In der vorliegenden Arbeit werden die beiden Romane Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust und Momo von Michael Ende, hinsichtlich der in ihnen enthaltenen narrativen Zeitstrukturen untersucht. Da Zeit nicht nur inhaltlich wichtig ist, sondern auch auf formaler Ebene eine große Rolle spielt, teilen sich die folgenden Analysen in jeweils zwei Teile auf. Im ersten Teil wird die Zeit der Erzählungen auf formaler Ebene untersucht. Im darauffolgenden Teil wird die Zeitmotivik der Erzählungen auf der inhaltlichen Ebene untersucht. Der Umgang mit dem Motiv ‚Zeit’ zeigt sich in vielfältiger Form. Innerhalb dieser Arbeit ist jedoch nur eine Berücksichtigung spezieller und wichtiger Aspekte möglich. Anhand der hier vorgestellten und analysierten Romane und der in ihnen enthaltenen Zeitstrukturen soll überprüft werden, ob und inwieweit der Verlust von Zeit auf unterschiedlichen Ebenen beschrieben und auf welche Weise er dargestellt wird.
Die Zeit zeigt sich für den Menschen als eine grundsätzliche Bedingung für Wirklichkeits- und Selbstwahrnehmung. Folgt man Immanuel Kant (1724-1804), so stellt sich Zeit als reine Form der sinnlichen Anschauung dar: „Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbsten nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann. Die Zeit ist also a priori gegeben. In ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich.“
In Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit geht es um das ‚eigentliche’ Wesen der Dinge, der Gewohnheiten und der alltäglichen Ereignisse, die hinter ihnen verborgene Wahrheit der Welt, die dem Erzähler den Weg in seine Erinnerung eröffnet. Durch das Wiederbeleben der Vergangenheit wird der naturwissenschaftliche Zeitbegriff grundlegend in Frage gestellt und diesem eine ‚innere Zeitlichkeit’ entgegengesetzt.
In Michael Endes Momo wird eine besondere Darstellung der Zeit auf inhaltlicher Ebene gezeigt: „"Momo" offenbart auf naive, meditative, lyrische Weise Wahrheiten, die uns alle angehen: die Tragödie unseres neurotischen Seinsverlustes im Zusammenhang mit der entsetzlichen Tatsache, dass wir ‚keine Zeit mehr haben’.“
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
1. Hintergrund zu Leben und Werk
2. Inhalt
2.1 Stil und Entwicklung der Recherche
2.2 Handlung
3. Narrative Zeitstrukturen
3.1 Formale Ebene
3.1.1 Ordnung
3.1.2 Dauer
3.1.3 Frequenz
3.2 Inhaltliche Ebene
3.2.1 Die Erinnerung
3.2.2 Die wiedergefundene Zeit
III. Michael Endes Momo – oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte
1. Hintergrund zu Leben und Werk
2. Inhalt
2.1 Endes poetisches Konzept
2.2 Handlung
2.3 Exkurs: Ist Momo ein Märchen?
3. Narrative Zeitstrukturen
3.1 Formale Ebene
3.1.1 Ordnung
3.1.2 Dauer
3.1.3 Frequenz
3.2 Inhaltliche Ebene
3.2.1 Herzenszeit
IV. Zusammenfassende Beurteilung der analysierten Werke
V. Literaturverzeichnis
VI. Anhang
1. Die Zeitstruktur der Recherche (in Makrostruktur, nach Genette)
2. Die Zeiträume (der Erinnerung) in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
3. Die Zeiträume in Endes Momo
4. Brüder Grimm Die Lebenszeit
I. Einleitung
In der vorliegenden Arbeit werden die beiden Romane Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust und Momo von Michael Ende, hinsichtlich der in ihnen enthaltenen narrativen Zeitstrukturen untersucht. Die in diesem Zusammenhang vorherrschenden Strukturmittel werden dabei näher betrachtet. Da Zeit nicht nur inhaltlich wichtig ist, sondern auch auf formaler Ebene eine große Rolle spielt, teilen sich die folgenden Analysen dementsprechend in jeweils zwei Teile auf. Im ersten Teil wird die Zeit der Erzählungen auf formaler Ebene untersucht, wobei die Unterscheidung nach Gérard Genette in die drei Kategorien: Ordnung, Dauer und Frequenz vorgenommen wird. Im darauffolgenden Teil wird die Zeitmotivik der Erzählungen auf der inhaltlichen Ebene untersucht. Der Umgang mit dem Motiv ‚Zeit’ zeigt sich in vielfältiger Form. Innerhalb dieser Arbeit ist jedoch nur eine Berücksichtigung spezieller und wichtiger Aspekte möglich. Anhand der hier vorgestellten und analysierten Romane und der in ihnen enthaltenen Zeitstrukturen soll überprüft werden, ob und inwieweit der Verlust von Zeit auf unterschiedlichen Ebenen beschrieben und auf welche Weise er dargestellt wird.
Wenn man über Zeit nachdenkt, ergeben sich für diese verschiedene Anschauungsformen: die Naturzeit, die Lebenszeit, die innere Zeit, die soziale Zeit und die geschichtliche Zeit.[1] In der Form des literarischen Erzählens treten jedoch nicht alle Formen der Zeit auf, da die Zeit in einer Erzählung in den meisten Fällen als ‚erlebte Zeit’ veranschaulicht wird. Die Zeit zeigt sich für den Menschen als eine grundsätzliche Bedingung für Wirklichkeits- und Selbstwahrnehmung. Folgt man Immanuel Kant (1724-1804), so stellt sich Zeit als reine Form der sinnlichen Anschauung dar: „Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbsten nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann. Die Zeit ist also a priori gegeben. In ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich.“[2] Zudem weist Zeit den Menschen auf seine eigene Endlichkeit hin, da sie ihn, in der Aufeinanderfolge von Ereignissen, im Erleben der Folge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, auf die Tatsache ihrer eigenen Unumkehrbarkeit hinweist.
In Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit geht es um das ‚eigentliche’ Wesen der Dinge, der Gewohnheiten und der alltäglichen Ereignisse, die hinter ihnen verborgene Wahrheit der Welt, die dem Erzähler den Weg in seine Erinnerung eröffnet. Die Darstellung dieser bildet den Hauptaspekt der folgenden Untersuchung. Durch das Wiederbeleben der Vergangenheit wird der naturwissenschaftliche Zeitbegriff grundlegend in Frage gestellt und diesem eine ‚innere Zeitlichkeit’ entgegengesetzt.
„Die Zeit der Proustschen Romane ist nicht die chronometrische der Kalender und der Naturwissenschaft, sondern sie ist durée réelle, seelische Wirklichkeit, deren Rhythmus unendlich mannigfaltig sein kann und deren Qualität und Ablauf in enger Wechselwirkung mit den Änderungen der Atmosphäre, der Gefühlslage, auch der räumlichen Umgebung steht. Die Proustsche Zeit hat eine Elastizität und Relativität, an der alles äußerliche messen scheitert. Es wird jedem Leser auffallen, daß in Prousts Romanen niemals Daten und präzise Zeitbestimmungen auftauchen. Wir rechnen in diesen Romanen nicht nach Monaten und Jahren, sondern nach dem Wechsel der seelischen Jahreszeiten. Sie erlauben keine chronologische Analyse. Die Zeit läuft ab in einer Kurve von unberechenbarer Unregelmäßigkeit. Ein Wetterumschlag genügt, um die Welt und uns selbst neu zu erschaffen! Zeit und Raum sind bloße Modi der Erinnerung und stehen in Wechselwirkung. [...] Ein Erinnerungsbild, das in uns auftaucht, bringt einen bestimmten Augenblick zurück.“[3]
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass innerhalb der vorliegenden Arbeit der Aspekt des Raumes, aufgrund des großen Umfangs, nicht bearbeitet werden kann, auch wenn zeit-räumliche Bezüge durchaus vermehrt vorkommen und eine Berücksichtigung dessen, für eine vollständige Analyse der Zeit in der Recherche notwendig wäre.[4]
In Michael Endes Momo wird eine besondere Darstellung der Zeit auf inhaltlicher Ebene gezeigt: „"Momo" offenbart auf naive, meditative, lyrische Weise Wahrheiten, die uns alle angehen: die Tragödie unseres neurotischen Seinsverlustes im Zusammenhang mit der entsetzlichen Tatsache, dass wir ‚keine Zeit mehr haben’.“[5] Mit der Verwendung der mit dem Genre des Märchens verbundenen Elementen wird der Verlust von Zeit zur Metapher funktionalisiert. Dem Leser wird in der Darstellung des Kampfes gegen die Zeitdiebe, die Zeit als wertvollstes Mittel für das Erlangen eines erfüllten Seelenlebens an die Hand gegeben. Die Erkenntnis dieser ‚Herzenszeit’ und ihre Darstellung, stellt in der folgenden Untersuchung den Hauptaspekt dar.
