Über kaum eine andere Stadt wurde so viel geschrieben wie über Venedig, vor allem im 18. und 19. Jahrhundert. Diese Beschreibungen prägen das Bild Venedigs in der Literatur und vor allem in der Werbung. Wie der französische Schriftsteller und Kulturtheoretiker Michel Butor feststellt, hinterließen die Venedig-„Reisenden (…) ihre Spuren in den Städten ihrer Pilgerfahrten“ (Butor, S. 43). Vor allem die englischen, deutschen und französischen Romantiker haben Venedig ihr eigen gemacht. So ist das Venedigbild heute noch stark von deren größtenteils idealisierenden Werken geprägt, obwohl der Zenit Venedigs selbst damals schon längst der Vergangenheit angehörte. Die Internationalität dieses Phänomens führt Sarter dazu, von einem Mythos im Sinne Barthes’ zu sprechen, der einer Wechselwirkung unterliegt:
„Die Berühmtheiten, die sich in Venedig aufgehalten haben, sind längst zum festen Bestandteil des Mythos geworden, wie sie andererseits an ihm mitgewirkt, ihn variiert und entwickelt haben. In ihnen scheint sich Venedig als Stadt der Kunst und der Künstler zu verkörpern; sie und ihre Werke laden die Stadt mit Bedeutungen auf, von denen wiederum zeitgenössische Künstler profitieren (…)“(Sarter, S. 15).
Für die Schriftsteller der Moderne und Postmoderne ist es also nahezu unmöglich, sich zu Venedig zu äußern, ohne zu ihren literarischen Vorgängern Position zu beziehen, wie von Pfister/Schaff festgestellt wird: “Writing Venice (…) means relating oneself to the rich intertextual background of Venetian fiction – shaping and interpreting culture” (Pfister/Schaff, S. 11). Selbst Shakespeare und andere Schriftsteller, die nie in Venedig waren, siedelten ihre Werke in der Lagunenstadt an. Die Stadt ist allen vertraut: „So sind auch Bilder Venedigs und ein Begriff der Stadt in der Vorstellung von Leuten, die dort noch nie waren, gleichzeitig präformieren und strukturieren sie das Reiseerlebnis von jenen, die die Stadt besuchen.“ (Sarter, S. 6). Angesichts dieser Fülle an Information fragt sich Sartre: “Nehme ich überhaupt wahr oder erinnere ich mich nur. Ich sehe, was ich weiß, oder besser gesagt, was schon ein anderer weiß“ (Sartre, S. 363). Die literarische Repräsentation Venedigs in der Moderne ist nicht unproblematisch. Schon Goethe beschrieb die Schwierigkeit, originelle Bilder für Venedig zu finden: „Von Venedig ist schon viel erzählt und gedruckt, dass ich mit Beschreibung nicht umständlich sein will“ (zit. nach Comi/Pontzen, S. 259).
Warum also heute noch über Venedig schreiben? Im zwanzigsten Jahrhundert dient die Stadt hauptsächlich als Kulisse für Unterhaltungs- bzw. Trivialromane. Dennoch hielten es Mann, Andersch und Koeppen noch für möglich, das Venedigbild zu verändern, in dem sie versuchen, der intertextuellen Landschaft neue Einsichten und Elemente hinzuzufügen. Genauso berechtigt wäre die Frage danach, warum man sich angesichts der beinahe unüberschaubaren Fülle an Sekundärliteratur zu Venedig-Texten heute noch mit diesem Themenbereich auseinandersetzt, vor allem nachdem er in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts fast zu einer Modeerscheinung geworden ist. Diese Arbeit, in der die Brüche mit und Fortschreibung dieser literarischen Tradition in den Werken dieser Autoren aufgezeigt werden sollen, will ebenfalls neue Einsichten zum Venedigbild in der Literatur bieten. Behandelt werden Manns Tod in Venedig, Anderschs Die Rote, sowie Koeppens Ich bin gern in Venedig warum.
