Einleitung
Wie entsteht Raum? Welche Arten von Raum gibt es und was ist Raum eigentlich? Diese und ähnliche Fragen werden immer wieder aufgeworfen von Wissenschaftlern aus allen möglichen Disziplinen. In der Kunstwissenschaft und insbesondere in der Malerei interessiert vor allem die Art und Weise, wie ein Künstler mit Raum umgeht, wie er ihn errichtet. In der Einleitung seines Buches "Die Räume der Maler" schreibt Wolfgang Kemp:
Erzählraum wird durch Räume und durch Beziehungen zwischen diesen konstituiert – durch die Beziehung zwischen Innenräumen, zwischen Innenraum und Außenraum und zwischen Bildraum und Betrachterraum.1 "Erzählraum" existiert also nicht einfach, sondern muss erst geschaffen werden durch die Interaktion von anderen Räumen. Dabei beschränkt sich Kemp in seiner Aufzählung nicht nur auf innerbildliche Räume. Ohne ein Publikum ist alles Erzählen sinnlos, deshalb ist die ganz am Ende erwähnte Beziehung zwischen "Bildraum und Betrachterraum" ein nicht zu unterschätzender Faktor in der Raumkonzeption eines Bildes. Filippo Lippis Freskenzyklen im Dom zu Prato haben in dieser Hinsicht durch ihre Einbeziehung von drei Wänden ganz besonders viel zu bieten. Mit welchen Mitteln wird hier Raum geschaffen? In welchem Maß spielt der Betrachter eine Rolle in diesem Raumgefüge? Dies sind die Fragen, die die vorliegende Arbeit beantworten möchte.Zunächst werde ich in einem ersten Teil den Gegenstand dieser Arbeit, Lippis Fresken in Prato, vorstellen. Dabei sind einige Hintergrundinformationen zur Stadt Prato, dem Künstler Filippo Lippi und zur Entstehungsgeschichte der Fresken unablässig. Erst dann wird sich die Arbeit der inhaltlichen Beschreibung der Fresken zuwenden. Hierzu gehört allerdings viel mehr als eine bloße Inhaltsangabe der Einzelbilder. "Das Ganze ist mehr, als die Summe seiner Teile", so sagte schon Aristoteles. Als Bilderzyklus verlangt das Werk von selbst nach der Untersuchung seiner Gesamtstruktur, seiner Erzählweise. In der Forschung werden viele Analyseansätze vorgeschlagen. Ich habe mich für die Anwendung der Verfahren von Marilyn Aronberg Lavin, Jutta Karpf und Wolfgang Kemp entschieden, weil mir mit ihnen die klarste und aufschlussreichste Analyse von Lippis Werk durchführbar schien.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Gegenstand und Fragestellung
1.1 Ort und Entstehung
1.2 Inhalt
1.3 Erzählstruktur
1.3.1 Marilyn Aronberg Lavins Erzählmuster
1.3.2 Jutta Karpf: Analyse der Erzählstruktur
1.3.3 Wolfgang Kemp: Erzählen in Figuren bzw. in Sequenzen
2. Bild- und Betrachterraum im Zyklus von Prato
1. Bild- und Betrachterraum - Klärung der Begriffe
1.1 Entstehung eines Spannungsraumes durch die Interaktion zweier Figuren
1.2 Architektur als Raum schaffendes Element
2. Architektur und Landschaft
3. Figur und Raum
4. Die Verbindung von Bild- und Betrachterraum
5. Das Verhältnis von Betrachter und Bild
Resümee
Bildanhang
Literaturverzeichnis
Einleitung
Wie entsteht Raum? Welche Arten von Raum gibt es und was ist Raum eigentlich? Diese und ähnliche Fragen werden immer wieder aufgeworfen von Wissenschaftlern aus allen möglichen Disziplinen. In der Kunstwissenschaft und insbesondere in der Malerei interessiert vor allem die Art und Weise, wie ein Künstler mit Raum umgeht, wie er ihn errichtet. In der Einleitung seines Buches "Die Räume der Maler" schreibt Wolfgang Kemp:
