„Die Finanzen des Bundes sind in einem desolaten Zustand. So deutlich hat das Eichel vor der Wahl natürlich nie gesagt. Doch er hat einen Haushaltsentwurf für das Jahr 2006 hinterlassen, der nur ein Prädikat verdient: völlig illusorisch“ (Die Zeit, 6.10.2005, S. 27). Der ehemalige Finanzminister ist mit seinem erklärten Ziel gescheitert, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Für seinen Nachfolger sieht es konjunkturell besser aus, dafür muss er sich Forderungen der Ministerien, der Bürger und der EU erwehren. Vor diesem Hintergrund gewinnt die vom Autor gestellte Frage nach dem „kausalen Einfluss von Faktoren“ für die Reduktion von Staatsschulden einen hohen Stellenwert. Was trägt er zur Erreichung dieses ehrgeizigen Ziels bei?
Vorgehensweise und Methode: Der Autor geht in zwei Schritten vor. Im theoretischen Teil führt er zunächst behutsam in das Thema ein und erläutert insbesondere den vergleichenden Ansatz. Vier Länder (Deutschland, Großbritannien, Finnland und Schweden) werden nach dem konkordanzmethodischen Verfahren ausgewählt, das heißt, sie ähneln sich in der sozioökonomischen wie auch in der politisch-institutionellen Struktur, bei letzterer jedoch mit einigen wichtigen Ausnahmen, und zeigen in der abhängigen Variable – nämlich dem Abbau der Staatsschulden – große Unterschiede (Kapitel 1). Woran das liegen könnte, wird in vier Zwischenschritten ausgeführt. Zunächst wird das Politikfeld „Staatsverschuldung“ begrifflich und konzeptionell aufgearbetet, einschließlich des Forschungsstandes. Die letzteren Ursachen könnten insbesondere darin liegen, dass Regierungen möglicherweise trotz guten Willens durch politisch-institutionelle Blockaden daran gehindert werden (Kapitel 2). Darum bietet sich der in den letzten Jahren entwickelte Ansatz der Vetospieler an (Tsebelis), insbesondere in der rafinierten Erweiterung der Theorie der Vetopunkte (Kaiser). Die kompetente Darstellung dieses Ansatzes ist Gegenstand des dritten Kapitels. Das vierte Kapitel dient dazu, kurz aber prägnant die politischen Systeme der Vergleichsländer zu skizzieren. Daran knüpft die Enwicklung der Hypothesen (Kapitel 5) an. Im empirischen Teil wird die Staatsschuldenpolitik der Länder nach den entwickelten Kriterien und Parametern im Zeitraum 1974 bis heute – also für eine Periode von immerhin 30 Jahren – untersucht. Dabei erweist sich das entwickelte Kriterienraster als äußerst hilfreiches Strukturierungs- und Auswertungsmittel des komplexen Politikfeldes.
Gliederung
1. Einleitung
1.1. Einführung und Fragestellung
1.2. Forschungsdesign und Forschungsmethodik
1.3. Vorgehensweise und Schrittfolge
2. Das Politikfeld Staatsverschuldung
2.1 Begriffsklärungen und Definitionen
2.2. Historische Entwicklung der Staatsverschuldung
2.3. Staatsverschuldung in der wissenschaftlichen Diskussion
2.4. Funktionen von Staatsverschuldung
2.5. Determinanten von Staatsverschuldung
2.6. Reduktion von Staatsverschuldung
2.7. Haushaltspolitik
3. Der Vetopunkte-Ansatz
3.1. Institutionalismus in der Politikwissenschaft
3.2. Vetopunkte-Ansatz von André Kaiser
4. Politische Systeme der Vergleichsländer
5. Allgemeiner Teil
5.1. Bedingungen und Annahmen
5.2. Analysekriterien und Untersuchungsgegenstand
5.3. Entwicklung der Hypothesen
6. Einordnung der Vergleichsländer
6.1. Exekutiver Raum
6.2. Legislativer und föderaler Raum
7. Abschließender Teil
7.1. Zusammenfassung der Ergebnisse
7.2. Überprüfung der Hypothesen
7.3. Fazit
Literatur
1. Einleitung
1.1. Einführung und Fragestellung
In der vorliegenden Arbeit[1] wird ein Thema untersucht, das auf eine Jahrhunderte alte Geschichte zurückblicken kann und dennoch von aktueller Brisanz ist: die Staatsverschuldung. Die Verwendung von Staatsverschuldung als ein wirtschaftspolitisches Instrument mag in seinen Vor- und Nachteilen umstritten sein, das Bestehen von Staatsverschuldung und deren Auswirkungen für handelnde Akteure im politischen Raum ist es nicht. Staatsschulden, „ein in nahezu allen Herrschaftsordnungen gebräuchliches Mittel zur Finanzierung der Staatstätigkeit“ (Schmidt, 1995, 916), stellen, wenn der ursprüngliche Grund der Kreditaufnahme einmal vorbei ist, eine in jeder Hinsicht missliche und dringliche Problemsituation dar. Die jährlichen Zinszahlungen können den politischen Gestaltungsrahmen von Regierungen massiv einschränken, so dass diese verpflichtet sind, entweder die Belastungen auf künftige Generationen zu verschieben oder mit einschneidenden Sparmaßnahmen Verschuldung abzubauen.
Diese ökonomische und moralische Problemlage erhält nun in Staaten der Eurozone innerhalb der Europäischen Union noch eine zusätzliche kollektive Dimension. Im Zuge der europäischen Integration wurde die Einführung einer gemeinsamen Währung an vier sog. Konvergenzkriterien geknüpft, von denen zwei die nationale Schuldensituation betrafen, zum einen eine Begrenzung der absoluten Verschuldung auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und zum anderen eine Festlegung auf eine jährliche Neuverschuldung, die drei Prozent des BIP nicht übersteigt. Diese Richtwerte wurden auf Initiative des damaligen deutschen Finanzministers Theo Waigel 1997 für den Stabilitäts- und Wachstumspakt übernommen und mit einem mehrgliedrigen Sanktionsverfahren kombiniert, das die Mitglieder des Euroraums in ihrer Haushalts- und Finanzpolitik disziplinieren soll und jüngst zugunsten größerer nationaler Spielräume modifiziert wurde (SZ, 22.3.05, 2). Diese Regelung betrifft zwar nicht alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, nichtsdestotrotz zeigt sie potentiell eine weitere durch Staatsverschuldung ausgelöste Problemstellung in supranationalen Organisationsformen auf.
Dadurch wird deutlich, dass der Abbau von Staatsverschuldung ein vitales Politikziel europäischer Demokratien darstellt. Die Reduzierung des Schuldenstandes dämmt die Pfadabhängigkeit in der Budgetplanung ein und schafft somit Freiräume für Politikgestaltung. In diesem Zusammenhang ist es der Anspruch der vorliegenden Arbeit, die Reduktion der Staatsverschuldung als Forschungsobjekt zu behandeln und den kausalen Einfluss von Faktoren auf diese Reduktion analytisch zu erfassen. Im Gegensatz zu der Entstehung von Staatsverschuldung ist deren Abbau bisher weitestgehend noch nicht erforscht, weshalb es einer umso eindeutigeren Abgrenzung der Untersuchungsthematik bedarf. In Grafik 1 ist deshalb der Zeitpunkt der Analyse innerhalb der Entwicklung von Staatsverschuldung genau dargestellt.
Grafik 1:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Ausgehend von der Annahme, dass politische Institutionen politisches Handeln in einem sehr hohen Maß strukturieren und damit Politikergebnisse erklären können (Kaiser, 2002, 48), richtet sich das Augenmerk der Untersuchung zu dem dargestellten Zeitpunkt auf das Design von institutionellen Strukturen. Dabei sollen die politischen Systeme der vier Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, Großbritannien, Deutschland, Schweden und Finnland, miteinander verglichen und bezüglich ihrer Fähigkeit zum Abbau von Staatsverschuldung analysiert werden.
Ein weiteres Ziel dieser Arbeit ist es, zu erklären, unter welchen Bedingungen und Umständen eine Reduktion von Staatsschulden leichter oder schwerer erfolgen kann und welche praktischen Hinweise für die aktuelle haushaltspolitische Debatte in Deutschland sich daraus ggf. ableiten lassen.
