Wir leben heute in einer Welt der Vielfalt, die einerseits geprägt ist von Globalisierung und Multikulturalität und andererseits von einer Individualisierung der Lebensentwürfe, Wünsche und Hoffnungen. Kinder erfahren schon frühzeitig, dass ihre Art zu wohnen, zu essen, sich zu kleiden oder zu feiern nicht die einzige Möglichkeit ist, ein erfülltes Leben zu haben. Sie treffen auf fremde Kulturen oder ungewohnte Sitten und Gebräuche, die für sie nicht immer nachvollziehbar und akzeptabel sind, da sie nicht ihren Normen und Einstellungen entsprechen oder so fremd sind, dass sie abstoßend wirken.
Diese Vielfalt kann Kinder, aber auch viele Erwachsene, überfordern, denn eigene Werte, Normen und Vertrautes werden dadurch in Frage gestellt und relativiert. Um die Sicherheit von Normen und Werten und dadurch die Orientierung nicht zu verlieren, reagieren viele Kinder wie auch Erwachsene auf solche Verunsicherungen mit stereotypen Abwehrmechanismen. Im besten Falle werden die Unterschiede ignoriert, im schlimmsten Falle werden Menschen, die nicht der eigenen Gruppennorm entsprechen, ausgeschlossen, gehänselt, beleidigt oder sogar mit körperlicher Gewalt bekämpft.
Intolerantes Verhalten ist kein Phänomen einer benachteiligten Randgruppe, sondern betrifft alle Schichten. Kinder, die unsportlich sind, werden von den anderen ausgelacht. Überdurchschnittlich leistungsstarke Schüler werden an weiterführenden Schulen als Streber verachtet. Wer nicht der Norm entspricht, kann schnell untergehen. Doch was ist die Norm in einer Welt der Vielfalt? Gibt es überhaupt noch eine übergreifende Norm? Muss es diese Norm überhaupt geben? Ist es nicht viel wichtiger, dass sich die Menschen trotz ihrer Unterschiede verständigen können bzw. wollen und lernen miteinander zu leben, um Konflikte zwischen ihnen zu bewältigen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern? Dazu bedarf es eines großen Maßes an Toleranz. Nur wer gelernt hat, Heterogenität nicht als Bedrohung, sondern als Chance für die Vielfalt von Ideen und Kultur zu sehen, wird sich in Zukunft selbstsicher im Leben behaupten können. Toleranz ist daher eine intellektuelle, kommunikative und soziale Schlüsselkompetenz, die benötigt wird, um sich als Individuum zu behaupten und aktiv am Leben in einer demokratischen Gesellschaft und im Arbeitsleben teilnehmen zu können. Welchen Beitrag die Grundschule dazu leisten kann, soll in dieser Arbeit ebenso thematisiert werden wie die Grenzen der Toleranzvermittlung in der Schu
Gliederung
1. Leben in einer Welt der Vielfalt
1.1 Bedeutung von Toleranz für das Leben in einer Welt der Vielfalt
1.2 Anliegen und Ziel dieser Arbeit
2. Toleranzkonzepte
2.1 Zur Geschichte der Toleranz
2.2 Toleranzkonzepte in der Philosophie
2.3 Toleranzkonzepte in der Pädagogik
2.4 Toleranzkonzepte in der Psychologie und der Vorurteilsforschung
2.5 Toleranz – Kindern erklärt
2.6 Toleranzvorstellungen von Grundschulkindern - eine Fragebogenerhebung
und Interviews in den Klassenstufen
3. Voraussetzungen, Chancen und Grenzen der Toleranzerziehung
in der Grundschule
3.1 Psychologische, soziale, ökonomische und gesellschaftliche
Voraussetzungen für Toleranz und Toleranzlernen
3.2 Nutzen und Risiken von Toleranz für Grundschulkinder
3.3 Chancen für die Toleranzerziehung in der Grundschule
3.4 Grenzen der Toleranzerziehung in der Grundschule
4. Toleranzerziehung als Aufgabe der Grundschule
4.1 Strategien der Toleranzvermittlung
4.2 Soziale Erziehung – Toleranz als Resultat sozialen Lernens
4.3 Interkulturelle Erziehung – Toleranz als Schlüsselkompetenz in einer multikulturellen Gesellschaft
4.4 Moralische Erziehung – Toleranz als moralisch-kognitive Kompetenz
4.5 Methoden der Toleranzerziehung
5. Toleranzerziehung in der grundschulpädagogischen Praxis
5.1 Toleranzerziehung als Thema in den Rahmenlehrplänen der Grundschule
5.2 Praxisorientierte Unterrichtsmaterialien zur Toleranzerziehung
im Vergleich
5.2.1 Karina und Romana Merks: Toll, toller, tolerant
5.2.2 Bertelsmann Stiftung: Eine Welt der Vielfalt
5.2.3 Ute Behr/Christa Franz: Werte vermitteln mit Nele und Tom
6. Orientierungshilfen zur Förderung der Toleranzkompetenz in der Grundschule – Ein Resümee
7. Anhang
7.1 Transkript der Schülerinterviews
7.2 Fragebogen zur Toleranz
8. Literaturverzeichnis
8.1 Verwendete Fachliteratur
8.2 Kinder- und Jugendliteratur zum Thema Toleranz
8.2.1 Bilderbücher (1./2. Klasse)
8.2.2 Kinderliteratur (3.-6. Klasse)
8.3 Weitere Unterrichtsanregungen
8.4 Weitere didaktische Fachliteratur zum Thema Toleranz
1. Leben in einer Welt der Vielfalt
1.1 Bedeutung von Toleranz für das Leben in einer Welt der Vielfalt
Wir leben heute in einer Welt der Vielfalt, die einerseits geprägt ist von Globalisierung und Multikulturalität und andererseits von einer Individualisierung der Lebensentwürfe, Wünsche und Hoffnungen.
Tiefgreifende Umbrüche und Veränderungen in der Welt und Gesellschaften, die geprägt sind durch grenzüberschreitenden Handel, die Weiterentwicklung von technischen Möglichkeiten und eine weltweite wachsende Mobilität und Migration, lassen den Multikulturalismus zu einer zunehmend bedeutungsvollen Realität werden.[1] Ungewohnte Traditionen, Bräuche und Werte sind immer wieder Auslöser von Überfremdungsängsten und Bedrohungsgefühlen, aber auch von offener Ablehnung und Aggression gegen alles was fremd ist. Solche Haltungen und Handlungen sind, wenn man ihnen nicht entgegentritt, eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie und ein friedliches Zusammenleben der Menschen.[2]
Auch Kinder erfahren schon frühzeitig im Kindergarten, in der Schule, durch Freunde und Familie und natürlich durch die Medien, dass ihre Art zu wohnen, zu essen, sich zu kleiden oder zu feiern nicht die einzige Möglichkeit ist, ein erfülltes Leben zu haben. Sie treffen auf fremde Kulturen oder ungewohnte Sitten und Gebräuche, die für sie nicht immer nachvollziehbar und akzeptabel sind, da sie nicht ihren Normen und Einstellungen entsprechen oder so fremd sind, dass sie abstoßend wirken. Diese Vielfalt kann Kinder, aber auch viele Erwachsene, überfordern, denn eigene Werte, Normen und Vertrautes werden dadurch in Frage gestellt und relativiert. Um die Sicherheit von Normen und Werten und dadurch die Orientierung nicht zu verlieren, reagieren viele Kinder wie auch Erwachsene auf solche Verunsicherungen mit stereotypen Abwehrmechanismen. Im besten Falle werden die Unterschiede ignoriert, im schlimmsten Falle werden Menschen, die nicht der eigenen Gruppennorm entsprechen, ausgeschlossen, gehänselt, beleidigt oder sogar mit körperlicher Gewalt bekämpft. Intolerantes Verhalten ist kein Phänomen einer benachteiligten Randgruppe, wie rassistische Auswüchse in Rostock-Lichtenhagen oder Solingen es vielleicht vermuten lassen. Intoleranz beginnt schon im Kleinen. Kinder, die unsportlich sind, werden von den anderen ausgelacht. Überdurchschnittlich leistungsstarke Schüler werden an weiterführenden Schulen als Streber verachtet. Wer nicht der Norm entspricht, kann schnell untergehen. Doch was ist die Norm in einer Welt der Vielfalt? Gibt es überhaupt noch eine übergreifende Norm? Muss es diese Norm überhaupt geben? Ist es nicht viel wichtiger, dass sich die Menschen trotz ihrer Unterschiede verständigen können bzw. wollen und lernen miteinander zu leben, um Konflikte zwischen ihnen zu bewältigen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern? Dazu bedarf es eines großen Maßes an Toleranz. Doch Toleranz ist keine angeborene Eigenschaft, die jedem Menschen in die Wiege gelegt wird. Ganz im Gegenteil: Kleinkinder sind äußerst intolerant. Abweichungen von ihrem gewohnten Lebensbild wird mit großer Verunsicherung begegnet oder sie werden trotzig bekämpft. Wenn der kleine Max nicht auf seinem gewohnten Platz am Fenster sitzen darf, ist für ihn die Welt nicht in Ordnung. Dass Großmutters Rollstuhl nur an diese Stelle des Tisches passt und er deshalb heute neben Papa sitzen muss, ist für ihn nicht akzeptabel. Max muss erst lernen, diesen Abweichungen mit Toleranz zu begegnen und die Bedürfnisse anderer als gleichberechtigt betrachten zu lernen. Erst wenn er Toleranz im Kleinen ausüben kann, wird er auch mit Veränderungen und Verunsicherungen außerhalb der Familie umgehen können. Nur wer gelernt hat, Heterogenität nicht als Bedrohung, sondern als Chance für die Vielfalt von Ideen und Kultur zu sehen, wird sich in Zukunft selbstsicher im Leben behaupten können. Toleranz ist daher eine intellektuelle, kommunikative und soziale Schlüsselkompetenz, die benötigt wird, um sich als Individuum zu behaupten und aktiv am Leben in einer demokratischen Gesellschaft und im Arbeitsleben teilnehmen zu können.[3]
Johannes Rau forderte daher: „Die Bildungspolitik […] muss […] verhindern, dass das Tempo der Veränderungen zu wachsender sozialer Ausgrenzung führt und damit zu einer neuen Form der Klassengesellschaft.“[4] Es ist also auch eine Aufgabe der Schule, diese Kompetenz zu vermitteln. Welchen Beitrag die Grundschule dazu leisten kann, soll in dieser Arbeit ebenso thematisiert werden wie die Grenzen der Toleranzvermittlung in der Schule.
