aufgezeigt, soll nun anhand der Methoden der soziologischen Bewegungsforschung eine systematische Analyse der GlobalisierungskritikerInnen vorgelegt werden.
2. Die globalisierungskritische Bewegung im Spiegel der Theorien Neuer Sozialer Bewegungen
In diesem Abschnitt wird ein soziologischer Begriff von Sozialer Bewegung als Grundlage der Überlegungen eingeführt. Die globalisierungskritische Bewegung soll diesbezüglich beleuchtet und als Soziale Bewegung betrachtet werden. Dies erscheint als unabdinglich, um sie auf ihre Anschlussfähigkeit mit anderen Sozialen Bewegungen vergleichen und überprüfen zu können. Dies gilt insbesondere für geschlechtersensible und feministische Ansätze der Frauenbewegung.
An dieser Stelle werden insbesondere die Inhalte der von dieser Bewegung formulierten Globalisierungskritik ausführlicher dargelegt. Ziel ist es, diese Globalisierungskritik mit einer möglichen feministischen beziehungsweise geschlechtersensiblen Globalisierungskritik auf Anschlussfähigkeit hin überprüfen zu können.[32]
Die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Soziale Bewegung hat inzwischen ein weites Feld von Forschungsfragen und Analysemethoden er- und bearbeitet, die Soziale Bewegungen in vielerlei Hinsicht zu fassen suchen. In der noch relativ jungen Bewegungsforschung haben sich seit ihrem Entstehen einige Schwierigkeiten ergeben, die beim Erfassen von Protesten und oppositionellen Bewegungen auftreten. Kritikwürdig erscheint vor allem die Vereinheitlichung der verschiedenen Protestbewegungen der vergangenen Jahre, die teilweise nebeneinander existierten, unter einen Begriff: Neue Soziale Bewegungen. Der Einzigartigkeit und Vielfalt jeder einzelnen Bewegung könne so nicht mehr ungebrochen Rechnung getragen werden betonen die KritikerInnen dieser Vereinheitlichung (vgl. auch Kontos 1986; Görg 1992). Mancherorts wurde gar von einem Mythos[33] der Neuen Sozialen Bewegungen gesprochen. Es wurde darauf hingewiesen, wie problematisch es sei, sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive diesem Gegenstand zu nähern. Aufgrund seiner Dynamiken könne man ihm nur unzulänglich empirisch und begrifflich begegnen und man laufe stets Gefahr, den eigenen Untersuchungsgegenstand selbst zu konstruieren.[34] Trotz dieser Schwierigkeiten erscheint es sinnvoll und unumgänglich, die Aktionen und Proteste der GlobalisierungskritikerInnen analytisch unter den Begriff der Neuen Sozialen Bewegungen zu fassen, um sie systematisch untersuchen zu können. Die eben skizzierten Probleme seien dabei jedoch stets mitbedacht.[35]
In ihrer allgemeinsten Definition sind Soziale Bewegungen
„sowohl Anlass als auch Ergebnis, vor allem aber Träger und Motoren sozialen Wandels. Ihre Akteure sind zunächst informelle Gruppen, unabhängige, autonome Zusammenschlüsse und Vereinigungen, die erst zur Bewegung werden, wenn das Netzwerk der Beteiligten zur Mobilisierung weiterer Netzwerke führt“ (Gerhard 1999: 160).[36]
Mit Blick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit soll bereits an dieser Stelle die Kategorie „Geschlecht“, wie in Kapitel IV.1 erörtert, in die Analyse mit einbezogen werden.
Da bereits deutlich wurde, dass die globalisierungskritische Bewegung nicht über eine kollektive Identität verfügt und so auch nicht auf eine homogene soziale Basis zurückgreifen kann, wird bei der Analyse dieser Bewegung Bezug genommen auf das bewegungssoziologische Konzept des „Framing“ (Snow/Benford 1988; Gerhards/Rucht 1992; Della Porta/Diani 1999) in Erweiterung von Konzepten, die eine Neue Soziale Bewegung vor allen Dingen über ihre homogene Kollektividentität zu fassen suchen (Raschke 1985;1987; Rucht 1994) (s.u.).
Vorab sei bemerkt, dass in der vorliegenden Arbeit der Fokus auf den bundesdeutschen Kontext gelegt wird. Die Schwierigkeiten, die sich beim Betrachten der verschiedenen internationalen globalisierungskritischen Protestbewegungen ergeben, und der Versuch, sie alle unter den Begriff der Neuen Sozialen Bewegung zu fassen, bleiben somit unberührt.[37]
2.1 Definition
Als das spezifische Neue an Neuen Sozialen Bewegungen im Unterschied zu vorangegangen sozialen Bewegungen gilt ihr Entstehungskontext im wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus (vgl. Rucht 1994: 153; Gerhard 1999).