1.2. Forschungsdesign und Forschungsmethodik
In diesem Abschnitt soll mit der gebotenen Konzentration das Forschungsdesign dieser Arbeit vorgestellt und in seinen Konzeptionen und Abläufen erläutert werden. Ebenso wird hier ein Einblick in die anzuwendende Methodik gegeben. Dabei ist das Kapitel derart angeordnet, dass, angefangen bei der grundsätzlichen Einordnung der Arbeit, die forschungswissenschaftlichen Schritte immer weiter abstrahieren.
Zunächst einmal betrifft die vorliegende Arbeit das politikwissenschaftliche Feld der Vergleichenden Regierungslehre oder auch der Vergleichenden Politischen Systemlehre[2]. Die Disziplin, für die nach Dieter Nohlen (1994) „keine Einheitlichkeit der Bezeichnung“ besteht, zeichnet sich besonders dadurch aus, dass sie nicht in erster Linie durch den behandelten Gegenstand, sondern durch die inhärente Methode benannt wird. Da allerdings ein unterschiedliches Verständnis vorherrscht, was unter „vergleichend und vergleichender Methode“ (Nohlen, 1994, 517) verstanden wird, und dazu das Forschungsfeld eingeschätzt wird, als „densely populated by noncomparativists, by scholars who have no interest, no notion, no training, in comparing“ (Sartori, 1994, 15), bleibt die „genaue Bedeutung des Vergleichs in der Politikwissenschaft häufig unklar“ (Lauth/Winkler, 2002, 41). Daher soll hier zu Beginn kurz die Frage aufgeworfen werden: Warum wird verglichen? Nach Adam Przeworski (1987, 35) existiert ein wissenschaftlicher Konsens darüber, dass „comparative research consists not of comparing but of explaining“. In ähnlicher Weise stellt auch Charles Ragin (1987, 6) fest, dass vergleichende Kenntnisse “the key to understanding, explaining and interpreting“ liefern und mit Lawrence Mayer (1989, 12) lässt sich der Anspruch der Teildisziplin in dem Forschungsinteresse zusammenfassen: „the building of empirically falsifiable, explanatory theory“. Es wird also verglichen, um erklären zu können.
Doch in welcher Form findet der Vergleich in der Teildisziplin Vergleichende Politikwissenschaft konkrete Anwendung? Nach Lauth und Winkler „wird vom Vergleich bzw. von vergleichender Methode im engeren Sinne zumeist dann gesprochen, wenn das Inbeziehungsetzen von begrifflich erfassten Objekten und Eigenschaften der Erklärung politischer Phänomene dient“. Hierbei seien Vergleiche notwendig für die Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, jedoch gehe es in erster Linie „um die Erkennung kausaler Zusammenhänge“ (Lauth/Winkler, 2002, 42). Mit genau diesem Ziel wird die vorliegende Arbeit auf eine theoretische Grundlage gestellt, die Teil einer einflussreichen Forschungsrichtung der neueren Politikwissenschaft ist, der Theorie der Vetospieler. Ansätze dieser wissenschaftlichen Strömung „haben einen zentralen Platz in der vergleichenden Politik eingenommen, besonders auf den Gebieten Vergleichende Regierungslehre und Politische Ökonomie“ (Ganghof, 2003, 1). Das Vetospielertheorem in seiner ursprünglichen Form geht auf die Arbeiten von George Tsebelis (1995, 1999, 2002) zurück. Darauf aufbauend hat André Kaiser (1998, 2002) die Theorie weiterentwickelt und das Konzept der Vetopunkte vorgelegt. Dieses Konzept wird den theoretischen Rahmen für diese Arbeit bilden, indem es auf das Politikfeld der Staatsverschuldung angewendet und seine Erklärungskraft für den Abbau von Staatsverschuldung empirisch getestet wird. Damit lautet die genaue Fragestellung der vorliegenden Arbeit: Inwieweit kann der Vetopunkte-Ansatz den Abbau von Staatsverschuldung erklären?
Entsprechend dem Leitsatz von Lauth und Winkler, „am Anfang eines jeden Vergleichs stehen Modelle oder Theorien“, steht also zu Beginn dieser vergleichenden Analyse die Theorie der Vetopunkte von André Kaiser. Diese bildet gemäß der Fragestellung den Leitfaden für den weiteren Forschungsprozess. Die Theorie liefert „die Begriffe und Kategorien, anhand derer die empirischen Phänomene erschlossen werden“ (Lauth/Winkler, 2002, 44). Diese sind in diesem speziellen Fall die Institutionengefüge der Vergleichsländer, die mithilfe des theoretischen Rahmens erfasst werden sollen, sowie daraus abgeleitete „Kausalannahmen, die es erlauben, die untersuchungsrelevanten Faktoren zu identifizieren“ (ebd.). Hier ist nun entscheidend, die Richtung des kausalen Zusammenhangs und dementsprechend die Anordnung von abhängiger und unabhängiger Variable eindeutig zu benennen. Die abhängige Variable der vorliegenden Arbeit, also das zu erklärende Phänomen, ist der Abbau von Staatsverschuldung. Als unabhängige Variable wird das institutionelle Design der politischen Systeme der Vergleichsländer verwendet.
Der nächste Schritt ist die Auswahl der Vergleichsfälle. Diese Fälle bilden „im traditionellen Verständnis jeweils eine abgeschlossene Einheit von abhängigen und unabhängigen Variablen“ (Lauth/Winkler, 2002, 45), was bedeutet, dass die Ursachen für den zu erklärenden Umstand innerhalb eines Falles zu suchen sind. Dieser Logik entspricht auch der angestrebte Vergleich, d.h. ein sog. Galtons Problem, dass ursächliche Faktoren außerhalb der Fälle auftreten, besteht nicht. Die Frage, wie viele und welche Fälle in die Untersuchung miteinbezogen werden, hängt grundsätzlich von der Forschungsstrategie und der Form der Datenerhebung ab. Bei der Datenerhebung wird in der Sozialwissenschaft grundsätzlich zwischen Primär- und Sekundäruntersuchungen sowie zwischen Individual- und Aggregatdatenanalysen unterschieden. In der vorliegenden Arbeit werden Daten im Bereich der Staatsverschuldung von Ländern erhoben, d.h. es wird auf Daten zurückgegriffen, die erstens „im Rahmen von dem Forscher nicht selbst durchgeführter Projekte erhoben und aufbereitet wurden“ und zweitens „Informationen für territoriale Einheiten“ (Lauth/Winkler, 2002, 51) betreffen. Daher kann hier von einer Sekundäranalyse von Aggregatdaten oder auch von einer Makrostudie gesprochen werden. Auf einer solchen Ebene sind in der Vergleichenden Politikwissenschaft besonders zwei Strategien verbreitet, die Auswahl von Vergleichsfällen sinnvoll anzulegen.
Diese Strategien entsprechen der Konkordanz- und Differenzmethode, deren Entwicklung bis auf John Stuart Mill zurückgeht. Mit der Konkordanzmethode verbunden ist das Forschungssystem des „most dissimilar case design“ (mdcd), während die Differenzmethode dem gegenteiligen „most similar case design“ (mscd) folgt. Diese legen zentrale Richtlinien über die Fallauswahl bzw. die Anordnung von abhängiger und unabhängiger Variable fest. Das Prinzip der Konkordanzmethode sucht dabei nach möglichst unterschiedlichen Kontextsituationen, aber möglichst ähnlichen unabhängigen, erklärenden Variablen, um dann Ergebnisse zu erhalten, gemäß der Grundidee, „dass es trotz der großen Unterschiedlichkeit der Fälle (mdcd) einen (oder wenige) gemeinsame Faktoren gibt, die dann als ursächlich im Sinne einer hinreichenden Bedingung für das Phänomen betrachtet werden“. Demgegenüber steht die Differenzmethode, die Fälle auswählt, „in denen die abhängige Variable in sehr ähnlichen Kontexten variiert“ (Lauth/Winkler, 2002, 60), um ursächlich dafür Unterschiede in der unabhängigen Variable zu ermitteln. Ähnlicher Kontext wird hier so verstanden, dass alle Faktoren, die nicht unmittelbar mit dem postulierten kausalen Zusammenhang zwischen unabhängiger und abhängiger Variable in Verbindung stehen, weitgehend gleich sein sollen, um den intervenierenden Einfluss von Drittvariablen gering zu halten. Um der begrifflichen Ungenauigkeit eines ähnlichen Kontextes zu entgehen, wird in der Forschungspraxis auf bestehende Typologien zurückgegriffen oder oftmals geographisch adäquate Länderfälle für area-studies ausgewählt.