Erzählraum wird durch Räume und durch Beziehungen zwischen diesen konstituiert - durch die Beziehung zwischen Innenräumen, zwischen Innenraum und Außenraum und zwischen Bildraum und Betrachterraum.1
"Erzählraum" existiert also nicht einfach, sondern muss erst geschaffen werden durch die Interaktion von anderen Räumen. Dabei beschränkt sich Kemp in seiner Aufzählung nicht nur auf innerbildliche Räume. Ohne ein Publikum ist alles Erzählen sinnlos, deshalb ist die ganz am Ende erwähnte Beziehung zwischen "Bildraum und Betrachterraum" ein nicht zu unterschätzender Faktor in der Raumkonzeption eines Bildes. Filippo Lippis Freskenzyklen im Dom zu Prato haben in dieser Hinsicht durch ihre Einbeziehung von drei Wänden ganz besonders viel zu bieten. Mit welchen Mitteln wird hier Raum geschaffen? In welchem Maß spielt der Betrachter eine Rolle in diesem Raumgefüge? Dies sind die Fragen, die die vorliegende Arbeit beantworten möchte.
Zunächst werde ich in einem ersten Teil den Gegenstand dieser Arbeit, Lippis Fresken in Prato, vorstellen. Dabei sind einige Hintergrundinformationen zur Stadt Prato, dem Künstler Filippo Lippi und zur Entstehungsgeschichte der Fresken unablässig. Erst dann wird sich die Arbeit der inhaltlichen Beschreibung der Fresken zuwenden. Hierzu gehört allerdings viel mehr als eine bloße Inhaltsangabe der Einzelbilder. "Das Ganze ist mehr, als die Summe seiner Teile", so sagte schon Aristoteles. Als Bilderzyklus verlangt das Werk von selbst nach der Untersuchung seiner Gesamtstruktur, seiner Erzählweise. In der Forschung werden viele Analyseansätze vorgeschlagen. Ich habe mich für die Anwendung der Verfahren von Marilyn Aronberg Lavin, Jutta Karpf und Wolfgang
Kemp entschieden, weil mir mit ihnen die klarste und aufschlussreichste Analyse von Lippis Werk durchführbar schien.
Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich gezielt mit der Raumthematik bei Lippi. Zuerst werde ich anhand von Giottos Ausmalungen der Peruzzi-Kapelle in S. Croce die Begriffe und die konkrete Fragestellung dieses Teils erläutern. Anschließend werde ich untersuchen mit welchen Mitteln und mit welcher Wirkung in Lippis Fresken in Prato Raum geschaffen wird. In einem letzten Punkt wird untersucht werden, wie dieser künstlich geschaffene Raum den realen Raum des Betrachters durchdringt und wie die Figuren, die in diesem Raum agieren, zu uns als Betrachter Kontakt aufnehmen, und so eine gewisse Verschmelzung beider Welten bewirken.
1. Gegenstand und Fragestellung
1.1 Ort und Entstehung
Bereits im 10. Jahrhundert wird Prato erstmals urkundlich erwähnt. Mehrere hundert Jahre lang kann die 20 km nordwestlich von Florenz gelegene Stadt ihre Unabhängigkeit bewahren, bis sie Anfang des 14. Jahrhunderts langsam unter eine inoffizielle florentinische Herrschaft gerät.2 Als Gegenreaktion zu dieser Entwicklung stellt sich Prato unter den Schutz der Familie Anjou in Neapel, wird von dieser allerdings bald darauf an die Stadt Florenz verkauft.3 Schon seit dem Mittelalter ist Prato die Tuchstadt Italiens. Auch heute noch werden dort rund 70% der italienischen Wollstoffe hergestellt.4 Es war der Kaufmann Francesco di Marco Datini, als Gründer des Ceppo Nuovo ein indirekter Auftraggeber der in dieser Arbeit behandelten Freskenzyklen, der der Stadt im 14. Jahrhundert zu großem wirtschaftlichen Aufschwung verholfen hatte.
