Im Mittelpunkt dieser Darstellung steht der Stellenwert des Niederdeutschen in der Schule. Dabei werden insbesondere die Ziele einer Integration in die Lehrpläne diskutiert, bisherige Erfahrungen aus der Primarstufe erläutert und Zukunftsperspektiven der 'plattdeutschen' Sprache im Unterricht aufgezeigt.
Inhalt
1. Einleitung
2. Niederdeutsch unter dem Gesichtspunkt der Mehrsprachigkeit
2.1. Vorteile mehrsprachiger Erziehung
2.2. Status des Niederdeutschen als Unterrichtsgegenstand
3. Bisherige Erfahrungen mit Niederdeutsch in der Schule
3.1. Niederdeutsch in der Unterrichtspraxis
3.2. Die Rolle des Lehrers
3.3. Dreisprachiger Unterricht: Ein Projekt aus den Niederlanden
4. ‚Platt’ auf dem Lehrplan: Ein Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis?
4.1. Rahmenrichtlinien norddeutscher Bundesländer
4.2. Probleme bei der Umsetzung
4.3. Niederdeutsch-Erweiterung: Konsequenzen für den Schulalltag
5. Lösungsansätze
5.1. Aufgaben der Politik
5.2. Aufgaben des Lehrers
6. Schlussdiskussion
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Da werden Sie geholfen!“ Mit diesem Slogan für eine Telefonauskunft war Verona Pooth vor einiger Zeit in der Fernsehwerbung zu sehen. Nahezu jeder deutschsprachige Zuschauer wird bemerkt haben, dass es sich bei diesem Satz um nicht ganz einwandfreies Hochdeutsch handelt: Das Verb ‚helfen’ wird hier in der passiven Form benutzt. Aufgrund dieser falschen, aber doch heiter wirkenden Satzkonstruktion wurde der Werbeslogan Pooths – vor allem in der Dienstleistungsbranche – beinahe zum geflügelten Wort. Jedoch kann die Fehlerhaftigkeit dieses Satzes sogar angezweifelt werden: Wer einmal die niederdeutsche Sprache gehört, sich aber nicht weiter mit ihr auseinandergesetzt hat, wird vielleicht vernommen haben, dass dort die Anrede Se sowohl im Dativ (‚Ihnen’) als auch im Akkusativ (‚Sie’) gebraucht wird. In seiner fehlerfreien hochdeutschen Form „Da wird Ihnen geholfen!“ kann also der Satz wortwörtlich ins Niederdeutsche übersetzt werden mit „Dor ward Se holpen!“. Und schon könnten Menschen, die nicht aktiv Niederdeutsch sprechen, ohne Weiteres schlussfolgern, dass der von Verona Pooth absichtlich fehlerhaft vorgetragene Werbespruch nur auf die Wurzeln der niederdeutsche Sprache zurückzuführen sei. Vor allem Kinder und Jugendliche würden dann aufgrund dieser Annahme die Inkorrektheit des Satzes in Frage stellen, da sie kaum noch Niederdeutsch beherrschen; somit wissen die wenigsten unter ihnen, dass der Niederdeutschsprechende sich eines differenzierten Satzbaus bedient, um eventuelle Verwechselungen von Se im Dativ und Se im Akkusativ zu vermeiden. Der Werbeslogan in seiner hochdeutschen, korrekten Form „Da wird Ihnen geholfen!“ würde also im Niederdeutschen in etwa lauten: „Dor kreeng Se Hülp!“
Schon allein dieses Beispiel demonstriert, dass Niederdeutsch eine eigenständige Sprache mit ihren individuellen Besonderheiten ist. Und darüber hinaus: Wer diese Sprache nicht – wenigstens ansatzweise – beherrscht, kann Gefahr laufen, Fehler im Hochdeutschen allein auf ihre Existenz zurückzuführen. Nicht nur aus diesem Grund sollte der niederdeutschen Sprache (wieder) mehr Aufmerksamkeit geschenkt und gerade in öffentlichen Institutionen, wie z.B. Schulen, noch mehr Wert auf deren Vermittlung gelegt werden. Mit genau dieser Thematik beschäftigt sich die vorliegende Arbeit. Insbesondere soll hier der Fragestellung nachgegangen werden, wie sich die derzeitige Situation des Niederdeutschen im Schulalltag (vor allem anhand des Grundschulmodells) darstellt und noch weiter optimieren ließe. Im Zentrum dieser Untersuchungen stehen die norddeutschen Bundesländer Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen. Zuerst wollen wir darin unser Interesse auf das Niederdeutsche