Soziale Bewegungen entstehen stets im Übergang von einer in die nächste Phase der Modernisierung (vgl. Rucht 1994). Die Neuen Sozialen Bewegungen sind im letzten Modernisierungsschub seit den 1960er Jahren entstanden, der zur Herausbildung des wohlfahrtstaatlichen Kapitalismus geführt hat. Die Wurzeln für das Entstehen von Neuen Sozialen Bewegungen liegen in ungelösten Problemen der System- und Sozialintegration: „Bewegungen entstehen aus gesellschaftlichen Widersprüchen und sie entwickeln sich in Widersprüchen fort“ (Raschke 1985: 448).
Für die Analyse der globalisierungskritischen Bewegung orientiert sich der folgende Abschnitt an vier Dimensionen der Bewegungsforschung (vgl. Snow/Benford 1988; Rucht 1994): Dies ist als erstes die Denkweise beziehungsweise das Framing einer Bewegung . Die zweite Dimension betrifft die Organisation Neuer Sozialer Bewegungen, welche sich vorrangig durch autonome Strukturen und lose Netzwerke auszeichnet. Die dritte Dimension untersucht die Strategie Neuer Sozialer Bewegungen. Viertens wird die soziale Struktur der Neuen Sozialen Bewegungen analysiert.
Die Entstehungs- und Entwicklungsdynamik Neuer Sozialer Bewegungen stellt eine zusätzliche Dimension bei der Analyse von Bewegungen dar. Meist geht dem Entstehen Neuer Sozialer Bewegungen ein krisenhafter, zum Teil rascher sozialer Wandel voraus. Dieser kann zum Beispiel durch ökonomische oder politische, aber auch durch ökologische Krisen oder Bedrohungen ausgelöst werden. Für die Entwicklung der Bewegung spielen dann sowohl die Akteure selbst als auch die Ressourcen zu ihrer Mobilisierung eine Rolle. Welche ökonomischen, intellektuellen und zeitlichen Kräfte stehen für die Mobilisierung zur Verfügung?
Zudem ist die Entwicklung Neuer Sozialer Bewegungen stark von politischen Gelegenheitsstrukturen abhängig (vgl. Rucht 1994). Die vorliegende Arbeit untersucht den bundesdeutschen Kontext der globalisierungskritischen Bewegung, weswegen an dieser Stelle bereits auf Kapitel III verwiesen sei, in dem die Entstehungs- und Entwicklungsdynamik von Attac pars pro toto für die bundesdeutsche Situation untersucht wird.
2.2 Dimensionen
Den Dimensionen Neuer Sozialer Bewegungen folgend, wird nun die globalisierungskritische Bewegung analysiert. Besonderes Augenmerk wird auf die Kategorie Geschlecht und die Sensibilität dieser Bewegung dafür gelegt. Die erste Dimension Denkweisen – Framing erhält in der Analyse den größten Stellenwert, da sie am geeignetsten erscheint, um sie auf eine inhaltliche Anschlussfähigkeit mit gendersensiblen oder feministischen Perspektiven zu befragen.
2.2.1 Denkweisen – Framing
Unter Denkweisen – Framing werden kognitive und moralische Prinzipien für eine kollektive Deutung der Situation und die Sinngebung in Inhalten und Zielen gefasst. Das „Framing“-Konzept geht davon aus, dass zur Mobilisierung von Gruppen, die über keine homogene Identität verfügen, die Bildung eines übergreifenden Deutungsrahmens nötig ist. Dieser erlaubt die Integration der Gruppen und hebt die gemeinsamen Elemente der unterschiedlichen Gruppen hervor. Zugleich werden somit mögliche Meinungsverschiedenheiten in den Hintergrund gestellt und unterschiedliche, aber kompatible Forderungen miteinander verbunden (vgl. Andretta/Della Porta et al. 2003).
Dieser Deutungsrahmen wird in der bewegungssoziologischen Literatur in Anlehnung an das Konzept des „Framing“ (Rochford/Worden et al. 1986; vgl. Snow/Benford 1988; Snow/Benford 1992) als „frame“ beziehungsweise „master frame“ bezeichnet. Dieser master fram e bildet den Deutungsrahmen der Bewegung und ist fundamental für die Kooperation und Mobilisierung der unterschiedlichen Akteure. Der master frame sollte in der Lage sein, die einzelnen, unterschiedlichen frames der sich mobilisierenden Netzwerke einer Bewegung kohärent miteinander zu verbinden (frame bridging) (Della Porta/Diani 1999).
Die Konstruktion eines master frames erfolgt in drei Schritten: Zunächst muss ein Problem definiert und einer oder mehrere Verantwortliche identifiziert werden. Als Nächstes folgt die Präsentation von Lösungsvorschlägen mit der Festlegung von Strategie, Taktik und Zielen. Der letzte Schritt beinhaltet die Bereitstellung von Motivationsanreizen für Aktionen (vgl auch Snow/Benford 1988; vgl. Andretta/Della Porta et al. 2003).