Seit jeher ist der Dom von Santo Stefano die Hauptkirche Pratos.5 Entstanden ist er wahrscheinlich im 5. Jahrhundert, wurde aber mehrmals renoviert, unter anderem am Anfang des 14. Jahrhunderts nach Entwürfen von Giovanni Pisano.6 Wegen der Reliquie des Gürtels, den Maria bei ihrer Himmelfahrt dem Heiligen Thomas überreicht haben soll, war und ist der Dom ein bedeutender Wallfahrtsort.7 Es heißt, er sei zudem im Besitz des Felsens, auf dem Johannes der Täufer enthauptet wurde sowie eines Steines der Steinigung des Hl. Stephanus.8 Die beiden letztgenannten Reliquien sind zum Anlass genommen worden, einen Teil des Domes mit Szenen aus dem Leben des Stephanus und des Johannes des Täufers ausmalen zu lassen. So stehen sich auf der Süd- und Nordwand der Capella Maggiore die Viten der beiden Heiligen gegenüber (Abb.1 und 2).9
Als Auftraggeber der Domfresken sind die Compagnia del Ceppo Nuovo, die Opera del Sacro Cingolo sowie die Stadt Prato als Schirmherrin der Capella Maggiore belegt.10 Seit 1448 war Gemignano Inghirami Rektor der Taufkirche gewesen. Als solcher gilt er als einer der Initiatoren der Wandbilder.11
Der wahrscheinlich populärste florentinische Maler dieser Zeit war der Dominikanermönch Fra Angelico.12 So ist es nicht verwunderlich, dass Inghiramis Wahl auf der Suche nach einem geeigneten Künstler 1452 zunächst auf ihn fiel.13 Doch schon nach dem ersten kurzen Besuch des Malers in Prato war klar, dass er den Auftrag nicht übernehmen würde. Wenige Wochen später wurde schließlich Fra Filippo Lippi verpflichtet, der in der Freskenmalerei zwar weit weniger erfahren war als Fra Angelico,14 aber schon in seiner Jugend als Wunderkind der Malerei gegolten hatte.15
Geboren wurde Lippi um 1406 in Florenz. Schon im Alter von zwei Jahren wurde er zur Vollweise und lebte von nun an bei seiner Tante Mona Lapaccia. Wenige Jahre später konnte sie nicht mehr für ihn sorgen und schickte ihn ins nahe gelegene Karmeliterkloster Santa Maria del Carmine. Dort, so weiß Vasari in seinen "Viten" zu berichten, habe er in der Studierzeit nichts anderes getan, als seine eigenen Bücher und die der anderen mit Karikaturen zu bekritzeln, woraufhin ihm der Prior die Möglichkeit gegeben habe, malen zu lernen.16 Erst kurz zuvor hatte Massacio eine Kapelle des Klosters ausgemalt. Der junge Filippo sei davon so fasziniert gewesen, dass er beinahe jeden Tag dorthin gegangen sei um Massacios Werk zu bewundern.17 So wurde Lippis Leidenschaft für die Malerei allmählich immer größer, und im gleichen Maße wuchs auch seine Berühmtheit.
Doch nicht nur für sein außergewöhnliches malerisches Talent war der junge Mönch bekannt, auch seine Passion für Frauen war bald in aller Munde.
Man sagt, Filippo sei so sehr zur Zärtlichkeit geneigt gewesen, daß, wenn er Frauen sah, die ihm wohlgefielen, er all sein Vermögen hingegeben hätte, sie zu besitzen; und konnte er dies durch keinerlei Mittel, so suchte er sie in Gemälden darzustellen und durch Reden die Glut seiner Liebe zu kühlen.18
So arbeitete Lippi 1456 gerade an einem Altarbild für das Kloster von S.