1.2 Anliegen und Ziel dieser Arbeit
Zu Beginn dieser Arbeit sollen verschiedene Toleranzkonzepte vorgestellt werden. Zuerst soll ein geschichtlicher Abriss zeigen, dass der Toleranzgedanke, der heute in der westlichen Welt vertreten wird, eine relativ neue Tugend ist, die sich erst im Laufe der Jahrhunderte zu dem entwickelt hat, was sie heute ist.
Danach soll der Begriff aus der Perspektive verschiedener Geisteswissenschaften beleuchtet werden. Nach einer philosophischen Betrachtung folgt die Auseinandersetzung mit Toleranz auf pädagogischer Ebene und der damit verbundenen handlungsorientierten Auseinandersetzung mit dem Begriff. Den Abschluss der begriffstheoretischen Betrachtungen bildet ein Blick auf die psychologische Dimension, denn Toleranz ist immer auch eine persönliche Einstellung, die durch bestimmte äußere und innere Determinanten geprägt ist. In diesem Zusammenhang soll auch die Vorurteilsforschung herangezogen werden, die sich vor allem mit dem sozialpsychologischen Phänomen von stereotypen Einstellungen und Feindbildern gegenüber dem Fremden beschäftigt und somit als Erklärungsansatz für intolerantes Verhalten genutzt werden kann.
Zusammenfassend für die geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Begriff Toleranz sollen Fragestellungen entwickelt werden, mit denen man die verschiedenen Toleranzauffassungen untersuchen kann. Diese Fragen sollen später dazu dienen, um mit ihnen die vertretenen und zu vermittelnden Toleranzauffassungen in Unterrichtsmaterialien zur Toleranzerziehung im fünften Kapitel zu untersuchen.
Anschließend an die theoretischen Begriffsbetrachtungen soll von diesen ausgehend ein Toleranzkonzept entworfen werden, das für Grundschüler relevant und verständlich sein könnte – sozusagen als didaktische Reduktion der vorherigen propädeutischen Sachanalyse.
Anhand der Ergebnisse einer Schülerbefragung und fünf Interviews, die die Autorin mit achtzig Viert- bis Sechstklässlern in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern durchgeführt hat, soll ermittelt werden, welche Vorstellungen Kinder von dem Begriff Toleranz tatsächlich haben.
Im Anschluss daran sollen die Voraussetzungen, Chancen und Grenzen der Toleranzerziehung in der Grundschule erläutert werden. Dazu werden die sozialen, ökonomischen, gesellschaftlichen und psychologischen Voraussetzungen vorgestellt, die in der wissenschaftlichen Diskussion dafür verantwortlich gemacht werden, ob und wie Toleranzerziehung überhaupt möglich ist, denn Toleranz es ist nicht nur eine Frage des Wollens, sondern auch eine Frage des Könnens und dieses wird nicht nur durch innerpersönliche Voraussetzungen geprägt, sondern auch durch gesellschaftliche Einflüsse. Daran anschließend sollen aus diesen Voraussetzungen die Vor- und Nachteile von Toleranz speziell für Grundschulkinder abgeleitet werden, um daran die Chancen und Grenzen der Toleranzerziehung in der Grundschule zu zeigen.
Der vierte Abschnitt dieser Arbeit beschäftigt sich mit der Toleranzerziehung als Aufgabe der Grundschule. Zuerst soll erörtert werden, wie Toleranz überhaupt vermittelt werden kann. Die Toleranzerziehung ist kein autarkes Gebiet der Grundschulpädagogik. Daher findet man Ansätze der Erziehung zur Toleranz in verschiedenen pädagogischen Fachbereichen in der Grundschule. Zum einen beschäftigt sich die soziale Erziehung mit Toleranz als Resultat sozialen Lernens. Toleranz wird als normgerechtes Sozialverhalten betrachtet, das im Rahmen der Sozialerziehung vermittelt werden kann. Hier spielt die Verhaltens- und Handlungsperspektive der Toleranz eine vorrangige Rolle.
Die interkulturelle Erziehung ist für die Erziehung zur Toleranz ebenso bedeutsam. Toleranz wird als eine kommunikative Schlüsselkompetenz betrachtet, die für das friedliche Leben in einer multikulturellen Gesellschaft unabdingbar ist. Es werden also der handlungsorientierte und der kognitive Aspekt, aber auch der emotionale Aspekt miteinander verbunden, um Toleranz im Lebensumfeld der Kinder auszubilden. Auch kulturelles Lernen leistet einen Beitrag, dem Fremden offener zu begegnen.
Die moralische Erziehung betrachtet vorrangig den moralisch-kognitiven Gesichtspunkt der Toleranz. Dieser steht jedoch im engen Zusammenhang mit dem Handlungsaspekt der Sozialerziehung, denn im Sinne Emil Egils sind Denken und Handeln aufeinander bezogen: „Die Denkenden müssen zum Handeln schreiten, die Handelnden zum Denken kommen.“[5] Toleranz ist daher nicht nur eine Sache des nach außen hin sichtbaren Umgangs mit anderen Menschen, sondern auch eine Sache der Einstellungen, die hinter dieser Handlung stecken. Für die moralisch-kognitive Toleranzvermittlung sollen vor allem die Stufen der Moral nach Lawrence Kohlberg und ihre Relevanz für die Toleranzentwicklung betrachtet werden.
Abgeschlossen wird das vierte Kapitel mit einem Einblick in die Methoden der Toleranzdidaktik, die sowohl in der sozialen, moralischen und interkulturellen Erziehung eine Rolle spielen. Die zentrale Frage soll an dieser Stelle sein, welche Unterrichtsmethoden dazu geeignet sind, die Handlungskompetenz, die Einstellungen und die kommunikative Kompetenz der Kinder so zu fördern, dass sie sich zu toleranten Menschen entwickeln können.
Das fünfte Kapitel geht schließlich auf die grundschulpädagogische Praxis ein. Mit einem Blick in die neuen Rahmenlehrpläne der Grundschule für Berlin, Brandenburg, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern soll ermittelt werden, welchen Stellenwert Toleranzerziehung im Unterricht der Grundschule (theoretisch) beigemessen wird und welche Umsetzungsmöglichkeiten die verschiedenen Fächer der Grundschule haben.
Als Beispiel für die praktische Umsetzung der Toleranzvermittlung sollen in diesem Abschnitt auch drei verschiedene Unterrichtskonzepte untersucht werden, die sich mit dem Thema Toleranz beschäftigen. Es wurden bewusst Konzepte für die Grundschule gewählt, da es nach der Auffassung der Autorin wichtig ist, den Heranwachsenden so früh wie möglich Toleranz zu vermitteln, damit sich Vorurteile und monokausale Ablehnung des Fremden und Unbekannten nicht verfestigen. Hierbei sollen vor allem der Aufbau der Materialien und die Themen betrachtet werden, an denen der Begriff der Toleranz exemplarisch erarbeitet wird. Daran kann man erkennen, in welchen Lebensbereichen Toleranz als besonders wichtig erscheint – auch im Hinblick auf einen Schwerpunkt in der moralischen, sozialen und interkulturellen Erziehung. Weiterhin soll untersucht werden, welche theoretische Toleranzauffassung die jeweiligen Autoren der Materialien vertreten und wo sie in diesem Zusammenhang die Grenzen der Toleranz sehen. Denn die Pädagogik muss sich mit den ethischen Grenzen der Toleranz befassen, um keine gleichgültige Toleranz zu vermitteln, die auch Verstöße gegen die Menschlichkeit und die Intoleranz selbst toleriert. Weiterhin soll ermittelt werden, durch welche pädagogischen Handlungen die Autoren den Schülern Toleranz vermitteln wollen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Unterscheidung von unterweisender und handlungsorientierter Toleranzvermittlung. Erstere bedient sich vor allem der Textarbeit und Diskussion, bei der die Schüler Toleranz vermittelt bekommen als etwas, das schon vorhanden ist und von ihnen nur noch verinnerlicht werden muss. Handlungsorientierte Konzepte legen dagegen Wert auf die selbsttätige Aneignung von Toleranz, zum Beispiel durch Rollenspiele, Begegnung mit dem Fremden und die Produktion eigener Texte. Dadurch sollen die Schüler ihr eigenes, persönliches Toleranzkonzept entwickeln und Toleranz als ganz individuelle menschliche Eigenschaft erkennen und nach dieser leben lernen.
Den Abschluss dieser Arbeit bildet eine Orientierungshilfe für die Grundschule, in der die altersangemessenen Teilkompetenzen zusammen gefasst sind, die vermittelt werden müssen, um Grundschülern den Wert der Toleranz näher zu bringen und ihnen ein handlungsorientiertes und kommunikatives Handwerkzeug zu geben. Mit diesem sollen sie dann fähig sein, auch außerhalb der Schule gegenüber sich selbst und im Umgang mit anderen Menschen fremdartiges Aussehen, ungewohnte Verhaltensweisen, Sitten und Gebräuche nicht nur zu dulden und auszuhalten, sondern sich mit diesen aktiv, kritisch aber auch voller Neugier auseinanderzusetzen, sie als gleichberechtigt zu akzeptieren und Heterogenität als kulturelle und soziale Bereicherung für ihr Leben anzusehen.
2. Toleranzkonzepte
In diesem Kapitel sollen verschiedene Definitionen und Auffassungen zum Begriff Toleranz vorgestellt werden, denn schon der Begriff „Toleranz“ ist geprägt von einer vielfältigen Betrachtungsweise und verschiedenen Auffassungen.
Das Wort "Toleranz" stammt von dem lateinischen Wort „tolerare“ ab und bedeutet so viel wie "ertragen" oder "erdulden". Der Toleranzbegriff findet sich in vielen Wissenschaften wieder. In der Medizin umschreibt er eine "begrenzte Widerstandsfähigkeit des Organismus gegenüber schädlichen äußeren Einwirkungen, besonders gegenüber Giftstoffen oder Strahlen."[6] Technische Toleranz meint die "zulässige Differenz zwischen der angestrebten Norm und den tatsächlichen Maßen eines Werkstücks."[7] In dieser Arbeit soll es aber ausschließlich um zwischenmenschliche Toleranz gehen, mit der sich die Theologie, die Philosophie, die Pädagogik und die Psychologie beschäftigt haben. Meyers Großes Taschenlexikon beschreibt Toleranz als "Handlungsregel für das Geltenlassen der religiösen, ethisch-sozialen, politischen, wissenschaftlich-philosophischen Überzeugungen, Normen, Werte und Wertsysteme sowie der ihnen entsprechenden Handlungen Andersdenkender."[8] Während die medizinische und technische Definition von Toleranz eher ein Dulden nicht verhinderbarer Abweichungen ist, die trotzdem möglichst vermieden werden sollen, sollte die zwischenmenschliche Toleranz ein bewusstes und positives Geltenlassen von Differenzen sein.