Die letztgenannte Variante („most similar case design“) für eine methodisch passende Vergleichsstrategie wird auch bei dieser Arbeit gewählt. Hier werden Länderfälle aus Westeuropa mit einer langjährigen demokratisch-parlamentarischen Tradition und einer weitgehenden Integration in die Europäische Union als Vergleichsobjekte herangezogen. Innerhalb dieses ähnlichen Kontextes wird eine Varianz in der abhängigen Variable, nämlich der Reduktion von Staatsverschuldung gemessen. Als ursächlich dafür werden unterschiedliche Ausprägungen der institutionellen Strukturen der Vergleichsländer, mithin der unabhängigen Variablen, angenommen.
Dementsprechend sind die Länder Finnland und Deutschland aufgrund der signifikanten Unterschiede bei den aktuellen Haushaltsdaten für diese Arbeit von Interesse – Finnland weist nach den Daten von Eurostat[3] 2004 mit einem Budgetüberschuss von 2,1 Prozent des BIP den Spitzenwert der Eurozone auf, während Deutschland mit einem Defizit von 3,7 Prozent des BIP den EU-Grenzwert von 3 Prozent zum dritten Mal in Folge verfehlt. Darüber hinaus beziehe ich mich bezüglich der angemessenen Fallzahl auf eine Regel, die Lauth und Winkler für die Differenzmethode formulieren und nach der „für einen systematischen Test alle unabhängigen Variablen sowohl in positiver als auch in negativer Ausprägung und in allen möglichen Kombinationsformen mindestens einmal vorliegen sollten“. In der hier relevanten Situation mit lediglich einer, allerdings relativ komplexer, unabhängigen Variable sind die möglichen Kombinationsformen sehr schwer zu fassen, aber es wird deutlich, dass ein Länderfall mit einer vermeintlich komplexen Regierungsstruktur, d.h. eine Verhandlungsdemokratie wie Schweden und ein Beispiel mit einer relativ eindeutigen Regierungsstruktur, d.h. eine Konkurrenzdemokratie wie Großbritannien, in die Analyse einbezogen werden muss. Das bedeutet, Großbritannien, Deutschland, Schweden und Finnland sind die Vergleichsländer der vorliegenden Untersuchung.
Die Auswahl der vier Länder bietet zwei wichtige Vorteile: zum einen ein Maß an soziokultureller Ähnlichkeit, das davor bewahrt, Unvergleichbares zu vergleichen und zum anderen Unterschiede, die groß genug sind, um sinnvolle Vergleichsergebnisse erwarten zu lassen. Der Vergleich soll in einer umfassenden qualitativen Untersuchung der einzelnen Länderfälle durchgeführt werden. Aus einer solchen „möglichst detaillierten Analyse von Handlungskontexten“ leitet sich nach André Kaiser (2002, 52) eine Präferenz für Untersuchungsdesigns mit kleinen Fallzahlen ab, der in dieser Arbeit entsprochen wird.
Als zeitlicher Rahmen für die Untersuchung wird der Zeitraum von 1974 bis 2003 gewählt, hauptsächlich deshalb, weil externe Effekte (Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods, erste Ölkrise) zu Beginn der 70er Jahre die allgemeine Rolle der Staatsverschuldung in den westlichen Demokratien veränderten und diese als gemeinsame Basis für den Vergleich gelten können.
Die Länderfälle werden anhand eines Analyseverfahrens politischer Systeme untersucht, das Dirk Berg-Schlosser (1996) und besonders Charles Ragin (1996, 2000) in die Forschung eingebracht haben, die makro-qualitative Vorgehensweise. Dabei werden Beziehungen dichotomer Merkmale auf der Ebene politischer Systeme analysiert. Diese sind derart definiert, dass lediglich zwei Ausprägungen denkbar sein können: Merkmal vorhanden oder Merkmal nicht vorhanden. Eine solche Konzeption erweist sich mit der Untersuchung institutioneller Strukturen anhand der Theorie der Vetopunkte als kompatibel, weil hier sukzessive einzelne Regimebereiche einzelner Länder auf die Frage hin überprüft werden: Gibt es Vetopunkte oder nicht? Allerdings „führt die dichotome Ausprägung der Variablen zu der Notwendigkeit mit einer gewissen Weichheit der Kriterien zu arbeiten, die kontextadäquate Interpretationen“ (Lauth/Winkler, 2002, 63) erfordert. Außerdem kann es im Einzelfall schwierig werden, gewisse Schwellenwerte für graduelle Situationen festzulegen. Ebenso liegt auf der Hand, dass hier gewisse Vereinfachungen erfolgen müssen. Doch entsprechend dem Zitat von King, Keohane und Verba (1994, 42) „Simplification has been an integral part of every known scholarly work and will probably always be“, gilt es hier mit vorsichtigem Kalkül und einheitlichen Maßstäben die Länderfälle einzuordnen.
Bei der Auswertung der vergleichenden Ergebnisse wird zudem der Versuch unternommen, die qualitative Untersuchung mit quantitativen Methoden zu veranschaulichen. Hierzu werden einerseits die ermittelten Resultate der institutionellen Länderfälle und andererseits die Indikatoren der Schuldenreduktion miteinander in Verbindung gesetzt und graphisch dargestellt.
1.3. Vorgehensweise und Schrittfolge
Der weitere Verlauf der vorliegenden Arbeit ist wie folgt aufgebaut. Zunächst wird in Abschnitt zwei das Phänomen der Staatsverschuldung vorgestellt und deren Rolle und Funktion in der politischen Arena erläutert. Dann geht der dritte Teil näher auf den theoretischen Ansatz ein, in dem zunächst der weitere politikwissenschaftliche Rahmen und dann das Konzept der Vetopunkte von Kaiser vorgestellt wird. Nachdem im vierten Teil die politischen Systeme der Vergleichsländer kurz betrachtet werden, entwickele ich darauf aufbauend im fünften Teil die zentralen Arbeitshypothesen, die, nach der umfassenden Vergleichsstudie in Abschnitt sechs, im abschließenden siebten Teil ausgewertet und deren Ergebnisse interpretiert werden.
2. Das Politikfeld Staatsverschuldung
Im folgenden Abschnitt wird der Versuch unternommen werden, die begriffliche und die inhaltliche Dimension von Staatsverschuldung übersichtlich und für die Belange dieser Arbeit hinreichend darzustellen. Dazu gilt es zunächst Definitionen zu finden, welche die relevanten Arbeitsbegriffe dieses ökonomischen Politikfeldes bzw. die Zusammenhänge zwischen diesen Begriffen erklären sollen. Im Folgenden wird ein knapper Überblick über die historische Entwicklung von Staatsverschuldung gegeben, ehe dann in weiteren Unterkapiteln die wissenschaftliche Dimension der Staatsverschuldung, ihre Funktionen und Risiken sowie die unterschiedlichen theoretischen Herangehensweisen von Akkumulation und Reduktion der Verschuldung beleuchtet werden. Der interdisziplinäre Charakter einer politikwissenschaftlichen Arbeit über öffentliche Verschuldung liegt gewissermaßen auf der Hand, die Grundkenntnisse einiger ökonomischer Details und Zusammenhänge ist in diesem Rahmen auch unerlässlich, dennoch soll hier noch einmal betont werden, dass der Fokus hauptsächlich auf der Analyse der politischen Zusammenhänge liegt.