unter dem Aspekt der Mehrsprachigkeit stützen. Das Aufzeigen der wichtigsten Vorzüge mehrsprachiger Erziehung ist hier ausschlaggebend, weil Niederdeutsch als eigenständige Sprache betrachtet werden kann (s.o.). Da jedoch mit Englisch schon eine Fremdsprache in den Kerncurricula der Grundschule fest verankert ist, wollen wir darauf aufbauend auch auf die Besonderheiten des Niederdeutschen hinweisen: Es soll dargelegt werden, welche Gründe sich für es in der Schule neben den Fremdsprachen (überwiegend Englisch, Französisch oder Spanisch) anführen lassen. Der nächste Abschnitt der Arbeit widmet sich den Erfahrungen mit ‚Plattdeutsch’ aus der Unterrichtspraxis. Um überhaupt aufzeigen zu können, wie eine Verbesserung des Niederdeutsch-Angebots an Grundschulen aussehen soll, müssen wir uns zuerst mit dem dort aktuellen Stand dieser Sprache auseinandersetzen. Hierbei spielen auch die Einstellungen der Lehrkräfte zu ‚Plattdeutsch’ als Unterrichtsgegenstand eine nicht ganz unerhebliche Rolle; schließlich hängt es auch von ihnen ab, ob und inwiefern unsere Schüler diese Sprache lernen. Um aber zu verdeutlichen, ob in der Region gesprochene Dialekte überhaupt Unterrichtsgegenstand sein können, soll eine weitere Praxiserfahrung beschrieben werden: Ein Projekt zur dreisprachigen Grundschule aus den Niederlanden. Anschließend wollen wir unser Augenmerk auf die Rahmenrichtlinien für Niederdeutsch richten und Probleme bei deren Umsetzung herauskristallisieren, weil hier – wie in nahezu allen Bereichen des Lebens – Theorie und Praxis weit auseinandergehen können. Die Darlegung von Konsequenzen, die sich aus einer Integration von mehr Niederdeutsch in der Schule ergeben können, soll die Ausführungen untermauern. Im letzten Teil der Arbeit werden Lösungsansätze zu den vorher genannten Grenzen zu durchleuchten sein. Weil die Lehreraus- und -fortbildung die Basis für den Unterricht darstellt, wollen wir sie im Hinblick auf Niederdeutsch genauer untersuchen. Letztendlich kann aber auch jede Lehrkraft eigeninitiativ zu einer Intensivierung dieser Sprache in der Schule beitragen; wie sie aussehen könnte, soll auf den zuvor genannten politischen Aspekten aufbauend gezeigt werden.
Wörtlich oder inhaltlich entnommene Stellen sind in der vorliegenden Arbeit durch Verweise auf die jeweiligen Autoren in Klammern kenntlich gemacht. Alle anderen eingeklammerten Hinweise, z.B. (vgl. Kap. 2.1.), sind Binnenverweise dieser Arbeit.
2. Niederdeutsch unter dem Gesichtspunkt der Mehrsprachigkeit
2.1. Vorteile mehrsprachiger Erziehung
Damit wir die Vorteile mehrsprachiger Erziehung erfassen können, sollte zunächst aufgezeigt werden, was genau unter Mehrsprachigkeit zu verstehen ist. Eine gute Definition liefert Oksaar: Als Mehrsprachigkeit wird die Befähigung eines Menschen bezeichnet, mindestens zwei Sprachen als Kommunikationsmittel einzusetzen und situationsabhängig von einer Sprache in die nächste überzuwechseln (1998, S. 5f.). Dazu gehören auch Dialekte, weil sie als eigene Sprache aufgefasst werden können (vgl. 1.). Das bedeutet aber nicht nur, mehrere Sprachen als Kommunikationszweck zu gebrauchen. Es bedeutet auch, dass in bestimmten Situationen einer Sprache emotional eine größere Rolle zuteil werden kann als der anderen (Oksaar 1986, S. 10). Dies könnte beispielsweise der Fall sein, wenn in einer feierlichen Gesellschaft überwiegend Hochdeutsch gesprochen wird, aber einige Menschen, die sich schon lange kennen, dort auf Niederdeutsch miteinander kommunizieren. Somit kommt der Sprache auch eine Identitätsfunktion zu (Oksaar 1986, S. 11): Das Individuum kann seinem Gegenüber eine emotionale Bindung signalisieren. Aber diese Tatsache ist bei Weitem nicht der alleinige Vorzug, den der frühe Erwerb mehrerer Sprachen einschließt.