Heute hat die Toleranz im Staatsrecht und in den Grund- und Menschenrechten zunehmend Rechtsverbindlichkeit, denn sie ist eine der Grundbedingungen für Humanität und Demokratie und für die freie und rationale Auseinandersetzung zwischen konkurrierenden Wahrheits- und Geltungsansprüchen von Erkenntnissen und Normen.[9] Der Duden schließt zudem noch die sexuelle Toleranz mit ein. Doch was heute so selbstverständlich in einem Lexikon steht, ist Ergebnis eines jahrhundertlangen Diskurses in den verschiedenen Geisteswissenschaften – vor allem der Theologie. Und sicherlich ist dieser Weg noch nicht zu Ende gegangen, wenn man heute die Auswüchse von Intoleranz in rechtsradikalen Parolen und Handlungen oder die blutigen Kriege um die einzig wahre Religion sieht.
2.1 Zur Geschichte der Toleranz
Die „Erfindung“ der Toleranz wird gern den alten Römern zugeschrieben, denn diese bekannten sich zu dem Grundsatz „parcere subiectis – et deballare superbis.“[10] Das bedeutet so viel wie „die Unterworfenen schonen und die Stolzen niederwerfen“. Die Unterworfenen zu schonen ist nach unseren heutigen Erkenntnissen noch lange keine Toleranz, da es sich lediglich um einen Verzicht von staatlicher Gewalt handelt und nicht um eine Anerkennung des Schwächeren. Aber der Römische Friede, die durch staatsmännische Weisheit gemilderte Machtherrschaft, ist schon ein erster Schritt dorthin.[11]
Da die Römer viele verschiedene Lokalgötter, Volksgötter und Spezialgötter kannten und verehrten, waren sie in der Religion auch fremden Göttern gegenüber tolerant. In Trier sollen sie sogar den dortigen Göttern geopfert haben. Allerdings ließen sie den Gott der Juden und der Christen nicht gelten, da dieser als einziger Gott verehrt werden sollte und er somit nach der Meinung der Römer ein intoleranter Gott war. Sie waren also intolerant gegenüber intoleranten Glaubensrichtungen. Das Christentum brachte damit etwas in die Welt, was zur Intoleranz verführen konnte: den totalen Anspruch auf Wahrheit.[12] Als das Christentum noch in der Minderheit war und voller Mitleid und Liebe den Ungläubigen gegenüber auftrat, um ihnen den Glauben an Gott näher zu bringen, war es sicherlich der Glaube an die Nächstenliebe, der die Missionare in die Welt hinaus sandte. Doch als das Christentum durch den römischen Kaiser Konstantin I. (306–337) zur Staatsreligion erklärt wurde, musste man sich zum ersten Mal öffentlich mit so etwas wie Toleranz auseinander setzen. Sollte man den Ungläubigen, den Irrenden, den Häretiker dulden, wenn doch die ganze zivilisierte Welt christlich war? Man war sich nicht einig. Im Laufe der Jahrhunderte gab es Zwangstaufen Anders- oder Ungläubiger, Ketzerverfolgungen, Kreuzzüge und später Hexenverbrennungen. Doch in derselben christlichen Welt gab es auch Beispiele der Nächstenliebe zum Schwächeren und Sünder und auch zum Andersdenkenden.
Mit dem Auftreten des Protestantismus kam es zu immer mehr Konflikten innerhalb der christlichen Kirche. Deshalb tauchte der Begriff „Toleranz“ erstmals im 16. Jahrhundert in der politisch-philosophischen Diskussion konkret auf, denn man wollte darüber diskutieren, wie ein friedliches Zusammenleben zwischen den Angehörigen der verschiedenen Glaubensrichtungen möglich sei.[13] Vielleicht war es anfangs nur die wachsende Stärke des Protestantismus, der die restliche Kirche daran hinderte, die neue Bewegung zu unterdrücken. Doch im Laufe der Jahre wurde der Begriff der Toleranz erweitert als das Dulden und Respektieren von religiösen als auch von politischen und kulturellen Überzeugungen und Lebensweisen. Trotzdem sah man immer noch die Grenzen christlicher Duldsamkeit im Umgang mit Andersgläubigen, Ungläubigen und Häretikern. Erst Sebastian Castellio (1554) sah die Freiheit des Gewissen und der Vernunft als notwendige Bedingung für den Weg zum wahren Glauben an und lehnte daher jeglichen Zwang zur Durchsetzung eines bestimmten Glaubens ab. Kirchliche Autorität und individuelle Religiosität sollten getrennt werden. Jean Bodin forderte 1576 sogar die religiöse Zurückhaltung des Staates und sah Toleranz als „gegenseitigen Respekt für die authentische Überzeugung der anderen und der Einsicht in die Überwindbarkeit religiöser Differenzen.“[14]
Das 17. Jahrhundert brachte mit seinen Religionskonflikten noch heute gültige Toleranzbegründungen hervor. Baruch de Spinoza (Ende 17. Jahrhundert) beispielsweise führte den Kern des Glaubens auf die Tugenden von Gerechtigkeit und Liebe zurück und trennte ihn von umstrittenen Dogmen und der philosophischen Wahrheitssuche. Der Staat könne zwar Friedensrichter sein, definieren was Gerechtigkeit sei und die äußere Religionsausrichtung regeln, aber das natürliche Recht auf Gedanken- und Urteilsfreiheit und die damit verbundene innere Religionsausübung könne der Staat dem Individuum nicht absprechen.[15] Auch John Locke (1632-1704) sah die Kirchen als freiwillige Gesellschaften, die keinerlei Zwang ausüben dürften - jeder Bürger habe ein Recht auf freie Religionsausübung. Doch für Locke gab es wieder die übliche Grenze der Toleranz: die Leugnung Gottes, darüber hinaus aber auch die Infragestellung der staatlichen Autorität durch eine Religion, denn diese führte nach Locke zur Auflösung der moralischen Grundlage der Gesellschaft. Im Laufe der Amerikanischen und Französischen Revolution wurde das Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit als grundlegendes Recht anerkannt und in die jeweiligen Verfassungen aufgenommen.
Die Aufklärung brachte den Gedanken der minimalen Vernunftreligion als Möglichkeit, Religionsstreitigkeiten ohne Zwang zu überwinden mit sich und forderte an erster Stelle moralisches Handeln. Einer der wichtigsten Vertreter dieser Auffassung war Voltaire (1694-1778). Doch auch er und andere große Denker dieser Zeit wollten die Toleranz nicht auf Atheisten ausdehnen, um die Gesellschaft nicht von ihren moralischen „Zügeln“ frei zu machen.[16]
Die berühmte Ringparabel von Gotthold Ephraim Lessing (1779) zeigt ein Bild des friedlichen Wettstreits der Religionen, das den Glauben an Gott als Gemeinsamkeit hervor hebt, aber deren Überlieferungszusammenhänge sehr unterschiedlich sind. Welche Religion die bessere ist, könne nicht bewiesen werden, sondern zeige sich dadurch, welcher Gott und welcher Mensch sich als angenehm erweist.
Im 19. Jahrhundert sah man das individuelle Recht auf Gewissens- und Glaubensfreiheit als Gemeingut an und die Grenzen der Toleranz wurden neu definiert. John Stuart Mill (1859) setzte diese mit Hilfe des Schadensprinzips. So war nach ihm die Ausübung staatlichen und sozialen Zwangs nur legitim, um die Schädigung Dritter zu verhindern. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit und der Zwang für das Wohl des dem Zwang Unterworfenen waren für ihn allerdings unrechtmäßig. Denn auch anscheinend falsche Meinungen führten in der öffentlichen Diskussion zu einem Lernprozess, um umfassend geprüfte Überzeugungen zu ermöglichen.[17] Als Begründung für Toleranz sah Mill nicht nur den Eigenwert der individuellen Entfaltung, sondern auch den Nutzen für den gesellschaftlichen Fortschritt.
Von der religiösen Toleranz und der Meinungsfreiheit ging die Diskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch immer mehr auf die politische Toleranz ein. Streitende politische Parteien müssten sich auf politische Grundregeln einigen, um Toleranz zu ermöglichen, denn diese sei ein Kennzeichen für einen demokratischen Staat.[18] Werte seien in einer Demokratie relativ und politische Absolutheitsansprüche würden ausgeschlossen. Doch die Politik und die Kriege des 20. Jahrhunderts zeigen, dass diese Meinung noch nicht alle Staaten vertreten.
Dass auch die Demokratie selbst kein absoluter Wert sei, darüber wird noch heute gestritten. In Deutschland sprechen wir beispielsweise von einer wehrhaften Demokratie, die zwar wertneutral gegenüber den verschiedensten Meinungen sein muss, aber intolerant gegenüber Handlungen vorgehen darf, die die staatliche Demokratie untergraben und gegen sie arbeiten.
In Deutschland hat der Toleranzdiskurs nicht nur aufgrund der offenen und latenten Fremdenfeindlichkeit wieder an Bedeutung gewonnen, sondern auch aufgrund der Unsicherheiten nach dem 11. September 2001 und der neuen Diskussion über die Grenzen der Toleranz - sei es gegenüber „Schläfern“ oder gegenüber muslimischen Kopftüchern in deutschen Schulen.
2.2 Toleranzkonzepte in der Philosophie
Im Folgenden wird ein Überblick über den Diskurs des Toleranzbegriffes in der Philosophie gegeben. Dabei stützt sich die Autorin vor allem auf Rainer Frost, da es ihm nach ihrer Ansicht gelungen ist, eine sehr verständliche und umfassende Beschreibung dieses weitschweifigen Begriffes zu liefern. Rainer Forst hat eine ganze Reihe von Toleranzauffassungen gesammelt.[19] So kann Toleranz Folgendes sein:
- eine herablassende und paternalistische Geste von Individuen, Gruppen oder Autoritäten, die andere dulden, welche von ihnen nicht geachtet, aber auch nicht als gefährlich angesehen werden;
- eine repressive soziale Praxis, die zur Neutralisierung von Differenzen – auch der zwischen dem Wahren und dem Falschen - und der Beherrschung von Minderheiten dient;
- eine Sichtweise und Politik, die von einer „Norm“ abweichende Identitäten zuallererst produziert und festschreibt;
- eine minimale und schwache Form der Anerkennung, die bestenfalls einen Modus vivendi der Koexistenz hervorbringt;
- ein Ausdruck wechselseitigen Respekts unter Menschen, die sich bei allen Unterschieden in relevanten Hinsichten als Gleiche achten;
- ein Zeichen von Solidarität für den Fremden und der Wertschätzung einer Pluralität von Lebensformen und Werten;
- eine Haltung der Indifferenz, des Skeptizismus oder Relativismus;
- eine notwendige Bedingung für den Wettstreit von Ideen und die Durchsetzung der Wahrheit;
- ein Aushalten von Unterschieden, das auf Selbstvertrauen und Charakterstärke beruht;
- eine soziale Verfallserscheinung von Permissivität, Nihilismus und Urteilsschwäche;
- ein Gebot der Nächstenliebe;
- eine Notwendigkeit angesichts der Tatsache, dass Überzeugungen nicht erzwingbar sind und die Freiheit des Gewissens folglich nicht einzuschränken ist.