Inhalt
1. Einführung
2. Das Venedigbild in der Literatur
3. Thomas Manns Tod in Venedig
3.1 Aschenbach als Tourist
3.2 Venedig und der südländische Lebensstil
3.3 Tadzio und Venedig
4. Alfred Anderschs Die Rote
4.1 Franziskas antitouristische Haltung
4.2 Das andere Venedig
4.3 Rollentausch
5. Wolfgang Koeppen: Ich bin gern in Venedig warum
5.1 Gelesenes Venedig
5.2 Das sich verändernde Venedig
5.3 Reflexionen in der Spiegelstadt
6. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
1. Einführung
Über kaum eine andere Stadt wurde so viel geschrieben wie über Venedig, vor allem im 18. und 19. Jahrhundert. Diese Beschreibungen prägen das Bild Venedigs in der Literatur und vor allem in der Werbung. Wie der französische Schriftsteller und Kulturtheoretiker Michel Butor feststellt, hinterließen die Venedig-„Reisenden (…) ihre Spuren in den Städten ihrer Pilgerfahrten“ (Butor, S. 43). Vor allem die englischen, deutschen und französischen Romantiker haben Venedig ihr eigen gemacht. So ist das Venedigbild heute noch stark von deren größtenteils idealisierenden Werken geprägt, obwohl der Zenit Venedigs selbst damals schon längst der Vergangenheit angehörte. Die Internationalität dieses Phänomens führt Sarter dazu, von einem Mythos im Sinne Barthes’ zu sprechen, der einer Wechselwirkung unterliegt:
„Die Berühmtheiten, die sich in Venedig aufgehalten haben, sind längst zum festen Bestandteil des Mythos geworden, wie sie andererseits an ihm mitgewirkt, ihn variiert und entwickelt haben. In ihnen scheint sich Venedig als Stadt der Kunst und der Künstler zu verkörpern; sie und ihre Werke laden die Stadt mit Bedeutungen auf, von denen wiederum zeitgenössische Künstler profitieren (…)“(Sarter, S. 15).
Für die Schriftsteller der Moderne und Postmoderne ist es also nahezu unmöglich, sich zu Venedig zu äußern, ohne zu ihren literarischen Vorgängern Position zu beziehen, wie von Pfister/Schaff festgestellt wird: “Writing Venice (…) means relating oneself to the rich intertextual background of Venetian fiction – shaping and interpreting culture” (Pfister/Schaff, S. 11). Selbst Shakespeare und andere Schriftsteller, die nie in Venedig waren, siedelten ihre Werke in der Lagunenstadt an. Die Stadt ist allen vertraut: „So sind auch Bilder Venedigs und ein Begriff der Stadt in der Vorstellung von Leuten, die dort noch nie waren, gleichzeitig präformieren und strukturieren sie das Reiseerlebnis von jenen, die die Stadt besuchen.“ (Sarter, S. 6). Angesichts dieser Fülle an Information fragt sich Sartre: “Nehme ich überhaupt wahr oder erinnere ich mich nur. Ich sehe, was ich weiß, oder besser gesagt, was schon ein anderer weiß“ (Sartre, S. 363). Die literarische Repräsentation Venedigs in der Moderne ist nicht unproblematisch. Schon Goethe beschrieb die Schwierigkeit, originelle Bilder für Venedig zu finden: „Von Venedig ist schon viel erzählt und gedruckt, dass ich mit Beschreibung nicht umständlich sein will“ (zit. nach Comi/Pontzen, S. 259).
Warum also heute noch über Venedig schreiben? Im zwanzigsten Jahrhundert dient die Stadt hauptsächlich als Kulisse für Unterhaltungs- bzw. Trivialromane. Dennoch hielten es Mann, Andersch und Koeppen noch für möglich, das Venedigbild zu verändern, in dem sie versuchen, der intertextuellen Landschaft neue Einsichten und Elemente hinzuzufügen. Genauso berechtigt wäre die Frage danach, warum man sich angesichts der beinahe unüberschaubaren Fülle an Sekundärliteratur zu Venedig-Texten heute noch mit diesem Themenbereich auseinandersetzt, vor allem nachdem er in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts fast zu einer Modeerscheinung geworden ist. Diese Arbeit, in der die Brüche mit und Fortschreibung dieser literarischen Tradition in den Werken dieser Autoren aufgezeigt werden sollen, will ebenfalls neue Einsichten zum Venedigbild in der Literatur bieten. Behandelt werden Manns Tod in Venedig, Anderschs Die Rote, sowie Koeppens Ich bin gern in Venedig warum. Diese Werke bieten Venedigbilder vom Anfang, von der Mitte und vom Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, während das Spektrum von der fast ‚zu Tode interpretierten’ Mannschen Novelle bis hin zu Koeppens (meines Wissens) noch überhaupt nicht eingehend untersuchtem Text reicht.