2.1 Begriffsklärungen und Definitionen
Um sich dem Phänomen der Staatsverschuldung zu nähern, ist es nötig, verschiedene Konzepte und Begriffe zu unterscheiden und gegeneinander abzugrenzen. Das ist deshalb notwendig, damit Einflussstrukturen von politischen Faktoren richtig ein- und ökonomische Indikatoren richtig zugeordnet werden können. Der Begriff der Staatsverschuldung kann mit Manfred G. Schmidt definiert werden als „erstens die Bezeichnung für die aus Verschuldung der öffentlichen Haushalte im In- oder Ausland erzielten außerordentlichen Staatseinnahmen, die spätere Ausgaben für Zins und Tilgung zur Folge haben und zweitens die Bezeichnung für die Gesamtheit der Schulden“ (Schmidt, 1995, 916) oder, wie es Uwe Wagschal formuliert, als „die bestehenden oder jährlich neu entstehenden Verbindlichkeiten eines Staates sowie ein Instrument der staatlichen Einnahmenerzielung, für dessen Abgrenzung es zahlreiche Indikatoren gibt“ (Wagschal, 2001, 487). Die davon politisch wichtigsten und hier relevantesten Indikatoren sollen nun kurz dargestellt werden.
Zunächst ist der Schuldenstand eines Landes von Bedeutung. Dieser Schuldenstand ist als eine Bestandsgröße zu sehen, weil er die „Verbindlichkeiten eines Staates zu einem bestimmten Zeitpunkt“ (Wagschal, 1996, 24) angibt. In der Regel ist das der Stand zum Ende eines Jahres. Der absolute Schuldenstand wird nun zumeist in dem Indikator der Schuldenquote wiedergegeben, die den Schuldenstand in Relation zum Bruttosozialprodukt (oder bei international vergleichenden Studien meistens zum Bruttoinlandsprodukt) setzt. Der zweite zentrale Begriff ist der des Defizits oder bei entsprechender Ausprägung des Überschusses. Diese Werte beziehen sich auf den Zeitraum des Haushaltsjahres und stellen daher im Gegensatz zu dem Schuldenstand Stromgrößen dar. Das Haushaltsdefizit oder der zumindest hier äquivalent zu gebrauchende Begriff der Nettoneuverschuldung bezeichnet die „Differenz zwischen Staatsaugaben und –einnahmen“ (ebd.) in einem bestimmten Zeitabschnitt“. Dieser Betrag des Defizits oder der Nettoneuverschuldung wird nun dargestellt in der Defizitquote oder Nettoverschuldungsquote. Hierfür ist die Bruttokreditaufnahme von Bedeutung, die „sämtliche innerhalb eines Jahres von der öffentlichen Hand aufgenommenen Kredite“[4] umfasst. Subtrahiert man nun von der Bruttokreditaufnahme die Tilgungen innerhalb eines Jahres auf frühere Kredite, erhält man die Nettokreditaufnahme. Diese Nettokreditaufnahme in Relation zum Bruttosozialprodukt ist die beschriebene Defizitquote. Diese beiden Größen, die nun analytisch hergeleitet wurden, die Schulden- und die Defizitquote, sind die beiden zentralen Richtwerte der Staatsverschuldung, an denen sich die fachwissenschaftliche und die tagespolitische Auseinandersetzung ausrichten und die auch als quantitative Eckpfeiler dieser Arbeit berücksichtigt werden. Die Bedeutung dieser beiden Werte für die praktische Politik lässt sich beispielsweise an der Tatsache ablesen, dass die Richtgrößen von absoluter Schuldenquote und jährlicher Defizitquote zwei der vier Konvergenzkriterien der Europäischen Union bilden, die, 1992 in Maastricht festgelegt, den Eintritt in die dritte und letzte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion reglementierten und weiterhin als Beitrittskriterien für die Eurozone bestehen.
Für die grafische Darstellung der Ergebnisse am Ende der Arbeit wird ausschließlich die Entwicklung der Schuldenquote verwendet werden, da sich hier die Gesamthöhe der Staatsverschuldung sowie ggf. deren Reduktion ausdrückt.
2.2. Historische Entwicklung der Staatsverschuldung
Bevor im nächsten Abschnitt eine wissenschaftliche und theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Staatsverschuldung erfolgen soll, wird nun zunächst ein knapper Abriss über die historische Entwicklung der Staatsverschuldung eingeschoben. Die Anfänge der Staatsverschuldung stehen dabei in einem engen Zusammenhang zu den Anfängen der Geldwirtschaft, denn „die Staatsverschuldung ist ein seit der Entstehung von geldwirtschaftlichen Systemen gebräuchliches Mittel von politischen Führungen zur Finanzierung ihrer Politik, insbesondere der Militärpolitik“ (Schmidt, 1992, 420) oder wie es Uwe Wagschal (1996, 13) formuliert: „die Geschichte der Existenz von Staatswesen ist gleichzeitig eine Geschichte der Staatsverschuldung“. Schon Cicero (vgl. Wagschal, 1996) berichtet in seiner Schrift „Über den Staat“ über Auszüge der Plebejer aus Rom wegen einer hohen Staatsverschuldung.
Diese galten Regierungen in den unterschiedlichsten Systemen als gebräuchliches Mittel, um Lösungen für dringende Probleme oder überdimensionale und langfristige Aufgaben zu finanzieren, was nicht selten und historisch immer wiederkehrend in den Staatsbankrott führte[5]. Was die Finanzierung von Staatstätigkeit mittels Verschuldung angeht, bilden die heutigen OECD-Staaten keine historische Ausnahme. Ihre „wirtschaftliche Entwicklung war von mehr oder weniger hoher Staatsverschuldung flankiert“ (Schmidt, 1992, 420f.). Entsprechend einem traditionellen Muster erreichte die Verschuldung während der beiden Weltkriege astronomische Dimensionen, die dann in den Nachkriegsjahren wieder abgebaut wurde. Besonders die Phase der weltwirtschaftlichen Prosperität in den 50er und 60er Jahren sorgte dafür, dass der Anteil der Staatsverschuldung an den Haushalten der OECD-Länder auf ein Niveau fiel, das unter dem Ausgangswert vor Beginn des 2.Weltkrieges lag.
Zu Beginn der 70er Jahre änderte sich dieser Trend. Die erste Ölkrise 1973, die auch zu anderen Veränderungen der globalen Finanzarchitektur wie dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods beitrug, führte auch zu der, bis dato, unbekannten Situation der Stagflation, in der sich ein stagnierendes Wirtschaftswachstum mit einer ansteigenden Inflation verband. Diese Krise „versuchten viele OECD-Länder zunächst durch expansive Finanzpolitik zu meistern, wodurch die Staatsverschuldung relativ zum Sozialprodukt stark zunahm“ (Chouraqui/Jones/Montador, 1986, 143ff.) und „die Konsequenzen des zweiten Ölschocks, der sich 1979 ereignete, dazu führten, dass sich das Problem noch verschlimmerte“ (Chouraqui, 1988, 1). In der Zeitspanne zwischen diesem Aufbrechen der traditionellen und kollektiven Intervalle der Staatsverschuldung in Kriegs- und in Friedenszeiten in den 70er Jahren und heute lassen sich „unter den westlichen Ländern große Unterschiede im Ausmaß der Staatsverschuldung und im Tempo der Neuverschuldung“ erkennen, weshalb sich dieser Rahmen als Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit eignet.
Einen letzten Punkt, der den historischen Überblick über den Verlauf der Staatsverschuldung in den westlichen Staaten abrundet, stellt die Vertiefung der europäischen Integration dar. Kriterien des Schuldenstandes und der Neuverschuldung als Beitrittsvoraussetzungen zur Währungsunion für alle Mitgliedsstaaten einzuführen und diese zusätzlich mit Kontroll- und Sanktionsmechanismen bei Überschreiten der gesetzten Margen auszustatten, wie dies mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt geschehen ist, ist ein einzigartiger Vorgang staatlichen Umgangs mit Verschuldung und unterstreicht den historischen Stellenwert der EU als supranationales Gebilde „sui generis“.