Unabhängig von diesem Gewirr an Toleranzkonzeptionen, die sich vor allem stark von in ihrer Motivation unterscheiden, versucht Forst sechs Merkmale von Toleranz unter Menschen als eine Art Basisdefinition zu finden, die je nach Auslegung dieser Merkmale diesen Positionen zugrunde liegen.[20]
Erstens betrachtet er die tolerierenden und tolerierten Subjekte und die Objekte der Toleranz sowie die sozialen Beziehungen der Subjekte zueinander. Die Frage, die man hier stellen könnte, wäre also: Wer (Individuen, Gruppen, Institutionen) toleriert was (Überzeugungen, Werte, Lehren, Handlungen oder Praktiken) in welcher sozialen Beziehung (Eltern und Kinder, Angehörige verschiedener Religionen, „Weltbürger“) zu wem (Individuen, Gruppen, Institutionen)?
Zweitens setzt er voraus, dass die tolerierten Objekte (Überzeugungen, Praktiken etc.) von den tolerierenden Subjekten normativ verurteilt oder abgelehnt werden. Eine indifferente Haltung schließt Forst damit aus, da keine Toleranz notwendig sei, um etwas zu dulden, das einem egal ist oder das man bejaht.
Drittens sagt Forst, dass der negativen Bewertung der tolerierten Objekte trotzdem eine qualifizierte Akzeptanz, Duldung oder Respektierung gegenübersteht, die positiv begründet werden kann. Eine Haltung der Indifferenz, wie sie Forst in seinen Umschreibungen auflistet, wäre daher eigentlich keine Toleranz.
Als viertes Merkmal sieht Forst die Grenzen der Toleranz, wenn die Gründe für eine Ablehnung gegenüber den Toleranzobjekten die der Anerkennung überwiegen. Dabei eröffnet sich für ihn eine Paradoxie der Toleranz, ob es moralisch richtig ist – also tolerant ist - das moralisch Schlechte zu tolerieren.
Fünftens sieht er Toleranz als freiwillige Tugend an, die nicht erzwungen werden kann, da sie mit Überzeugungen verbunden ist und nicht nur mit Handlungen.
Sechstens ist Toleranz für Forst sowohl eine rechtlich-politische Praxis (also sind die tolerierenden und tolerierten Subjekte meist Gruppen oder Institutionen) als auch als eine individuelle Haltung und Tugend (die tolerierenden Subjekte sind Individuen), die relativ unabhängig voneinander sind.
Wichtig für den philosophischen Toleranzdiskurs hält Forst auch die Rechtfertigung der Toleranz. Warum er diese Frage nicht als siebtes Basismerkmal der Toleranz nennt, wird nicht deutlich. Wahrscheinlich sieht Forst die Begründung für ein Tolerieren anderer Menschen(gruppen) als so wesentlich an, dass er diesem Thema einen eigenen Abschnitt widmet. Dazu stellt er sechs Möglichkeiten vor, wie Toleranz motiviert sein kann. Außerdem geht er noch einmal näher auf die Grenzen der Toleranz ein.[21]
Zum einen kann Toleranz als pragmatische oder strategische Klugheitserwägung gerechtfertigt werden. Dabei werden rational Kosten und Risiken eingeschätzt, welche sich aus der Intoleranz ergeben, zum Beispiel um Konflikte mit einer Minderheit oder zwischen zwei Volksgruppen zu vermeiden. Die Grenze der Toleranz ist erreicht, wenn die zugrunde liegende Kosten-Nutzen-Rechnung sich für eine Gruppe oder ein Individuum negativ verändert oder wenn dadurch die dominante Stellung der Autorität in Frage gestellt wird.
Toleranz kann aber auch als ethischer Wert des guten Lebens gerechtfertigt werden. Nicht akzeptierte Werte, Handlungen oder Praktiken werden als ethisch akzeptierter Pluralismus toleriert und man spricht ihnen damit einen - wenn auch begrenzten - Wert zu. Lebenseinstellungen, die man eigentlich verurteilt, können auch aufgrund einer alterwürdigen Tradition toleriert werden. Die Grenzen der Toleranz sind hier erreicht, wenn die Toleranzobjekte ethischen Grundwerten gegenüber unloyal erscheinen und damit keinerlei gemeinsamen Wert mehr haben.
Eine weitere ethische Rechtfertigung der Toleranz ist die Auffassung, dass man die persönliche Autonomie von Individuen und damit auch die Autonomie ihrer Lebensauffassungen an und für sich tolerieren sollte, weil sie Ausdruck einer autonomen und authentischen Wahl sind und somit ein Teil der Selbstverantwortung, die eine Person für sich übernimmt. Die Grenzen dieser Toleranzauffassung liegen dort, wo die Autonomie des einen die eines anderen gefährdet.
An diese Argumentation schließt sich auch die der Toleranz als Zweck an sich an. Toleranz ergibt sich hier aus der Einsicht der wechselseitigen Rechtfertigung der moralischen Autonomie anderer Personen. Nicht tolerierbar sind damit Rechtfertigungen von moralischen Auffassungen, die nur auf absoluten ethischen und religiösen Wahrheiten basieren und somit eine Rechtfertigung anderer Einstellungen nicht zulassen.
Auch in der Religion findet man viele Rechtfertigungen für Toleranz, die sich vor allem auf andere Religionen beziehen. Diese reichen von der Idee der Einheit der Schöpfung des Menschen über die Idee einer „Vernunftreligion“ bis hin zum Gebot der Nächstenliebe als Gebot der Duldung. Ein besonders wichtiges Argument in der religiösen Toleranzdiskussion ist auch der authentische Glaube, der nicht erzwungen werden kann und er vor Gott keine Bedeutung hätte. Die Grenzen der Toleranz liegen hier also in einem Glauben, der nicht den religiösen Glauben an sich als Wert sieht, sondern nur einen bestimmten Glauben.
Ein sechster Rechtfertigungsgrund ist erkenntnistheoretischer Natur. Zum einen zählt hier das Argument des Skeptizismus, dass es keine absolute ethische Wahrheit gibt. Ein weiteres Argument ist der Relativismus, dass alle ethischen Überzeugungssysteme den gleichen Wert haben und damit respektvoll zu behandeln sind. Ein drittes Argument besagt, dass es keine unfehlbare Erkenntnisinstanz gibt und unterschiedliche Auffassungen damit in einem notwendigen Wahrheitswettbewerb stehen, die für die Findung der wahren Überzeugungen und für den Fortschritt der Menschheit notwendig sind. Dies wäre allerdings auch wieder ein Argument, das dem der Kosten-Nutzen-Rechnung ähnlich ist. Nicht tolerierbar sind aus erkenntnistheoretischer Sicht Auffassungen, die einen Absolutheits- und Vorrangsanspruch haben und andere Ansprüche als minderwertig ansehen.
Dies soll nur ein Abriss der verschiedenen Rechtfertigungen sein, die im Toleranzdiskurs eine Rolle spielen. Weiterführende Ansätze kann man in den gesammelten Aufsätzen von Forst nachlesen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Begriff „Toleranz“ mehrere Dimensionen umfasst, um eine bestimmte Toleranzauffassung zu charakterisieren. Als Weiterführung von Forsts ersten Basismerkmalen von Toleranz können dieses um zwei Glieder (Rechtfertigung und Grenzen der Toleranz) erweitert und als folgende Fragen formuliert werden:
Wer? Tolerierender: Individuen, Gruppen, Institutionen
Toleriert was? Toleranzobjekte: Überzeugungen, Werte, Lehren, Handlungen oder Praktiken
In welcher sozialen Beziehung? Eltern und Kinder, Angehörige verschiedener Religionen, „Weltbürger“
Zu wem? Tolerierte: Individuen, Gruppen, Institutionen
Aus welchem Grund? Klugheitserwägung, ethischer Wert, persönliche Autonomie, Einsicht der wechselseitigen Rechtfertigung, religiöse Gründe, erkenntnistheoretische Gründe
Und in welchen Grenzen? Das Nicht-Tolerierbare: schlechte Kosten-Nutzen-Rechnung, gegenüber Grundwerten unloyale (unethische) Einstellungen, Gefährdung der Autonomie anderer, Nichtzulassen der Rechtfertigung anderer Einstellungen, Zwang, Absolutheits- und Vorrangsanspruch bestimmter Positionen
Diese Fragen sollen im Kapitel fünf als Untersuchungskonzept genutzt werden, die philosophischen Toleranzpositionen der einzelnen Unterrichtskonzepte zu erkunden.
Um in der Schule Toleranz vermitteln zu können, sollte sich jeder Lehrer seiner eigenen philosophischen Toleranzauffassung bewusst sein. Dazu kann er sich ebenfalls die oben genannten Fragen stellen, um seine persönliche Definition von Toleranz für sich selbst zu strukturieren.