Margerita, als er dort die junge Nonne Lucrezia Buti traf, die er sogleich zum Vorbild für die Hl. Maria nahm. Bald war er so besessen von ihr, dass er sie zusammen mit ihrer Schwester Spinetta aus dem Kloster entführte und mit in sein Haus nahm. Dort brachte Lucrezia schließlich Filippos Sohn Filippino zur Welt, "der später gleich [seines Vaters] ein ausgezeichneter und berühmter Maler wurde."19 Doch trotz seines zügellosen Lebenswandels war er beliebt.
Man schätzte diesen Meister um seiner Vorzüge willen so sehr, daß viele Dinge aus seinem Leben, welche tadelnswert waren, durch sein ausgezeichnetes Kunstgeschick verdeckt wurden.20
Im Jahre 1469 starb Filippo Lippi im Alter von 63 Jahren in Spoleto. Gerüchte besagen, dass er keines natürlichen Todes gestorben, sondern von Verwandten einer seiner Geliebten vergiftet worden sei.21
Mit der Ausmalung der Capella Maggiore in Prato begann Lippi im Jahre 1452. Zuvor hatte der Stadtrat die Dauer bis zur Fertigstellung der Arbeiten auf 3 Jahre und die Kosten, für die zu einem Drittel der Ceppo Vecchio und zu zwei Dritteln der Ceppo Nuovo aufkommen sollten22, auf 1200 Florin festgesetzt.23 Doch bald wurde klar, dass beide Grenzen nicht eingehalten werden konnten. Mehrere Male musste das Dach der Kapelle repariert werden, zudem nahm Lippi immer wieder andere Aufträge an und war in Rechtsstreitereien verwickelt. Sowohl dies als auch die Affäre mit Lucrezia Buti und die daraus entstehenden Schwierigkeiten führten immer wieder zu Verzögerungen der Arbeiten.24 Alles in allem bekam Lippi für die Ausmalung der Capella Maggiore 1464, zwölf Jahre nach Beginn der Arbeiten, 1962 Florin. Somit handelt es sich bei den Prateser Domfresken um den teuersten Zyklus der Toskana im 15. Jahrhundert.25
1.2 Inhalt
Über die Gründe, warum die Fresken von Santo Stefano gerade das Leben des Heiligen Stephanus und des Johannes thematisieren, wird viel spekuliert. Borsook sieht darin ein Symbol für die Verbindung Pratos mit Florenz:
Traces of Prato's dual allegiance may be reflected in the subjects chosen for the murals: St. Stephen proto-martyr, one of the pieve's and Prato's patron Saints, and John the Baptist, precursor and protector of Florence.26
Der vielleicht wichtigste Faktor für die Auswahl der Johannes-Vita sei jedoch die Tatsache, dass der Dom lange Zeit die einzige Taufkirche der Stadt war. Dahingegen sei der Ursprung des Stephanus-Kultes unbestimmt.27 Laut Origo war Johannes der Täufer zudem der Schutzpatron der Arte della Lana in Prato, sowie der Hl. Stephanus der der städtischen Wollgilde28, der beiden Zünfte also, die dem Gründer des Ceppo Nuovo Francesco di Marco Datini zum finanziellen Wohlstand verholfen hatten.29
Die Fresken in Prato setzen sich zusammen aus jeweils einer Lünette und zwei darunter angeordneten Bildfeldern, sowie einer Märtyrerszene, die auf der Fensterwand situiert ist.