2. Das Venedigbild in der Literatur
Bevor die zu untersuchenden Texte behandelt werden, erscheint es sinnvoll, einige der häufiger aufzufindenden Motive der vormodernen Venedigliteratur aufzuzählen.[1] Diese Aspekte basieren größtenteils auf geographischen oder topographischen Gegebenheiten der Stadt, oder auch auf historischen Ereignissen beziehungsweise Personen, die der Stadt einen gewissen Ruf verliehen haben. Die Beschaffenheit und Geschichte der Stadt lassen scheinbar endlose Deutungsmöglichkeiten zu, die alle zum Mythos Venedig beitragen, der, wie von Sarter festgestellt, vor allem literarisch geschaffen wurde (vgl. Sarter, S. 5): „Dieser Mythos bringt Stereotypen hervor, die Venedig als Stadt der Liebe und des Todes, als angemessenen Ort für Künste und Künstler, als Märchen- und Traumstadt, als Stätte des Unheimlichen schildern“ (Sarter, ebda.). Mahler (in Pfister/Schaff) verweist auf die Affinität der Stadt Venedig selbst zur Fiktion[2], auf Grund dessen die „buchhafte Stadt“ (Butor (1992), S. 11) geradezu zur literarischen Repräsentation prädestiniert ist (vgl. Pfister/Schaff, S. 4).
Vor allem die Insellage der Stadt führt zu ihrer Deutung als Zufluchtsort – abgeschnitten vom Festland stellt sie ein Refugium vom Alltag und von den Problemen der modernen Welt dar. Dazu trägt auch die durch die Topographie der Stadt bedingte Gleichsetzung mit dem antiken Labyrinth bei. Die Tatsache, dass die Trennung der Arbeits- und Wohnfunktionen der Stadt nicht sichtbar ist, und dass auf der Insel selbst keine Industrie angesiedelt ist, verstärkt dieses gerade in der Moderne idyllische Bild. Gleichzeitig wird die Stadt durch die durch den historischen Reichtum der Stadtrepublik ermöglichte Häufung der bildenden Kunst und der Baukunst zum obligatorischen Ziel für Künstler und Intellektuelle. Der gesamte Archipel wird häufig als Gesamtkunstwerk beschrieben. Damit wird die an der Museumsstadt interessierte Zielgruppe eingeschränkt. Sarter verweist auf Bourdieus soziologische Abhandlung La distinction, in der Museen zu Tempeln der Bildungsbürger erklärt werden, da diese sich dadurch von anderen Schichten abheben, dass sie ihre Liebe zur Kunst als kulturelles Erbe erhalten, weshalb ein Museumsbesuch einem Klassenritual gleicht, welches ihnen ein Zugehörigkeitsgefühl vermittelt (vgl. Sarter, S. 8).
Noch mehr als die schöne Kunst prägt das Wasser – laut Sartre die „Hauptattraktion“ Venedigs (Sartre, S. 364) – das Stadtbild Venedigs. Aus dieser Affinität zum Urelement des Wassers schöpften die Schriftsteller vielfältige Inspirationen. Die Schwellenlage der Stadt zwischen Kultur und Natur sowie zwischen dem Morgenland und dem Abendland ermöglicht eine breite Palette an Assoziationen. Diese Nähe zum Wasser hat etwas Mythisches und wird verschiedentlich sowohl als Versinken als auch als Emporsteigen gedeutet. Die sinkende Stadt dient häufig als Analogie für die menschliche Sterblichkeit, den Verfall oder den Zahn der Zeit, während das anadyomenische oder flutentsteigende Venedig von den Autoren als Parallele zur Geburt gedeutet wird bzw. als mit dem Göttlichen verbunden. Diese Verbindung erinnert an das Bild der Geburt der Göttin Venus aus dem Wasser.
Die Parallelen zur Göttin der Liebe enden nicht mit der Gleichung der aquatischen Geburt. Venedig gilt spätestens seit Casanova als Stadt der Liebe. Trotz ihrer heutigen Beliebtheit als Ziel für Hochzeitsreisen, wird die Stadt in der Literatur besonders häufig mit der unmoralischen, verbotenen oder lasterhaften Liebe, mit exzessiver, hemmungsloser Lust und mit dem sexuell Unbestimmten in Verbindung gebracht. So verliebte sich Goethe in die androgyne Gauklerin Bettine (vgl. Dieterle, S. 341), während homosexuelle Dichter wie von Platen oder Wilde von der Stadt und insbesondere vom Bildnis des Heiligen Sebastian angezogen waren (vgl. ebd. S. 346). Die Verbindung der amoralischen Liebe mit dem dualistischen, ambivalenten Wesen der Stadt, das im Folgenden näher zu erläutern sein wird, verleiht ihr etwas Zwitterhaftes. Das Platonische Ideal der Schönheit war der Hermaphrodit (vgl. Dieterle, S. 342), der gleichzeitig männliche und weibliche Züge hat, was sich auf die formale Perfektion der Stadt und ihre sexuelle Unbestimmbarkeit übertragen lässt. Diese Unbestimmbarkeit wird in der Analogie der Stadt des Karnevals fortgeführt, womit Assoziationen der Täuschung und Illusion verknüpft werden.