2.3 Toleranzkonzepte in der Pädagogik
Um pädagogische Toleranzkonzepte vorzustellen, möchte die Autorin sich vor allem auf die Arbeit der Bertelsmann Forschungsgruppe Politik[22] stützen, da diese ein gut verständliches Konzept vorlegt, um die pädagogische Relevanz von Toleranz zu erläutern. Zwar hat sich auch Rudolf Schmitt in einem ganzen Buch mit der Toleranzerziehung in der Grundschule auseinandergesetzt, er definiert „Toleranz“ jedoch eher philosophisch sowie aus dem Blick der Vorurteilsforschung heraus.[23]
Die Toleranzdefintion der Bertelsmann Forschungsgruppe Politik ist eine sehr handlungsorientierte Begriffsauffassung. Im Mittelpunkt des Konzeptes steht Toleranz als „eine Maxime für die individuelle und ethisch motivierte Entscheidung […] einen Konflikt aus Einsicht in die prinzipielle Gleichberechtigung der anderen auszuhalten oder gewaltfrei zu regeln.“[24] Ausgangspunkt dieser Definition ist damit das Grund- und Menschenrecht aller Menschen auf freie Entfaltung. Wie auch Forst stellt die Bertelsmann Forschungsgruppe Politik Kriterien zusammen, die vorliegen müssen, damit man von Toleranz sprechen kann. Die Voraussetzung ist, so die Forscher, dass es einen Konflikt gibt, der dadurch hervorgerufen wird, dass fremdartige Deutungsmuster, Werte und Normen eines anderen angezweifelt werden oder mit den eigenen konkurrieren. Fehlt der Konflikt, weil die Maßstäbe des anderen wertneutral betrachtet werden, handelt es sich nicht um Toleranz, sondern um Gleichgültigkeit. Auch eine laisser-faire oder anything-goes-Defintion schließen einen Wertekonflikt aus und haben damit keine Relevanz für die Definition von Toleranz. Das zweite Toleranzkriterium ist die Abwesenheit von Gewalt in einem Konfliktfall. Dies kann zum einen von nur einer Seite der Konfliktpartner erfolgen, indem der Konflikt von ihm ausgehalten wird und man versucht mit dem Konflikt zu leben oder indem beide Konfliktparteien eine gemeinsame Regelung des Konfliktes finden.
Das dritte Toleranzkriterium behandelt die Motivation, die dem Denken und Handeln in einem Konflikt zu Grunde liegt. Die Forscher sehen dieses Kriterium als das wesentlichste Kriterium für die Identifizierung von Toleranz an. Denn nur auf Grundlage der Anerkennung des gleichen Rechts auf freie Entfaltung[25] ist es möglich, dass jemand aus Einsicht die Andersartigkeit Fremder aushält oder gemeinsam mit ihm eine friedliche Regelung des Konfliktes sucht. Das bedeutet, dass eine andere Motivation einen Konflikt gewaltfrei zu regeln nichts mit Toleranz zu tun hat. So kann eine Motivation zum Beispiel sein, sich den Anschein von Toleranz zu geben, um mehr Ansehen zu genießen. Auch eine Nutzen- bzw. Risikoabwägung, die verhindert, dass eine Konfliktaustragung statt findet, ist vom Eigeninteresse motiviert. Obwohl also ein Konflikt scheinbar ausgehalten wird und somit keine Gewalt angewendet wird, handelt es sich hier nur um scheinbare Toleranz. Ihre Motivation könnte aus einem Mangel an Zeit oder der Unter- oder Überlegenheit in einem Hierarchieverhältnis entspringen. Auch ein Bedürfnis nach Harmonie lässt einen verhindern, den Konflikt auszutragen oder Gewalt anzuwenden. Trotzdem handelt es sich nur um scheinbare Toleranz, da die Anerkennung des gleichen Rechts auf freie Entfaltung aller Menschen nicht im Mittelpunkt steht. Scheinbare Toleranz dient vor allem dazu, den Konflikt auf einen späteren, strategisch günstigeren Zeitpunkt zu verschieben oder ganz auf eine Austragung zu verzichten. Sind in einem Konfliktfall gewaltfrei handelnde Personen durch ihr Bedürfnis nach Barmherzigkeit, nach einem Ausgleich von Ungerechtigkeit oder durch den Schutz fremder und eigene Rechte motiviert, spricht man ebenfalls nicht mehr von Toleranz, sondern von Solidarität, Nächstenliebe oder Zivilcourage.
Auch bei diesem Toleranzkonzept werden die Grenzen der Toleranz definiert, bei eben diesen drei Toleranzkriterien. Sie sind also nicht nur Voraussetzung für das Vorhandensein von Toleranz, sondern auch ausschließliche Kriterien, um Toleranz von scheinbarer Toleranz oder weiter gehenden Formen der Anerkennung abzugrenzen. Intoleranz definiert sich hier vor allem durch das Vorhandensein von Gewalt – also dem Fehlen des zweiten Toleranzkriteriums, das automatisch das dritte Kriterium, die Anerkennung der Gleichberechtigung, ausschließt. Der Grundsatz für die Grenze der Toleranz ist somit die Forderung „Keine Toleranz der Intoleranz“, den die Forscher von Paul Ricoeur[26] ableiten.
Vor allem scheinbare Toleranz lässt sich nur schwer von echter Toleranz unterschieden und die Grenzen sind sicherlich fließend, da sich echte von scheinbarer Toleranz für Außenstehende selten in offensichtlichen Handlungsweisen der betroffenen Menschen unterscheidet und sie die wahre Motivation, die hinter einer Handlung steckt, nur selten erkennen können..
In einem Schaubild verdeutlicht die Bertelsmann Forschungsgruppe Politik die Handlungsoptionen, die sich aus dieser erst einmal recht theoretischen Betrachtung ergeben: In einem Konfliktfall (Voraussetzung) ergeben sich also zwei Handlungsoptionen. Man kann den Konflikt aushalten oder versuchen den Konflikt zu regeln (Vorgehen).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bertelsmann Forschungsgruppe Politik, S. 18
Wird der Konflikt ausgehalten, kann dies zum einem das Ergebnis einer Nutzen- und Risikoabwägung (Motivation) sein. Man schränkt zum Beispiel seine eigenen Rechte ein und nimmt die Verletzung der eigenen Werte und Normen in Kauf, weil man dem anderen über- oder unterlegen ist und gönnerhaftes Verhalten zeigen möchte oder Angst vor weiterreichenden Konsequenzen eines intoleranten Verhaltens hat. Diese scheinbare Toleranz kann aber auch aus Effektivitätsgründen als sinnvoll erscheinen, da die Regelung von Konflikten meist Zeit und Ausdauer kostet. Orientiert sich die handelnde Person jedoch an der prinzipiellen Anerkennung des gleichen Rechts auf freie Entfaltung und hält aus diesem Grund den Konflikt aus, dann zeigt sie echte Toleranz.
Die zweite Handlungsoption in einem Konfliktfall ist der Versuch diesen zu regeln. Er kann zum einen gewaltlos geregelt oder unter Anwendung von Gewalt beseitigt werden (Vorgehen). Auch hier können wieder zwei verschiedene Motive eine Rolle für das Handeln spielen. Zum einen wieder die prinzipielle Anerkennung des gleichen Rechts auf freie Entfaltung (echte Toleranz) oder aber die Durchsetzung vorrangig eigener Interessen (Intoleranz).
Echte Toleranz zeigt sich somit in zwei verschiedenen Handlungsweisen. Man kann zum einen den Konflikt aushalten oder ihn gemeinsam mit dem Konfliktpartner regeln. Voraussetzung ist, dass die Motivation darin besteht, die Rechte des anderen anzuerkennen. Jede andere Motivation oder die Anwendung von Gewalt führen zu scheinbarer Toleranz oder zu Intoleranz.
Wie auch schon für die Toleranzdefintion von Forst kann man aus dieser pädagogisch-handlungsorientierten Begriffsbestimmung ein Frageraster entwickeln, um die Art der Toleranz und deren Motivation zu ergründen:
Voraussetzung: Gibt es einen Konflikt ? ja oder nein
Vorgehen: Wie wird dieser Konflikt geregelt? aushalten oder regeln
Motivation: Warum wird so gehandelt? Nutzen- und Risikoabwägung
Anerkennung
Durchsetzung eigener Interessen
Die Bertelsmann Forschungsgruppe Politik beschäftigt sich neben der Begriffsbestimmung von Toleranz auch mit dem Begriff „Toleranzkompetenz“. Diese ist die Fähigkeit, Konflikte gewaltlos zu regeln. Toleranzkompetenz, so die Wissenschaftler, kann durch Erziehung und politische Bildungsarbeit gezielt gefördert werden. Die Vermittlung dieser Kompetenz, die sie als eine der Grundkompetenzen ansehen, die für das Funktionieren einer Demokratie notwendig sind, sollte nicht nur auf einer kognitiven, sondern unbedingt auch auf einer gefühls- und handlungsbezogenen Ebene stattfinden.
Toleranzkompetenz enthält den Forschern zufolge die folgenden untergeordneten Kompetenzen:[27] ein umfassendes Toleranzwissen, die generelle Bereitschaft zu Toleranz sowie spezifische Fähigkeiten im Umgang mit Konflikten.
Toleranzwissen wird als Grundlage gesehen, um überhaupt eine Bereitschaft zur Toleranz zu entwickeln und die notwendigen Handlungsfähigkeiten herauszubilden. Zum Toleranzwissen gehört zum einen die Kenntnis der Konsequenzen des eigenen Handelns im Konfliktfall. Damit sind die Vor- und Nachteile von echter und scheinbarer Toleranz sowie von Intoleranz gemeint. Außerdem enthält das Toleranzwissen die Einsicht in die Grenzen der Toleranz sowie Kenntnisse über mögliche Handlungsoptionen, wenn diese Grenzen erreicht sind.[28]
In einer überschaubaren Tabelle haben die Forscher die Konsequenzen von scheinbarer Toleranz, Toleranz und Intoleranz zusammen getragen, auf die hier aus Platzgründen nicht vertiefender eingegangen werden soll, die auch ohne Erläuterungen sehr aussagekräftig ist. Im Kapitel 3.2 soll speziell auf die Vor- und Nachteile von Toleranz für Grundschulkinder eingegangen werden.
Konsequenzen von scheinbarer Toleranz, Toleranz und Intoleranz
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Bertelsmann Forschungsgruppe Politik, S. 24)
Das Wissen über die Grenzen der Toleranz ergibt sich aus der Einsicht, dass manchmal eine gewaltlose und gemeinsame Regelung eines Konfliktes nicht mehr möglich erscheint. Dann können Notwehr, Zivilcourage oder der Einsatz polizeilicher bzw. richterlicher Gewalt den Rahmen für ein angemessenes Handeln abstecken.
Im Mittelpunkt der Toleranzerziehung steht also die Vermittlung von Toleranzkompetenz. Für die Toleranzerziehung in der Grundschule bedeutet das, den Schülern ein altersangemessenes Toleranzwissen zu vermitteln. Hier bringt es wenig über philosophische Konzepte zu reden, statt dessen sollte mit den Kindern an Fallbeispielen und in Rollenspielen die Konsequenzen der Toleranz, Intoleranz und der scheinbaren Toleranz erörtert werden, um zu einer allgemeinen Bereitschaft zur Toleranz zu motivieren. Für Kinder werden bei diesen Diskussionen vor allem Begriffe wie Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft im Mittelpunkt stehen. Auch wenn diese im engeren Sinne über den Begriff Toleranz hinaus gehen, sollte man diese Diskussion nicht unterbrechen, da es aus eigener Erfahrung der Autorin schwierig ist, den Kindern den Unterschied zwischen Toleranz, Hilfsbereitschaft und Gerechtigkeit zu erklären. Wenn der Begriff Toleranz auch am Ende ein wenig verwaschen bleibt, ist es vor allem wichtig, den Kindern die Konsequenzen des eigenen Handelns bewusst zu machen, um mit ihnen dann Kenntnisse über mögliche Handlungsoptionen im Konfliktfall zu erörtern und zu erproben.