Auch in der Auseinandersetzung mit Endes Märchen-Roman muss auf eine Darstellung der semantischen Räume verzichtet werden. Diese werden in Momo vorwiegend durch die Gegenüberstellung von Gut und Böse dargestellt. Außerdem erhält das Herz hier die Funktion des semantischen Raumes der Zeit und des Lebens.[6]
II. Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
1. Hintergrund zu Leben und Werk
Der schon als Kind kränkliche Marcel Proust (* 10. 07. 1871 in Auteuil, † 18.11. 1922 in Paris) wuchs als Sohn eines katholischen Vaters und einer jüdischen Mutter wohlbehütet und in guten Verhältnissen auf. Im Oktober 1882 trat er in das Lycée Condorcet ein und lernte hier u.a. Jacques Bizet, Daniel Halévy und Robert Dreyfus kennen. 1887 machte er erste schriftstellerische Versuche für Schulzeitschriften und begann mit den Besuchen in einigen Salons. Nach dem Lycée meldete sich Proust 1889 freiwillig zum einjährigen Militärdienst. Danach schrieb er sich an der juristischen Fakultät ein, beendete dieses Studium jedoch 1893 ohne Examen. Er erhielt in einem geisteswissenschaftlichen Studiengang seine ‚License ès Lettres’.[7]
Prousts Hauptwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit umfasst mehr als 4000 n und entstand in einem Zeitraum von ca. 20 Jahren, wenn man die Zeit der Vorbereitung mit einrechnet. 1895 nahm er seine Arbeit am Jean Santeuil auf, ein Romanprojekt, das unvollendet bleiben sollte. Im Sommer 1900 unternahm Proust Reisen nach Venedig, Flandern und Holland. 1907 stellte Proust Alfred Agostinelli als Chauffeur ein, mit dem er eine Beziehung führte. 1912 wird Agostinelli Prousts Sekretär. Im Mai 1914 kommt er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Die Verarbeitung dieses Verlustes bereitete Proust erhebliche Schwierigkeiten. Manche Biographen sehen in der tragischen Liebe des Erzählers der Recherche zu Albertine, eine Parallele von Prousts Liebe zu Agostinelli. „Eine solche simple Gleichsetzung des realen Erlebens und der Romanfiktion erscheint eher fragwürdig. Unleugbar ist jedoch, dass in dieser Zeit die Albertine-Episode immer größere Ausmaße annimmt und zu einem Schwerpunkt der Recherche wird.“[8]
Am 13. November 1913 erschien Du côté de chez Swann als erster Band des Romanwerks A la recherche du temps perdu auf Prousts eigene Kosten. Erst 1916 gelang es ihm, den Verlag Gallimard für sein Romanprojekt zu gewinnen. Nach dem Ersten Weltkrieg erschienen dort 1918 der zweite Band der Recherche - À l’ombre des jeunes filles en fleurs und 1919 eine Neuauflage von Du côte de chez Swann. Im selben Jahr erhielt Proust für den zweiten Band seiner Recherche den Prix Goncourt, die höchste französische Auszeichnung für Literatur.
Von 1920 bis 1922 erschienen vier weitere Bände der Recherche - Du côté de Guermantes I und II sowie Sodome et Gomorrhe I und II. Am 18. November 1922 starb Marcel Proust in Paris. Postum erschienen die letzten Bände der Recherche: La Prisonnière, La Fugitive und Le temps retrouvé. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auch die Romanfragmente Jean Santeuil und Contre Sainte-Beuve ediert.
Das Verhältnis von Prousts Leben und seinem Werk wurde in der Literaturkritik und Literaturwissenschaft oft miteinander verglichen. Es bestand lange Zeit die Tendenz beide zueinander in Bezug zu setzen, denn man sah die Recherche als autobiographischen Text an, zumal der Erzähler in der Ich-Form spricht und an einigen Stellen ‚Marcel’ genannt wird. Proust selbst hat sich jedoch in seinem Werk selbst gegen eine solche Sichtweise ausgesprochen:
„In diesem Buche, in dem keine einzige Tatsache berichtet wird, die nicht erfunden ist, in dem es keine einzige Gestalt gibt, hinter der sich eine wirkliche Person verbirgt, in dem alles und jedes je nach Maßgabe dessen, was ich demonstrieren will, von mir erdacht worden ist, muß ich zum Preise meines Landes sagen, daß die Millionärsverwandten unserer Francoise, die ihre Zurückgezogenheit aufgegeben hatten, um ihrer schutzlosen Nichte zu helfen, die einzigen Personen sind, die tatsächlich existierten.“ (X – Die wiedergefundene Zeit/ Le temps retrouvé, 3905)
2. Inhalt
2.1 Stil und Entwicklung der Recherche
Der Leser wird beim Studium der Recherche nicht mit einem traditionellen Roman konfrontiert, dem er vom Beginn einer Geschichte in einer chronologischen Reihenfolge bis ans Ende folgen kann, vielmehr sieht er sich einer Erzählung gegenüber, die ihn ohne jegliche Erklärungen ins Geschehen hineinwirft. Der Leser wird anfangs „[...] im Unklaren darüber [gelassen], wer hier überhaupt spricht, an welchem Ort und in welcher Zeit er sich befindet.“[9]
Der Erzähler berichtet ausgehend von seiner Gegenwart, dem vermuteten nahen Tode, und verweist auf ein weiteres Ich, welches Nachts erwacht und anfängt sich an seine Vergangenheit zu erinnern.[10] Jean-Yves Tadié spricht hier von einem transzendentalen und einem empirischen Ich, da der Erzähler zu einer Figur wird: „[...] derjenige, der erzählt, ist derselbe wie derjenige, der erzählt wird. Oder vielmehr, er wäre derselbe, wenn es die Zeit nicht gäbe: ein gegenwärtiges Ich (je) erzählt ein vergangenes ICH (moi) [...]“.[11] Die retrospektive Sicht des Erzählers führt ihn durch mehrere Ebenen seiner Vergangenheit[12] und zeichnet gleichzeitig den Weg zur Erkenntnis seiner Berufung nach. In diesem Zusammenhang findet sich eine Analogie zur Erkenntnislehre Kants:
„Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zu Ausüben erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt? D e r Z e i t n a c h geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an.“[13]
Gegenstände, Wahrnehmungen und Empfindungen werden innerhalb dieser retrospektiven Sicht des Erzählers, mithilfe von Vergleichen und Metaphern, mit solcher Perfektion und Differenziertheit beschrieben, dass eine subjektive Sichtweise entsteht, die einen Einblick in das Innere des ‚Ich’ aufzeigt und gleichzeitig eine kritische Reflexionen über Gesellschaft, Philosophie und Kunst darstellt.