Im zwanzigsten Jahrhundert kommt der Stadt noch eine existentialistische Bedeutung zu. Venedig wird zum Mikrokosmos der conditio humana: „Diese schwimmende Insel ist die ganze Erde, rund und mit Menschen überladen; sie treibt davon und ich bleibe am Ufer zurück“ (Sartre, S. 361). Dieses Zitat nimmt die in Venedig gemachten existentiellen Erfahrungen der Protagonisten der zu behandelnden Werke vorweg, wie auch ihr existentielles Ausgeschlossensein als beobachtende Erzähler in der Fremde.
3. Thomas Manns Tod in Venedig
Mit seinem Protagonisten Gustav von Aschenbach scheint Mann das Horazsche Postulat: „Der Reisende wechselt nur den Himmel über sich, nicht seine Seele“[3] widerlegen zu wollen. Dass dieser seelische Wandel sich in und um Venedig vollzieht, ist kein Zufall. Während man berechtigterweise argumentieren könnte, dass der Schauplatz der wichtigsten Ereignisse der Novelle der Lido ist, der nicht unmittelbar zu Venedig gehört, sowie dass die meisten Akteure der Novelle keine Venezianer sind, lässt sich nicht leugnen, dass Venedig als Konzept von zentraler Bedeutung für die Auslegung des Texts ist. Darauf deutet schon seine namentliche Erwähnung im Titel hin. Mann wird kaum diese „(…) herrliche Stadt! Eine Stadt von unwiderstehlicher Anziehungskraft für den Gebildeten, ihrer Geschichte sowohl wie ihrer gegenwärtigen Reize wegen“ (TiV, S. 22) als Kulisse für das Geschehen und als namensgebenden Schauplatz gewählt haben, ohne diese Gründe berücksichtigt zu haben. Gerade die Nähe des mondänen Badeorts Lido zu San Marco[4], einer der wichtigsten Kulturstätten der Welt, ermöglicht es dem Autor den oft hervorgehobenen Kontrast zwischen dem Apollinischen und Dionysischen topographisch zu widerspiegeln.
3.1 Aschenbach als Tourist
Während in der klassischen Venedig-Literatur die Stadt vornehmlich als Ziel der Intellektuellen dargestellt wird, stellt Mann in einem Bruch mit dieser literarischen Tradition Venedig als gewöhnlichen Urlaubsort für den Massentourismus dar. Als Schriftsteller passt Aschenbach ins klassische Muster des Venedig-Reisenden, allerdings machen ihn seine Aktivitäten in den Wochen vor seinem Tod zu einem gewöhnlichen Touristen. In seiner Theorie des Tourismus definiert Enzensberger den Tourismus als die „Flucht vor der selbstgeschaffenen Realität“ (S. 156) und als „Flucht aus der Wirklichkeit“ (S. 162). Venedig eignet sich hervorragend für eine solche Flucht, da sich die Lagunenstadt der Realität entzieht. Aschenbach sieht dies als den eigentlichen Grund für seine Urlaubreise, der ihn über einen Umweg schließlich an den „Ort seiner Bestimmung“ (TiV, S. 21) führt: „Fluchtdrang war sie, daß er es sich eingestand, diese Sehnsucht ins Ferne und Neue, diese Begierde nach Befreiung, Entbürdung und Vergessen, der Drang hinweg vom Werke, von der Alltagsstätte eines starren, kalten und leidenschaftlichen Dienstes“ (TiV, S. 11). Hier wird als die bewusste Motivation seiner Reise der klassische literarische Topos der Sehnsucht[5] nach der Fremde und insbesondere die Italiensehnsucht angegeben, wobei wir im Verlaufe der Novelle erfahren, dass die weniger bewusste Motivation eines „späte(n) Abenteuer des Gefühls“ (TiV, S. 24) stärker wirkt. Sein Ziel wird als Ort des sorglosen Lebens, fernab vom Alltag präsentiert. Aschenbach beschreibt seinen idealen Urlaubsort als „das Fremdartige und Bezugslose, welches jedoch rasch zu erreichen wäre (…)“ (TiV, S. 20) und „nicht gar weit, nicht gerade bis zu den Tigern. Eine Nacht im Schlafwagen und eine Siesta von 3, 4 Wochen an irgendeinem Allerweltsferienplatze im liebenswürdigem Süden…“ (TiV, S. 12). Nach seiner Enttäuschung auf Brioni fragt er sich: „Wenn man über Nacht das Unvergleichliche, das märchenhaft Abweichende zu erreichen wünschte, wohin ging man?