2.3. Staatsverschuldung in der wissenschaftlichen Diskussion
Um sich dem Begriff der Staatsverschuldung von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus zu nähern, soll nun zunächst ein Überblick über die theoretische, „seit jeher kontrovers geführte Diskussion über Art und Ausmaß möglicher oder notwendiger Grenzen der Staatsverschuldung“ (Kampmann, 1995, 8) gegeben werden. Dabei lassen sich grundsätzlich zwei strategische Überlegungen und historisch drei verschiedene Ansätze unterscheiden. Hierbei ist festzuhalten, dass die „jeweiligen Auffassungen über die Notwendigkeit oder die Risiken der Staatsverschuldung jeweils an das Verständnis von den Funktionen oder Aufgaben eines Staates“ sowie an den jeweiligen „Raum-Zeit-Bezug gekoppelt sind“ (Kampmann, 1995, 19).
Der erste Ansatz geht zurück auf die klassisch-liberalen Nationalökonomen, als deren exponierteste Vertreter Adam Smith (1723-1790) und David Ricardo (1772-1823) anzusehen sind. Ihr Verständnis von Staat und politischer Führung, das sich dann entsprechend in der sog. Klassik der Wirtschaftswissenschaften wieder findet, reduziert die Funktionen des Staates auf den Schutz nach außen (Landesverteidigung) und den Schutz nach innen (Durchsetzung des Rechtssystems), so dass lediglich ein „Nachtwächterstaat“ (Smith, 1776) besteht. Die klassische Theorie beruht darüber hinaus auf dem Glauben an die „automatisch zur Vollbeschäftigung führende Selbstregulierungsfähigkeit des Marktmechanismus“ (Kampmann, 1995, 10), der auf jegliche Eingriffe der öffentlichen Hand z.B. durch schuldenfinanzierte Investitionsprogramme verzichten kann. Die strikte Ablehnung von Staatsverschuldung durch die Klassiker ist dabei nach Brigitte Kampmann auf zwei Gründe zurückzuführen: erstens in Reaktion auf die schuldenfreundliche Verfahrensweise der Merkantilisten, die im 17. und 18. Jahrhundert aufgrund fehlender Gold- oder Edelmetalldeckung zu zahlreichen Staatsbankrotten führte und zweitens widerstrebte ein Eingriff des Staates in die wirtschaftliche Selbstbestimmung der Bürger den gerade erkämpften ständischen Rechten und somit politischen Errungenschaften von großer Bedeutung. Als hierfür abschließendes Fazit für die Position der klassisch-liberalen Wirtschaftsphilosophie zu Staatsverschuldung kann die folgende viel zitierte Aussage von David Ricardo (1962, 197) gelten: „Die Staatsverschuldung ist eine der schrecklichsten Geißeln, die jemals zur Plage einer Nation erfunden wurden“.
Ebenso oft wie sich die Gegner von Staatsverschuldung auf David Ricardo berufen, führen ihre Befürworter eine Äußerung von Lorenz von Stein (1815-1890) an, nämlich den Satz: „Ein Staat ohne Staatsschuld thut entweder zu wenig für die Zukunft oder er fordert zuviel von seiner Gegenwart“ (von Stein, 1878, 347). Von Stein gehörte wie Carl Dietzel (1829-1884) und Adolph Wagner (1835-1917) zu Vertretern der deutschen Finanzklassik, die sich Ende des 19. Jahrhunderts von der Lehre der Altklassiker abwandten. Nach ihrer Ansicht wurde eine generelle Aktivität des Staates im volkswirtschaftlichen Prozess gebilligt und als „grundsätzlich produktiv anerkannt“ (Dietzel, 1855, 11ff.). Charakteristisch für diese Denkschule waren Themen der staatlichen Verantwortung gegenüber seinen Bürgern und die Entwicklung erster Versuche einer Sozialpolitik. In diesem Zusammenhang wurde eine Finanzierung durch öffentliche Kreditaufnahme akzeptiert, solange sie sich auf außerordentliche Projekte wie z.B. militärische Kriegshandlungen bezog und bestimmte Deckungsregeln befolgte. Dahinter stand die Ansicht, dass zur Finanzierung solcher Ausnahmesituationen „plötzliche, kurzfristige Steuererhöhungen ökonomisch nachteilig oder nicht in voller Höhe realisierbar seien“ (Andel, 1998, 376). In der Diskussion um die spätere Tilgung der Kredite kam erstmals das Argument auf, dass es zu vermeiden sei, künftige Generationen durch Schuldenübertragungen zu belasten. Da der Ansatz der deutschen Finanzklassik Staatsverschuldung grundsätzlich tolerierte und je nach Ausmaß des betreffenden Projektes ihre Grenzen definierte, wird die hier vertretene Auffassung auch objekt- oder projektbezogene Verschuldungspolitik genannt.
Der dritte Ansatz einer konjunktur- und situationsbezogenen Schuldenpolitik (Kampmann, 1995, 15) erhielt seinen entscheidenden Anstoß von John Maynard Keynes (1883-1946). Die zentrale wissenschaftliche Erkenntnis des britischen Ökonomen war, dass es grundsätzlich möglich sei, dass ein langfristiges Gleichgewicht ohne Vollbeschäftigung entstehe, ein sog. Unterbeschäftigungsgleichgewicht, das alleine durch die Kräfte des Marktes nicht zu verändern sei. Dieses Dilemma sei, so Keynes, nur dadurch zu beheben, dass unterstützt durch staatliche Eingriffe in die Wirtschaft die gesamtwirtschaftliche Nachfrage angeregt werde. Die so erhöhten Staatsausgaben seien, wenn dies notwendig ist, auch durch eine zusätzliche Verschuldung zu gewährleisten, weshalb der Ausdruck „deficit spending“ als einer der zentralen Begriffe der keynesianischen Theorie gilt. Die Kehrseite dieser staatlichen Interventionspolitik in der Rezession bildet dann die staatliche Sparpolitik in Zeiten der ökonomischen Prosperität, um die Staatsfinanzen durch Tilgung der angehäuften Schulden antizyklisch wieder zu sanieren. Das bedeutet, der keynesianische Ansatz versteht Staatsverschuldung als ein elementares volkswirtschaftliches Instrument, um der Wirtschaft notwendige Impulse zu geben.
Über die genannten Ansätze hinaus ließen sich noch weitere vorwiegend neuere theoretische Konzepte anführen, die sich mit Staatsverschuldung auseinandersetzen. Doch ihnen wie auch den bereits genannten inhärent sind zwei grundsätzliche, unterschiedliche Überlegungen und Strategien von Staatsverschuldung im speziellen und von Wirtschaftspolitik im Allgemeinen. Die eine Seite vertritt dabei die Ansicht, dass „Fehlentwicklungen und Ungleichgewichte auf wirtschaftlichen Märkten vor allem aus Behinderungen des Marktmechanismus resultieren“ (Schmidt, 1995, 623) und Finanz- und Geldpolitik der Gewährleistung eines marktwirtschaftlichen Wettbewerbs dienen solle. Die Konzeption einer solchen angebotsorientierten Wirtschaftspolitik sieht einen „schlanken Staat“ vor, der sich aus dem wirtschaftlichen Prozess weitgehend heraushält und lediglich die entsprechenden Rahmenbedingungen schafft.
Dieser Denkschule ist neben der erwähnten klassischen Wirtschaftstheorie, bzw. der Wiederentdeckung ihrer Ideen in der Neoklassik auch der Monetarismus um seinen bedeutendsten Vertreter Milton Friedman (1912-heute) zuzuordnen. Alle diese Sichtweisen lehnen Staatsverschuldung besonders aufgrund ihres Staatsverständnisses ab. Zusätzliche Gründe sind der Vorwurf der Neoklassiker, dass „Staatsverschuldung die Verdrängung der privaten Nachfrage durch Crowding-Out-Effekte“ (Wagschal, 1996, 78) hervorrufe, und das auf Ricardo zurückgehende „Äquivalenztheorem“, das Robert Barro (1944-heute) in den 70er Jahren in die Verschuldungsdebatte eingebracht hat und demzufolge die Vermögenswirkungen von Steuern und Schulden identisch seien, weshalb sich eine Verschuldung für den Staat als sinnlos erweise (vgl. Barro, 1979). Praktische Anwendungen fand dieses wirtschaftspolitische Paradigma beispielsweise in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik von Ronald Reagan (1911-2004) in den USA („Reaganomics“) und von Margaret Thatcher (1925-heute) in Großbritannien („Thatcherism“).