One of the aspects which make Lippi's treatment of the Stephen-Baptist themes so unusual is that his illustrations are largely based on popular legends rather than on the canonical accounts.30
Diese Legenden räumen der Kindheit der Heiligen viel Platz ein31. So beginnt Lippi, anders als etwa Paolo Uccello in seinen nur wenige Meter entfernten Stephanus-Darstellungen, in seinem Zyklus mit Kindheitsszenen des Protomärtyrers (Abb. 3). Die Lünette zeigt, wie Stephanus kurz nach seiner Geburt vom Teufel durch einen Wechselbalg ausgetauscht und in der Wildnis ausgesetzt wird. Nachdem er dort von einer Hirschkuh gesäugt wurde (Abb. 12), findet Bischof Julian das Kind und übergibt es einer Amme. Im mittleren Bildfeld werden wir links Zeuge des Abschieds Stephanus' von Julian (Abb. 4). Borsook bezweifelt, dass die nun folgende Szene der Dämonenaustreibung als Besuch im Elternhaus und Exorzismus des Wechselbalges gesehen werden kann, auch wenn mehrere Versionen der Legende davon sprechen:
Although Lippi has Stephen embrace his host in a most affectionate manner, the figure does not look old enough for the Saint's father. Furthermore, the chained figure of the possessed man from whom a demon is expelled is not a changeling.32
Eindeutig kann die Szene aber als eine Darstellung der entsprechenden Bibelstelle33 gesehen werden: "Stephanus aber, voll Gnade und Kraft, tat Wunder und große Zeichen unter dem Volk." Weiter heißt es dort: "Da standen einige auf von der Synagoge der Libertiner und der Kyrenäer und der Alexandriner und einige von denen aus Zilizien und der Provinz Asien und stritten mit Stephanus."34 Dieser Disput, dargestellt im rechten Teil desselben Bildfeldes (Abb. 13), führt schließlich zur Steinigung und damit zum Martyrium des Stephanus (Abb. 6). Im untersten Bildfeld zeigt Lippi mit der Trauer um Stephanus eine Szene, die so nicht in der Bibel erwähnt wird (Abb. 5). Dieses Fest findet in Prato jedes Jahr am 3. August statt. Am selben Tag des Jahres 1460 wurde Carlo de' Medici als neuer Klostervorsteher von Prato eingesetzt. Darin sieht Borsook eine Erklärung sowohl für dessen Porträt als auch für das von Papst Pius II. im Bild (Abb. 14).35 Die Darstellung des Lebens des Johannes auf der gegenüberliegenden Nordwand erfolgt etwa nach demselben Muster, stützt sich aber konsequenter auf die Bibel. Die Lünette zeigt die Geburt des Johannes und die Namensgebung durch Zacharias, seinem Vater, der aufgrund seines Zweifelns an der Empfänglichkeit seiner Frau bis zur Geburt seines Sohnes mit Stummheit gestraft worden war (Abb. 7).36 Im rechten Teil des mittleren Bildfeldes (Abb. 8) nimmt Johannes Abschied von seinen Eltern. Anschließend sehen wir ihn betend in der Wüste und schließlich bei der Predigt. Von links kommen schon die Boten des Herodes, um Johannes zu ihrem Herrn zu bringen.
Denn Herodes hatte Johannes gegriffen, gebunden und in das Gefängnis gelegt wegen der Herodias, seines Bruders Philippus Weib. Denn Johannes hatte zu ihm gesagt: Es ist nicht recht, dass du sie habest. Und er hätte ihn gern getötet, fürchtete sich aber vor dem Volk; denn sie hielten ihn für einen Propheten.37
Im untersten Teil des Zyklus spielt sich die bekannte Szene des Festmahls des Herodes ab (Abb. 9), die in der Bibel folgendermaßen beschrieben wird:
Da aber Herodes seinen Jahrestag beging, da tanzte die Tochter der Herodias vor ihnen. Das gefiel Herodes wohl. Darum verhieß er ihr mit einem Eide, er wolle ihr geben, was sie fordern würde. Und wie sie zuvor von ihrer Mutter angestiftet war, sprach sie: Gib mir her auf einer Schüssel das Haupt Johannes des Täufers! Und der König ward traurig; doch um des Eides willen und derer, die mit ihm zu Tisch saßen, befahl er's ihr zu geben. Und schickte hin und enthauptete Johannes im Gefängnis. Und sein Haupt ward hergetragen in einer Schüssel und dem Mägdlein gegeben; und sie brachte es ihrer Mutter.38
Stellt man die beiden Zyklen nebeneinander, erhält man folgendes Schema:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Nun wird klar, dass Filippo Lippi die Heiligenviten nicht als Einzelarbeiten konzipiert, sondern sie inhaltlich aufeinander abgestimmt hat. So findet jede Szene ihr Äquivalent im entsprechenden Bildfeld des jeweils anderen Zyklus.
