Bereits in der Zeit um 1800 hatte Tieck schon den Plan für den Phantasus, einer Sammlung von Märchen, Novellen und Schauspielen, der erst zwölf Jahre später in zwei Abteilungen erscheint. Es ist eine Erinnerung, eine Huldigung an die Zeit im Hause Schlegels, eine der produktivsten in der deutschen Literaturgeschichte.
Im Phantasus erscheinen viele alte Werke Tiecks, die bereits in der Sammlung Volksmährchen herausgegeben von Peter Leberecht auftauchen , aber auch neue Erzählungen nimmt er in den Phantasus auf. So sind die Märchen Elfen, Pokal und Liebeszauber eigens für diese Sammlung geschrieben und in einem Brief an seinen Bruder Friedrich schreibt Ludwig Tieck: „Liebeszauber, Pokal und Elfen sind in meiner neuen Manier, ich bin selbst damit zufrieden, am meisten mit dem ersten, in diesem und Pokal dünkt mich viel in unsrer Sprache geleistet.“
Und tatsächlich ist Liebeszauber eines der grellsten und spektakulärsten Märchen des Tieckschen Erzählwerks. Mit diesem Werk beschreitet Tieck neue Wege in der Märchenerzählung der damaligen Zeit. Zum einen verlegt er die Szenerie von der Natur in die Stadt. Pokal und Liebeszauber werden als die ersten Stadtmärchen der deutschen Literatur bezeichnet. Die Stadtmärchen E. T. A. Hoffmanns und E.A. Poes sind die Erben jener Ludwig Tiecks. Zum anderen verlagert Tieck mit Liebszauber die Gattungsgrenzen. Das Märchenhafte wird zum Novellesken. Der Wendepunkt in der Geschichte teilt nicht nur die Handlung in zwei Hälften sondern spaltet auch ihre Akteure in ihrer Identität und die Bühne auf der sich alles abspielt. Letztendlich ist es sogar der Wendepunkt des Schaffens Ludwig Tiecks, der mit dem Phantasus auf dem Glanzpunkt seiner poetischen Laufbahn angelangt, zurückblickt und mit Liebeszauber seine „neue Manier“ ankündigt.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2. Szenenwechsel
3. Räume und Fenster
4. „Liebeszauber“ und „Geisterseherei“
5. Verlagerung der Gattungsgrenzen
6. Die früheren Erzählungen Tiecks
7. Der Übergang zu Tiecks realistischem Novellenschaffen
8. Resümee
9. Literaturverzeichnis
1 Einleitung
"Es war eine schöne Zeit meines Lebens, als ich Dich und Deinen Bruder Friederich zuerst kennen lernte; eine noch schönere, als wir und Novalis für Kunst und Wissenschaft vereinigt lebten, und uns in mannigfaltigen Bestrebungen begegneten“[1], schreibt Ludwig Tieck in seinem Vorwort zum Phantasus an August Wilhelm Schlegel und erinnert damit an die Lebensgemeinschaft im Haus der Brüder Schlegel in Jena. Dort wo auch Novalis, Wackenroder, Fichten, Schelling und Brentano verkehrten und eine neue Epoche der Literaturgeschichte einleiteten.
In dieser Zeit um 1800 hatte Tieck schon den Plan für den Phantasus, einer Sammlung von Märchen, Novellen und Schauspielen, der erst zwölf Jahre später in zwei Abteilungen erscheint.[2] Es ist eine Erinnerung, eine Huldigung an die Zeit im Hause Schlegels, eine der produktivsten in der deutschen Literaturgeschichte.