Prousts Recherche besteht aus mehreren Bänden, je nach Ausgabe aus sieben, zehn oder dreizehn, wovon einige sich nochmals in weitere Teile untergliedern. Des Weiteren sind Romanfragmente und Essays[14] vorhanden, welche die Recherche zum Teil vorwegnehmen oder sie vorbereiten. Anfangs waren lediglich zwei Bände vorgesehen, die sich jedoch im Laufe der Zeit immer mehr verselbstständigten und enorm an Umfang zunahmen. „Als Proust sich bewusst wurde, daß die Manuskripte anschwollen, mußte er sich in eine Zweiteilung fügen: der erste Band, Die verlorene Zeit, sollte sich dem zweiten, Die wiedergefundene Zeit, so gegenübersetzen, daß man darin grundlegende Spaltung wie Symmetrie findet, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Kindheit und Reife, zwischen Leben und Werk, zwischen Tod und Kunst; [...]“.[15] Aufgrund dieser Zweiteilung entwickelte sich Im Schatten junger Mädchenblüte aus In Swanns Welt, so dass auf die Träume der Jugend, die Realität des Erwachsenwerdens folgt. Aus Die Welt der Guermantes entstand Sodom und Gomorra I und II, und aus diesen leitete sich wiederum Sodom und Gomorra III: Die Gefangene und Die Entflohene ab. Diese beiden Bände stellen Gegenstücke dar, wie sich in den Titeln schon andeutet. Die Gefangene endet mit der Mitteilung Francoises an den Erzähler, dass Albertine fort gegangen ist (VIII – Die Gefangene/ La Prisonnière, 3308), dieser Moment wird direkt mit dem Satz „Mademoiselle Albertine ist fort!“ (IX – Die Entflohene/ La Fugitive, 3311) am Beginn von Die Entflohene weitergeführt.
Dieses stetige Anwachsen der Recherche und die daraus resultierende Struktur führte dazu, dass im letzten Band Die wiedergefundene Zeit sämtliche Motive, Figuren und Probleme noch einmal aufgeführt werden und sich schließlich für den Erzähler einige Lösungen ergeben.[16] Die Recherche endet damit, dass der Erzähler nun letztendlich beschließt, den Roman zu schreiben, den er schon sein Leben lang schreiben wollte. Für den Leser entsteht hierdurch eine paradoxe Zirkelstruktur - der Roman, den der Leser gerade in den Händen hält, soll nun eigentlich erst geschrieben werden.
2.2 Handlung
Der erste Band In Swanns Welt ist in drei Teile untergliedert. Der erste Teil Combray wird mit dem Satz: „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.“ (I - In Swanns Welt/ Du côté de chez Swann, 9) eingeleitet, der Erzähler beschreibt den Moment des Einschlafens und Aufwachens und das damit verbundene Gefühl der Zeitlosigkeit.[17] Viele verschiedene Erinnerungen kommen zurück und bleiben ihm im Gedächtnis, auch als er erwacht:
„Aber wenn ich jetzt auch noch so gut wußte, daß ich mich nicht in den Behausungen befand, von denen mir die Unwissenheit des Erwachens einen Augenblick lang wenn auch nicht ein deutliches Bild vor Augen gestellt, so doch glaubhaft gemacht hatte, daß sie vielleicht um mich gegenwärtig wären, so hatte doch meine Erinnerung einen Anstoß erhalten; ich versuchte nicht, gleich wieder einzuschlafen; den größten Teil der Nacht brachte ich damit zu, mir unser Leben von früher vorzustellen, in Combray bei meiner Großtante, in Balbec, in Paris, in Doncières, in Venedig und an anderen Orten, [...]“ (I, 16)
Seine Erzählung der Vergangenheit beginnt in der Kleinstadt Combray, wo der kränkliche Marcel seine Sommerferien bei den Großeltern verbrachte. Detailliert schildert er die Landschaft in und um Combray, die er auf langen Spaziergängen besuchte und die ihm, neben der Lektüre vieler Bücher, Grund zu Träumereien gegeben haben und darüber hinaus den Berufswunsch des Schriftstellers in ihm erwachen ließen (I, 230ff.). Nach und nach stellt er seine Familie und deren Besucher, unter anderem Swann vor. Den größten Teil nimmt jedoch die Schilderung des allabendlichen Rituals des Gute-Nacht-Kusses (I, 16ff.) seiner Mutter, bzw. der Verweigerung desselben ein, was in mehreren Situationen aufgegriffen wird und die stärkste Erinnerung an diese Zeit darstellt: „[...] es war, als habe ganz Combray nur aus zwei durch eine schmale Treppe verbundenen Stockwerke bestanden, und als sei es dort immer und ewig sieben Uhr abends gewesen [...]“ (I, 62). Alle weiteren Erinnerungen an Combray waren dem erinnernden Ich lange verborgen geblieben, bis zu einem Winterabend, an dem seine Mutter ihm Tee und Madeleines anbietet. Über dem Geschmack dieses Gebäcks eröffnete sich ihm für einen Moment eine Wahrheit, die die Erinnerung an frühere Zeiten erwachen lässt (I, 63ff. – sogenannte Madeleine-Episode).
Der zweite Teil des ersten Bandes Eine Liebe von Swann nimmt eine Sonderstellung im gesamten Werk ein, da sich hier schon einige Motive finden, die im weiteren Verlauf der Recherche eine Rolle spielen, wie beispielsweise die eifersüchtige Liebe Swanns, die der Liebe Marcels zu Frauen gleicht. Zudem fällt diese in sich abgeschlossene Erzählung auch formal aus dem Rahmen, da sie in der Er-Form geschrieben ist, während die sonstige Erzählung ausschließlich in der Ich-Form geschrieben ist. Das erinnernde Ich nimmt hier eine allwissende Haltung ein, da Gefühle und Eindrücke beschrieben werden, an denen es selbst nicht teilhatte, und berichtet über die komplizierte Liebesgeschichte zwischen Swann und seiner späteren Frau Odette.
Im dritten Teil Ortsnamen Namen überhaupt lernt Marcel die Tochter von Swann und Odette, Gilberte, beim Spielen im Park der Champs-Elysées in Paris kennen. Er hatte sich in einem Sommer in Combray in sie verliebt, als er sie im Wald getroffen hatte. Seine Liebe zu ihr wächst von Tag zu Tag und er neigt dazu, genau wie Swann, sein Leben bzw. den Ablauf dessen völlig von Gilberte, die nicht in ihn verliebt ist, abhängig zu machen.