Mobilisierungserfolge hängen also nach diesem Konzept stark davon ab, wie gut die Konstruktion eines übergreifenden Deutungsrahmens gelingt.
Im Falle der globalisierungskritischen Bewegung bildet die Kritik der neoliberalen Globalisierung und die damit verbundene Forderung nach einer größeren sozialen Gerechtigkeit den „globalen Deutungsrahmen“ (Andretta/Della Porta et al. 2003: 98). Verantwortliche in den Augen der GlobalisierungskritikerInnen sind die multi- und transnationalen Konzerne, internationale Regierungsorganisationen und nationale Regierungen, die der Kritik nach nicht in der Lage sind, die negativen Globalisierungsfolgen aufzufangen. Als Lösung dieser Probleme bietet die Bewegung einen Mix aus den bereits vorhandenen verschiedenen Lösungsansätzen der spezifischen Gruppen, Netzwerke und Organisationen an. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass die Globalisierung kein natürlicher, sondern ein politisch erzeugter Prozess ist, wird als Motivation das Eingreifen in politische Prozesse angestrebt, mit der Absicht, das politische System zum Handeln zu bewegen (Andretta/Della Porta et al. 2003).
Dieser master frame, nämlich die Kritik an der neoliberalen Globalisierung, beinhaltet nun vielerlei frames. Um diese Kritiken besser verstehen zu können, werden sie im Folgenden typologisiert. Globalisierung, so wie oben erläutert, erscheint im Rahmen der Globalisierungskritik problematisch, im Hinblick auf
- ihre soziale Exklusivität,
- das Fehlen ökologischer Nachhaltigkeit,
- die Missachtung der kulturellen Diversität,
- die Missachtung der Menschenrechte und
- den Mangel an demokratischer Partizipation (vgl. Leggewie 2003).
Der als ökonomistisch enttarnte Diskurs um Deregulierung und Privatisierung soll also um wesentliche Aspekte sozialer Gerechtigkeit, des Umweltschutzes, der Förderung von Minderheiten und kultureller Vielfalt ergänzt oder ersetzt werden. Verein-facht lassen sich zwei Strömungen innerhalb der Diskurse der globalisierungs-kritischen Bewegung ausmachen, die als proaktiv und reaktiv gekennzeichnet wer-den (Rucht 1994). In der traditionellen Sprache werden diese beiden Richtungen meist als „reformistisch“ und „revolutionär“ bezeichnet (Altvater 2002: 26).[38] Als reaktiv gelten Bewegungen oder Denkweisen von Bewegungen, die vor allem auf sich abzeichnenden sozialen Wandel reagieren und diesen aufhalten wollen. Proaktiv wären Bewegungen, die sich sicherlich nicht ganz unabhängig von der gesellschaftlichen Lage auf eine bessere Zukunft hin orientieren und aus diesen Beweggründen zusammenfinden. Sie fordern Veränderungen, die ein ledigliches Aufhalten oder Rückgängigmachen der momentanen Entwicklungen bei weitem übertreffen. Im Falle der globalisierungskritischen Bewegung entspricht die reaktive Strömung der überwiegenden Denkweise der Bewegung mit den oben angeführten Kritikpunkten. Es geht nicht gegen die Globalisierung, sondern um eine faire Variante dieser. Ebenso wenig soll Kapitalismus abgeschafft werden, vielmehr wird sich besonnen auf die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft. Es sind Gegner der Neoliberalisierung und nicht des kapitalistischen Gesamtsystems. Es soll also „Sand ins Ge-triebe“[39] gestreut und nicht ein gänzlich neues „Getriebe“ erkämpft werden. Demgegenüber steht die Minderheit der proaktiven Ideen der globalisierungskritischen Bewegung. Hierunter kann man all diejenigen Strömungen fassen, die eine „andere Welt für möglich halten“ und sich in Anlehnung an marxistische Kritiken dem gesamten „System Kapitalismus mit seiner politischen Institution Staat“ (Wissen 2002: 2) kritisch gegenüberstellen.
Die globalisierungskritische Bewegung bildet als Neue Soziale Bewegung verschie-dene Richtungen der Kritik ab, in denen sich die beiden eben beschriebenen Typen wiederfinden. Im Folgenden wird eine an den Akteuren orientierte Typologie aufgegriffen. Es wird unterschieden in eine Rechte Globalisierungskritik, in den Gipfelprotest, die Kritik von Globalisierungsinsidern, eine religiöse, vor allem katholische Strömung der Globalisierungskritik und in die Kritik von Intellektuellen (vgl. Leggewie 2003). Diese fünf Typen werden folgend knapp skizziert. Es sei noch bemerkt, dass es sich dabei um eine ideelle Typologisierung handelt. In den meisten Fällen kommt es zu Überschneidungen.