Es sind genau aufeinander abgestimmte Parallelleben, die den beiden frühen Protagonisten des Christentums auf den Leib geschrieben werden, wie man mit einigem Recht sagen kann.39
Wie wichtig Lippi diese Parallelkonstruktion der beiden Zyklen war, lässt sich nach Borsook leicht daran erkennen, dass er die oft als Schlüsselszene im Leben des Johannes dargestellte Taufe Jesu nicht seine Erzählreihe aufnimmt. Als Grund hierfür sieht sie nämlich die Tatsache, dass weder in den Legenden noch in der Bibel eine vergleichbare Szene bei Stephanus erwähnt wird.40 Etwas Ähnliches passiert nach Kemp bei den Geburtsszenen. Werde die Kindheit des Johannes in der Bibel recht ausführlich thematisiert, erzähle sie nichts über die Geburt des Stephanus. Also habe Lippi in anderen Quellen nach etwas Parallelem in der Stephanus-Vita suchen müssen.41
1.3 Erzählstruktur
Nach dieser ersten inhaltlichen Beschreibung werde ich im nun folgenden Kapitel mithilfe der Methoden von Marilyn Aronberg Lavin, Jutta Karpf und Wolfgang Kemp die Erzählstruktur von Lippis Werk in Prato ermitteln.
1.3.1 Marilyn Aronberg Lavins Erzählmuster
Zunächst geht Lavin davon aus, dass die Bilder eines Zyklus wie in einem Comic automatisch von links nach rechts gelesen werden, vertikale Erzählanordnungen jedoch der Arbeitsrichtung des Künstlers folgend von oben nach unten. Auch wenn Künstler selten diesen Regeln folgten, gehe dadurch keineswegs Interpretationspotenzial verloren.42
When viewers saw that the story was 'out of order', they looked for new relationships and juxtapositions of scenes, knowing they would constitute new meanings.43
In ihrer Studie hat Lavin über hundert Freskenzyklen untersucht und herausgefunden, dass es bei den Wandbildern bestimmte Erzählmuster gibt, die immer wieder vorkommen. Für das 15. Jahrhundert trifft das vor allem auf die
Folgenden zu:
a) Beim "Wraparound" beginnt die Erzählung an der Apsis der rechten Wand und läuft dann im Kreis über den Eingang und die linke Wand wieder zu dieser zurück. Dabei kann die Erzählung den Raum auch mehrmals umkreisen.
b) Das "Straight-Line Vertical" beschreibt eine Erzählung, deren hauptsächliche Leserichtung sich von unten nach oben oder von oben nach unten vollzieht. Streckt sich die Erzählung über zwei Wände, so ist ihre Richtung in beiden Fällen gleich.