Band zwei und drei Im Schatten junger Mädchenblüte I und II, sind in zwei Teile unterteilt. Im ersten Teil Madame Swann und ihre Welt wird der Erzähler zum ersten Mal mit Problemen in Bezug auf den Berufswunsch des Schriftstellers konfrontiert, so dass er diesen aufgeben will. Durch die Freundschaft mit Gilberte, die ihn in ihre Gesellschaft einführt, wird er von dieser Problematik abgelenkt. Marcel verbringt die meiste Zeit im Hause Swann und freundet sich mit Odette, die er aufrichtig bewundert, und Swann an. Dort lernt er den von ihm so verehrten Bergotte kennen, woraufhin er wieder zu schreiben beginnt, sich darauf jedoch nicht lange konzentrieren kann, da er mit seinen Gedanken ständig bei Gilberte und Madame Swann ist. Er muss erkennen, dass Gilberte ihn nicht liebt und überwirft sich schließlich mit ihr. Zuerst hat er noch die Hoffnung, dass sie sich doch noch in ihn verlieben würde, diese gibt er jedoch bald auf:
„Aber schließlich kann die Trennung doch wirksam sein. Der Wunsch, das Verlangen nach einem Wiedersehen mit uns leben endlich in dem Herzen wieder auf, das uns so lange verkannte. Aber dazu braucht es Zeit. Wir jedoch stellen mit Bezug auf die Zeit ebenso maßlose Forderungen, wie sie das Herz für seine Wandlung stellen muß. Gerade die Zeit ist das, was wir am schwersten gewähren, denn unser Leiden setzt uns grausam zu, wir möchten es schleunigst beenden. Zudem wird unser Herz die gleiche Zeit, die jenes andere für die Änderung seiner Gefühle braucht, sicher dazu benutzen, sich ebenfalls zu wandeln, so daß das Ziel, das wir uns vorgesetzt haben, in dem Augenblick, da es von uns erreicht werden könnte, schon gar kein Ziel mehr ist. [...] Doch gerade unsere Gleichgültigkeit dagegen macht uns weniger anspruchsvoll und gestattet uns, rückblickend zu glauben, es hätte uns zu einer Zeit entzückt, in der es uns in Wirklichkeit vielleicht sehr unvollkommen erschienen wäre.“ (II – Im Schatten junger Mädchenblüte I/ A l’ombre des jeunes filles en fleurs I, 826)
Der zweite Teil Ortsnamen Die Landschaft führt Marcel zwei Jahre später mit seiner Großmutter nach Balbec, wo er die Liebe zu Gilberte nun endlich vergessen möchte und sich neues Glück erhofft. Dort lernt er Madame de Villeparisis kennen, die ihm die Möglichkeit gibt, sich in die gehobenere Gesellschaft zu begeben. Ihr Neffe – Marquis de Saint-Loup-en-Bray – kommt zu Besuch und Marcel freundet sich sehr schnell mit ihm an.
Eines Tages fallen ihm vier Damen am Strand auf, die ihn, aufgrund ihres Verhaltens und ihres Aussehens, besonders reizen. Er will sie um jeden Preis kennen lernen, was sich allerdings als schwierig herausstellt. Zusammen mit Saint-Loup macht er die Bekanntschaft des Malers Elstir, welcher ihn in sein Atelier einlädt. Durch ihn kann er kurze Zeit später eine dieser Damen kennen lernen – Albertine Simonet. Er trifft sie am Strand wieder und bekommt somit die Möglichkeit, auch die anderen Mädchen kennen zu lernen. Er verbringt viel Zeit mit der ‚kleinen Schar’ der Mädchen (u.a. III, 1187) kann sich erst aber nicht entscheiden, welche von ihnen ihm besser gefällt. Mit der Zeit entscheidet er sich für Albertine.[18] Ein Missverständnis zwischen ihnen beiden führt allerdings dazu, dass er sich kurze Zeit später wieder allen zuwendet. Kälte und Nässe sorgen dafür, dass nach und nach alle abreisen und auch Marcel und seine Großmutter Balbec wieder verlassen.
Band vier und fünf Die Welt der Guermantes I und II führen Marcel in die höhere Gesellschaft von Paris und damit auch in seine früheren Träume (I, 228ff., 231ff.). Die Familie ist mittlerweile in ein Haus des Stadtpalais der Guermantes umgezogen, in dem auch die Herzogin von Guermantes wohnt, welche Marcel bewundert. Er wünscht sich er könne zu ihren Gesellschaften gehen. Bei einem Theaterbesuch lächelt sie ihm zu und er verliebt sich sofort in sie. Daraufhin geht er jeden Morgen zur gleichen Stunde spazieren, wie sie es tut, nur um ihr zu begegnen, was sie jedoch als unangenehm zu empfinden scheint. Um Saint-Loup, den Neffen der Herzogin, zu bitten sie ihm vorzustellen, besucht er ihn in Doncières, wo er viel über das Militär und über Politik erfährt. Aus Interesse daran bleibt er länger und versucht sich wieder als Schriftsteller, aber auch dieses Mal scheitert er.
Wieder in Paris, besucht er Madame de Villeparisis, in der Hoffnung dort der Herzogin zu begegnen, was auch geschieht. Dort trifft Marcel außerdem auf viele andere wichtige Personen aus Adel, Politik und Kultur, unter anderem ist Madame Swann (Odette) in Begleitung von Baron de Charlus, dem Onkel Saint-Loups, anwesend. Dieser macht ihm später das Angebot, sein Mentor zu sein und ihm ‚unschätzbare Möglichkeiten’ zu eröffnen, jedoch nur unter der Bedingung, dass Marcel ‚die große Welt’ meidet (IV – Die Welt der Guermantes I/ Le côté de Guermantes I, 1626-1641). Dieses Angebot nimmt Marcel jedoch nicht an. Im letzten Abschnitt erfährt der Leser, dass die Großmutter von Marcel sehr krank ist und bei einem Besuch in den Champs-Elysées einen Anfall erleidet.
Im fünften Band Die Welt der Guermantes II, welches in zwei Kapitel unterteilt ist, stellt sich heraus, dass es ein Schlaganfall war. Es geht der Großmutter von Tag zu Tag schlechter, sie ist gelähmt, leidet unter Gedächtnisverlust und stirbt kurze Zeit später. Marcel gewinnt durch diese Erfahrung an Reife und es zeigt sich, beispielsweise in seiner Liebe zu Bergottes Schriften, eine Weiterentwicklung seiner Persönlichkeit.
Im zweiten Kapitel wird von einem Besuch Albertines berichtet, bei dem sie sich kurzzeitig näherkommen. Seine Liebe zur Herzogin ist mittlerweile erkaltet, obwohl sie ihn nun endlich zu einem ihrer Diners eingeladen hat. Von Saint-Loup erfährt Marcel, dass dessen Onkel Baron de Charlus ihn am Abend des Diners sehen will. An diesem Abend lernt Marcel viele Adlige und darüber hinaus die Genealogie der Guermantes und der Courvoisier kennen. Nach dem Diner fährt er zu Baron de Charlus, welcher ihm eine Szene macht, da Marcel sein damaliges Angebot nicht erwogen hatte.
Marcel wird zu einer Soiree der Prinzessin von Guermantes eingeladen, ist sich jedoch nicht sicher, ob diese Einladung wirklich für ihn ist und versucht dies bei der Herzogin zu erfahren. Beim Warten auf sie macht er eine große Entdeckung, deren Bericht er jedoch nach hinten stellt.[19] Swann kommt zu Besuch und eröffnet, dass er sehr krank ist und nicht mehr lange leben wird.
Sodom und Gomorra ist in zwei Bände (VI+VII) und zwei Teile unterteilt, der erste Teil berichtet von der angedeuteten Entdeckung, die Marcel beim Warten auf die Herzogin gemacht hatte. Er sah wie Baron de Charlus auf dem Hof dem Schneider Jupien begegnet und sich zwischen ihnen eine eigenartige Episode abspielt, die dazu führt, dass sie beginnen sich zu unterhalten. Marcel lauscht diesem Gespräch und erfährt, dass die beiden zu den Invertierten (Homosexuellen) gehören. Diese Entdeckung wird mit einer metaphorischen Nebengeschichte über die Bestäubung einer Orchidee durch eine Hummel begleitet.
Der zweite Teil von Sodom und Gomorra ist in vier weitere Kapitel unterteilt. Das erste Kapitel handelt von der Soiree bei der Prinzessin von Guermantes. Marcel wird lediglich der Prinzessin vorgestellt, nicht jedoch dem Prinzen, weshalb er versucht jemanden zu finden, der ihn vorstellt, was sich als äußerst schwierig herausstellt. Es folgen Gespräche mit Baron de Charlus, Saint-Loup, Swann und dem Prinzen. Vor dieser Soiree hatte er mit Albertine eine Verabredung ausgemacht, so dass er auf der Heimfahrt hofft sie noch zu sehen. Sie will zwar nicht mehr kommen, jedoch schafft er es sie zu überreden.