Die gegenteilige Denkströmung vertritt hauptsächlich eine andere Auffassung von der Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft. Aufgrund der Fehlbarkeit und Unvollkommenheit von marktwirtschaftlichen Strukturen soll hier der Staat als regulierendes Organ am Wirtschaftsprozess beteiligt sein. Zum einen geschieht dies, indem negative Effekte des Marktes z.B. durch Formen von Sozialpolitik abgemildert werden und zum anderen, indem durch staatliche Zuschüsse z.B. in der Steuerpolitik die Nachfrageseite der Volkswirtschaft gestärkt wird. Diese Denkströmung, dessen deutlichste Ausprägung der Keynesianismus darstellt, befürwortet Staatsverschuldung als temporäres Politikinstrument eines „starken Staates“, der im Gegensatz zur klassischen Theorie als ein handelnder Akteur der Marktwirtschaft auftritt. Als klassisches Anwendungsbeispiel einer solchen – keynesianischen – Wirtschaftspolitik ließe sich die Politik des „New Deal“ unter US-Präsident Franklin D. Roosevelt (1882-1945) anführen.
Diese zwei Grundströmungen von ökonomischem Verständnis lassen sich wohl in allen Formen von marktwirtschaftlicher Wirtschaftspolitik erkennen. Dass sich dabei die zuerst geschilderte Version der theoretisch-abstrakten Einschätzungen als eher bürgerlich-konservative und die zweite als eher linke Position generiert, trifft ohne Frage zu, sollte aber nicht zu dem wissenschaftlichen Kurzschluss verleiten, von der Dominanz von Regierungsparteien eines politischen Lagers wie z.B. der Sozialdemokratie in Skandinavien direkt auf das Ausmaß der Staatsverschuldung schließen zu können. Da Wirtschaftspolitik als Ganzes die Berücksichtigung einer überaus komplexen Gemengelage verlangt, bei der es häufig zu Zielkonflikten zwischen wünschenswerten Politikergebnissen wie etwa Haushaltskonsolidierung und Steuersenkungen kommen kann, ist ein solcher simpler parteilicher Einfluss auf die Verschuldung nicht herzustellen. Im Gegenteil, in der Zeit von 1960 bis 1995 waren es in den OECD-Staaten bürgerliche Regierungen, die sich stärker verschuldeten (Wagschal, 2001, 491).
2.4. Funktionen von Staatsverschuldung
Diejenigen, die Staatsverschuldung als ein wenn auch begrenztes Element staatlicher Politik erachten, weisen dieser in der Regel drei sog. nicht-fiskale Funktionen zu: die Überbrückungsfunktion, die Stabilisierungsfunktion und die Lastverschiebungsfunktion.
Überbrückungsfunktion bedeutet, dass Liquiditätsschwankungen im Haushalt kurzfristig ausgeglichen werden können. Diese können „durch das Auseinanderfallen von unstetig anfallenden Einnahmen (Steuertermine) bei kontinuierlichen Ausgabenerfordernissen entstehen“ (Kampmann, 1995, 21). Entsprechende Kredite werden Kassenverstärkungskredite genannt. Die Stabilisierungsfunktion kann die Staatsverschuldung erfüllen, indem sie konjunkturelle Zyklen ausgleicht. In diesem Zusammenhang gilt Staatsverschuldung als „instrumentelles Mittel zur Aufrechterhaltung von Vollbeschäftigung, Preisniveaustabilität und angemessenem Wirtschaftswachstum“ (Musgrave/Musgrave/Kullmer, 1994, 6). Die Lastverschiebungsfunktion schließlich ermöglicht es, Aufgaben der öffentlichen Hand zeitlich zu verteilen. Diese hier als positive Eigenschaft der Staatsverschuldung betrachtete Funktion ist jedoch genau der Kern der Debatte um die Belastung künftiger Generationen durch stark defizitäre Haushaltskassen. Nach Ansicht von Vertretern der deutschen Finanzklassik, auf welche die Benennung dieser Funktion ursprünglich zurückgeht, ist die Lastverschiebung nur zulässig, wenn die Kredite für „solche Ausgaben eingesetzt werden, die auch künftigen Generationen noch Nutzen stiften, d.h. also lediglich zur Finanzierung staatlicher Investitionen“ (Kampmann, 1995, 27).
2.5. Determinanten von Staatsverschuldung
Die Liste der Forschungsliteratur, die Staatsverschuldung als abhängige Variable versteht und nach deren Einflussparametern sucht ist inzwischen umfangreich, entstand allerdings erst seit etwa Ende der 80er Jahre. Damals begann die aufkommende Wissenschaftsrichtung der „Neuen Politischen Ökonomie“ sich intensiv mit den Determinanten der öffentlichen Verschuldung auseinanderzusetzen, natürlich mit besonderem Interesse für einen eher wirtschaftswissenschaftlichen Blickwinkel[6]. Die zentralen Publikationen der systematischen Suche nach politischen und institutionellen Bedingungen der Verschuldung stammen dabei bis Mitte der 90er Jahre vorwiegend aus dem anglo-amerikanischen Raum.
Die Schilderung von Determinanten einer Akkumulation von Staatsverschuldung ist dabei weitaus umfangreicher als die Darstellung von Determinanten ihrer Begrenzung. Die veränderten Rahmenbedingungen, die zu einem Ausbau der Verschuldung beitragen, hat Manfred G. Schmidt wie folgt zusammengefasst: „von der zunehmenden Einschaltung des Staates in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozess, der durch Demokratie und Parteienwettbewerb geförderten permanenten Konkurrenz von Regierung und Opposition um Wählerstimmen, durch den Auf- und Ausbau des Sozialstaats sowie durch das Programm eines Interventionsstaates, der auch für die Glättung von wirtschaftlichen Konjunktur- und Strukturkrisen mitverantwortlich ist, erhält die Staatsverschuldung zusätzliche Schubkraft“ (Schmidt, 1992, 420).
1995 legte Uwe Wagschal mit seiner Dissertation „Staatsverschuldung. Ursachen im internationalen Vergleich“ einen umfangreichen und zugleich übersichtlichen Überblick über die Determinanten der Verschuldung vor. Seiner Arbeit entsprechend gibt es vier verschiedene Gruppen von Variablen: ökonomische Variablen, Ausgaben- und Einnahmenvariablen, kulturelle und demografische Variablen sowie poltisch-institutionelle Variablen. Diese Gruppen – der politisch-institutionelle Bereich unterteilt sich noch einmal in Wahl-, Parteien- und Regierungsebene sowie sonstige Größen – enthalten einen umfangreichen Katalog an Variablen, die Wagschal analytisch wie statistisch auf einen positiven oder negativen Einfluss auf die Staatsverschuldung untersucht. Eine Übersicht über sämtliche Ergebnisse würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, zudem ist eine Darstellung der Faktoren, die zu einem höheren Verschuldungsniveau führen, für unseren Zusammenhang wenig relevant. Anders sieht es bei den Variablen aus, denen ein verschuldungsbegrenzender Effekt zugeschrieben wird. Diese könnten in einem engen Zusammenhang zu den zu untersuchenden institutionellen Strukturen stehen. Nach einer Darstellung von Wagschal aus dem Jahr 2001 gibt es fünf Variablen, denen er signifikant negative Auswirkungen auf staatliche Verschuldung zuweist.
