Ein ‚psychopathischer Norman Rockwell’, der ‚Wizard of Odd’, der ‚Zar des Bizarren’, oder auch ‚all American Martian boy’ sind nur einige der Bezeichnungen, die in den letzten Jahren für David Lynch gefunden wurden , in dem Versuch seinen Hang zu Kleinstadtidylle und Horror, Traum und Trauma, exzessiver Gewaltdarstellung und unschuldiger Nostalgie zu beschreiben. Lynchs Filme folgen ihrer eigenen Logik und Ästhetik, und weigern sich dabei beharrlich ‚traditionell’ zu funktionieren; stattdessen zersetzen sie die klassischen Darstellungskonventionen des Hollywoodkinos. Insofern sind Lynchs Werke exemplarisch für die Postmoderne und Lynch treibt das Spiel mit Allusionen und Ironie, Nicht-Linearität und Absurdität weiter als die meisten anderen zeitgenössischen Regisseure, die in Hollywood Filme machen. Auch Lynchs Wild at Heart (USA 1990) funktioniert nicht im Sinne erzählerischer Rationalität, Kausalität und Kontinuität. Ganz im Gegenteil spielt hier Dekonstruktion eine wichtige Rolle, und, so stellt Georg Seeßlen fest,
„diese Auflösung betrifft die drei wesentlichen Grundzüge filmischer Erzählung gleichermaßen, nämlich den Raum, die Zeit und die Personen.“
Die ‚Auflösung der Person’, wie Seeßlen es nennt, soll im Folgenden unter dem Gesichtspunkt der Art und Weise postmoderner Figurenkonstruktion genauer untersucht werden. Trotz der überwältigenden Zahl von Beiträgen zur Postmoderne-Diskussion seit den 50er Jahren, gibt es allerdings kein theoretisches Analysemodell für postmoderne Figuren, was auch daran liegt, dass das, was als Postmoderne bezeichnet wird, sich einer Definition immer wieder entzieht, da sie in ihrem Wesen fragmentarisch und heterogen ist , und sich eher durch einzelne, durchaus widersprüchliche Merkmale, als durch ein komplexes Theoriemodell beschreiben lässt. Daher werde ich zunächst einige allgemeine Charakteristika der Postmoderne darstellen – wobei ich mich hauptsächlich auf Ihab Hassans Text „Postmoderne heute“ und Fredric Jamesons „Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus“ stütze – die ich aber gleich am Beispiel von Wild at Heart auf den filmischen Kontext beziehe. In einem zweiten Schritt werde ich dann die Figur Sailor Ripley aus Wild at Heart vor dem Hintergrund dieser Merkmale analysieren und einige allgemeine Konstruktionsmethoden ableiten, bzw. der Frage nachgehen, wie zentral die ‚Auflösung der Person’ für die postmoderne Figurenkonstruktion wirklich ist.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: David Lynch, Wild at Heart und die Postmoderne
2. Merkmale des postmodernen Kinos
2.1. Hybridisierung
2.2. Karnevalisierung
3. Postmoderne Figurenkonstruktion – Sailor in Wild at Heart
3.1. Exposition und Rollenerwartung
3.2. Assoziation der Figur mit Symbolen
3.3. Konstruktcharakter und Sprachlosigkeit
3.4. Allusionen, Zitate und Nostalgie
3.5. Oberflächlichkeit und der Verlust des Ichs
3.6. Ein Ende ohne Veränderung
4. Schlussbemerkungen: die Auflösung des Ichs im Wahnsinn
5. Literatur- / Quellenverzeichnis
6. Filmographie
1. Einleitung: David Lynch, Wild at Heart und die Postmoderne
Ein ‚psychopathischer Norman Rockwell’, der ‚Wizard of Odd’, der ‚Zar des Bizarren’, oder auch ‚all American Martian boy’ sind nur einige der Bezeichnungen, die Kritiker und Schreibende jeglicher Facon in den letzten Jahren für David Lynch gefunden haben[1], in dem Versuch seinen Hang zu Kleinstadtidylle und Horror, Traum und Trauma, exzessiver Gewaltdarstellung und unschuldiger Nostalgie zu beschreiben. Lynchs Filme folgen ihrer eigenen Logik und Ästhetik, und weigern sich dabei beharrlich ‚traditionell’ zu funktionieren; stattdessen zersetzen sie die klassischen Darstellungskonventionen des Hollywoodkinos. Insofern sind Lynchs Werke exemplarisch für die Postmoderne und Lynch treibt das Spiel mit Allusionen und Ironie, Nicht-Linearität und Absurdität weiter als die meisten anderen zeitgenössischen Regisseure, die in Hollywood Filme machen.
