Bei der Betrachtung der Entwicklung des Aufbaus "der Innenorganisation kognitiver Systeme, der sogenannten Intelligenz" (Nicolaisen 1994: 116) in seinen Ursprüngen, hat Piaget aus der Beobachtung der Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern geschlossen, dass in der von ihm so benannten "senso-motorischen Stufe" die Grundlagen dafür gelegt werden , dass die weitere kognitive Entwicklung anhand einer immer weiteren Differenzierung - bedingt durch die allen Formen des Lebens gemeinsame Tendenz zu Assimilation und das durch die Anforderungen der Umwelt bedingte Prinzip der Akkomodation (Ginsburg, Opper, 1975: 47ff.) - des handelnden Umgangs mit den Dingen der Welt fortschreitet, und schließlich in eine Ablösung vom Dinglichen, Konkreten in der "formal operationalen Phase" in abstraktes, nicht mehr figürlich gebundenes Denken einmündet.
Hieraus ergibt sich der Schluss eines handelnden Zugangs zur Welt - der Umgang mit der Welt wird am konkreten Objekt gelernt.
Auch wenn die "senso-motorische Stufe", und die sich während dieser konstituierende "senso-motorische Intelligenz" (Piaget, Inhelder 1986: 16) begrifflich die Sensorik beinhalten, und darüber hinaus Wahrnehmung als mit den Bewegungen zu koordinierende Komponente dieser praktischen Intelligenz beschrieben wird (Piaget, Inhelder 1986), kann man fragen, ob denn die Rolle der Wahrnehmung und ihre Bedeutung für den Entwicklungsprozess ausreichend dargestellt wird.
Es hat den Anschein, dass zum einen bei der Darstellung der Entwicklung der kognitiven Funktionen, insbesondere bei der Frage, wie Erkenntnis möglich ist, die Wahrnehmung ebenso wie das Verhalten des Säuglings und Kleinkindes sehr eng an die motorisch - mechanischen, materiell - dinglichen Aspekte gebunden betrachtet wird , zum anderen, dass die Auffassung, die motorische und kognitive Entwicklung differenziere sich aus den angeborenen Reflexen, die als Handlungsschemata quasi die Grundausstattung des Menschen darstellen sollen (vgl. Kesselring 1988: 115f.), überbetont und möglicherweise nicht richtig eingeschätzt wurde.
Dieser Frage wird in dieser Hausarbeit nachgegangen.
Gliederung
1 Ist die Rolle der Wahrnehmung bei der Betrachtung der kognitiven Entwicklung in Piagets Theorie der geistigen Entwicklung ausreichend berücksichtigt worden?
2 Kritische Auseinandersetzung mit der Einordnung von Wahrnehmung in den ersten Stadien der senso - motorischen Stufe
2.1 Wahrnehmungsleistungen beim Säugling
2.2 Orientierung an den Erfordernissen der Umwelt als Steuerungs-mechanismus der Wahrnehmung?
2.3 Läßt sich Wahrnehmen als aktiver Vorgang begreifen?
3 Versuch der Einordnung der Wahrnehmung in die Anfangsphase der Entwicklung zum denkenden und handelnden Menschen
1 Ist die Rolle der Wahrnehmung bei der Betrachtung der kognitiven Entwicklung in Piagets Theorie der geistigen Entwicklung ausreichend berücksichtigt worden?
Bei der Betrachtung der Entwicklung des Aufbaus "der Innenorganisation kognitiver Systeme, der sogenannten Intelligenz" (Nicolaisen 1994, S. 116) in seinen Ursprüngen, hat Piaget aus der Beobachtung der Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern geschlossen, dass in der von ihm so benannten "senso-motorischen Stufe" die Grundlagen dafür gelegt werden[1], dass die weitere kognitive Entwicklung anhand einer immer weiteren Differenzierung - bedingt durch die allen Formen des Lebens gemeinsame Tendenz zu Assimilation und das durch die Anforderungen der Umwelt bedingte Prinzip der Akkomodation (Ginsburg, Opper, 1975, S. 47ff.) - des handelnden Umgangs mit den Dingen der Welt fortschreitet, und schließlich in eine Ablösung vom Dinglichen, Konkreten in der "formal operationalen Phase" in abstraktes, nicht mehr figürlich gebundenes Denken einmündet.
Hieraus ergibt sich der Schluss eines handelnden Zugangs zur Welt - der Umgang mit der Welt wird am konkreten Objekt gelernt.
Auch wenn die "senso-motorische Stufe", und die sich während dieser konstituierende "senso-motorische Intelligenz" (Piaget, Inhelder 1986, S. 16) begrifflich die Sensorik beinhalten, und darüber hinaus Wahrnehmung als mit den Bewegungen zu koordinierende Komponente dieser praktischen Intelligenz beschrieben wird (Piaget, Inhelder 1986), kann man fragen, ob denn die Rolle der Wahrnehmung und ihre Bedeutung für den Entwicklungsprozess ausreichend dargestellt wird.
Es hat den Anschein, dass zum einen bei der Darstellung der Entwicklung der kognitiven Funktionen, insbesondere bei der Frage, wie Erkenntnis möglich ist, die Wahrnehmung ebenso wie das Verhalten des Säuglings und Kleinkindes sehr eng an die motorisch - mechanischen, materiell - dinglichen Aspekte gebunden betrachtet wird[2], zum anderen, dass die Auffassung, die motorische und kognitive Entwicklung differenziere sich aus den angeborenen Reflexen, die als Handlungsschemata, quasi die Grundausstattung des Menschen darstellen sollen, (vgl. Kesselring 1988, S. 115f.), überbetont und möglicherweise nicht richtig eingeschätzt wurde[3].