Unter die so genannte Rechte Globalisierungskritik lassen sich alle Formen von Re-Nationalisierungen und Re-Nationalisierungsdiskursen fassen, die sich als Reaktion auf die Globalisierung verstehen lassen. Dazu gehören Wirtschaftsprotektionismus, sowie Kulturprotektionismus ebenso wie der europäische Nationalpopulismus (beispielsweise Jean-Marie Le Pen in Frankreich) und, mit Blick auf den bundesdeutschen Kontext, Neo-Nazismus.[40]
Als Gipfelprotest kann man die seit Seattle medial besonders aufgewertete Protestbewegung der GlobalisierungskritikerInnen bezeichnen, die sich vor allem parallel zu den Gipfeln der Regierungsorganisationen abspielt. Sie bilden den Kern der hier behandelten Neuen Sozialen Bewegung und mobilisieren insbesondere Studenten und Jugendliche. Ihre Organisationsformen, Strategien und Aktionsrepertoires werden unten ausführlich dargelegt.
Der Insider-Reformismus als dritter Typus beinhaltet die Kritik von ehemaligen oder noch aktiven wirtschaftskompetenten Globalisierern, welche sich aus einer Innen-Perspektive für eine Selbstbeschränkung der global players einsetzen, um einen fairen Kapitalismus zu erreichen.[41]
Die religiöse Strömung wird von christlichen Sozialethikern ebenso vorgetragen wie von kirchlichen Organisationen und Personen, bis hin zum Papst. Dieser Katholizismus plädiert für die Begrenzung und Unterordnung des Kapitals unter die göttliche Schöpfung. Es müsse Bereiche der menschlichen Existenz geben, die nicht dem Markt untergeordnet sind.[42]
Die von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu als „Gegenfeuer“ (Bourdieu 1998a) bezeichnete Kritik von Intellektuellen der Linken an der Globalisierung bildet einen weiteren Kritiktypus ab (vgl. Leggewie 2003). Vor allem die Schriften Bourdieus selbst, seines Schweizer Kollegen Jean Ziegler, des italienischen Politologen Antonio Negri, des US-amerikanischen Linguisten Noam Chomsky, der Französin Susan George und der Kanadierin Naomi Klein werden von einer breiten Leserschaft rezipiert (vgl. Brink 2002).[43] Es soll der Versuch unternommen werden, intellektuelle Kritik und Soziale Bewegungen wieder stärker aufeinander zu beziehen.[44]
Da für die Mobilisierung der globalisierungskritischen Bewegung gerade diese Intellektuellen und ihre Schriften eine außerordentliche Rolle spielen, und sie die inhaltlichen Positionen und Forderungen ungemein beeinflussen (vgl. Brink 2002), werden die für den globalisierungskritischen Kontext relevantesten TheoretikerInnen im Folgenden genauer vorgestellt. Ziel ist auch hier die Befragung nach geschlechtersensiblen oder feministischen Perspektiven dieser Theorien.
Der im Jahre 2002 verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu argumentiert, dass der gegenwärtige Neoliberalismus ein politisch gewollter Prozess sei, gegen den es sich zu wenden gilt.[45] Globalisierung bezeichnet er als einen Mythos, der nun reale Kraft entfaltet habe (Bourdieu 1998a). In seinen Überlegungen zum ökonomischen Feld konstatiert Bourdieu: „Der Wettbewerb zwischen den Unternehmen nimmt oft die Form eines Wettbewerbs um die Macht über die Staatsmacht an“ (Bourdieu 1998b: 189). Der Kapitalismus habe sich in ein System verwandelt, in dem „die blinde Logik des Feldes des Finanzkapitals“ (Bourdieu 2001: 52) und die „Tyrannei der Profitraten“ (ebd.) vorherrsche.
Als Gegenentwurf dazu entwirft Bourdieu die Idee einer Neuen Sozialen europäischen Bewegung. Er sieht die Notwendigkeit zum „kämpferischen Syndikalismus“ (ebd.: 19) und fordert einen neuen Internationalismus. Konkret fordert er den Aufbau eines europäischen Sozialstaates. Die Rolle der Intellektuellen sieht Bourdieu als Be-rater und Unterstützer, nicht als Führer dieser neuen Bewegungen. Intellektuelle und AktivistInnen sollten vereint werden. Als praktische Konsequenz gründete er mit anderen Wissenschaftlern im Zuge der Streiks in Frankreich 1995 die Gruppe Raisons d’agir mit dem Ziel, Untersuchungen durchzuführen, die strengen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen und zugleich politische Wirkung entfalten. Die Gründung Attacs wurde in Frankreich maßgeblich von Mitgliedern von Raison d’agir unterstützt.