Wir befinden uns heute in einem Zeitalter der Globalisierung, in dem immer mehr Menschen aus beruflichen Gründen gezwungen sind, ihren Heimatort zu verlassen. Mehrsprachige sind dann eindeutig im Vorteil, weil sie sich in ihrer neuen Umgebung leichter verständigen können. Einem möglichst frühen Erwerb von mehreren Sprachen kommt hier also eine besondere Bedeutung zu. Aber selbst wenn die Sprache, die am zukünftigen Wohnsitz überwiegend gesprochen wird, nicht zu jenen gehört, die von Kindheit an gelernt wurden, so gilt eines doch als bewiesen: Menschen, die mehrsprachig aufwachsen, lernen später weitere Sprachen umso leichter (Oksaar 1998, S. 9).
Kritiker der frühen Mehrsprachigkeit haben oftmals angeführt, dass die Kinder überfordert seien, die Sprachen durcheinander brächten und dann mit dem Stottern anfingen. Damit wurden sicher auch jene Eltern verunsichert, die eine Mehrsprachigkeit ihrer Kinder anstrebten (Oksaar 1984, S. 246). Diese Ansicht ist aber nach dem Stand aktueller Forschungen überholt. Oksaar hat in ihren Überlegungen oft auf die Begünstigung des analytischen Denkens durch frühe Mehrsprachigkeit bei Kindern hingewiesen (1998, S. 8f.; 1984, S. 247; 1986, S. 16). Demzufolge wird das Kind zu Fragen angeregt und kann auch schon Vergleiche zwischen zwei Sprachen anstellen – beispielsweise, dass ein- und derselbe Gegenstand in der ersten Sprache anders bezeichnet wird als in der zweiten. Dabei lernen die Kinder spielend durch Beobachtung, und diese Gabe fördert den Intellekt. In der Schule haben viele Schüler der Bundesrepublik über Jahrzehnte mit Englisch ihre erste Fremdsprache ab der 5. Klasse gelernt. Dass dies unter den o.g. Voraussetzungen viel zu spät ist, braucht wohl kaum noch erwähnt zu werden. Dazu kommt erschwerend, dass Kinder im Alter von etwa zehn Jahren als erfahrene Muttersprachler selbstkritischer sind und aus Angst vor Fehlern in der fremden Sprache nicht mehr einfach darauf ‚lossprechen’ (Oksaar 1998, S. 10). Mehrsprachigkeit sollte also spätestens in der Grundschule gewährleistet werden.
Darüber hinaus erwerben die Kinder mit einer Sprache „soziokulturell bedingte Verhaltensweisen“ (Oksaar 1984, S. 246). Diese fördern die Toleranz gegenüber anderen Kulturen und ermöglichen über Aussprache, Lexik und Grammatik hinausgehend eine richtige Interpretation bestimmter Handlungen von Kommunikationspartnern. Es bieten sich somit nicht nur mehr Kontaktmöglichkeiten, sondern auch die individuellen Besonderheiten der jeweiligen Kultur werden kennen und schätzen gelernt.