“ (TiV, S. 21). Aschenbachs Überlegungen zu seinem Traumziel erinnern an Enzensbergers Anforderungen an das ideale touristische Ziel, was den Eindruck von Aschenbach als Tourist verstärkt: „Das Ziel soll zugleich zugänglich und unzugänglich, zivilisationsfern und komfortabel sein“ (Enzensberger, S. 156). Diese Merkmale sind wie auf Venedig gemünzt, wovon Aschenbachs innerer Zug in die Serenissima zeugt. Die Zugänglichkeit der norditalienischen Hafenstadt, ehemaliger Drehpunkt zwischen Okzident und Orient, liegt für einen in Süddeutschland wohnenden auf der Hand.
Obgleich nah ist Venedig als Insel gleichzeitig unzugänglich, von der restlichen Welt abgeschnitten. Die Stadt kann nur nach einer Fahrt über Wasser erreicht werden, sei es über die Eisenbahnbrücke oder mit einem Boot. Dieterle weist auf das urtümliche und „ursprünglich mythische“ dieser durch Aschenbachs Umweg über Brioni erzwungene bzw. ermöglichte Modalität des Reisens (vgl. Dieterle, S. 319), was jeden Venedig-Besuch zu einer existentiellen Erfahrung macht. Schiffe dienen häufig in der Literatur als Chiffre für die conditio humana. Wie in Conrads ungefähr 10 Jahren vor Der Tod in Venedig veröffentlichter Novelle Heart of Darkness hat hier die Bootsreise einen existentiellen Erfahrungswert. Darauf weisen die Verweise auf Platons Höhlengleichnis in der Beschreibung der Dampferfahrt hin. So ist zum Beispiel die Koje, in der Aschenbach bezahlen muss „höhlenartig, künstlich erleuchtet“ (TiV, S. 21). Im Liegestuhl träumt er von „schattenhaft sonderbare(n) Gestalten“ (TiV, S. 24). Zum Essen wird er zurück in den geschlossenen Raum des „Korridor-artigen Speisesaal(s)“ „hinabgenötigt“ (TiV, ebda), während er sofort nach der ärmlichen Kollation wieder auf Deck geht, da es ihn „ins Freie“ treibt, „nach dem Himmel zu sehen“ (TiV, ebda). Dieser existentielle Aspekt der Reisebeschreibung distanziert Manns Novelle von den Werken der klassischen Venedig-Besucher und kennzeichnet ihn als modern.
Der vom Zerfall gezeichnete Dampfer[6] erinnert an Venedig selbst[7], während die Ereignisse an Bord, ähnlich dem Spaziergang, der ihn über einen Umweg unbewusst zum nördlichen Friedhof mit seiner venezianisch-anmutenden byzantinischen Aussegnungshalle[8] führt, auch eine Vorahnung der Geschehnisse seines Lido Aufenthalts darstellen. So ruhte Aschenbach im Liegestuhl “(i)n seinen Mantel geschlossen, ein Buch im Schoße, (…) und die Stunden verrannen ihm unversehens“ (TiV, S. 23f). Hier wird die Passivität dem greifbar nahen Sinnbild der Kultur in Form des Buches vorgezogen, wie bei der Wahl des Lido anstatt San Marco als Aufenthaltsort, während in der klassischen Venedig-Literatur der Lido kaum Erwähnung findet. Aschenbach scheint ebenfalls jetzt schon die Kontrolle über seinen eigenen Willen verloren zu haben, da er viel länger als beabsichtigt schläft – der Wandel seines Lebensstils hat also schon auf der Hinreise begonnen. Die von Conrads Protagonist Marlow erwähnte Muße des Passagiers[9], wird bei Aschenbach ins Hemmungslose gesteigert: der Schriftsteller „dämmer(t) im Unangemessenen“ (TiV, S. 24).