Es folgt das Zwischenstück Anfälligkeiten des Herzens (VI, 2243-2284). Marcel berichtet von seiner zweiten Reise nach Balbec, wo ihn die Erkenntnis überkommt, dass alles anders geworden ist, vor allem er selbst:
„Da aber derjenige, der ich soeben von neuem geworden war, seit jenem fernen Abend nicht existiert hatte, an dem mir meine Großmutter bei meiner Ankunft in Balbec beim Auskleiden geholfen hatte, hing ich ganz natürlich nicht an dem gegenwärtigen Tag, von dem dieses Ich nichts wußte, sondern – als ob es in der Zeit verschiedene und parallele Abläufe gäbe – unterbrechungslos und unmittelbar an den ersten Abend von einst anknüpfend an der Minute fest, da meine Großmutter sich über mich gebeugt hatte.“ (VI, 2251f.)
In diesem Moment erleidet er einen Anfall von Herzschwäche, die Trauer über den Tod seiner Großmutter setzt plötzlich bei ihm ein und hält sich über mehrere Wochen, so dass er kaum ausgeht und jegliche Verabredung mit Albertine oder anderen absagt. Er entdeckt, dass seine Mutter, in Aussehen und Verhalten, immer mehr seiner Großmutter ähnelt. Langsam erholt er sich und willigt einem Treffen mit Albertine ein.
Das zweite Kapitel handelt von der beginnenden Beziehung zwischen Marcel und Albertine. Die beiden treffen sich häufig und unternehmen viel gemeinsam. Er beginnt erstes Misstrauen gegen ihre Treue und ihre Sexualität zu hegen, als Professor Cottard ihm eines Abends einredet, sie könne Gefallen an Frauen finden, da sie und Andrée so eng miteinander tanzen. Er streitet sich mit ihr darüber, sie widerspricht dieser Vermutung und er vertraut ihr vorerst wieder. Gemeinsam besuchen sie Saint-Loup in Doncières, Albertine findet Gefallen an ihm, was Marcel erst stört, worin er jedoch wenig später einen Trost findet, denn dann könne sie ja keinen Gefallen an Frauen finden. Auf dem Rückweg treffen sie Baron de Charlus und es folgt eine bizarre Episode mit Charles Morel, dem Sohn des Kammerdieners von Marcels Großonkel. Charlus bietet Morel Geld dafür, dass er für ihn Violine spielt, obwohl Charlus eigentlich gerade den Zug nach Paris nehmen wollte, verbleibt er dann in Doncières.
Marcel begibt sich zu einem Diner bei den Verdurins, wo er Morel, dem derzeitigen Lieblingsmusiker von Madame Verdurin, und Baron de Charlus wieder begegnet. Es stellt sich hierbei heraus, wie wenig sich der ‚kleine Kreis’[20] im französischen Adel auskennt, da sie Baron de Charlus nicht als den erkennen, der er ist.
Das dritte Kapitel beginnt mit den Gedanken Marcels über die zwei Zeiten des Schlafens und Wachens: „Die Zeit, die für den Schläfer während eines solchen Schlafes verrinnt, ist absolut verschieden von der Zeit, in der er sein Leben als wacher Mensch verbringt [...]“ (VII – Sodom und Gomorra II, 2554).
Marcel verbringt seine Zeit fast ausschließlich mit Albertine, er unterstützt sie in allen ihren Interessen, kleidet sie neu ein und führt sie bei den Verdurins ein. Er erkennt, dass er Albertine wirklich liebt, sagt es ihr jedoch nicht. Er überlegt sogar, ob er sie heiraten soll, verwirft diesen Gedanken jedoch wieder.
Es gibt einige Nebenepisoden mit dem Chauffeur der Verdurins, Morel und Baron de Charlus, welche jedoch in einer späteren Zeit liegen und für den Fortgang der Erzählung nur am Rande wichtig sind. Sie machen deutlich, wie sich die Beziehung zwischen Charlus und Morel entwickelt und was sie für einander bedeuten.
Im vierten Kapitel hat Marcel eigentlich vor, mit Albertine zu brechen, da ihm diese Beziehung zu anstrengend wird und er plötzlich meint Andrée zu lieben. Aus einer Unruhe heraus kann er es Albertine jedoch nicht sagen. Er erwähnt ihr gegenüber sein Interesse für Vinteul und dessen Musik, woraufhin sie ihm mitteilt, sie sei mit der Tochter Vinteuils bekannt. Hier wird dem Erzähler seine lang gehegte Befürchtung über die Leidenschaften Albertines bestätigt, da er weiß, welche Neigungen die Tochter Vinteuils hat.[21] Daraufhin entscheidet er, nicht mit ihr zu brechen. Seine Eifersucht treibt ihn dahin, sie nicht mehr aus den Augen lassen zu wollen, so dass er sie überredet mit ihm nach Paris zu kommen. Marcel macht sich Gedanken über die Liebe, die Frauen, seine Eifersucht, sein Leiden, was einzig Albertine ihm zufügt und aus diesen Überlegungen heraus entschließt er sich Albertine zu heiraten, da er sein Leiden anders nicht ertragen könne.
Der achte Band Die Gefangene steht vollkommen im Zeichen der Eifersucht. Albertine ist in die Wohnung der Eltern von Marcel eingezogen, diese sind jedoch nicht anwesend und dulden diese Situation nur ungern. Marcel lässt Albertine auf Schritt und Tritt überwachen, obwohl er sie nicht mehr wirklich liebt und sie nun auch nicht mehr heiraten möchte.
Hier erwähnt er eine Tatsache, die den Leser glauben lassen könnte, der Autor der Recherche sei auch der Erzähler: „Sie fand die Sprache wieder, sie sagt: ›Mein‹ oder ›mein lieber‹, jeweils gefolgt von meinem Taufnamen, was, wenn man dem Erzähler denselben Vornamen verliehe, den der Verfasser dieses Buches trägt, ergeben hätte: ›Mein Marcel‹ oder ›Marcel, Liebling‹“ (VIII, 2847).
Marcel kommt immer noch nicht zu dem, was er schon lange tun will, dem Schreiben. Albertine und er quälen sich beide in ihrer Beziehung, behalten sie aber aus eitler Liebe bei, die sich dadurch erhöht, dass sie wissen, dass sie sich einander Qualen zufügen. Das ist zumindest Marcels Vermutung (VIII, 2990ff.).
Es findet ein von Baron de Charlus arrangiertes Konzert von Morel bei den Verdurins statt. Diese Veranstaltung führt zu viel Boshaftigkeit zwischen Charlus und Madame Verdurin, da er sich dort als Gastgeber aufspielt. Madame Verdurin wird übergangen und plant daraufhin eine Intrige gegen Charlus. Sie unterrichtet Morel von angeblichen Machenschaften des Barons, über seine angebliche Untreue und sein ‚wirkliches Denken’ über Morel als ‚Bedienstetem’. Hierauf bricht Morel sofort mit Charlus und dieser daraufhin mit dem ‚kleinen Kreis’ (VIII, 3057ff.).