In seinen Veröffentlichungen zur Globalisierungsthematik spricht Bourdieu nicht direkt von den Geschlechterverhältnissen. Seine theoretischen Arbeiten sind allerdings von feministischer Seite aus durchaus kritisch gewürdigt worden (Dölling/Steinrücke 1997; Krais 2001). Bereits Ende der 1980er Jahre bindet Bourdieu die Kategorie „Geschlecht“ in seine Theorien ein.[46] Vor allem die Thematisierung von Herrschaftsbeziehungen sowie die Frage nach der sozialen Konstruktion symbolischer Ordnungen in seinen Schriften machen Bourdieu für feministische Diskussionen interessant.
Die gebürtige US-Amerikanerin Susan George, die als Autorin und Beraterin verschiedenster NGOs fungiert, ist mittlerweile die Vizepräsidentin von Attac International und eine der populärsten AutorInnen der globalisierungskritischen Bewegung. Ihre Themen konzentrieren sich auf die internationalen Institutionen und Entwicklungspolitik. Armut und Hunger in der Welt, eingebettet in Diskussionen um die so genannte Nord-Süd-Problematik, sind die zentralen Anliegen ihrer meist empirischen Analysen. Der klassischen Entwicklungspolitik wirft sie Eurozentrismus vor und kritisiert die „Stellvertreter-Politik“ der meisten internationalen Organisationen im entwicklungspolitischen Kontext. Insbesondere zielt ihre Kritik auf internationale Organisationen wie den IWF oder die Weltbank. Ziel dieser sei nach George, die Schwächung einzelner Staaten des Südens, um dadurch die Übergabe der wichtigsten politischen Funktionen dieser Länder an Institutionen zu ermöglichen, die im Interesse des Weltmarktes handeln. Schuldenkrise, Strukturanpassungsprogramme und Währungsliberalisierungen seien Instrumente, die dieses Interesse der neoliberalen Institutionen belegen würden (vgl. George 1993). Alternativen sind bei George stets auf sehr realpolitischem Niveau angesiedelt. Sie verfügt nicht über ein theoretisches Programm zur Abschaffung des Kapitalismus, sondern fordert vielmehr einen weltweiten Keynesianismus, der auch eine „Säuberung und Umwandlung der Umwelt“ (George 2001: 265) vorsieht. Ihrer Meinung nach sollten IWF und Weltbank auch nicht abgeschafft, sondern reformiert werden. Geschlechterverhältnisse werden von George nicht thematisiert, lediglich an einigen wenigen Stellen stellt sie pragmatische Forderungen nach mehr Bildung für Frauen, um damit das Problem der Überbevölkerung in den Griff zu bekommen.
[...]
[1] (Vgl. auch Frankfurter Basisgruppe DemoPunK 2003).
[2] Knafla und Kuhlke zeigen, dass dies sowohl für die alten Frauenbewegungen, 1789 als auch 1848, wie auch in den 1920er Jahren und am prägnantesten für die Neue Frauenbewegung seit 1968 Gültigkeit besitzt (vgl. Knafla/Kulke 1987).
[3] Bezogen auf die 1968er Studentenproteste konstatieren Knafla/Kuhlke: „Es war nicht das erste Mal in der Geschichte, dass sich Frauen begeistert an Befreiungskämpfen beteiligten und dann feststellen mussten, dass ihre Kampfgefährten nach dem gleichen Muster wie die bekämpften Machthaber mit ihnen verfuhren.“ (Knafla/Kulke 1987: 89).
[4] So der japanische Philosoph Francis Fukuyama (Fukuyama 1992).
[5] In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe Geschlecht und Gender bewusst äquivalent verwendet, da das Deutsche nur über einen Begriff von Geschlecht verfügt. Der Begriff „Gender“ beinhaltet bereits inhaltliche Voraussetzungen und betont die gesellschaftliche Relationalität von Geschlecht als soziale Praxis. Siehe auch Kapitel IV.1.
[6] Am 1. Januar 1994 begannen die mexikanischen Zapatistas im Bundesstaat Chiapas den Aufstand. An diesem Tag trat das nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) zwischen den USA, Mexiko und Kanada offiziell in Kraft. Im Juli 1996 kamen 3000 Menschen zum „Intergalaktischen Treffen gegen Neoliberalismus und für die Menschheit“ in Chiapas zusammen.
[7] Es scheint bei der Bearbeitung der Thematik sinnvoll, zunächst die globalisierungskritische Bewegung vorzustellen, da diese bisher wenig sozialwissenschaftlich erfasst wurde.