2.4 Toleranzkonzepte in der Psychologie und der Vorurteilsforschung
Die Psychologie hat sich ebenfalls mit dem Phänomen der Toleranz beschäftigt, auch wenn der Begriff selbst nicht immer im Mittelpunkt der Überlegungen steht. Meistens findet man ihn unter Überschriften wie „Die Begegnung mit dem Fremden“[29] oder „Stereotype und Vorurteile bei Kindern gegenüber Ausländern.“[30] Unter anderem haben sich die Persönlichkeitspsychologie, die Sozialpsychologie, aber auch die Kognitionspsychologie im Rahmen der Vorurteilsforschung mit dem Thema Toleranz beschäftigt.
In der Persönlichkeitspsychologie wird Toleranz als ein kognitiver Stil beim erwachsenen Menschen und als ein „relativ verfestigtes und veränderungsresistentes Persönlichkeitsmerkmal“[31] betrachtet. Daraus resultieren bestimmte Verhaltensweisen, wie zum Beispiel keinen Anstoß zu nehmen an Unterschieden anderer Menschen in Bezug auf ihre Meinung, ihre Einstellung, ihre Werte und Normen oder bezüglich ihres Verhaltens. Außerdem zeigt ein toleranter Mensch Geduld und Großzügigkeit gegenüber fremden Meinungen und Glaubensüberzeugungen. Dazu gehört auch, dass die aktive Bekämpfung der Ablehnung von Fremdartigkeit und dass vorschnelle, vereinfachende und radikal abwertende Urteile über Personen und Sachverhalte vermieden werden. Toleranz bezieht sich einerseits auf eine sehr verallgemeinernde Ebene von Arten von Reaktionen auf wahrgenommene Abweichungen zwischen den eigenen Erwartungen, Gewohnheiten, Welt- und Menschenbildern, wert-, erfahrungs- und normabhängigen impliziten Theorien und den handlungsrelevanten Hypothesen. Andererseits betrachtet sie, was der beobachtende und handelnde Mensch in seiner Umwelt tatsächlich vorfindet, anderseits.[32]
Intolerante Menschen zeichnen sich im Sinne der Persönlichkeitspsychologie dadurch aus, dass sie in ihrer Fähigkeit eingeschränkt sind, in mehrdeutigen Situationen Urteile zu nuancieren und in der Schwebe zu halten - dadurch werden schnell Vorurteile gefällt. Andererseits ziehen sich intolerante Menschen aus der Situation zurück, die sie nicht eindeutig beurteilen können. Oft verlangen diese Menschen auch nach der Lösung ihres persönlichen Konflikts durch eine Autorität anstatt zu versuchen, die Situation selbst zu verstehen und sich ein eigenes differenziertes Urteil zu bilden.[33] In einigen Forschungen ergab sich etwa ein positiver Zusammenhang zwischen der Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit und den Merkmalen der autoritären Persönlichkeit. Allerdings ist der Begriff „autoritäre Persönlichkeit“ sehr komplex, daher konnten diese Zusammenhänge nicht eindeutig bestätigt werden, da es auch methodische Probleme bei der Messung von „autoritärer Persönlichkeit“ und des exakten Grades von Toleranz und Intoleranz gibt.
Besonders ausführlich hat sich die Sozialpsychologie mit der Toleranz beschäftigt und mehrere Theorien hervor gebracht, die durch experimentelle und empirische Forschungen ermittelt haben, wie es zu Erfahrungen mit Abweichungen vom eigenen Weltbild kommt und wie darauf kognitiv und emotional reagiert wird. Der Übersicht halber sollen die wichtigsten Ursprungstheorien aufgelistet werden, die von anderen Psychologen in den nachfolgenden Jahren weiter entwickelt wurden:[34]
- Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung (Lilli 1984)
- Theorie der sozialen Vergleichsprozesse (Haisch/Frey 1984)
- Theorie der kognitiven Dissonanz (Frey 1984)
- Theorie des Selbstwertschutzes und der Selbstwerterhöhnung (Stahlberg/Osnabrügge/Frey 1985)
- Theorie der kognizierten Kontrolle (Osnabrügge/Stahlberg/Frey 1985)
- Theorie der konzeptgesteuerten Informationsverarbeitung (Schwarz 1985)
- Theorie der sozialen Identität (Mummendey 1985)
An dieser Stelle soll nicht auf jede einzelne Theorie eingegangen werden, da diese den Umfang einer weiteren Staatsexamensarbeit haben würden. Es sollen exemplarisch nur die Theorie der kognitiven Dissonanz und die Theorie der sozialen Identität näher untersucht werden.
In allen sozialpsychologischen Theorien geht man zuerst einmal davon aus, dass Menschen in hohem Maße beunruhigt sind, wenn ihre Umwelt und das Verhalten ihrer Mitmenschen nicht ihren Erwartungen entsprechen. Diese Verunsicherung stört wiederum den für das Wohlbefinden wichtigen Gleichgewichtszustand und erfordert Reaktionen und Handlungen, um wieder einen ausbalancierten Zustand zu erreichen.[35] Mit welchen Methoden dieser Zustand wieder erreicht wird, ist Gegenstand der verschiedenen Theorien. Allerdings geht es hier meist nicht um die Erklärung toleranten Verhaltens sondern eher um die Entstehung intoleranter Einstellungen.
Die Theorie der kognitiven Dissonanz etwa geht davon aus, dass die Abweichungen, die vom Individuum als störend empfunden werden, einfach durch bestimmte kognitive Aktivitäten reduziert werden. Abweichungen werden dann einseitig interpretiert, vereinfacht, verfälscht oder einfach gemieden bis sie wieder mit den vorhandenen und gewohnten Werten und Normen übereinstimmen oder die Abweichungen so unbedeutend erscheinen, dass sich das Individuum damit abfinden kann. Das erfordert die wenigste Energie, ist einfach und damit effizient, entspricht aber nicht den Toleranzforderungen, da durch die Verfälschung und Reduzierung intolerante Einstellungen und Verhaltensweisen zu intolerantem Verhalten führen können. Doch gerade wenn die Unterschiede zwischen den Menschen auffallend groß sind, ist Toleranz vonnöten. Das heißt, dass das Individuum auf keinen Fall dissonanzreduzierende Methoden anwenden sollte, sondern eher die eigenen Überzeugungen und Kognitionen den neuen und fremdartigen anpassen oder die Bedeutung der Abweichung auf ein erträgliches Maß reduzieren sollte. Die Theorie geht weiterhin davon aus, dass sich der Mensch Toleranz nur leisten könne, wenn die Abweichungen sich entweder auf einem für ihn unbedeutenden Lebensbereich beziehen, die Sachverhalte unbedeutend sind, auf die sich die Dissonanzen beziehen und vor allem nicht die Selbstwert bezogenen Einstellungen, Werte und Normen angreifen und damit eher unwichtige Bereiche der Persönlichkeit betreffen. Um die aktive Auseinandersetzung mit diesen Dissonanzbelastungen und ihrer Bewältigung – trotz einer hohen Bedeutung der Abweichung – kümmert sich die Theorie der kognitiven Dissonanz nicht. Sie scheint von einem unveränderlichen Ist-Zustand auszugehen, in dem das Individuum eher eine passive Rolle spielt.
Nach der Theorie der sozialen Identität wird die soziale Umwelt in gesellschaftlich akzeptierte und abgegrenzte Klassen und Kategorien eingeteilt, um zuverlässig die eigene Person und fremde Personen einordnen zu können. Die soziale Identität einer Person entsteht dadurch, dass sich die Person mit dem Gesamtsystem dieser Kategorien identifiziert und sich damit als zugehörig zu einer oder mehreren sozialen Gruppen und sich ihr emotional verbunden fühlt. Daraus entwickelt das Individuum dann sein persönliches Selbstkonzept.
Treffen wir auf fremde Menschen, wird ständig mit der Eigen- und der Fremdgruppe in Bezug auf verschiedene Merkmale (z.B. Leistungsfähigkeit, Gruppenklima, soziales und gesellschaftliches Ansehen) verglichen. Wird bei diesem Vergleich die Eigengruppe als überlegen angesehen und diese Überlegenheit im Gesamtsystem auch unterstützt, wirkt sich das positiv auf das eigene Selbstbild aus. In Untersuchungen konnte die Tendenz der Menschen festgestellt werden, dass die Eigengruppe sehr häufig positiver beurteilt wird als die Fremdgruppe, selbst dann, wenn es eigentlich gar keinen direkten Anlass zur Gruppenbildung oder zur Intergruppendiskriminierung gab, etwa aufgrund zu geringer Unterschiede. Dabei werden die Fähigkeiten und Meinungen in der Eigengruppe oft sehr vielfältig und differenziert betrachtet, wohingegen die Fähigkeiten und Meinungen der Fremdgruppe eher stereotypisiert werden. Genauso werden in der Eigengruppe eher individuelle Zuschreibungen von Fähigkeiten und Meinungen gemacht, die in der Fremdgruppe eher verallgemeinert und depersonalisiert werden.
Wie bedeutend diese Intergruppendiskriminierung ist, hängt vor allem von der Bedeutung der Vergleichsgruppe und der Vergleichdimension ab. Je bedeutender der Vergleich zwischen Eigen- und Fremdgruppe empfunden wird, je ungesicherter der soziale Status des Individuums oder der ganzen Gruppe ist, je gefährdeter und instabiler die Gruppe im sozialen Gefüge ist und je illegitimer die Statusunterschiede zwischen den Vergleichsgruppen sind, desto mehr werden sich die Gruppenmitglieder darum bemühen, dass die eigene Gruppe beim Vergleich positiv abschneidet. Dabei kommt es zu einer Art sozialem Wettbewerb, der mit einer Eigengruppenfavorisierung und einer Fremdgruppendiskriminierung einhergeht.[36] Tolerantes Verhalten würde für sie die soziale Identität und ihren Selbstwert in Gefahr bringen. Toleranz kann man sich nach dieser Theorie nur „leisten“, wenn der eigene und der soziale Status der Eigengruppe gesichert sind, die zu vergleichenden Meinungen und Fähigkeiten als unbedeutsam empfunden werden oder die Statusunterschiede zwischen den Gruppen im Gesamtsystem als legitim angesehen werden (z.B. Sklaven in der Antike).