Einerseits freut Marcel sich, nach diesem Abend nach Haus zu kommen und zu wissen Albertine sei da, auf der anderen kommt er sich wie ein Gefangener vor und weiß gleichzeitig, dass auch Albertine sich wie eine Gefangene vorkommt. Sie geraten erneut in einen Streit, wobei er ihr einige Geständnisse entlocken kann, die sich jedoch anders gestalten, als er es vermutet hatte. Später erfährt er von einer möglichen Beziehung zwischen Albertine und Andrée und spricht sie darauf an. Sie ist entsetzt über seine Vermutung und ändert ihr Verhalten ihm gegenüber.[22] Marcel ist betrübt, „[...] denn ich fühlte, wie das Leben, die Welt, deren Freuden ich noch niemals richtig gekostet hatte, mir im Austausch gegen eine Frau entging, an der ich nicht Neues mehr zu finden vermochte“ (VIII, 3279) und entschließt sich an einem folgenden Morgen zu einer endgültigen Trennung und dazu, seinen langgehegten Wunsch nach Venedig zu reisen in die Tat umzusetzen. Am gleichen Morgen aber berichtet ihm Francoise, dass Albertine seit neun Uhr fort ist und lediglich einen Brief hinterlassen hat.
Albertine hat den Erzähler verlassen und dieser überlegt nun verzweifelt, wie er sie zurückgewinnen kann. Er bittet sogar Saint-Loup um Hilfe, die dieser ihm auch gewährt, jedoch nicht helfen kann, denn Albertine erwartet, dass Marcel selbst kommt. Er will ihr zuerst nicht gestehen, dass er sie zurückgewinnen möchte, so dass er ihr erzählt, er hätte die Idee Andrée zu heiraten. Kurze Zeit später schreibt er ihr jedoch ein verzweifeltes Telegramm, mit der Bitte um ihre Rückkehr. In diesem Moment erhält er selbst ein Telegramm und erfährt, dass Albertine bei einem Reitunfall ums Leben gekommen ist. Der neunte Band Die Entflohene berichtet über die anfängliche Verzweiflung und die allmählich einsetzende Gleichgültigkeit Marcels darüber. Er muss feststellen, dass sein Leiden nun noch schlimmer ist, als all das, was Albertine ihm zugefügt hatte, da sie jetzt nie mehr bei ihm sein wird. Kurze Zeit später erhält er zwei verspätete Briefe von ihr, in dem einen ihre Zustimmung zu Andrée, in dem anderen ihre Bitte, dass er sie, Albertine, wieder zurücknehme. In seiner Trauer entdeckt Marcel einige seiner früheren Gedanken und Eigenarten wieder, aber ist so tief betrübt, dass er keine wahre Freude empfinden will und sich von seinen Wünschen und Träumen abwendet – der Mut hat ihn vollkommen verlassen. Wieder einmal überkommen ihn die Gedanken über seinen Wunsch Schriftsteller zu werden und über seine Unfähigkeit diesem Wunsch nachzukommen:
„Die Schwierigkeiten, die sich aus meiner Gesundheit ergaben, meine Unentschlossenheit, meine Neigung zur ›Prokrastination‹, wie Saint-Loup es nannte, brachten es mit sich, daß ich von Tag zu Tag, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr alles unerledigt ließ, und so auch die Suche nach der Bestätigung gewisser Argwohnmomente ebensogut wie die Erfüllung gewisser Wünsche immer wieder aufschob. Aber ich behielt sie im Gedächtnis und nahm mir vor, sie unbedingt auf ihre Wahrheit hin zu prüfen, weil sie das einzige mich mit einer Art von Besessenheit verfolgten [...] und auch, weil der Zufall selbst, [...] mit eine Gewähr dafür bot, daß ich gerade in ihrer Gestalt mit einem Ausschnitt der Wirklichkeit, mit dem wahren und so begierig ersehnten Leben in Berührung kommen werde.“ (IX, 3440f.; Vgl. auch VIII, 2862f.)
Marcel kann Albertine nicht vergessen, so dass er Nachforschungen über sie anstellt, um seine Eifersucht weiterzutreiben, einzig aus dem Grund, sie auch weiterhin lieben zu können. Er erhält Informationen über sie, die all seine Vermutungen bestätigen, glauben kann er diese jedoch nicht. Er befragt Andrée, die ihre eigenen Neigungen rasch zugibt, jegliche Anschuldigungen gegen Albertine jedoch dementiert.
Eines Tages entdeckt er vor dem Hause der Herzogin Guermantes ein junges Mädchen, was er für dasjenige hält von dem Saint-Loup ihm gesprochen hatte.[23] Sie ist es nicht, jedoch kann er zumindest einen Moment seinen Schmerz über den Tod Albertines aufgrund dieser Begegnung vergessen. Kurze Zeit später erfährt er, dass endlich sein Artikel im Figaro gedruckt wurde, voller Stolz geht er zur Herzogin und erhofft sich Lob von ihr. Dort trifft er das Mädchen wieder und erfährt, dass es Gilberte Forcheville, ehemals Swann, ist, seine alte Freundin, mit der er sich nun langsam wieder anzufreunden beginnt.
Mehr und mehr kann sich Marcel mit dem Tod Albertines abfinden, bleibt jedoch neugierig über ihr Leben und trifft sich ein weiteres Mal mit Andrée, die ihm nunmehr, entgegen ihrer ersten Auskunft, erzählt, Albertine sei wirklich Frauen zugeneigt, aber ihm treu gewesen, bis auf einen einzigen Abend.[24]
Marcel reist, zusammen mit seiner Mutter, endlich nach Venedig, wo seine Gleichgültigkeit Albertine gegenüber stetig weiter anwächst und er sich sogar anderen Frauen wieder nähert. Er erhält einen Brief, der von Albertine zu sein scheint und kann damit nicht umgehen, dass sie nun doch noch leben soll. Er entschließt sich, da sie ihm mittlerweile gleichgültig geworden ist, diesen Brief nicht zu beantworten. Kurz nach der Abreise erhalten er und seine Mutter weitere Briefe, wodurch sich herausstellt, dass der von Albertine geglaubte Brief eigentlich von Gilberte war, die darin ihre Heirat mit Saint-Loup mitteilt.
Die beiden frisch Vermählten ziehen nach Tansonville, in der Nähe von Combray, wo Marcel sie häufig besucht. Es stellt sich heraus, dass auch Saint-Loup zu den Invertierten zu gehören scheint und eine Beziehung zu Morel, dem ehemaligen Geliebten seines Onkels Baron de Charlus, unterhält.
Der zehnte und letzte Band Die wiedergefundene Zeit führt Marcel zu dem Moment des Erkennens der inneren und äußeren Zeit und somit auch zur Erkenntnis seiner Berufung. Zu Beginn des letzten Bandes ist Marcel noch immer in Tansonville bei Gilberte und geht fast jeden Tag mit ihr spazieren. In dieser Zeit stürzen für ihn viele seiner Kindheitsvorstellungen ein, beispielsweise erfährt er, dass Gilberte ihn damals geliebt hatte. Und weiterhin klärt sie ihn auf einem Spaziergang darüber auf, dass man, „[...] wenn wir diesen Weg zur Linken nehmen und uns dann nach rechts wenden, in weniger als einer Viertelstunde in Guermantes sein[...]“ kann, was für ihn war „[...] als hätte sie gesagt: ›Wenden sie sich nach links und dann nach rechts, und sie werden an das Unerreichbare rühren [...]‹“ (X, 3689).
Beim Lesen eines Tagebuches, meint Marcel zu erkennen, dass er unfähig zu sehen und zu hören sei, wodurch der Schriftstellerberuf für ihn zur Unmöglichkeit wird. Es gibt zwar ein Ich in ihm, was dazu fähig scheint, dieses kommt jedoch nur selten zum Vorschein (Vgl.: X, u.a. 3711, 3725, 3728).
1914 geht Marcel zurück nach Paris, zieht sich jedoch nach nur zwei Monaten aufgrund seiner Krankheiten in ein Sanatorium zurück. Dort wird er in Isolation gehalten, so dass er vom Krieg kaum etwas mitbekommt, er erhält aber einzelne Briefe. Gilberte berichtet ihm, dass sie nach Tansonville zurückgegangen ist, wo die Deutschen eingefallen sind und sich bei ihr eingenistet haben.