[8] In den neuesten Veröffentlichungen zur globalisierungskritischen Bewegung wird beinahe ausschließlich von transnationalen Bewegungen gesprochen, da diese sich jenseits der Nationalstaatlichen Grenzen bilden und konsolidieren würden (vgl. Rucht 1999; Walk/Boehme 2002a). Der qualitative Gewinn einer Bezeichnung als transnational wird allerdings nicht ersichtlich, weswegen im Folgenden die Bewegung stets als international bezeichnet wird.
[9] Wie noch zu zeigen sein wird, geht es der Mehrzahl der Akteure dieser Bewegung um eine Kritik der sich abzeichnenden Prozesse, wobei die positiven Elemente derselben durchaus zur Kenntnis genommen werden. Eine generelle Ablehnung der Globalisierung wird nur von einer Minderheit betont.
[10] „An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich.“ (Marx/Engels 1970: 465)
[11] Verzichtet wird bei dieser Begriffsklärung auf Ansätze, die bereits den Diskurs um Globalisierung in Frage stellen. Erna Appelt beispielsweise vermutet, dass es sich „bei diesem Schlagwort lediglich um ein herbeigeredetes Phänomen [handelt]. Ist es vielmehr vielleicht ein „Fundament des neoliberalen Diskurses über Wettbewerbsfähigkeit und Standortfaktoren ?“(Appelt/Weiss 2001b: 7). Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen würde an dieser Stelle zu weit führen.
[12] Verzichtet wird hier auf die Darstellung von Ansätzen, die der neoliberalen Globalisierung eine deterministische Wirkung unterstellen, da die globale Ökonomie diesen Strukturwandel von Märkten, Institutionen und Kultur erzwinge. Diese Darstellung erscheint aus einer kritischen Perspektive zu defätistisch (vgl. Luhmann 1997: 171f., zitiert bei ; Münch 2001).
[13] Unter Globalismus kann man nach Beck die neoliberale Ideologie der momentanen globalen Umstrukturierungen fassen. Der Globalismus verkürzt die komplexen Globalisierungsprozesse auf die ökonomische Dimension. Übrig bleibt die „Standortdebatte“, die die Nationalstaaten eher aus unternehmerischer Perspektive betrachtet und aus diesem Grunde vor allem Deregulierung fordert. Ziel des Globalismus, so Beck, ist Kapitalismus ohne Erwerbsarbeit. Globalität bildet für Beck den Begriff für den Tatbestand, dass wir bereits in einer ‚Weltgesellschaft’ leben, in der die Vorstellung geschlossener Räume fiktiv geworden ist. Beck hält diese Entwicklung für unumkehrbar. Nun ist kein Vorgang, der sich irgendwo auf der Welt abspielt, ein örtlich begrenzter, alle Ereignisse betreffen die ganze Welt (vgl. Beck 1997: 30). Die Nationalstaaten verlieren an Souveränität in der Globalität der Weltgesellschaft, müssen jedoch die sozialen Folgen der ökonomischen Globalisierungsprozesse weiterhin auffangen. Den Prozess der Globalisierung nun bezeichnet Beck als „das erfahrbare Grenzenloswerden alltäglichen Handelns in den verschiedenen Dimensionen der Wirtschaft, der Information, der Ökologie, der Technik, der transkulturellen Konflikte und Zivilgesellschaft [...], das [...] alle zu Anpassungen und Antworten zwingt. Geld, Technologien, Waren, Informationen, Gifte überschreiten die Grenzen, als gäbe es diese nicht“ (Beck 1997: 45).
[14] Unter diese Strömung lassen sich die Ansätze von Altvater und Mahnkopf, sowie Wallerstein fassen (Wallerstein 1984; Altvater/Mahnkopf 1999).
[15] So beispielsweise Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine (web dok 16).
[16] Dieter Rucht sowie Thorsten Bewernitz argumentieren, dass es sich bei diesen Darstellungen um einen Gründungsmythos handle. Diese Diskussion kann an dieser Stelle jedoch nicht aufgegriffen werden (Bewernitz 2002; Rucht 2002).
[17] Diese Trennung folgt (Rucht 2002; Andretta/Della Porta et al. 2003).
[18] Andretta und Della Porta bezeichnen die beiden Phasen vor und nach Seattle als Inkubation und Konsolidierung (Andretta/Della Porta et al. 2003: 20), dieser Trennung folgt das Kapitel zur Vereinfachung der Systematisierung.
[19] In der vorliegenden Arbeit werden Begriffe wie „Trikont“, „Entwicklungsländer“ oder „Dritte Welt“ nur aus stilistischen Gründen durcheinander verwendet, wohl wissend, dass allein die erste Bezeichnung keine problematischen politischen Implikationen enthält. Vor allem die Bezeichnung „Dritte Welt“ erscheint heute zweifelhaft. Zum einen impliziert sie ebenso wie die Bezeichnung Entwicklungs länder eine abwertende, eurozentristische, hierarchische Weltsicht. Zum anderen ist begrifflich heute unklar, welche Länder darunter zu fassen wären (vgl. Nuscheler 1996).