Das sind zunächst zwei ökonomische Parameter, nämlich ein starkes Wirtschaftswachstum und eine positive Handelsbilanz. Beides wirkt sich positiv auf die Haushaltslage aus, direkt bei der Handelsbilanz und indirekt durch mehr Steuereinnahmen und weniger Arbeitslose beim Wirtschaftswachstum. Bei den politisch-institutionellen Faktoren benennt Wagschal zunächst eine hohe politische Stabilität bzw. ein geringes gesellschaftliches Konfliktniveau. Als Maßgröße für diese Variable dient Wagschal der Grad des sozialen Friedens in einer Gesellschaft, der in engen Zusammenhang mit einem „hohen Grad an Korporatismus und Konsens“ (Wagschal, 2001, 491) gesetzt wird. Ferner billigt er direktdemokratischen Elementen einen verschuldungsbegrenzenden Einfluss zu, da diese, wie die Schweiz und Kalifornien zeigen würden, den Umfang der Staatstätigkeit insgesamt und dadurch auch der Staatsverschuldung einschränken. Als letzten Punkt führt Wagschal Verfassungs- und Gesetzeshürden an, die „einen äußerst wirksamen Bremsklotz gegen Verschuldung“ bilden. Dafür sprechen auch die Befunde anderer Forschungsarbeiten (z.B. Ostheim, 1998).
Auch Brigitte Kampmann hat in ihrer Dissertation die Wirksamkeit verschiedener konstitutioneller Konzepte zur Begrenzung von Staatsverschuldung untersucht und nachgewiesen. Sie zeigt dies an den Beispielen des auf der Bundesebene der USA angewandte Gramm-Rudman-Hollings Gesetz, das eine absolute Verschuldungsbegrenzung vorsah, sowie an den relativen Verschuldungsgrenzen der Maastricht Kriterien der EU und von Artikel 115 Absatz 1 GG, der die „maximal mögliche Nettokreditaufnahme in Zeiten einer sog. wirtschaftlichen Normallage an die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Investitionen bindet“ (Kampmann, 1995, 247).
Dieser Abschnitt sollte darlegen, dass in der wissenschaftlichen Literatur Konzepte bestehen, welche die Ausweitung wie die Begrenzung von Staatsverschuldung theoretisch erklären können. In welchem Verhältnis diese Fragen zu der Leitfrage dieser Arbeit nach der Reduktion von Staatsverschuldung stehen, soll nun erörtert werden.
2.6. Reduktion von Staatsverschuldung
Die Frage nach der wissenschaftlichen Analyse der Reduktion von bestehender Staatsverschuldung ist eine grundsätzlich andere als die Untersuchung von Entstehungsprozessen der Staatsverschuldung. Der zentrale Unterschied liegt im Ansatzpunkt der Überlegung (siehe Grafik 1). Während Arbeiten wie die von Wagschal nach den Ursachen der Staatsverschuldung fragen, um diese erklären zu können und Wege zu skizzieren, um ggf. einen weiteren Anstieg zu verhindern (Anfangspunkt des Prozesses in Grafik 1), versucht die Analyse der Reduktion von Staatsverschuldung Möglichkeiten aufzuzeigen, wie aus dem gegenwärtigen Dilemma bestehender Defizite zu einem Abbau von Verschuldung beigetragen werden kann. Während, wie erwähnt, der erste Ansatz eine breite Literatur aufweist, kann der zweite Ansatz als weitgehend unerforscht gelten.
Das könnte darin begründet sein, dass es aus wissenschaftlicher Sicht interessanter erscheint, die Entstehung eines Phänomens als dessen Zurückführung zu untersuchen. Zumal erst in der Anhäufung von Staatsverschuldung die Notwendigkeit zu deren Abbau begründet liegt. Auch lassen sich unter Umständen eindeutigere kausale Effekte bei der Entstehung von Staatsverschuldung als bei deren Reduktion extrapolieren, da sich diese als ein multikausales Ursachengeflecht generiert, das zwar nach einfachen Regeln, aber in vielen verschiedenen Bereichen funktioniert.
Bei dem Abbau von Staatsverschuldung geht es um die Sanierung des Haushaltes, mit der letztlich trivialen Zielsetzung, mehr Einnahmen als Ausgaben zu erzielen. Für diesen Prozess gibt es zahlreiche Möglichkeiten, die sich in drei grundlegende Bereiche aufteilen. Die erste Variante liegt darin, die Einnahmeseite des Staates zu erhöhen. Das bedeutet die Höhe der vielfältigen Einnahmen aus Steuern und Abgaben zu erhöhen. Der zweite Ansatz ist, die Kosten im Bereich der Ausgaben des Staates zu senken. Dieser Bereich kann sich prinzipiell auf alle Haushaltsposten ausweiten, d.h. jedes Budget kann gekürzt werden, um den Staatshaushalt zu entlasten. Dazu können durch Ausgabenverlagerungen auf andere föderale Ebenen oder Budgetverlagerungen auf Fonds oder Sondervermögen Einsparungen auf der Ausgabenseite erzielt werden. So erfolgte beispielsweise die Finanzierung der deutschen Einheit zu erheblichen Teilen „über Nebenhaushalte wie Kreditabwicklungsfonds, die Treuhandanstalt und Förderbanken des Bundes wie etwa die Kreditanstalt für Wiederaufbau, was mitunter als Flucht aus dem Budget kritisiert wurde“ (Weltring, 1997). Der dritte Bereich zum Abbau der Staatsverschuldung betrifft sonstige einmalige Einnahmequellen des Staates, die zur Sanierung des Haushaltes beitragen können. Das könnte durch Privatisierungen von staatlichem Besitz erfolgen wie z.B. durch den europaweiten Verkauf der UMTS-Lizenzen, durch Veränderungen der ökonomischen Struktur eines Landes wie z.B. durch die Entdeckung großer Öllagerstätten in Norwegen und Großbritannien Anfang der 70er Jahre oder durch ungeplante Tilgungen von im Ausland gewährten Krediten wie sie z.B. der russische Präsident Wladimir Putin gegenüber Deutschland im Mai 2005 angekündigt hat.
Über den richtigen Weg aus der Verschuldungskrise besteht kein Konsens, in der Wissenschaft nicht und erst recht nicht im Bereich der Politik, der in Demokratien in hohem Maße sensibel für unpopuläre Einschnitte wie Kürzungen der Sozialleistungen zugunsten der Sanierung des Haushaltes ist. Zudem sind in jedem Fall besondere nationale Bedingungen zu berücksichtigen. Dennoch ist es seit dem nahezu kollektiven Anstieg der Staatsverschuldung in den 70er Jahren im Rahmen der OECD-Staaten zu zahlreichen Fällen von Haushaltssanierungen gekommen, die zumindest in der letzten Zeit nach einem ähnlichen Muster erfolgten. „Als Strategien zur Haushaltssanierung waren dabei vor allem ausgabenseitige Maßnahmen zu beobachten, da die Steuerquote seit Anfang der 1990er Jahre – im Durchschnitt – nur noch gering angestiegen ist“ (Wagschal, 2001, 490). Dort, wo konsolidiert wurde, erfolgte dies in mehreren Staatstätigkeitsbereichen, insbesondere aber wurde „der weitere Anstieg der Sozial- und Militärausgaben sowie der öffentlichen Dienste begrenzt, hinzu kommen ein allgemeiner Subventionsabbau und eine Privatisierung öffentlicher Aufgaben“[7].
Diese genannten Mechanismen dienen dazu, staatliche Einnahmen zu erzielen, um die Staatsverschuldung abbauen zu können. Dass dies tatsächlich geschieht, ist damit nicht garantiert. Dies berührt einen zentralen Punkt bei der wissenschaftlichen Analyse der Reduktion von Staatsverschuldung, den man die Problematik der politischen Agenda nennen könnte. Um diese zu erklären, muss die Reduktion der Staatsverschuldung als politischer Prozess verstanden werden.
