Erste grundsätzliche Stellungnahme zu und Erweiterung der Trias von Emil Staiger auf eine vierte "publikumsbezogene" Grundhaltung, in der alle übrigen Gattungen untergebracht werden können.
Reflexion über die Grundhaltungen in der Poetik
Die Drei ist uns eine angenehme, fast heilige Zahl. Gern sehen wir sie in der Umwelt bestätigt; unwillkürlich überzeugt sie uns, wo wir ihr begegnen. "Antike – Mittelalter - Neuzeit", "das Leibliche - das Seelische - das Geistige", "das Lyrische - das Epische - das Dramatische", das sind solche Dreiheiten, die keiner mehr anzuzweifeln wagt, obwohl sie höchst fragwürdig sind. Wir selbst haben im vorigen Satz unwillkürlich drei Beispiele gewählt, denn "aller guten Dinge sind drei." Es wohnt der Dreizahl ein eigener, abgerundeter, befriedigender (schon wieder drei Attribute!) Rhythmus inne, der Dreitakt; und wer das nicht glaubt, möge Sätze mit zwei oder vier veranschaulichenden Beispielen bilden und sie sich laut vorlesen. Er wird fast körperlich spüren, dass er entweder nur ein Beispiel geben darf oder drei; zwei aber sind zu wenig, vier zu viel. Häufig aber stimmt es mit diesen unwidersprochenen Dreiheiten doch nicht, man muss sie nur einmal gründlich anzweifeln. Das möchte ich an der Dreiheit "lyrisch-episch-dramatisch," wie sie uns Emil Staiger in seinem Buch Grundbegriffe der Poetik[1][2] beschreibt, tun.
Als Gegenthese sei behauptet, dass sich in der Dichtung vier menschliche Grundeinstellungen spiegeln: die lyrische, epische, dramatische und die "artistische," so sei die neue vorläufig genannt. Als Zeugnis für diese Behauptung möchte ich Beobachtungen an den Vortragsgattungen, besonders am literarischen Chanson [3], anführen-und Staiger selbst.
Die inneren Sprechsituationen des Chansonniers, des Troubadours, des Bänkelsängers ebenso wie die des Akteurs der commedia dell' arte und des Brechtstückes oder der Nestroyposse, die Grundhaltung des witzigen Anakreontikers wie die des empfindsamen Romanciers (Jean Paul) oder des ironischen Schriftstellers (Thomas Mann) haben etwas gemeinsam: die Distanz vorn Stoff und die Bewusstheit der eigenen Wirkung auf den Adressaten. Hermann J. Weigand z.B. stellte uns - allerdings unter anderem Gesichtspunkt - schon 1933 im V. Kapitel seines Buches über Thomas Manns Roman "Der Zauberberg" (The Ironic Temper, S. 59 ff.) eine Fülle von Beispielen für das Kokettieren des Dichters mit dem Publikum zusammen, von denen wir nur ein kurzes wiedergeben: "Hier steht eine Erscheinung bevor, über die der Erzähler sich selbst zu wundern gut tut, damit nicht der Leser auf eigene Hand sich allzu sehr darüber wundere" (I, 309). Ähnliche Fälle des Verlassens der unreflektierten (d.h. hier: nur auf den Stoff und nicht auf das Publikum konzentrierten) Erzählhaltung zu Gunsten der Wendung an den Leser in Anspielungen oder allgemeinen Reflexionen lassen sich von Wieland über Goethe, Heine bis zu Somerset Maugham oder Henry James immer wieder zeigen.
Erst kürzlich hat Volkmar Sander bei Mörike "das hohe Maß an Reflektiertheit" in "Zwischenreden des Autors, in denen er, in direkter Wendung an den Leser, zum berichteten Geschehen selbst Stellung nimmt" [4] und "das Zwiespältige und Doppelgesichtige der Novelle" als "Erzählergegenwart" neben den beiden anderen Strängen der "Gegenwartshandlung" und "Vorzeithandlung" aufgewiesen. Nur bezeichnet Sander die so vortrefflich gezeigten artistischen Grundzüge dieser Novelle fälschlich als "das spezifisch epische Element der Deutung und Erklärung,"[5] und die sogen. "Erzählergegenwart" als "jenes dem Epischen vorbehaltene Phänomen." [6] Der Ausdruck "Erzählergegenwart" führt aber irre, weil er das Gemeinte zu sehr auf die epischen Gattungen festlegt. Wenn wir an die häufigen "Adressen an das Publikum" (Bezeichnung Brechts für seine Songs) in vielen Formen des Theaters von Nestroy bis heute denken, möchten wir lieber "Publikumsbezug" sagen; denn der ist nicht "dem Epischen vorbehalten"! Er tritt in allen Gattungen in Verbindung mit den drei anderen Grundhaltungen auf; wir nannten ihn vorläufig "artistisch."