Im Phantasus erscheinen viele alte Werke Tiecks, die bereits in der Sammlung Volksmährchen herausgegeben von Peter Leberecht auftauchen[3], aber auch neue Erzählungen nimmt er in den Phantasus auf. So sind die Märchen Elfen, Pokal und Liebeszauber eigens für diese Sammlung geschrieben und in einem Brief an seinen Bruder Friedrich schreibt Ludwig Tieck: „ Liebeszauber, Pokal und Elfen sind in meiner neuen Manier, ich bin selbst damit zufrieden, am meisten mit dem ersten, in diesem und Pokal dünkt mich viel in unsrer Sprache geleistet.“[4]
Und tatsächlich ist Liebeszauber eines der grellsten und spektakulärsten Märchen des Tieckschen Erzählwerks. Mit diesem Werk beschreitet Tieck neue Wege in der Märchenerzählung der damaligen Zeit. Zum einen verlegt er die Szenerie von der Natur in die Stadt. Pokal und Liebeszauber werden als die ersten Stadtmärchen der deutschen Literatur bezeichnet. Die Stadtmärchen E. T. A. Hoffmanns und E.A. Poes sind die Erben jener Ludwig Tiecks. Zum anderen verlagert Tieck mit Liebszauber die Gattungsgrenzen. Das Märchenhafte wird zum Novellesken. Der Wendepunkt in der Geschichte teilt nicht nur die Handlung in zwei Hälften sondern spaltet auch ihre Akteure in ihrer Identität und die Bühne auf der sich alles abspielt.[5] Letztendlich ist es sogar der Wendepunkt des Schaffens Ludwig Tiecks, der mit dem Phantasus auf dem Glanzpunkt seiner poetischen Laufbahn angelangt, zurückblickt und mit Liebeszauber seine „neue Manier“[6] ankündigt.
Wie sich diese „neue Manier“[7] im Liebeszauber niederschlägt soll Untersuchungsgegenstand dieser Seminararbeit werden. Dabei werde ich auf die Verschiebung vom Naturmärchen zum Stadtmärchen und die Verlagerung der Gattungsgrenzen näher eingehen um schließlich den Liebeszauber in Ludwig Tiecks Schaffenslaufbahn einzuordnen und ein Gesamtbild dieses Werkes und seine Folgen zu projizieren.
2. Szenenwechsel
„Und also werden wir uns bei einer Würdigung Tiecks darüber verwundern, daß die deutsche Romantik nicht zu Bacharach am Rhein, nicht auf Schloss Lubowitz und nicht in mondbeglänzten Nächten begründet wurde, sondern auf dem Berliner Pflaster, in einer Stadt, die damals – etwa 1795 – schon nahezu zweihunderttausend Einwohner zählte.“[8] So ist es nicht verwunderlich, dass Ludwig Tieck diesem Schauplatz in seinen Wortkunstwerken die Ehre erweist. Die Stadt als magischer Ort mit seinen engen Gassen, dunklen Ecken, fremdartigen und seltsamen Personen oder den Szenerien im Fensterspalt und hinter Vorhängen im gegenüberliegenden Haus. Aus diesen Attributen entsteht das Märchenhafte in Tiecks Liebeszauber. Anders als in den Naturmärchen geht es in den Stadtmärchen „um die Wunder der natürlichen Wirklichkeit in einer großen Stadt“.[9] Dabei wird mit Tabus und den konventionellen Vorstellungen der Erhabenheit der seelischen Entfaltung gebrochen und in einen Irrgarten der menschlichen Seelentriebe geführt, der eisern die Wirklichkeit grauenhaft verzerrt. Es gibt keine Eindeutigkeiten. „Die Stadt [lebt] auf der Höhe der Maskenhaftigkeit, der Täuschungen und Spiegelungen, wie sie nur in der Räumlichkeit eines ausgedehnten Straßennetzes möglich ist. Im Karneval spielt die ganze Stadt mit.“[10] Schein und Wirklichkeit verschmelzen miteinander, Menschen werden zu „Figuren“ ob sie zur Maskerade gehören oder nicht ist nicht mehr fasslich so ist Emil sich seiner Sache nicht sicher,