Sowohl die Sozial- als auch die Kognitionspsychologie beschäftigen sich mit den Phänomen der Stereotypen und Vorurteile, die intolerantes Denken und Verhalten maßgeblich beeinflussen. Die Definition für diese Begriffe ist sehr vielfältig und oft auch umstritten, vor allem was die Unterscheidung der beiden Wörter betrifft. In dieser Arbeit sollen sie synonym verwendet werden, auch wenn Vorurteile oft als Resultate von affektiven und stärker verinnerlichten Stereotypen gesehen werden.
Der Begriff Stereotyp stammt aus der Druckersprache. Stereotypen sind hier Druckvorgänge, bei dem feststehendes Material verwendet wird und ein Bild damit in unveränderter Form abgedruckt wird, wie etwa beim Stempel. Für diese Arbeit soll die Stereotypendefinition von Walter Lippmann[37] (1922) verwendet werden, die zwar schon älter ist, aber nach der Meinung der Autorin dieser Arbeit eine verständliche Erklärung für den Begriff gibt. Lippmann bezeichnete Stereotypen als verfestigte Bilder und kognitive Strukturen in den Köpfen der Menschen, die sie von anderen Personen oder Personengruppen übernommen haben. Diese Bilder stellen oft eine verzerrte Wirklichkeit dar, da es nicht die selbst erlebte, sondern die subjektive Wirklichkeit anderer ist. Sie werden dennoch von vielen Mitgliedern einer Gesellschaft geteilt. Jeder Mensch nimmt seine Umwelt nicht objektiv wahr, wie sie wirklich ist, sondern schafft sich ein eigenes und subjektives Bild dieser Umwelt, das sich vor allem an Stereotypen orientiert. Diese entlasten das Individuum davon, fehlende oder nicht wahr genommene Informationen einzuholen, um sich ein Urteil über eine Person oder eine Situation bilden zu können, beeinflussen damit aber auch wieder die Wahrnehmung und die kognitive Verarbeitung der Information selbst.
Stereotypen beziehen sich vor allem auf Gruppen von Menschen. Sie sind damit ein Satz aus Überzeugungen und Zuschreibungen von persönlichen Eigenschaften gegenüber einer Gruppe von Menschen.[38] Meist sind es soziale und kulturelle Stereotype, die von einer breiten Mehrheit einer Gruppe geteilt werden. Sie werden von der Gruppe jedoch eher als Tatsachen denn als Überzeugungen wahrgenommen und besitzen damit Informationscharakter. Sie können schneller abgerufen werden als nicht stereotype Zuschreibungen und werden bei der Interpretation von uneindeutigen Situationen herangezogen. Sie beeinflussen dabei sehr stark unser Handeln.
Im Gegensatz dazu stehen individuelle Stereotypen. Das ist ein Satz von Überzeugungen, die ein einzelnes Individuum hinsichtlich der charakteristischen Merkmale einer Gruppe besitzt. Sie gelten als weniger automatisiert und sind motivational bedingt. Sie werden von den Menschen eher als Überzeugungen wahr genommen als kulturelle Gruppenstereotypen.
Als Vorurteil wird meist eine besondere Form von Einstellungen gegenüber einer Gruppe von Menschen oder einzelnen Personen bezeichnet, die sich vor allem durch Starrheit, negative Färbung und Änderungsresistenz auszeichnet. Solche Überzeugungen sind oft fehlerhaft, da sie durch sehr starke Verallgemeinerungen entstehen.
Über die Entstehung von Vorurteilen und Stereotypen gibt es wiederum viele verschiedene Theorien. Individualtheorien sehen einen Zusammenhang zu bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen (autoritärer Charakter, Dogmatismustheorie), zu persönlichen Motiven (Sündenbocktherie) oder im Zusammenhang mit bestimmten Erfahrungen (Frustrations-Aggressions-Theorie, Relative Deprivation). Die Kognitionspsychologie sieht Vorurteile als Folge der beschränkten Aufnahmekapazität von Informationen. Vorurteile schützen also vor einer Informationsüberlastung, da sie verallgemeinernd wirken und nicht jedes Detail beachten.[39]
Auf sozialpsychologischer Ebene können Vorurteile und Stereotypen die Folge von sozialen Konflikten sein aber auch das Ergebnis des Sozialisationsprozesses. Sie gelten als normale Gebote, z.B. wie sich Mitglieder einer Gruppe einer anderen bestimmten Außengruppe gegenüber zu verhalten haben. Sie sind damit Teile des gesellschaftlichen Wissens und werden von Kindern als Selbstverständlichkeit aufgenommen.[40] Sie sind Teil des Normen- und Regelsystems, die durch Sitten oder sogar Sanktionen des Rechtssystems (z.B. Rassenschranken bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA) unterstützt werden.
Kinder verinnerlichen Vorurteile schon sehr früh. So haben Experimente ergeben, dass bereits Kinder im Alter von 3-4 Jahren ethnische Klassifikationen vornehmen können, die durch Stereotype oft mit einer Wertung verbunden sind.[41] So haben Kinder beispielsweise gelernt, dass glänzende Haare fettig und damit schmutzig sind. Daher sehen sie die geölten Haare eines Inders als Normverletzung an, denn diese erscheinen schmutzig und schmutzige Haare sind schlecht. Diese Wertung kann sich dann auf die ganze Person oder sogar Nationalität übertragen: Inder sind schlechte Menschen.[42] Solche Wertungen werden allerdings oft schon sehr früh erlernt, bevor das Kind überhaupt „weiß“, welche Merkmale eine bestimmte Nation aufweist. Diese Wertungen und Zuschreibungen sind sehr stark polarisierend und häufig mit Affekten verbunden. Die Eigengruppe wird fast ausschließlich positiv betrachtet, andere Gruppen/Nationen eher negativ. Erst zu Beginn der Grundschulzeit wird der Blick der Kinder auf die Eigengruppe kritischer und Fremdgruppen werden nicht mehr so negativ eingeschätzt. Die vorurteilsbelasteten Werturteile kleiner Kinder werden oft als vorurteilsähnliche Inhalte bezeichnet, weil sie meist widersprüchlich und daher nicht stabil sind, was aber ein wichtiges Merkmal „echter“ Vorurteile ist. Erst im späteren Kindesalter verfestigen sich die Vorurteile so, wie wir sie auch bei Erwachsenen finden. Hier kann die Toleranzerziehung vielleicht einiges leisten, um dem entgegenzusteuern.
Vorurteile können sich natürlich in den verschiedenen Subgruppen einer Gesellschaft stark voneinander unterscheiden. Außerdem sind sie sehr zwiespältig, da Vorurteile zwar Teil einer bestimmten Kultur sind, aber andererseits als abweichend von akzeptierten Wertvorstellungen gelten. Daher ist es für das Individuum so schwierig sich mit den eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen und diese kritisch zu beleuchten. So werden Stereotypen und Vorurteile zwar von allen Mitgliedern einer Gesellschaft erlernt, aber sie wirken nur dann, wenn das Individuum sie als zutreffend einstuft. Diese Entscheidung hat weniger mit der Realität als mit der Akzeptanz dieser Einstellungen zu tun.
Keine Vorurteile zu haben, ist daher ein aktiver Prozess. Der Mensch muss sich dazu mit den in seiner Sozialisation erworbenen Einstellungen und Stereotypen auseinandersetzen und sie schließlich als nicht akzeptabel ablehnen. Trotzdem bleiben diese Stereotypen weiterhin Bestandteil seiner erworbenen Wissensstruktur, denn sie können ja nicht „weggedacht“ werden, auch wenn sie nicht den persönlichen Überzeugungen entsprechen.
Daher bleiben affektive Tönungen von Stereotypen weiterhin erhalten, die sich stark von den Überzeugungen des Menschen unterscheiden können. Als Beispiel erwähnt Mitulla einen Zeitungsartikel, in dem es um Weiße ging, die keine Vorurteile gegenüber Schwarzen hatten, die aber trotzdem ein seltsames Gefühl verspürten, wenn sie einem Schwarzen die Hand schüttelten. Diese Gefühle sind in der Kindheit verwurzelt, denn sie sind Teilstücke dessen, was diese Menschen als Kinder über Schwarze gelernt haben.[43]
Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass nach den Auffassungen der Psychologie ein Mensch tolerant ist, der sich kritisch mit den in seiner Sozialisation erlernten Stereotypen und Vorurteilen auseinander setzt und vor allem in der Bewertung von Fremdgruppen versucht, ein verallgemeinerndes und diskriminierendes Urteil zu vermeiden. Wenn er die Mechanismen der Vorurteilsentstehung erkannt hat und ohne vereinfachende Abwehrmechanismen mit Abweichungen von seinem Normen- und Wertsystem umgehen kann, kann sich Toleranz als stabiles Persönlichkeitsmerkmal entwickeln und sich auf das Handeln in allen Bereich des Lebens auswirken.
2.5 Toleranz – Kindern erklärt
Nach den wissenschaftlichen Betrachtungen des Begriffes und der Bedeutung von „Toleranz“ soll es nun um die Frage gehen, welche dieser Überlegungen für Grundschulkinder von Bedeutung sind und welche ihnen sozusagen als „Toleranzwissen“ verständlich gemacht werden können. Dabei sollte man nicht im Abstrakten haften bleiben, so dass die Kinder in der Lage sind, Toleranz als etwas zu sehen, was in unserem Leben eine große Rolle spielt und auch ganz speziell mit ihnen zu tun hat. Dabei möchte sich die Autorin dieser Arbeit nicht auf weitere wissenschaftliche Untersuchungen stützen, da die Toleranzeinstellung von Kindern bisher nur im Zusammenhang mit Stereotypen und Vorurteilen untersucht wurde.[44] Die Autorin möchte daher versuchen, selbst ein Toleranzkonzept zu entwerfen, das für Kinder verständlich ist und alle für Kinder relevanten Dimensionen des Begriffes mit einschließt. Dieser Text wird so formuliert als würde er einem Kind erzählt, sozusagen als didaktische Reduktion der vorangegangenen Sachanalyse. Sicherlich ist dies kein Text, den man Kindern in einer normalen Unterrichtsstunde als Vortrag hält und im ganzen Stück vorträgt. Er wäre höchstens als Beitrag für eine Vorlesung in der Kinderuniversität geeignet oder als Text in einem Kinderbuch für Alltagsfragen, wie zum Beispiel das Buch „Warum fallen Katzen immer auf die Füße“ von Gerhard Staguhn. Vor allem konkrete Beispiele sollen dafür sorgen, dass sich die Kinder vorstellen können, was Toleranz im Alltag bedeutet.