Lynchs Wild at Heart (USA 1990), der im selben Jahr die goldene Palme in Cannes gewann, erzählt die Geschichte von Sailor (Nicholas Cage) und Lula (Laura Dern), die sich zum Ärger von Lulas böser Mutter lieben. In Notwehr tötet Sailor einen Schläger, den Lulas Mutter Marietta (Diane Ladd) auf ihn angesetzt hat, denn sie glaubt, dass Sailor etwas über ihren Mord an Lulas Vater weiß. Nachdem er wieder aus dem Gefängnis kommt, fliehen Sailor und Lula nach Kalifornien, um Mariettas Anfeindungen zu entgehen, doch sie kommen nie dort an, denn Mariettas Liebhaber John Faragut und ihr ehemaliger Mordkomplize, der Gangster Marcello Santos, sind hinter ihnen her. Sailor und die schwangere Lula stranden in Big Tuna, irgendwo in der texanischen Einöde, wo Sailor mit dem dubiosen Bobby Peru (Willem Dafoe) eine Bank überfällt – eine Falle wie sich heraus stellt, denn Bobby Peru wurde von Santos, bzw. dem geheimnisvollen Mr. Reindeer, beauftragt Sailor zu töten. Sailor überlebt zwar, aber er muss wieder ins Gefängnis. Als er fast sechs Jahre später frei kommt, will er Lula und ihren gemeinsamen Sohn Pace verlassen, doch eine gute Fee erscheint ihm und überzeugt Sailor davon, dass er nicht weglaufen soll.
Hört sich der Kern der Geschichte auch vergleichsweise gradlinig an, Wild at Heart funktioniert nicht im Sinne erzählerischer Rationalität, Kausalität und Kontinuität. Ganz im Gegenteil spielt auch hier Dekonstruktion eine wichtige Rolle, und, so stellt Georg Seeßlen fest,
„ diese Auflösung betrifft die drei wesentlichen Grundzüge filmischer Erzählung gleichermaßen, nämlich den Raum, die Zeit und die Personen. “[2]
Die ‚Auflösung der Person’, wie Seeßlen es nennt, soll im Folgenden unter dem Gesichtspunkt der Art und Weise postmoderner Figurenkonstruktion genauer untersucht werden. Trotz der überwältigenden Zahl von Beiträgen zur Postmoderne-Diskussion seit den 50er Jahren, gibt es allerdings kein theoretisches Analysemodell für postmoderne Figuren, was auch daran liegt, dass das, was als Postmoderne bezeichnet wird, sich einer Definition immer wieder entzieht, da sie in ihrem Wesen fragmentarisch und heterogen ist[3], und sich eher durch einzelne, durchaus widersprüchliche Merkmale, als durch ein komplexes Theoriemodell beschreiben lässt. Daher werde ich zunächst einige allgemeine Charakteristika der Postmoderne darstellen – wobei ich mich hauptsächlich auf Ihab Hassans Text „ Postmoderne heute “[4] und Fredric Jamesons „ Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus “[5] stütze – die ich aber gleich am Beispiel von Wild at Heart auf den filmischen Kontext beziehe. In einem zweiten Schritt werde ich dann die Figur Sailor Ripley aus Wild at Heart vor dem Hintergrund dieser Merkmale analysieren und einige allgemeine Konstruktionsmethoden ableiten, bzw. der Frage nachgehen, wie zentral die ‚Auflösung der Person’ für die postmoderne Figurenkonstruktion wirklich ist.
2. Merkmale des postmodernen Kinos
Die Postmoderne, so Ian Chambers, ist geboren aus der Reizflut der Großstadtkultur, unserer zunehmend durch Medien geprägten Umwelt, seit etwa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts[6]. Hier wuchs ein mediensozialisiertes Publikum heran, das sich durch Fernsehen, Werbung, Zeitungen, Magazine usw. mit den Konventionen, Schemata und Ikonen der Populärkultur im Allgemeinen und des Hollywoodfilms im Besonderen vertraut machen konnte. Dies führte zu einem Bewusstwerden der Genrestereotypen, typischen narrativen Strukturen und ästhetischen Elemente im klassischen Hollywoodkino. Die großen Studios stürzten daraufhin in den 60er und 70er Jahren in eine Krise. Eine Welle von Akquisitionen durch multinationale Unternehmen veränderte die Studiolandschaft und auch die ökonomischen Strukturen und Vermarktungsstrategien. Eine ganze Reihe junger Regisseure – auch ‚movie brats’[7] genannt – profilierte sich in diesem so genannten ‚New Hollywood’ mit Filmen, in denen die konventionellen Stereotype, Handlungsmuster und Genre fortgeführt wurden, allerdings mit einer selbstreflexiven, ironischen und parodistischen Haltung.