2.2. Status des Niederdeutschen als Unterrichtsgegenstand
An deutschen Schulen haben sich als Fremdsprachen vor allem Englisch, Französisch und Spanisch etabliert. Niederdeutsch gehört bislang nur äußerst selten dazu; ist es doch strenggenommen keine Fremd sprache, sondern eine eigenständige Form des Deutschen. Deshalb scheint es vielleicht auf den ersten Blick etwas sonderbar, gerade das Niederdeutsche als solch eine Fremdsprache verstärkt in den Unterricht installieren zu wollen. Hinzu kommt das negative Image, dem Niederdeutsch über eine geraume Zeit ausgesetzt war: Es galt als ein Zeichen sozial niedriger Herkunft und fehlender Bildung (Kremer 1989, S. 11), da es überwiegend in ländlichen Regionen von Leuten mit einfacher gearteten Berufen benutzt wurde. Dass im 18. Jahrhundert mit dem Dienstpersonal gutbürgerlicher Häuser meistens auch Niederdeutsch gesprochen wurde (Möhn 1986, S. 22), bekräftigt den negativen Status dieser Sprache in der damaligen Zeit noch. Für Schulkinder hieß das also konkret: Niederdeutsch war nicht erlaubt, sollte während des Unterrichts (und möglichst auch danach) unterbunden werden. Unter diesen Umständen kann davon ausgegangen werden, dass sogar Lehrer, die selbst Niederdeutsch sprachen, ihre Schüler zur hochdeutschen Sprache animierten. Bekanntlich existiert auch keine einheitliche Orthographie des Niederdeutschen; u.a. gelangte man deshalb aus der Perspektive des Hochdeutschen, welches sich als offizielle Standardsprache durchgesetzt hatte, schnell zu der Annahme, dass Niederdeutsch nur eine fehlerhafte Erscheinungsform desselben sei (Niebaum/Macha 2006, S. 203). Verstärkt wurde diese Annahme noch durch die schulischen Schwierigkeiten, zu denen niederdeutschsprechende Kinder in der Tat neigen, was vor allem die Aussprache und Rechtschreibung des Hochdeutschen betrifft (Eichler 1986, S. 165)[1]. Aus sprachhistorischer Sicht ist allerdings bewiesen, dass nicht die Dialekte Erscheinungsformen des Hochdeutschen sind, sondern – umgekehrt – viele dialektale Formen bereits existierten, bevor das Hochdeutsche Standardsprache wurde; die mittelalterlichen „lantsprachen“, die den Zusammenschluss von politisch abgegrenzten Gebieten widerspiegelten, zählen dabei zu den wichtigsten Vorläufern der Dialekte (Bausinger 1983, S. 102f.).
Es gilt also, Vorurteile gegenüber der niederdeutschen Sprache aus dem Weg zu räumen. Dass sie in gewisser Weise als ältere Schwester des Hochdeutschen fungiert, ist nur einer der zahlreichen Gründe, diese Sprache in den Lehrplänen zu verankern. Schon in der Hansezeit wurde sie aktiv gesprochen (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein 2003, S. 14) und ist somit ein fester Bestandteil unserer Geschichte. Die heimatliche Kultur kann also durch den Hintergrund des Niederdeutschen zugänglicher gemacht werden; immerhin gehört es auch heute noch zur „sprachlichen Lebenswelt vieler Schüler“ (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein 2003, S. 4) und stellt deshalb eine gewisse Selbstverständlichkeit dar. Anhand des ‚Plattdeutschen’ können sich jene Schüler in dieser Lebenswelt (ihrer Heimat!) orientieren.
Doch der Erwerb der niederdeutschen Sprache ist nicht nur dem Verständnis (nord-)deutscher Geschichte dienlich. Immerhin ist hier von einer Sprache die Rede, die den Schülern beigebracht werden soll. Auch dazu lässt sich Positives anführen: Kenntnisse des Niederdeutschen können das Sprachvermögen erweitern (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein 2003, S. 5). Wir haben bereits auf die Umformulierungen verwiesen, die der Niederdeutschsprechende vornehmen kann, um bestimmte Sachverhalte auszudrücken (vgl. 1.). Wie beim Lernen anderer Sprachen kann also der Schüler durch das Niederdeutsche dazu befähigt werden, angemessene Satzstrukturen zu konstruieren und Wörter einzusetzen, die in der jeweiligen Situation sinnvoll sind. Dazu gehören sicher auch Redewendungen, welche sich nur auf Niederdeutsch trefflich ausdrücken lassen. Ein leichterer Zugang zu anderen Sprachen, wie Englisch, ist ebenfalls möglich: Durch Übereinstimmungen, wie z.B. unverschobener Konsonanz (water = ‚Wasser’; week = ‚Woche’ usw.), kann hier ein Transfer geschaffen werden (Kremer 1989, S. 13).
[...]
[1] Niebaum/Macha (2006, S. 206f.) gehen in ihren Darstellungen ausführlicher auf die Probleme ein, die sich bei dialektsprechenden Kindern im Schulalltag zeigen. Die Schwerpunkte liegen hier auf der Orthographie (z.B. Verwechseln von ä-e), Grammatik (z.B. Verstöße gegen hochdeutsche Kasusverwendung) sowie Lexik (z.B. Wortschatz-Differenzen in bestimmten Lebensbereichen).
- Citation du texte
- Mirco Rauch (Auteur), 2007, "Hör mal'n beten to!" Niederdeutsch im Schulalltag unter besonderer Berücksichtigung der Primarstufe, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83128
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