[20] Was in den meisten Darstellungen über die Inkubationsphase der Bewegung fehlt, ist der entscheidende Beitrag, den feministische Gruppen zur Globalisierungsthematik geleistet haben. Uta Ruppert argumentiert, dass die Neue Frauenbewegung schon immer auch eine globalisierungskritische Bewegung gewesen ist (Ruppert 2001: 203, s.u.). Diesem Nexus widmet sich Kapitel V.
[21] Damals gelang es Tausenden Landwirten aus der ganzen Welt, die Verhandlungen über die Gründung der WTO zu blockieren (vgl. Brecher/Costello et al. 2000: 12).
[22] Im Rahmen des Europäischen Sozialforums in Paris im November 2003 gab es eine „antipatriarchale Demonstration“, an der etwa 4.500 Menschen teilnahmen. Über die OrganisatorInnen und sonstige Hintergründe liegen keine Informationen vor, weswegen dieser Demonstration hier kein besonderer Stellenwert eingeräumt wird (web dok 32).
[23] Bereits in Prag kam es im Laufe der Jahrestagung von IWF und Weltbank im September 2000 zu erheblichen Protesten. In Göteborg, wo sich im Sommer 2001 anlässlich des EU-Gipfels Tagung mehrere tausend Demonstrierende zusammenfanden, wurden bei Zusammenstössen mit der Polizei zwei junge Schweden angeschossen (web dok 17).
[24] Er wurde von einem italienischen Polizisten aus angeblicher Notwehr aus einem Polizeiauto heraus erschossen, anschließend von selbigem Auto überfahren. An seinem Leichnam fanden die Gerichtsmediziner auch Spuren körperlicher Gewalt, welche ihm anscheinend noch nach seinem Tod beigefügt wurde (vgl. Andretta 2003: 118f.).
[25] In Deutschland berichteten die bürgerlichen Medien, wie zum Beispiel die FAZ, nach Genua das erste Mal über die globalisierungskritische Bewegung. Attac beispielsweise profitierte von diesem bekannt werden, wie unten ausgeführt wird (Lohmann 2002).
[26] Ob es sich bei der Übernahme des Begriffes „Globalisierung“ nicht um eine ähnliche Vereinfachung handelt, und worin genau die Dynamiken liegen, welche innerhalb der linken Bewegungen zur Ablösung dieser „alten“ Begriffe wie, vor allem, „Imperialismus“ geführt haben, kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, verwiesen sei jedoch auf (Harvey 1997; iz3w 2001).
[27] Diese kritische Medienöffentlichkeit ist sicherlich Resultat der Kampagnen der 1980er Jahre, in denen immer wieder der Schuldenerlass für die so genannten Entwicklungsländer gefordert wurde (Drop the Debt etc.).
[28] Hirsch unterstellt der Bewegung in diesem Zusammenhang, dass sie sich auf die „zentralen ökonomischen Strukturen und Machtverhältnisse des existierenden Kapitalismus bezieht“ (Hirsch 2002: 2).
[29] Albrecht von Lucke macht genau in diesem Phänomen den Unterschied zur so genannten 1968er Bewegung aus, bei dieser handelte es sich ihm zufolge um einen Generationenkonflikt, der sich bis zu einer sozialen Bewegung ausdehnte (vgl. Lucke 2002).
[30] Thomas Seibert von der NGO medico international charakterisierte die Bewegung auf einer Konferenz in Frankfurt am Main 2003 vielmehr als „Freizeit- und Wochenendbewegung“ (Seibert 2003).
[31] Hierbei spielt es keine Rolle, ob es zu einer positiven oder negativen Erwähnung in den Medien kommt, wie Lohmann zeigt, einzig die mediale Aufmerksamkeit spielt eine Rolle für die Mobilisierung und Etablierung der Bewegung. Letztere wird sicherlich durch positive Berichterstattungen begünstigt (Lohmann 2002).
[32] Hier soll nicht die Auffassung vertreten werden, bei der Frauenbewegung handele es sich ebenfalls um eine Neue Soziale Bewegung, im Gegenteil: Auf die historische Kontinuität der Frauenbewegung als Soziale Bewegung sei ausdrücklich verwiesen (vgl. Kontos 1986).
[33] „Vorerst müssen die „Neuen Sozialen Bewegungen“ also als ein Mythos bezeichnet werden, der seine Existenz nicht zuletzt den Sozialwissenschaften verdankt. [...] Das Elend der NSB-Forschung, wenn es denn eine solche überhaupt gibt, besteht darin, dass sie bislang außer Stande war, sich ihres Gegenstandes in hinreichendem Maße begrifflich und empirisch-analytisch zu nähern.“ (Stöss 1984: 557, Hervorhebungen im Original).
