Die Fremderfahrung wirkt unterschiedlich auf die Textproduktion beider Autoren. Während Bölls Interesse und Liebe für die grüne Insel zu einem schriftstellerischen Annäherungs- und Anpassungsversuch führt, indem er sich in die Lage der Iren versetzt, reagiert Giordano darauf, indem er seiner Arbeit noch zielstrebiger nachgeht, und sich für die Konfliktpartei, mit der er sympathisiert und sich identifiziert, engagiert. Der Schriftsteller Werner Bergengruen schrieb "Wir reisen nicht nur an andere Orte, sondern vor allem reisen wir in andere Verfassungen der eigenen Seele". Wie weit man zu reisen bereit ist, hängt von dem eigenen Verhältnis zur Heimat ab. Bölls besseres Verständnis des irischen Zeichensystems ist wahrscheinlich sowohl auf sein kritische Haltung Deutschland gegenüber als auch auf die geringere emotionale Distanz des rheinländischen Katholiken zu Irland und den Iren zurückzuführen.
Inhaltsverzeichnis
I. Einführung
II. Reisen
II.i. Voraussetzungen
II.ii Reisezeit
II.iii Reisemittel
III. Sehen
III.i Giordano
III.ii Böll
IV. Lesen
IV.i Der erweiterter Lesebegriff bei Cazort Zorach
V. Schreiben
V.i Wirkung des Reisens auf das Schreiben Bölls
V.ii Wirkung des Reisens auf das Schreiben Giordanos
VI. Schlußbetrachtung
Literaturverzeichnis
I. Einführung
Irland bildet seit Jahrhunderten ein Faszinosum für deutsche Reisende und Schreibende: Deutsches Interesse an Irland läßt sich schon lange vor der ersten Touristenwelle nachweisen - bereits zu Zeiten des Sturm und Drang sah Herder in den urwüchsigen Kelten mit ihrer ungebrochenen Tradition ein Vorbild für die natürliche Dichtung. Eine zu Lebzeiten etwas breitere Rezeption erfuhr Hermann Fürst von Pückler-Muskau mit seinen Briefen eines Verstorbenen, in denen er in Briefform von seinen Reisen durch England, Irland und Frankreich berichtet. Shakespeare, der seit der ersten Übersetzung von Schlegel/Tieck eine enorme Wirkung auf deutsche Dichter hatte, fügte irische Lieder in einige seiner Stücke ein. Später übertrug auch Goethe irische und schottische Lieder aus dem Englischen ins Deutsche[1].
Das Reisen ist eines der ältesten literarischen Motive und stellt häufig eine Inspirationsquelle für Autoren dar. Die Fremdheit des bereisten Landes, seine Exotik und der Kulturkontakt zwischen dem Autoren und den Einheimischen bieten vielfältiges Material für den reisenden Schriftsteller. Die Erfahrung des Fremden ermöglicht auch eine neue Sicht auf die vertraute Heimat. Solche Reisen sind jedoch nicht ohne Strapazen für den Schriftsteller:
"Die Konfrontation mit dem Fremden stellt erhebliche Anforderungen an den Reisenden. Es fordert ihm Strategien zur lebenspraktischen Selbstbehauptung in der natürlichen Umwelt ebenso ab wie die Herausbildung von Verhaltensweisen beim Kulturkontakt, die den Umgang mit anderen Kulturen und Gesellschaften erlauben. Beides ist abhängig von der Art, in der der Reisende das Fremde wahrnimmt;" (Brenner, S. 14)
Die Wahrnehmung des Fremden (und des Eigenen), der Umgang der Kulturen miteinander und selbst die Art und Weise, wie das bereiste Land beschrieben wird, werden in großem Maße von Vortexten, so z. B. von früheren Reiseberichten, Fernsehreportagen und Reiseführern beeinflußt.
In dieser Arbeit soll untersucht werden, wie zwei Autoren mit den Anforderungen der Fremde zurecht kommen. Ebenfalls behandelt wird die Auswirkung der Fremderfahrung auf das Schreiben der beiden Irlandreisenden. Beide Probleme sollen anhand der Aktivitäten des Reisens, Sehens, Lesens und Schreibens untersucht werden.
II. Reisen
"Wer in denselben Fluß steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu" (Heraklit von Ephesos)
Zwischen der Erscheinung von Bölls Irischem Tagebuch und der von Giordanos Mein irisches Tagebuch liegen fast 40 Jahre, doch schon 13 Jahre nach der Erstausgabe schreibt Böll in seinem Nachwort, in Irland seien "eineinhalb Jahrhunderte übersprungen und fünf weitere eingeholt worden” (Böll, S. 125). Auch Giordano stellt fest, kein Land Europas habe sich in den letzten 25 Jahre so sehr verändert wie Irland. Bedingt durch die verflossene Zeit könnte man behaupten, daß die zwei Autoren, die allein schon von der Mentalität her einen unterschiedlichen Ausgangspunkt haben, nicht einmal dasselbe Land besuchen.
II.i. Voraussetzungen
Der Münchner Kabarettist Karl Valentin schrieb "Fremd ist der Fremde nur in der Fremde”. In diesem Wortspiel steckt eine philosophische Aussage, die die Relativität des Begriffs "fremd" (vgl. Brenner, S. 16) verdeutlicht. Die Fremdheit eines Landes und die damit verbundenen Probleme mit denen ein Autor konfrontiert wird, hängen natürlich von dem Ausgangspunkt des Autors ab:
" [...] die Form, in der er mit dem Fremden aufgrund seiner mitgebrachten Voraussetzungen umgeht, (bestimmt) die Möglichkeiten und Grenzen seiner Fremderfahrung; und schließlich wirkt beides wiederum auf sein Selbstverständnis und das Verständnis des Vertrauten zurück" (Brenner, S. 14f)
Die Voraussetzungen der Autoren, ihre Irlandbilder und ihre Biographien wirken auf ihre Wahrnehmung und schlagen sich auch in ihren Werken nieder. Dieses Phänomen wird im Folgenden näher erläutert.