1916 kehrt Marcel nach Paris zurück, wo immer noch Krieg herrscht und sich alles verändert hat: die Mode, die Menschen, die Kultur. Er trifft einige bekannte Leute wieder, doch auch sie haben sich vollkommen verändert. Im nächtlichen Paris verläuft sich Marcel und gerät in eine Straße, in der trotz Fliegeralarms ein Haus in voller Beleuchtung und regem Treiben steht. Er begibt sich kurz in dieses Hotel, um sich auszuruhen und etwas zu trinken. In einem Zimmer entdeckt er Baron Charlus in Ketten gelegt, wie er von einem jungen Mann mit der Geißel geschlagen und beschimpft wird. Jupien, dem dieses Etablissement gehört, bemerkt ihn und unterhält sich kurz mit ihm darüber. Zwei Tage bevor Marcel Paris wieder verlassen will, um ins Sanatorium zurückzukehren, erhält er die Nachricht, dass Saint-Loup gefallen ist. Viele Erinnerungen kommen ihm ins Gedächtnis zurück.
Marcel kehrt wenig später noch einmal nach Paris zurück und begibt sich auf eine Feier beim Prinzen von Guermantes, was für ihn gleichzeitig eine Reise in die Vergangenheit darstellt:
„Dank allen diesen n war eine solche Matinee wie die, auf der ich mich befand, etwas viel Wertvolleres als nur ein Bild der Vergangenheit; sie bot mit gleichsam alle aufeinanderfolgenden Bilder dar, welche, von mir bislang nicht bemerkt, die Vergangenheit von der Gegenwart trennten, ja mehr noch, sie wies mir die Beziehung auf, die zwischen Gegenwart und Vergangenheit bestand; sie war wie das, was man früher als eine ›optische‹ Ansicht bezeichnete, aber eine optische Ansicht der Jahre, nicht eines Augenblicks oder einer Person in der entstellenden Perspektive der Zeit.“ (X, 4016)
Er beginnt wieder über den Schriftstellerberuf nachzudenken und meint, in den letzten Jahren entdeckt zu haben, dass er keinerlei Talent besitzt. Doch durch das Auftreten auf zwei ungleich hohe Pflastersteine fallen ihm plötzlich viele Begebenheiten wieder ein und die Zweifel seines Verstandes lösen sich auf:
„In dem Augenblick aber, in dem uns alles verloren scheint, erreicht uns zuweilen die Stimme, die uns retten kann; man hat an alle Pforten geklopft, die auf gar nichts führen, vor der einzigen aber, durch die man eintreten kann, und die man vergeblich hundert Jahre lang hätte suchen können, steht man, ohne es zu wissen, und sie tut sich auf.“ (X, 3934)
Diesmal ist Marcel fest entschlossen die Wahrheit zu suchen und dieses Gefühl, was er schon von den Madeleines (I, 63ff.) kannte, beizubehalten. Im Palais des Prinzen versucht er das eben Erkannte zu verarbeiten und beginnt über den Inhalt seines Buches nachzudenken, wie könnte er sein Leben schildern. Hierüber erkennt er endlich, dass die Aufgabe eines Schriftstellers darin besteht, „[...] dieses einzig wahre Buch, da es bereits in jedem von uns existiert [...]“ (X, 3968) zu übersetzen.
Kurze Zeit später wird er in den Saal hineingelassen und ist bestürzt. Er erkennt kaum jemanden wieder und denkt im ersten Moment, er befände sich auf einem Maskenball. Nicht nur die Menschen haben sich verändert, sondern auch die Gesellschaft. Das Kastensystem von früher existiert nicht mehr in derselben Form und die Menschen, die er kannte, sind alle soviel älter geworden, als er es erwartet hatte. Doch je mehr er wiedererkennt, desto mehr muss er erkennen, dass auch er älter geworden ist. Er entscheidet sich dazu, sich komplett zurückzuziehen, um sein Werk zu schaffen. Denn diesmal will er sich nicht wieder ablenken lassen. Es befällt ihn geradezu eine Angst, dass er nicht mehr genug Zeit haben könnte sein Werk zu vollenden, denn es soll ein langes Werk werden, dass sich an viele Leute richten wird und zu dessen Fertigstellung er viel Zeit benötigen wird, da das Phänomen der Zeit das Thema seines Buches darstellen soll:
„Wenigstens würde ich, wenn mir noch Kraft genug bliebe, um mein Werk zu vollenden, in ihm die Menschen [...] als Wesen beschreiben, die neben dem so beschränkten Anteil an Raum, der für sie ausgespart ist, einen im Gegensatz dazu unermesslich ausgedehnten Platz [...] einnehmen in der ZEIT.“ (Vgl.: X, 4178 – 4185).
2.3 Exkurs: Die Recherche als (auto-)biographischer Roman
Dem Wortsinn nach handelt es sich bei einer (Auto)Biographie[25] um eine retrospektive Darstellung eines jeweils eigenen Lebenslaufes, was bedeutet, sie beruht allein auf den Erlebnissen und der daraus resultierenden Selbsterkenntnis einer Person. Die Geschichte des eigenen Lebens stellt sich innerhalb der Biographie sowohl als Subjekt als auch als Objekt dar, und führt somit zur Problematik der Referentialität, denn einerseits bezieht sie sich auf die historische Realität, andererseits jedoch wird in einer Biographie keine objektive Berichterstattung betrieben. Es handelt sich immer um die selektive Wahrnehmung und subjektive Position des Autors. Bei der Recherche handelt es sich somit schematisch gesehen um einen biographischen Roman, in dem der Ich-Erzähler zugleich mit der Erzählung seiner Lebensgeschichte die damit verbundene Problematik der Erinnerung an sein Leben reflektiert.
Nach Michael M. Bachtin handelt es sich um eine Biographie, wenn das Bild eines Menschen, der seinen Lebensweg durchläuft, in Zusammenhang mit dem Typus der biographischen Zeit, dargestellt wird. Obwohl sich in der Antike keine biographischen Romane nach unserer heutigen Terminologie finden lassen, gehen die Grundformen dieser Erzählart auf die antiken Romane zurück. Im klassischen Griechenland und der römisch-hellenistischen Epoche lassen sich nach Bachtin verschiedene Typen der Biographie ausmachen. In zwei dieser Formen lässt sich die Recherche, zumindest rudimentär, einordnen.
Die erste Form ist der Platonische Typ[26] der Autobiographie, welcher eine ‚autobiographische Selbsterkenntnis’ darstellt, die einen Mensch, auf der Suche nach der wahren Erkenntnis seines Lebens darstellt. Dabei muss er den Weg von der Unwissenheit über die Skepsis bis hin zur Erkenntnis des Selbst und des Wahren gehen.
„Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude zu mir? [...] Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen? [...] Es ist ganz offenbar, daß die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir. Er hat sie dort geweckt, aber er kennt sie nicht und kann nur auf unbestimmte Zeit und mit schon schwindender Stärke seine Aussage wiederholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiß und die ich wenigstens wieder von neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht zu meiner Verfügung haben möchte, um entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen.“ (I, 63f. – Madeleine-Episode)
„Zweifellos war diese Entzifferung schwierig, aber sie allein gab eine Wahrheit zu lesen. Denn die Wahrheiten, die der Verstand unmittelbar und eindeutig in der Welt des hellen Tageslichts aufgreift, besitzen weniger Tiefe, weniger innere Zwangsläufigkeit als diejenigen, die das Leben uns ohne unser Zutun in einem Eindruck mitgeteilt hat [...].“ (X, 3951)
Einige Teile der Recherche lassen sich auch in einer Form der Biographie der römisch-hellenistischen Epoche wiederfinden. Auf die Formen dieser Epoche hat vor allem Aristoteles’ Lehre von der Entelechie, welche besagt, dass „[...] der Endzweck zugleich die Primärursache der Entwicklung ist [...]“[27], großen Einfluss genommen. Hier wird das ‚unwandelbare Wesen’ eines bereits vollständigen Menschen als Grundprinzip angesehen, was bedeutet, dass der Charakter des Menschen von vornherein festgelegt ist und sein voranschreitendes Leben, lediglich den Weg zu diesem Charakter darstellt, so dass jegliche Entwicklung nur in der Festigung der Neigungen und Tugenden besteht.