Die Erkenntnis von Regierungsverantwortlichen, dass Staatsverschuldung abgebaut werden muss, steht am Anfang des Prozesses. Diese Erkenntnis ist von der Höhe der Verschuldung und damit von der noch bestehenden Handlungsfähigkeit der Regierung abhängig. Geht man nun davon aus, dass diese Bedingung erfüllt ist und durch Einsparungen, Steuererhöhungen, o.ä. die finanzielle Situation so gestaltet wurde, dass ein Abbau des Schuldenstandes möglich wäre, kann sich dennoch die Situation ergeben, dass die politische Agenda andere kurzfristige Ausgaben als dringlicher im Vergleich zu der langfristigen Schuldenproblematik ausweist. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die bisherige Regierungszeit der rot-grünen Bundesregierung in Deutschland. In der ersten Legislaturperiode trat Finanzminister Hans Eichel vehement für die Sanierung der Staatsfinanzen ein, ehe besonders ein darbendes Wirtschaftswachstum und eine hohe Arbeitslosigkeit die politische Agenda dominierten und Eichel seine Pläne zum Abbau der Staatsverschuldung aufgeben musste. Ebenso würden z.B. Naturkatastrophen wie das Hochwasser der Elbe im Sommer 2002 in dieses Raster fallen. Die Problematik der politischen Agenda gilt es als zentralen Punkt bei der Analyse zu beachten. Wie mit dieser Problematik im weiteren Forschungsverlauf verfahren wird, werde ich in Abschnitt 5.1. erläutern.
2.7. Haushaltspolitik
Wer die Entwicklung der Staatsverschuldung untersucht, analysiert die Haushaltspolitik. Diese wird verstanden als die „Gesamtheit der Ausgaben- und Steuerpolitik“ (Sturm, 2001, 190), was bedeutet, dass das Verhältnis von Staatseinnahmen und -ausgaben die Lage der öffentlichen Finanzen und somit der Staatsverschuldung bestimmt. Haushaltspolitik unterscheidet sich von anderen Politikfeldern wesentlich durch ihre „Querschnittsfunktion“. Mit dem Medium Geld verfügt der Staat über ein zentrales Lenkungsinstrument für alle Politikfelder. „Durch Haushaltsentscheidungen verteilt er gesellschaftliche Ressourcen um und setzt politische Schwerpunkte.“[8]
Das Gebiet der Haushaltspolitik ist für Politikwissenschaftler kein sonderlich vertrautes Terrain, eher fällt es in den Beschäftigungsbereich von Wirtschafts-, Finanz-, Rechts- oder Verwaltungswissenschaftlern. Jedoch befassen sich die unterschiedlichen Disziplinen mit unterschiedlichen Teilaspekten. Während der Jurist eher die Interpretation des Haushaltsrechts im Auge hat, „bemüht sich der ökonomische Sachverstand um mathematisch exakte, modellogische, deshalb aber keineswegs notwendigerweise wirklichkeitsnahe Budgettheorien bzw. Budgetierungsmodelle“[9]. Weder von dem einen noch von dem anderen lässt sich jedoch nach den Worten von Roland Sturm (1989, 14) die Praxis der politischen Willensbildung auf dem Politikfeld Haushaltspolitik ableiten, im Gegenteil die „politisch-taktische Rationalität“ in diesem Bereich wird zunehmend von Ökonomen anerkannt (Engelhardt, 1984, 19f.).
Der Unterschied zu anderen häufiger in der politikwissenschaftlichen Forschung untersuchten Politikfeldern wie Gesundheits-, Familien- und Verteidigungspolitik liegt darin, dass Haushaltspolitik eine umfassendere aber auch weniger konkrete Kompetenz besitzt. Umfassender, weil die Haushaltspolitik die Mittel für alle Politikbereiche verteilt, weniger konkret, weil sie „in ihrer Wirkungsphase als autonomer Politikbereich kaum wahrgenommen werden kann“ (Sturm, 1989, 16).
Damit ist die Einführung in das Politikfeld der Staatsverschuldung inklusive der Darstellung des neuen Aspektes abgeschlossen. Im folgenden Abschnitt wird nun das theoretische Modell des Vetopunkte-Ansatzes vorgestellt, ehe dieses im weiteren Verlauf der Arbeit auf den Prozess des Abbaus der Staatsverschuldung in den relevanten Ländern angewendet wird.
3. Der Vetopunkte-Ansatz
3.1. Institutionalismus in der Politikwissenschaft
Um zu dem speziellen Theorieansatz der Vetopunkte von André Kaiser hinzuführen, muss zunächst einmal etwas allgemeiner auf die politikwissenschaftliche Bedeutung von Institutionen und auf deren Behandlung in der Literatur eingegangen werden.
Im Theorieansatz des Institutionalismus wird in Abgrenzung beispielsweise zu behavioralistischen oder Rational-Choice-Ansätzen die Auffassung vertreten, dass politische Institutionen politisches Handeln in einem sehr hohen Maß strukturieren und damit Politikergebnisse erklären können (Kaiser, 2002, 48). Dabei konzentriert sich die klassische Form des Institutionalismus auf Verfassungsinstitutionen und formal bestehende Regeln, basierend auf der Annahme, dass gegebene politische Institutionen von ihren externen Umständen (z.B. Größe eines Landes, Grad der Einbindung in den Weltmarkt, etc…) bestimmt sind und weniger durch Handlungsmuster von Akteuren.
Der Institutionalismus kann als die dominante Schule zumindest der deutschen Politikwissenschaft in den 1950er und 1960er Jahren angesehen werden. Besonders bei der zentralen politikwissenschaftlichen Frage im Nachkriegsdeutschland, nach den Gründen für den Zusammenbruch der Weimarer Republik, wurde der institutionelle Ansatz als ausschlaggebende unabhängige Variable interpretiert. Entsprechend veränderte institutionelle Arrangements im Grundgesetz der Bundesrepublik lieferten Bände von Fachliteratur. Die Entwicklung von Demokratie wurde damals „in Abhängigkeit von der Güte bzw. der Verbesserung der Institutionen gesehen“ (Nohlen, 1994, 521).
In den 70er und 80er Jahren lösten eher handlungszentrierte Ansätze, die oftmals dem angelsächsischen Bereich entstammten, die politiy-Dimension als zentrales Feld der politikwissenschaftlichen Forschung und Lehre ab und Institutionen wurden zunehmend als abhängige Variablen verstanden. Erst die Ergebnisse der vermehrten Politikfeldanalysen in den 80er Jahren „haben die Notwendigkeit der Komplementarität von polity- und policy-Ansätzen sichtbar gemacht, insofern als in der Erklärung der Vergleichsergebnisse der policy-Forschung auf institutionelle Faktoren zurückgegriffen werden musste“ (von Beyme, 1988, 327ff.). Die Institutionen wurden als Forschungsgegenstand wiederentdeckt, sowohl in ihrer explikativen Funktion für die Politikergebnisse stabiler Demokratien, als auch in ihrer normativen Funktion für die Demokratisierungs- und Systemtransformationsprozesse in Osteuropa und Lateinamerika.
[...]
[1] Für die Unterstützung bei der Erstellung dieser Arbeit möchte ich mich ausdrücklich bei folgenden Personen bedanken: bei Prof. Dr. Volker von Prittwitz für die Betreuung, bei Helena Tarkka und Martin Weale für die Bereitschaft, sich interviewen zu lassen, bei Lothar Binding für die Hilfe bei der Datensammlung durch den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags, bei Annemarie und Helmut Lerch für die jederzeit loyale und liebevolle Anteilnahme und bei Julia Kamp für 1001 Lächeln und vieles mehr.
[2] Diese Unterscheidung geht auf Dieter Nohlen (1994, 517) zurück.
[3] Die Zahlen wurden am 22. März 2005 auf Seite 2 der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht.
[4] ebd.
[5] „Die Geschichte der Staatsbankerotte ist mit der Entwicklung des Staatskredits als eine nur allzu häufige Erscheinung eng verknüpft. Die meisten Staaten sind davon heimgesucht worden.“ (von Heckel, 1911, 765)
[6] vgl. Roubini/Sachs, 1989a;b; Alesina/Tabellini, 1990; Edin/Ohlsson, 1991; Grilli/Masciandaro/Tabellini, 1991; de Haan/Sturm, 1994
[7] ebd.
[8] ebd.
[9] vgl. Sturm, 1989, 14. Beispielsweise betont der renommierte Finanztheoretiker Richard Musgrave:“ Unser normatives Modell der öffentlichen Wirtschaft soll nicht realistisch sein im Sinne einer Beschreibung dessen, was bei den verschiedenen Regierungen dieser Welt vorgeht.“ (Musgrave, 1969, 4)
- Citar trabajo
- David Christoph Lerch (Autor), 2005, Wer verhindert den Schuldenabbau?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83257
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