„als eine Figur seine Aufmerksamkeit auf sich zog, die unruhig auf und nieder ging [...]. Es war ein altes Weib von der äußersten Häßlichkeit, die um so mehr in die Augen fiel, weil sie gegen ein scharlachrotes Leibchen, das mit Gold besetzt war, höchst abentheuerlich abstach; der Rock, den sie trug, war dunkel, und die Haube ihres Kopfes glänzte ebenfalls von Gold. Emil glaubte anfangs eine geschmacklose Maske zu sehn, die sich hierher verirrt habe, aber bald war er beim hellen Scheine überzeugt, daß das alte braune und runzlichte Gesicht ein wirkliches und kein nachgeahmtes sey.“[11]
Im ekstatischen Karnevalsgetümmel mit der infernalischen-triebhaftigen Musik, die Emil die Sinne berauscht, verwischen die Grenzen und das Leben wird zur Ausgeburt der Fantasie:
„Im Saale verlor er sich sogleich im flutenden Getümmel, Tänzer umsprangen ihn, Masken schossen an ihm hin und her, Pauken und Trompeten betäubten sein Ohr, und ihm war, als sei das menschliche Leben selber nur ein Traum.“[12]
Der Zweifel an der Realität des Lebens lässt ihn schnell wieder in seine eigene Realität zurück gleiten, als ihn in dem Getöse
„plözlich jene Angst [überfiel], der Schreck, der so oft schon in solcher erregten Menschenmenge sein Herz ergriffen hatte, und [...] ihn aus dem Saale und Hause, über die öden Gassen hinweg [jagte].“[13]
In seinem Zimmer und somit auch seiner eigenen Realität angekommen, schreibt er das Erlebte und die Sinnesreize nieder, „die in der letzten Strophe in höchster Intensität kulminieren und mit zynischer Vernunft die eigene, den karnevalistischen Freuden inadäquate Verfassung beleuchten.“[14] Emil schreibt:
„So taumeln wir alle / Im Schwindel die Halle / Des Lebens hinab, / Kein Lieben, kein Leben / Kein Seyn uns gegeben, / Nur Träumen und Grab: / Da unten bedecken / Wohl Blumen und Klee / Noch grimmere Schrecken, / Noch wilderes Weh; / Drum lauter ihr Cymbeln, du Paukenklang, / Noch schreiender gellender Hörnergesang! / Ermuthiget schwingt, dringt, springt ohne Ruh, / Weil Lieb uns nicht Leben / Kein Herz hat gegeben, / Mit Jauchzen dem greulichen Abgrunde zu!“[15]
Die ausgelassenen Feierlichkeiten des Karnevals, das überspielte unwirkliche lassen keine Liebe zu, denn alles bewegt sich in der ekstatischen Umgebung blitzhaftig und man taumelt im Lachen und Begehren in der Sphäre umher, die für alle hier Gültigkeit besitzt. Daraus erwächst das Niederträchtige der Stadt, das „nur noch nach der Bitterkeit des Daseins schmeckt.“[16] Emil ist gefangen in diesem Sumpf. Seine einzige Zuflucht ist sein Zimmer mit dem gegenüberliegenden Fenster, in welchem sich ihm allabendlich ein erotisches Blickarrangement mit einer unwissenden Geliebten, deren Gegenliebe ihm ebenfalls verborgen ist. Doch diese vermeintlich sichere Umgebung seiner Behausung birgt das Unheimliche in sich, das ihn letztendlich in den Wahnsinn und den Tod führt.
3. Räume und Fenster
Im frühromantischen Denken ist das Haus nicht mehr das wohnliche behagliche Nest, von wo aus sich eine Richtung ergibt. Dachboden und Keller, die einst den Kindern als Spielplatz dienten und etwas Wunderbares hatten, sind passé und werden durch das Wunderliche des Hauses ersetzt.[17] Die Zuflucht, die Emil in seinem Zimmer sucht, um sich von der äußeren Welt zurück zu ziehen, ist keine Zuflucht. Die Behausungen und Räume ähneln einem Bühnenbild, auf dem nur die nötigsten Dinge stehen. Und wie zu einem Bühnenbild gehören auch zu den Räumen der Stadt die Akteure, die sich in diesen Räumen darstellen und die Zuschauer, die das Ganze verfolgen. Das Theaterstück spielt sich im Fenster hinter Vorhängen oder durch die Spalten der Fensterläden ab.