c) Ist eine Erzählung nach dem "Apse Pattern" aufgebaut, so umkreist sie eine Apsis oder einen Kanzelbereich in einer oder mehreren horizontalen Stufen immer in derselben Richtung.44
Würde man nur die durch deutliche Rahmen abgegrenzten Bildfelder als Erzähleinheiten betrachten, könnte man sagen, dass auch Filippo Lippis Zyklen in Prato nach dem Prinzip des "Straight-Line Vertikal" aufgebaut sind. Lavin betont aber, dass sich die Muster aus dem Nachvollziehen der chronologischen Ordnung der Handlungsabschnitte ableiten.45 In Prato ist in einem Bildfeld in der Regel deutlich mehr als eine Handlung situiert. Damit erhalten wir hier ein anderes Erzählmuster, das Lavin "Boustrophedon" nennt. Die Erzählung beginnt auf beiden Wänden jeweils links oben und wandert dann nach rechts. Im Mittelfeld des Stephanus-Zyklus wiederholt sich die obere Bewegung, während sie bei Johannes von rechts nach links geht, so dass im jeweils untersten Bildfeld die Erzählrichtungen voneinander weg in Richtung Kirchenraum laufen. Nach Lavin kann auf der Stephanus-Seite von einem 2-Stufen-Boustrophedon gesprochen werden, bei Johannes von einem dreifachen Boustrophedon.46
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1.3.2 Jutta Karpf: Analyse der Erzählstruktur
In ihrer Dissertation "Strukturanalyse der mittelalterlichen Bilderzählung" entwickelt Jutta Karpf am Beispiel des Julianusfensters in Chartres ein Analyseverfahren, das sich aus Elementen strukturalistischer Erzähltheorien von Tzvetan Todorov, Algirdas Julien Greimas und Roland Barthes zusammensetzt. Bei ihrer Analyse beginnt sie mit der Aufstellung von narrativen Präpositionen nach Todorovs "Grammatik der Erzählung". Dabei werden "die Bilder (…) beschrieben und inhaltlich auf ein dynamisches 'Tun' und/oder ein statisches 'Sein' reduziert."47 Das Tun könne durch eines der drei Verben erfasst werden, die aus Greimas' aktantiellen Kategorien hergeleitet worden seien:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
[...]
1 Kemp (1996), S. 9
2 Vgl. Origo (1985), S. 46
3 Ebd. S. 47
4 Ebd. S. 7
5 Vgl. Borsook (1975), S. 11
6 Vgl. Origo (1985), S. 47
7 Vgl. Ruda (1993), S. 258
8 Vgl. Borsook (1975), S. 11
9 Ebd. S. 12
10 Vgl. Fossi (1990), S. 8
11 Vgl. Ruda (1993), S. 258
12 Ebd. S. 258
13 Vgl. Borsook (1975), S. 5f
14 Vgl. Ruda (1993),S. 259
15 Vgl. Borsook (1975), S. 7
16 Vgl. Vasari (1940), S. 193
17 Ebd. S. 194
18 Vasari (1940), S. 196
19 Vasari (1940), S. 198
20 Ebd. S. 201
21 Vgl. Vasari (1940), S. 201
22 Vgl. Borsook (1975), S. 10
23 Ebd. S. 10
24 Ebd. S. 48
25 Ebd. S. 67
26 Borsook (1975), S. 4
27 Ebd. S. 10f
28 Vgl. Origo (1985), S. 53
29 Vgl. Borsook (1975), S. 38
30 Borsook (1975), S. 11
31 Vgl. Borsook (1975), S. 11
32 Borsook (1975), S. 16
33 Apostelgeschichte 6,8
34 Apostelgeschichte 6,9
35 Borsook (1975), S. 23
36 Lukas 1, 20
37 Matthäus 14, 3-5
38 Matthäus 14, 6-11
39 Kemp (1996), S. 66
40 Borsook (1975), S. 30
41 Kemp (1996), S. 66f
42 Lavin (1990), S. 9
43 Ebd. S. 6
44 Lavin (1990), S. 6ff
45 Ebd. S. 5
46 Ebd. S. 158
47 Karpf (1994), S. 61
- Citation du texte
- Janina Liedermann (Auteur), 2007, Bild- und Betrachterräume in Filippo Lippis Freskenzyklen im Dom zu Prato, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83000
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