Giordano, Jude und Pogrom-Überlebender aus Hamburg, besucht Irland zum sechsten Mal. Der 72-jährige hat in den 25 Jahren vor Erscheinen seines Reiseberichts mehrmals als Fernsehjournalist in Irland an Dreharbeiten teilgenommen, ohne jedoch die Gelegenheit zu haben, das Land auf eigene Faust zu erkunden. Das möchte er jetzt nachholen und gleichzeitig die Reise als Vorbereitung für ein Buch nutzen. Der Autor ist Irlandkenner und -liebhaber, verleiht allerdings mehrmals im Text dem Gefühl Ausdruck, Außenr zu sein. Schon sein erster Kneipenbesuch ist für ihn als bekennenden Abstinenzler eine Überwindung - er fühlt, daß er hier nicht hingehört. Auch beim Gottesdienst versucht er möglichst nicht aufzufallen und fühlt sich unwohl (in doppelter Hinsicht während des gälischen Gottesdiensts zum Tag des Heiligen Patricks). Er ist sich dessen bewußt, nennt sich mehrmals Eindringling (vgl. z.B. Giordano S. 205, S. 385). Seine Religion (obwohl er nicht gläubig ist) empfindet er im äußerst katholischen Irland als problematisch, ebenso sein Alter, in einem Land in dem zwei Drittel der Bevölkerung unter 25 Jahre alt sind (vgl. z.B. Giordano S. 207). Schließlich hindert ihn seine journalistische und professionelle Haltung, den Subjekten seiner Beobachtung näher zu kommen. Er verdeutlicht seinen Gesprächspartnern stets bereits zu Beginn einer Unterhaltung, daß er nach Irland gekommen ist, um ein Buch darüber zu schreiben, was, vor allem in Verbindung mit seinem ständig mitgeführten Diktiergerät, Mißtrauen oder Distanz bei seinem jeweiligen Gegenüber ausgelöst haben könnte.
Am wohlsten fühlt er sich in der Isolation der Ferienhäuser seiner Freunde, im Haus am Kliff in Cork und im Haus am Mallard Point in der Grafschaft Cavan, wo er anscheinend das natürliche, idyllische Idealirland seiner Vorstellungen findet. Er schreibt, daß er, je älter er wird, sich immer stärker zu sogenannten "Provinznestern" (Giordano S. 386) hingezogen fühlt. In diesen Provinznestern knüpft er auch seine engsten Kontakte zu den Einheimischen: Maureen Griffin, Johnny B. und Paul und Susan L.
Bölls Irisches Tagebuch ist während mehrerer Irlandaufenthalte zwischen 1954 und 1957 entstanden. Die einzelnen Kapitel wurden vorab getrennt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gedruckt[2]. Der bei seinem ersten Irlandbesuch 37-Jährige Katholik bereist Irland zunächst allein, später in Begleitung seiner Frau und Kinder und fühlt sich trotz anfänglicher Sprachprobleme scheinbar wohler hier als in seiner schwierigen Heimat Deutschland, welche laut Reich-Ranicki das eigentliche Thema des Buches ansieht (er bezeichnet Bölls Werk als "verstecktes Deutschlandbuch" (Reich-Ranicki S 135). Die "klassenlose Gesellschaft" (Böll S. 62) stellt er als starken Gegensatz zu dem zunehmend konsumorientierten Deutschland des Wirtschaftswunderjahrzehnts dar. In einem Interview (Zeit Magazin, 3.1.1978, 10) sagt Böll, die Reise sei für ihn eine Art Flucht aus Nachkriegsdeutschland gewesen, wo er aufgrund seiner antiautoritären Äußerungen zunehmend unter Druck gekommen war. Diese Reise ist für ihn wie eine Suche nach einem bewohnbaren oder sogar idealen Land. In Irland wird er fündig: Bölls Katholizismus und Mittellosigkeit erleichtern ihm den Zugang zu den Einheimischen. Not macht nicht nur erfinderisch, sondern auch Freunde, vor allem im Irland der 50er Jahre, wo jeder jedem hilft, weil die meisten wissen, wie es ist, in Not zu geraten. Obwohl er sich kritisch gegen die Trunksucht der Iren als Flucht vor der Realität äußert[3], scheint er kein Problem damit zu haben, mit den Einheimischen an der Theke um die Wette zu trinken (vgl. Böll S. 42ff) - auch dies erleichtert seine Integration.
[...]
[1] In dieser Zeit waren für die Deutschen die Grenzen zwischen den Kelten Britanniens verschwommen – vgl. z.B. Herders schottischer Ossian, eine Legende die ursprünglich aus Irland stammt, oder "die irrtümlich als "Schottenklöster" bezeichneten Sakralbauten in Regensburg, Wien und Kiew – die Bauherren sind irische Christen." (vgl. Giordano, S. 33f)
[2] Zu den einzelnen Erscheinungsdaten siehe Cazort Zorach, S. 130 Fußnote 2
[3] Stichwort Einzelsäuferkoje – Bölls Übersetzung für "snug", (Englisch = gemütlich)
- Citation du texte
- Brendan Bleheen (Auteur), 2003, Über Bölls "Irisches Tagebuch" und Giordanos "Mein irisches Tagebuch", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82805
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