Indem es selbstbewusst die eigenen Konventionen ausreizt und humorig mit ihnen umgeht, zeigt sich das postmoderne Kino seiner eigenen Konstruiertheit bewusst. Es ist geradezu fasziniert von seiner Künstlichkeit, die als Echo auf unser durch Reizflut geprägtes kulturelles Umfeld – als „ zitierendes Formenflimmer “[8] um Jean-François Lyotard zu bemühen – die zentrale Verbindung des Films zur Postmoderne ausmacht. Einige wichtige Merkmale, die zu eben diesem Effekt der Künstlichkeit beitragen, lassen sich grob zwei, nicht ganz sauber trennbaren Oberbegriffen zuordnen, die nachfolgend erläutert werden sollen: Hybridisierung und Karnevalisierung.
2.1. Hybridisierung
„Die verschiedenen Richtungen der Postmoderne sind von eben dieser <korrumpierten> Welt des Ramschs und des Kitschs fasziniert, von Fernsehen und von der Reader’s Digest-Kultur, von Reklame und Motels, der late show und dem B-Movie Hollywoods […]: Materialien, die sich nicht mehr nur <zitiert> finden wie etwa bei Joyce oder Mahler, sondern hineingenommen werden in die <Substanz> des Postmodernen.“[9] (Fredric James)
Nach Ihab Hassan überschreibt Hybridisierung die „ Reproduktion von Genremutationen, u.a. Parodie, Travestie und Pastiche “[10], die durch den spielerischen Umgang mit Klischees und Stereotypen, Pop und Kitsch gekennzeichnet sind; ‚hohe’ und ‚niedere’ Kultur werden dabei vermischt. Dies äußert sich u.a. in der Mischung verschiedener Genres und Mythen. Typische Figurenkonstruktionen und -konstellationen, ihre Verhaltensweisen und der Fortlauf der Handlung werden dekonstruiert und collagenartig neu zusammengesetzt. So hat Wild at Heart Elemente einer Kriminalgeschichte: es gibt ein Verbrechen, eine Verfolgung, sogar einen Detektiv. Ebenso finden wir aber auch Elemente des Märchens, es gibt eine Hexe, eine gute Fee, die beiden Kinder Sailor und Lula, die sich aufmachen, die böse Mutter, gleich mehrere böse Wölfe ... Dann wiederum ist Wild at Heart eine Geschichte über das Erwachsenwerden. Es ist ein Roadmovie, ein Melodram, ein Horror- und Splatterfilm, eine Komödie und ein Musical. Da aber nur Einzelelemente der verschiedenen Genres vorhanden, und diese meistens auch noch in ungewohnter Weise angeordnet sind, funktioniert Wild at Heart nicht nach traditionellen Genre-Konventionen. Hybridisierung ist „die ‚Entdefinierung’“ und „Deformation von kulturellen Genres“[11].
[...]
[1] Vgl. z.B. Evans Braziel, Jana: ‘In Dreams…’: Gender, Sexuality and Violence in the Cinema of David Lynch (S.107) und Hainge, Greg: Weird or Loopy? Specular Spaces, Feedback and Artifice in Lost Highway’s Aesthetic of Sensation (S.136) Beide in: Davison, Annette/Sheen, Erica (Hrsg.): The Cinema of David Lynch. American dreams, nightmare visions. London/New York 2004.
[2] Seeßlen, Georg: Die Faszination des Schreckens in WILD AT HEART von David Lynch. In: Rost, Andreas/Sandbothe, Mike (Hrsg.): Die Filmgespenster der Postmoderne. Frankfurt am Main 1998, S. 111.
[3] Vgl. Schreckenberg, Ernst: Was ist postmodernes Kino? – Versuch einer kurzen Antwort auf eine schwierige Frage. In: Rost, Andreas/Sandbothe, Mike (Hrsg.): Die Filmgespenster der Postmoderne. Frankfurt am Main 1998, S. 119.
[4] Hassan, Ihab: Postmoderne heute. In: Welsch, Wolfgang (Hrsg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim 1988. S. 47 – 56.
[5] Jameson, Fredric: Postmoderne – Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. In: Huyssen, Andreas / Scherpe, Klaus (Hrsg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek 1986, S. 45 – 102.
[6] Vgl. Chambers, Ian: Urban Rhythms: Pop Music and Popular Culture. London 1985, S. 100f.
[7] Vgl. Pye, Michael/ Myles, Linda: The Movie Brats. How the Film Generation Took Over Hollywood. London 1979.
[8] Zit.n. Schreckenberg, Was ist postmodernes Kino?, S. 119.
[9] Jameson, Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, S. 46f.
[10] Hassan, Postmoderne heute, S. 52.
[11] Ebd., Postmoderne heute, S. 52.
- Citation du texte
- Laura Heuer (Auteur), 2005, Postmoderne Figurenkonstruktion - Die Auflösung des Ichs: Sailor Ripley in David Lynchs "Wild At Heart", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82850
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