Wie könnte nun eine Position aussehen, die davon ausgeht, dass neben den motorischen, ans Objekt gebundenen Entwicklungsschritten in der Ontogenese, auch die sensorischen, im erweiterten Sinne Perzeption und Propriozeption beinhaltende Aspekte eine ausschlaggebende Rolle spielen?
Einerseits müßte beschrieben werden, dass Wahrnehmung nicht nur den Aspekt der bloßen, passiven Abbildung der Wirklichkeit beinhaltet, sondern Voraussetzung für den konstruktiven Umgang mit der Welt ist. Andererseits müßte gezeigt werden, dass sich die bei der Geburt angelegten Möglichkeiten der Wahrnehmung und der motorischen Fähigkeiten in engem Zusammenspiel gegenseitig bedingen und fortentwickeln.
In dieser Hausarbeit soll versucht werden, für die frühen Stadien der Entwicklung des Säuglings die Rolle der Wahrnehmung, zumindest im Ansatz zu bestimmen und richtig einzuordnen, um daraus Argumente ableiten zu können, die darauf hinweisen, dass die oben vage angedachte Position, die eine stärkere Beachtung der Wahrnehmung bei der Betrachtung der kognitiven Entwicklung fordert, ihre Berechtigung hat.[4]
2 Kritische Auseinandersetzung mit der Einordnung von Wahrnehmung in den ersten Stadien der senso - motorischen Stufe
Kaufmann - Hayoz (1989) meint, die Untersuchung der Wahrnehmung sei für die Entwicklungspsychologie von herausragender Wichtigkeit.
Entlang der Fragen, was Wahrnehmung beinhaltet, welche neueren Erkenntnisse es über die Ausstattung an sensorischen Fähigkeiten des Säugling gibt, und wie diese Einfluß hat auf die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten, soll im Folgenden versucht werden, für den Zeitraum der ersten Stadien[5] der senso - motorischen Stufe in Piagets Theorie der geistigen Entwicklung die möglicherweise vernachlässigte Beachtung des Wahrnehmungsaspektes aufzuzeigen.
Nach Piaget gibt es in der intellektuellen Entwicklung vier Stufen:
die senso - motorische, die präoperative, die der konkreten Operationen, und die der formalen Operationen. Die erste Entwicklungsstufe, welche von der Geburt bis zu einem Alter von ca. zwei Jahren dauert, wird in sechs Stadien unterteilt (Ginsburg, Opper 1975).
Für die ersten drei Stadien der senso - mototrischen Stufe, die in dem hier betrachteten Zusammenhang interessieren, gilt in knapper Zusammenfassung Folgendes:
Zu Anfang ist "das Neugeborene weitgehend auf seine Reflexe angewiesen, wenn es mit seiner Umgebung in Beziehung treten will." (Ginsburg, Opper 1975, S. 88). Es werden aber schon erste Erfahrungen gemacht, die zu einer Veränderung der Reflexschemata führen. Mit den "primären Zirkulärreaktionen" - ersten motorischen Koordinationen - , ersten Antizipationen, und dem Auftreten erster Neugier, schreitet die Entwicklung fort. Die Koordination von Sehen und Hören, beides nach Piaget ursprünglich getrennt, tritt ein. In Stadium drei schließlich, wendet sich der Säugling in seinem Verhalten und Interesse auch Dingen zu, die nicht zu seinem Körper gehören. Die "sekundären Zirkulärreaktionen werden gebildet, Nachahmungen werden genauer, der Objektbegriff wird ausgebildet, in dem Sinne, dass er subjektiv und an das Verhalten des Kindes gebunden bleibt (Ginsburg, Opper 1975).
[...]
[1] In "Die Psychologie des Kindes" wird dies deutlich: "..., weil das Kind auf dieser Stufe die Gesamtheit der kognitiven Substrukturen aufbaut, die als Ausgangspunkt für seine späteren perzeptiven und intellektuellen Konstruktionen dienen,..." (Piaget, Inhelder 1986, S. 15)
[2] "Um nämlich Objekte zu erkennen, muß das Subjekt auf sie einwirken und infolgedessen transformieren: Es muß sie von der Stelle bewegen, verbinden, in Beziehung zueinander setzen, auseinandernehmen und wieder zusammensetzen." (Piaget 1983, S. 25).
[3] Hierauf verweist Schmid-Schönbein unter der Überschrift " Der Säugling ist kompetenter, als Piaget angenommen hat" (Schmid-Schönbein 1989, S. 149f.)
[4] Zur begrifflichen Klärung sei hier darauf verwiesen, dass mit Hayes unter Kognition sowohl Prozesse der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit, des Denkens, des Gedächtnis und der Sprache verstanden werden (Hayes 1995).
[5] Zur Kritik am Sufenmodell siehe Schmid-Schönbein 1989, S. 147ff.. Die Parallele zu den Stadien des Stufenmodells wird hier trotzdem gewählt, um eine Vergleichbarkeit in der Einschätzung der kindlichen Entwicklung zu ermöglichen.
- Quote paper
- Dipl.-Soz. Stefan Bär (Author), 2002, Die Rolle der Wahrnehmung in kritischer Auseinandersetzung mit den grundlegenden Prozessen der kognitiven Entwicklung in Piagets Theorie der geistigen Entwicklung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82946
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