„Plözlich aber zeigte sich ein Licht, und die Kleine, welche seine unbekannte Geliebte um sich hatte, und mit der sie sich am Tage wie am Abend vielfältig abgab, trug ein Licht durch das Zimmer und lehnte die Fensterläden an. Eine Spalte blieb hell, groß genug, um von Emils Standpunkt einen Theil des kleinen Zimmers zu überschauen, und dort stand oft der Glückliche bis nach Mitternacht wie bezaubert, und beobachtete jede Bewegung der Hand, jede Miene seiner Geliebten.“[18]
So wie Emil sich dem allabendlichen Schauspiel hingibt, war auch Ludwig Tieck selber von solchen kulissenhaften blitzartig ablaufenden Bildern fasziniert, denn „als er in München lebte <1808-10> hatte ein Haus, welches seiner Wohnung gegenüberlag seine Aufmerksamkeit erregt. Über die enge Gasse blickte er in ein Zimmer, an dessen Fenster sich zuweilen ein junges Mädchen mit einem Kinde auf dem Arme zeigte. Sie pflegte mit demselben zu spielen und zu tändeln. Abends wurden die Fensterladen sogleich geschlossen, doch aus den Spalten drangen helle Lichtstreifen hervor. Auch jetzt noch war es möglich in das innere des Zimmers zu sehen. Schattenhaft glitt sie am Fenster vorüber, oder saß mit dem Kinde beschäftigt hinter dem Lichte am Tisch. Der Einblick in die enge Häuslichkeit, die sich einfach gab, wie sie war, zog ihn an und beschäftigte ihn. Aus diesen abgerissenen Bildern gestaltete die dichtende Phantasie jene grauenvolle Geschichte, in welcher der Lichtstrahl aus den Fugen der Fensterladen hervorquillt und todbringend auf den Beobachter fällt, der jenseits der Straße in nächtlicher Stille lauschend steht.“[19]
Das Fenster, das nicht nur die Position und die Perspektive des Neugierigen gestaltet, sondern auch den Neugierigen als Einsamen entlarvt. Dieser wähnt sich in sicherer Distanz zur Außenwelt ohne mit ihr in Berührung kommen zu müssen, überhaupt von ihr registriert zu werden und verfällt dem Solipsismus. Wenn
„Emils Freunde [...] nicht [begriffen], warum er in dieser engen Gasse wohne, in einem unbequemen Hause, weshalb man ihn so wenig in Gesellschaften sehe, und womit er sich beschäftige“[20],
so ist die Antwort darauf für den Leser keine Überraschung, wenn es heißt:
„Unbeschäftigt, in der Einsamkeit, war er glücklich, nur unzufrieden mit sich und seinem menschenscheuen Charakter, daß er es nicht wage, die nähere Bekanntschaft dieses schönen Wesens zu suchen, so freundlich sie auch einigemal am Tage gegrüßt und gedankt hatte. Er wußte nicht, daß sie eben so trunken zu ihm hinüber spähte, und ahndete nicht, welche Wünsche sich in ihrem Herzen bildeten, welcher Anstrengung, welcher Opfer sie sich fähig fühlte, um nur zum Besitz seiner Liebe zu gelangen.“[21]
Hier wird bereits auf das hingedeutet, was sich im Laufe des Abends vor Emils Augen in den Gassen der Stadt und im Fenster gegenüber ereignen wird.
[...]
[1] Tieck, Ludwig: Phantasus. Hrsg. v. Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1985. (= Ludwig Tieck: Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. v. Manfred Frank u. a., Bd. 6). S. 9.
[2] Ebd. S. 1147.
[3] Tieck, Ludwig: Märchen aus dem „Phantasus“. Hrsg. v. Walter Münz. Stuttgart 2003. S. 285.
[4] Tieck, Ludwig: Phantasus. Frankfurt a. M. 1985. S. 1327.
[5] Ebd. S. 1295 ff.
[6] Ebd. S. 1327.
[7] Ebd. S. 1327.
[8] Staiger, Emil: Ludwig Tieck und der Ursprung der deutschen Romantik, in: ders.: Stilwandel. Freiburg und Zürich 1963. S. 175.
[9] Thalmann, Marianne: Romantiker entdecken die Stadt. München 1965. S. 27.
[10] Ebd. S. 28.
[11] Tieck, Ludwig: Märchen aus dem „Phantasus“. Stuttgart 2003. S. 121 f.
[12] Ebd. S. 123.
[13] Ebd. S. 127.
[14] Garmann, Gerburg: Die Traumlandschaften Ludwig Tiecks. Traumreise und Individuationsprozeß aus romantischer Perspektive. Opladen 1989. S. 154.
[15] Tieck, Ludwig: Märchen aus dem „Phantasus“. Stuttgart 2003. S. 129 f.
[16] Thalmann, Marianne: Romantiker entdecken die Stadt. München 1965. S. 29.
[17] Thalmann, Marianne: Romantiker entdecken die Stadt. München 1965. S. 48.
[18] Tieck, Ludwig: Märchen aus dem „Phantasus“. Stuttgart 2003. S. 120.
[19] Köpke, Rudolf: Ludwig Tieck. Erinnerungen aus dem Leben des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mitteilungen. Erster Teil. Darmstadt 1970. S. 348 f.
[20] Tieck, Ludwig: Märchen aus dem „Phantasus“. Stuttgart 2003. S. 120.
[21] Ebd.
- Quote paper
- Frank Jakobs (Author), 2006, Ludwig Tiecks „Liebeszauber“ als Wendepunkt seines poetischen Schaffens, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82719
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