[34] „Tun wir uns mit unserem Gegenstand nur schwer, oder gibt es ihn gar nicht?“ (Roth/Rucht 1989: 44).
[35] Es bedürfte einer eigenständigen Arbeit, die Frage zu behandeln, ob aufgrund der Andersartigkeit und Neuheit der globalisierungskritischen Bewegung nicht auch andere und neue Konzepte zu ihrer analytischen Erfassung entwickelt werden müssten.
[36] Der Bewegungssoziologe Friedhelm Neidhardt spricht von „mobilisierten Netzwerken von Netzwerken“ (Neidhardt 1985: 197).
[37] Anhand der genannten Definitionen Neuer Sozialer Bewegungen erscheint es unmöglich, beispielsweise die Landlosen in Brasilien oder protestierende indischen Reisbauern unter diesen Begriff zu fassen.
[38] Vgl. auch die Debatten innerhalb der Partei DIE GRÜNEN, in denen sich diese Fraktionen als „Realos“ und „Fundis“ ausbildeten.
[39] So der gängige Titel mehrerer Attac Ratschläge und Veröffentlichungen.
[40] In Deutschland stellen sich NPD und Skinheads als soziale Protestbewegung gegen Sozialabbau und Globalisierung dar, um somit die Tradition des völkischen Sozialismus zum Leben zu erwecken. Der Antikapitalismus dieser Globalisierungskritik ist geprägt von der antisemitischen Gleichsetzung von Kapital = USA = Judentum. Auch die eher aus der Ökologiebewegung kommenden Ansätze der Regionalisierungsbewegung arbeiten teilweise vor diesem nationalchauvinistischen Hintergrund (vgl. hierzu Geden 2000).
[41] Zu den prominentesten Vertretern dieses Kritiktypus gehören beispielsweise der Börsenmogul George Soros oder der frühere Vizepräsident der Weltbank, Josef Stiglitz, der kürzlich den Nobelpreis erhalten hat. Beide mahnen in ihrer Kritik die Sicherung globaler Kollektivgüter, wie Umweltschutz, Gesundheitsvorsorge und Bildung an. Besonders in die Kritik geraten bei ihnen die „eigenen“ Institutionen wie Weltbank und IWF (vgl. Leggewie 2003).
[42] Vertreter der beiden größten Weltreligionen, Kardinal Francis Arinze für die katholische Kirche und Kamel Al Sahrif für die islamische Weltorganisation, unterzeichneten in Genua 2001 eine Erklärung gegen die G8, die eine fundamentale Neuverteilung des Reichtums anmahnte (Vgl. Leggewie 2003: 82).
[43] Auftritte derselben geraten mitunter zu wahren Festivals. Ein wahres Spektakel beispielsweise ist um Negris Buch „Empire“ entstanden, das er mit Michael Hardt im Jahr 2001 veröffentlichte. Ein Netzwerk von Lesezirkeln, Diskussionsgruppen und Lesungen hat sich dazu gebildet. Es gilt heute wahlweise als „Bibel“ der Globalisierungskritik oder als Kommunistisches Manifest des 21. Jahrhunderts, so Slavoj Zizek. Es sei „so etwas wie die theoretische Stimme der Anti-Globalisierungsbewegung, womit sich der beliebte Einwand, diese Bewegung wandere theorielos von einem Gipfelsturm zum nächsten, erübrigt.“ (Frankfurter Rundschau 2001).
[44] Über diesen Kritiktypus sind bereits Arbeiten erschienen, auf die an dieser Stelle verwiesen wird, (vgl. u.a. Brink 2002). Es würde eine weitere Arbeit hervorbringen, diese Theorie-Ansätze der intellektuellen Kritik kritisch darzulegen, weswegen dies hier nur überblicksartig geschieht.
[45] „Bei dem, was man ständig als ein von den unwandelbaren ‚Naturgesetzen’ des Gesellschaftlichen regiertes Wirtschaftssystem hinstellt, scheint es sich meines Erachtens in Wirklichkeit vielmehr um eine politische Ordnung zu handeln, die nur mittels der aktiven oder passiven Komplizenschaft der im eigentlichen Sinne politischen Mächte errichtet werden kann“ (Bourdieu 1998a: 121, Hervorhebungen im Original).
[46] Er hat dies zum Teil bereits früher getan. So geht es beispielsweise in Les Héritiers von 1964 um den unterschiedlichen Bildungserfolg von Jungen und Mädchen (Bourdieu/Passeron 1964).
- Arbeit zitieren
- M.A. Sabine Flick (Autor:in), 2004, Globalisierungskritik und Geschlechterverhältnisse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83471
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