Manche Leute haben schlechte Angewohnheiten, die wir gar nicht leiden können. Sicherlich findest du Kinder eklig, die ständig in der Nase bohren. Andere sehen merkwürdig aus. Bestimmt hast du schon einmal eine alte Frau mit einem Buckel und einer langen Nase gesehen, so dass sie aussah wie eine echte Hexe. Andere Menschen benehmen sich merkwürdig oder machen Dinge, die uns fremd sind, wie zum Beispiel ein Jugendlicher, der sich vor allen Leuten lachend auf den Boden wirft. Vielleicht gibt es auch Menschen, die so anders sind als du, dass du Angst vor ihnen bekommst, etwa vor einem großen Mann mit schwarzer Hautfarbe. Oder du wunderst dich, dass manche Kinder in deiner Klasse merkwürdig gekleidet sind, eine fremde Sprache sprechen oder mit ihrer Familie Feste feiern, von denen du noch nie gehört hast.
Wenn wir Menschen begegnen, die anders sind als wir oder die uns fremd sind, werden wir oft unsicher, denn wir wissen nicht viel über sie und wissen nicht, wie wir uns ihnen gegenüber verhalten sollen. Manche machen einen großen Bogen um diese Leute. Einige lachen solche Menschen aus oder sagen schlechte Dinge über sie, um ihre eigene Unsicherheit oder Angst zu verbergen.
In solchen Situationen kann uns unser Gehirn einen ganz schönen Streich spielen. Wenn wir etwas sehen, was wir nicht kennen, wollen wir es trotzdem verstehen, damit wir keine Angst haben müssen. Also kramt unser Gehirn ganz schnell in allen Schubladen nach, wo es vielleicht etwas findet, was wenigstens ein bisschen zu dem passt, was wir da sehen. Und dann kann es passieren, dass dann solche Schubladen aufgehen wie „Auf den Boden schmeißen sich doch nur kleine Babys!“ Noch bevor wir eigentlich wirklich verstanden haben, was da für eine Schublade aufgegangen ist, finden wir das Verhalten des Jugendlichen babyhaft. Solche Schubladen nennt man Vorurteile. Das sind Dinge, die wir früher einmal gelernt oder gehört haben, denn jedes Kind weiß doch, dass man sich nicht einfach auf den Boden schmeißt. Dieses Vorurteil hilft uns zu verstehen, was da gerade passiert: Der Jugendliche muss eine Macke haben, denn er benimmt sich nicht so, wie wir es gelernt haben. Wenn wir ein bisschen darüber nachdenken und den Jugendlichen näher kennen, wissen wir vielleicht, dass er behindert ist und behinderte Menschen sich anders verhalten. Doch das komische Gefühl im Bauch bleibt, denn solche Vorurteile sind ganz schön hartnäckig und drängeln sich immer wieder vor, auch wenn wir eigentlich wissen, dass der Jugendliche nichts für sein Verhalten kann. Wir finden ihn einfach komisch und machen einen Bogen um ihn oder haben Mitleid. Dabei brauchen wir eigentlich gar kein Mitleid mit diesem Menschen zu haben, denn er liegt ja gerade lachend auf dem Boden und scheint sich sehr zu freuen.
Behinderten Mitmenschen ihr merkwürdiges Verhalten zu verzeihen, ist vielleicht noch nicht so schwer. Aber nehmen wir zum Beispiel Tipu. Der kommt fast jeden Tag mit glänzenden und strähnigen Haaren zur Schule. Wenn du seine Haare siehst, geht in deinem Gehirn eine Schublade auf: „Glänzende und strähnige Haare sind fettig und fettige Haare sind ungewaschen.“ Also macht sich in deinem Kopf der Gedanke breit, dass Tipu sich nicht die Haare wäscht. Dieses Vorurteil kann dich dazu bringen, dass du Tipu schmutzig findest und deshalb vielleicht nicht mit ihm spielen möchtest, weil schmutzige Kinder eklig sind. Vielleicht weißt du auch, dass Tipu aus Indien kommt und schließt daraus, dass vielleicht alle Kinder aus Indien schmutzig sind, obwohl du das gar nicht weißt. Dabei weißt du wahrscheinlich nicht, dass in Indien die Haare mit Öl eingerieben werden, damit sie schön glänzen und eng und glatt am Kopf anliegen. Indische Menschen finden so eine Frisur nämlich schön.
Vorurteile können auch nützlich sein, um sich in schwierigen Situationen schnell zu entscheiden. Wenn du etwa einem großen Hund begegnest, der dich böse anbellt, dann wirst du sicherlich nicht auf ihn zugehen und ihn streicheln, weil bei dir sofort eine Schublade aufgeht: „Bellende große Hunde sind böse.“ Dass der Hund vielleicht aus Freude bellt, weißt du nicht, aber wichtig ist ja vor allem, dass du nach der Begegnung mit dem Hund noch alle Finger an deiner Hand hast.
Trotzdem sollte man seine Schubladen im Kopf auch mal näher betrachten und ausstauben, ob das wirklich richtig ist, was da drin liegt oder ob in der Schublade vielleicht etwas übersehen wurde. Denn wie du an dem Beispiel mit Tipu gesehen hast, machen sich Vorurteile vor allem dann in unserem Gehirn breit, wenn wir zu wenig über die Menschen wissen, denen wir begegnen.
Doch vor allem heutzutage gibt es so viele Menschen um uns herum, die anders sind als wir, weil sie zum Beispiel aus anderen Ländern kommen und dort ganz andere Dinge gelernt haben als wir. Damit wir mit diesen Menschen gut auskommen und sie nicht ablehnen, weil wir sie nicht verstehen oder uns mit ihnen streiten, weil wir anderer Meinung sind als sie, müssen wir lernen tolerant zu sein.
Tolerant ist ein Mensch, wenn er einen anderen Menschen so annimmt wie er ist. Das ist gar nicht so einfach, wie das Beispiel mit Tipu zeigt. Denn die wenigsten Menschen sind so, wie wir sie haben wollen oder benehmen sich so, wie wir es gewohnt sind. Wir können auch nicht in fremde Menschen hinein schauen, um zu sehen, was sie denken und fühlen. Hättest du vorher gewusst, dass in Indien ölige Haare als schick gelten, fändest du Tipus Haare vielleicht nicht mehr schmutzig.
Doch da wir nicht jeden, der sich unserer Meinung nach komisch verhält, fragen können, warum er das gerade tut, müssen wir versuchen zu verstehen, dass jeder Mensch berechtigte Gründe für sein Verhalten hat. Wenn wir ihn dann fragen, erfahren wir vielleicht sogar viele neue und spannende Dinge, die wir vorher nicht wussten. Dann fällt es uns vielleicht einfacher zu akzeptieren, dass manche Menschen anders sind als wir es erwarten.
Bestimmt fragst du dich jetzt, ob du wirklich jedes Verhalten tolerieren musst, nur weil der andere sicherlich einen Grund dafür hat, den du nicht kennst. Sollst du jetzt zulassen, dass ein großer Junge dich oder deine kleine Schwester verhaut, nur weil er sicherlich einen Grund dafür hat? Das musst du natürlich nicht tolerieren. Zwar hat jeder Mensch ein Recht dazu, das zu denken und tun, was er für richtig hält, aber dabei darf er nicht die Rechte anderer Menschen verletzen. Wenn der Junge dich oder deine Schwester schlägt, dann verletzt er euch. Man kann die Rechte anderer Menschen auch verletzen, wenn man sie beleidigt, sie belügt oder ihnen Dinge verbietet, die für sie sehr wichtig sind. Wenn ein Mensch nämlich die Rechte der anderen nicht achtet oder seine eigenen Rechte am höchsten einschätzt, dann musst du das nicht tolerieren. Dagegen kannst du etwas tun – natürlich ohne dass du die Rechte anderer Menschen verletzt.
[...]
[1] Vgl.: Lillig, S. 72.
[2] Vgl.: Lillig, S. 72.
[3] Vgl.: Lillig, S. 71.
[4] Rau, zitiert nach: Ahrig, S. 7.
[5] Zitiert nach: Stein, S. 464.
[6] Duden: Das Fremdwörterbuch. Augsburg 1999, S. 814.
[7] Ebenda.
[8] Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bänden: Band 22 Tat - Unga. Mannheim 1995, S. 137.
[9] Vgl.: Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bänden: Band 22 Tat - Unga. Mannheim 1995, S. 137.
[10] zitiert nach: Dirks, S. 91.
[11] Vgl.: Ebenda.
[12] Vgl.: Ebenda.
[13] Vgl.: Forst, S. 10.
[14] Forst, S. 11.
[15] Ebenda.
[16] Forst, S. 14.
[17] Forst, S. 15.
[18] Hans Kelsen, 1933, in: Forst, S. 15.
[19] Forst, S. 8f.
[20] Vgl.: Forst, S. 9.
[21] Vgl.:Forst, S. 16ff.
[22] Bertelsmann Forschungsgruppe Politik, 2002.
[23] Schmitt, 1976.
[24] Bertelsmann Forschungsgruppe Politik, S. 7f.
[25] Vgl.:Bertelsmann Forschungsgruppe Politik, S. 15.
[26] zitiert nach: Bertelsmann Forschungsgruppe Politik, S. 17.
[27] vgl.: Bertelsmann Forschungsgruppe Politik, S. 21.
[28] Bertelsmann Forschungsgruppe Politik, S. 22.
[29] Rauchfleisch, S. 414.
[30] Mitulla, 1997.
[31] Thomas, S. 436.
[32] Vgl.: Thomas, S, 436f.
[33] Vgl.: Frenkel-Brunswick in Thomas, S. 436.
[34] Übernommen aus: Thomas, S. 437.
[35] Vgl.:Thomas, S. 437
[36] Vgl.:Thomas, S. 439f.
[37] Lippmann, in: Mitulla, S. 69f.
[38] frei übersetzt nach Ashmore/DelBoca, S. 16, in: Mitulla, S. 70.
[39] Vgl.: Mitulla, S. 72.
[40] Vgl.: Westie 1964, entnommen aus Mitulla, S. 75.
[41] Vgl.: Mitulla, S. 75f.
[42] Vgl.: Mitulla, S. 76.
[43] Mitulla, S. 78.
[44] Studien von Mitulla und Schmitt.
- Citation du texte
- Katja Sass (Auteur), 2004, Erziehung zur Toleranz in einer Welt der Vielfalt, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82957
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