Der von Aschenbach mit Abscheu und Entsetzen beobachtete „greise Geck“ dient als Messlatte des Protagonisten Verfall, denn in ihm sieht der Schriftsteller ein Spiegelbild dessen, was er in wenigen Wochen werden wird. Der geschminkte, übermodisch gekleidete und berauschte Greis hypostasiert ebenfalls Venedig bzw. den mit ihm assoziierten Lebensstil. Seine Physiognomie ähnelt der Beschaffenheit Venedigs. Sein geschminktes Gesicht und seine bunten Klamotten bieten Parallelen mit Venedig als Stadt der Masken und Täuschungen, sowie mit seinem Kampf gegen den Zerfall, während seine Volltrunkenheit Aschenbachs venezianischen Rausch und die Verlust der Kontrolle über seinen eigenen Willen vorwegnimmt. Die Welt scheint eine fremde, zivilisationsferne Form anzunehmen: “Ihm war, als lasse nicht alles sich ganz gewöhnlich an, als beginne eine träumerische Entfremdung, eine Entstellung der Welt ins Sonderbare um sich zu greifen (…)“ (TiV, S. 23). Nach seiner Episode mit dem als jungen Mann verkleideten Alten spürt Aschenbach „ein Gefühl der Benommenheit, als zeige die Welt eine leichte, doch nicht zu hemmende Neigung, sich ins Sonderbare und Fratzenhafte zu entstellen.“ (TiV, S. 25). Diese Zivilisationsferne fällt ihm später bei der Ausbreitung der Seuche auf, die „eine gewisse Entsittlichung der unteren Schichten (hervorbringt), eine Ermutigung lichtscheuer und antisozialer Triebe, die sich in Unmäßigkeit, Schamlosigkeit und wachsende(r) Kriminalität“ (TiV, S. 76) bekunden. Diese Entsittlichung ist wiederum eine Analogie für Aschenbachs eigenen sittlichen Verfall.
[...]
[1] Hierbei wird darauf verzichtet, näher auf einzelne Autoren oder Werke einzugehen, die zur Verbreitung dieser zu Stereotypen gewordenen Bilder beigetragen haben, da dies den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Die von Jochen Reichel herausgegebene Anthologie Der Tod von Venedig (Henssel Berlin, 1991) bietet eine brauchbare, wenngleich dürftig interpretierte Sammlung der wichtigsten Venedig-relevanten Passagen bedeutender Autoren. Für detailliertere Ausführungen zu literarischen Venedigbildern seit dem 17. Jahrhundert sei auf die Monographien von Sarter, Dieterle für den deutschen Sprachraum, Martinet für den französischen (aber auch englischen und deutschen) und Pfister/Schaff für den englischen verwiesen.
[2] Hierbei wird Fiktion als die Überschreitung der Grenze zwischen der wirklichen und der imaginären Welt (vgl. Pfister/Schaff, S. 4) definiert.
[3] Horaz, Epistoles I, 11, 27 „Coelum, non animum mutant, qui trans mare currunt“.
[4] So verspürt Aschenbach nach seiner Ankunft im Bäder Hotel „Freude, Venedig in so leicht erreichbarer Nähe“ (TiV, S. 31) zu wissen.
[5] Wobei der Erzähler später auf Aschenbachs Tadzio-Faszination konstatiert, dass die „Sehnsucht (…)ein Erzeugnis mangelhafter Erkenntnis“ ist (TiV, S. 59). Dass Tadzio und Venedig häufig analog beschrieben werden, wird im Folgenden zu zeigen sein.
[6] „Es war ein betagtes Fahrzeug italienischer Nationalität, veraltet, rußig und düster.“ (TiV, S. 21).
[7] Dies deutet, wie das oben angeführte Sartre-Zitat, auf die Rolle Venedigs als Mikrokosmos, womit Mann sich in die neuere literarische Tradition einreiht.
[8] Vgl. “die gedrungene Pracht des morgenländischen Tempels (San Marco)”, (TiV, S. 63).
[9] Conrad, Heart of Darkness, (Edited by Robert Kimbrough, 3rd Edition) W.W. Norton & Company, New York. 1988, S. 17.
- Citar trabajo
- Brendan Bleheen (Autor), 2004, Wir sind gern in Venedig, warum?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82799
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