[...]
[1] Vgl.: Göttsche (2001): 27.
[2] Kant (1787/ 2003): 106 (A 31).
[3] Curtius (1952): 33ff..
[4] Hier sei vor allem auf die Arbeit von Georges Poulet hingewiesen: Marcel Proust – Zeit und Raum (L’Espace Proustien), Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1966. Weitere Auseinandersetzungen mit dem Thema des Raumes finden sich u.a. bei Warning (2000), Jauß (1991), Corbineau-Hoffmann (1993).
[5] Hocke (1973).
[6] Vgl.: Kulik (2005) 193ff., bezüglich der Auseinandersetzung mit der Raumsemantik sei hier außerdem auf die Arbeit von Jurij M. Lotmann: Die Struktur literarischer Texte, Übers. von Keil, Rolf-Dietrich, 4. unveränd. Aufl., Fink, München, 1993, hingewiesen.
[7] Im folgenden Fließtext als Recherche. Sämtliche folgende Zitate entnommen aus: Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Titel der französischen Originalausgabe: A la recherche du temps perdu, Paris, deutschsprachige Übersetzung von Eva Rechel-Mertens, Fünfte Auflage der Ausgabe in zehn Bänden, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1988. Im folgenden Fließtext angegeben mit: Band (römisch, bei Erstnennung jeweils mit Titel und Originaltitel) und nzahl.
[8] Biermann(2005): 86.
[9] Ebd.: 107.
[10] Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird eine Aufteilung, in ein erinnerndes Ich (dem Erzähler) und einem erinnerten Ich (die Figur innerhalb der Erzählung), das im Folgenden als ‚Marcel’ benannt wird, vorgenommen. Die Thematik der beiden Ichs wird unter Punkt 3.2.1.1 näher behandelt.
[11] Tadié (1987): 51ff..
[12] Diese werden unter Punkt 3.2.1.2 genauer untersucht.
[13] Kant (1787/2003): 43 (B1).
[14] „Jeder weiß heute, daß die Recherche, [...] nur der letzte Zustand eines Werks ist, an dem Prousts sozusagen sein Leben lang gearbeitet hat und dessen frühere Fassungen sich im wesentlichen verteilen auf Les plaisirs et les jours - Freuden und Tage (1896), Pastiches et mélanges - Nachgeahmtes und Vermischtes (1919), die verschiedenen posthumen Sammlungen oder Inedita mit den Titeln Chroniques - Essays, Chroniken und andere Schriften (1927), Jean Santeuil (1952) und Contre Sainte-Beuve - Gegen Sainte-Beuve (1954) sowie die etwa 80 Cahiers [Schreibhefte], die sich seit 1962 in der Handschriftenabteilung der Bibliothèque nationale befinden.“ (Genette (1998): 11). Die genannten Schriften müssen innerhalb dieser Arbeit aufgrund des Umfanges unberücksichtigt bleiben.
[15] Tadié (1987): 28.
[16] Eine genauere Analyse zur Entstehung und Struktur der Recherche findet man bei: Tadié (1987): 27ff..
[17] Vgl.: 3. Zeitstrukturen.
[18] „Während dieser ganzen Zeit dachte ich an den kleinen Notizbuchzettel, den Albertine mir zugesteckt hatte: ›Ich mag Sie sehr gern‹, und eine Stunde später, als ich dann die Wege hinunterging, die für meinen Geschmack etwas zu steil nach Balbec hinabführten, sagte ich mir, daß sie diejenige sei, mit der ich meinen Roman haben wolle.“ ( III – Im Schatten junger Mädchenblüte II/ A l’ombre des jeunes filles en fleurs II, 1201).
[19] Dieser Bericht erfolgt im nächsten Band: VI – Sodom und Gomorra I/ Sodome et Gomorrhe I, 2039-2081.
[20] Die Verdurins sind die Gründer des sogenannten ‚Kleinen Kreises’ in dem schon Odette und Swann verkehrten (Vgl.: I, 251-502).
[21] Der Erzähler konnte Mademoiselle Vinteuil zusammen mit ihrer Geliebten in Combray, im Hause des verstorbenen Vaters öfter beobachten (Vgl.: I, 213ff.).
[22] Bei dieser Episode kommt die kindliche Angst des Erzählers, ohne den ersehnten Gute-Nacht-Kuss zu Bett zugehen, wieder, diesmal jedoch nicht in Bezug auf die Mutter, sondern auf Albertine. Vgl.: „Als ich sah, daß Albertine mich von sich aus nicht zu küssen gedachte, und begriff, daß alles dies verlorene Zeit sei, daß erst mit einem Kuß die wahren, die beschwichtigenden Minuten beginnen würden, sagte ich zu ihr: »Gute Nacht, es ist zu spät«, um dadurch zu bewirken, daß sie mich dennoch küßte, und wir dann einfach dabei bleiben könnten. Aber nachdem sie mir genau wie an den beiden letzten Abenden geantwortet hatte: »Gute Nacht, versuche gut zu schlafen«, begnügte sie sich mit einem Kuß auf meine Wangen.“ (VIII, 3290).
[23] Saint-Loup hatte ihm von einer Dame gesprochen, die er in einem Stundenhotel getroffen hatte. Auf Anfrage erfährt Marcel vom Hausmeister die Gesehene sei eine gewisse Mademoiselle d’Eporcheville, woraufhin er Saint-Loup nach dem Namen der Kokotte fragt, da er sich nicht mehr sicher ist. Später erfährt er, dass die Gesehene Mademoiselle Forcheville war. Saint-Loup berichtet ihm, dass es sich bei der Kokotte um eine gewisse Mademoiselle De l’Orgeville handelt, die aber momentan in der Schweiz sei (Vgl. IX, 3509ff.).
[24] Eines Abends begegnete Marcel beim Nachhausekommen Andrée auf der Treppe, die ihm mitteilte, Albertine würde Briefe schreiben und Francoise sei nicht im Haus. Albertine begibt sich dann sofort in sein Zimmer. Nun berichtet ihm Andrée, dass er die beiden an diesem Abend beinahe überrascht hätte. Deswegen sei Andrée im Haus gewesen und Albertine gleich in sein Zimmer gegangen, damit er das verwühlte Bett nicht sehe. Diese Episode wird von dem Symbol einer Jasminblüte eingerahmt (Vgl.: VIII, 2820ff; IX, 3577f. Jasmin-Episode).
[25] Wenn das Präfixoid ‚auto-’ (griech. autós – selbst) zu einem Substantiv hinzugesetzt wird, wird diesem die Bedeutung ‚selbst, aus eigener Kraft’ hinzugesetzt. ‚Biographie’ ist entstanden aus der Neoklassischen Bildung bio- (Leben) und –graph (Schreiber), vermutlich unter Rückgriff auf das griech. biographia (Lebensbeschreibung). Vgl.: Kluge (2002): 77, 125.
[26] Terminus nach Bachtin (1989): 61: „Den ersten Typ wollen wir den Platonischen nennen, da er zuerst und am prägnantesten in Werken Platons [...] Ausdruck fand.“
[27] Ebd.: 71f..
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- Ulrike Hammer (Autor:in), 2007, "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" - zur narrativen Konstruktion von Zeit in der erzählenden Literatur des 20. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82784
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