Der artistische Publikumsbezug prägt natürlich das Werk, die Brücke zwischen Sprecher und Angesprochenen, in verschiedenen Färbungen, etwa der agitatorischen (z.B. im sozialistischen Song), der didaktischen (in den Brechtgesängen), der sentimentalen (häufig im Chanson), der humoristischen (im Wiener Couplet), der ironischen (etwa in Heine-und Tucholskygedichten). Hiermit sind längst nicht alle Möglichkeiten genannt. Außerdem verbinden sich diese im konkreten Kunstwerk wieder zu mannigfachen Wirkungen wie etwa die didaktische mit der komischen zur satirischen. Anders ausgedrückt: wir sehen die Satire als eine (die komische) Möglichkeit der Didaktik, die Didaktik wiederum als eine (die lehrhafte) Möglichkeit der "Artistik." Diese artistische Grundhaltung kommt nicht durch eine Mischung der drei von Staiger beschriebenen zustande, sondern steht gleichberechtigt neben diesen als eigene Qualität. Sie entspricht der inneren Situation des Vortragskünstlers in besonderem Maße, der seine Konzentration weitgehend vom Werk auf das Publikum verlagert, und lässt sich deshalb an den Vortragsgattungen am besten beobachten. Sie ist darum eng mit den mimischen Künsten verbunden, nicht aber auf diese beschränkt. [7] In jedem Kunstwerk, das sich an Menschen wendet und nicht in solipsistischer Monotonie erstarrt - also auch im Roman, in der Lyrik und im Drama - werden mindestens Spuren der artistischen Grundhaltung zu erkennen sein. Das wäre in Einzelinterpretationen zu erweisen. [8]
[...]
[1] Dieser Beitrag ist eine leicht überarbeitete Fassung eines Vortrages, den der Vf. am 20. Juni 1964 in Charlottetown, Prince Edward Island anlässlich des dritten Jahrestreffens der Canadian Association of University Teachers of German hielt.
[2] Zürich, 1946; alle Zitate aus der 2. erweiterten Auflage (Zürich, 1951); alle Hervorhebungen im Text von mir.
[3] Siehe meinen Aufsatz "Reflexion über das literarische Chanson" in Neue Deutsche Hefte, Nr. 91 (Januar 1963) und in Welt und Wort (Februarheft 1963). [4] "Zur Rolle des Erzählers in Mörikes Mozart‑Novelle,"GQ, XXXVI (March 1963),123-124.
[5] Ibid,, p. 127.
[6] Ibid., p. 122.
[7] Insofern der artistische Künstler seine Aufmerksamkeit weitgehend vom Stoff auf das Publikum verlagert, wird er leicht zur "Virtuosität" (d.h. auf äußere Wirkung abgestellten, oft routinemäßigen Beherrschung seiner Darstellungsmittel) und zum "Konstruktivismus" (im Sinne Benns von rationaler oder spielerischer, jedenfalls aber nicht unbewusster, Gestaltung) neigen.
Wo sich, wie bei Brecht, die artistische mit der pädagogischen Einstellung verbinden, wird auch die vielbesprochene "Verfremdung" (d.h. Distanzierung des Publikums vom emotionalen Gehalt des Stoffes zu Gunsten des rationalen-) als Mittel genutzt werden. Grundsätzlich aber dürfen diese Begriffe nicht vermischt werden. Das "Artistische" sollte der Überbegriff bleiben und zuerst nur "Publikumsbezogenheit" meinen, die sich allerdings in den verschiedensten, oben beschriebenen Weisen gestalten kann.
[8] Siehe meinen im September 1964 in den Neuen Deutschen Heften (Nr. 101) erschienenen Aufsatz "Vier Chansons, Versuche einer sprechkundlichen Deutung." Dort beschreibe ich, wie der Refrain und andere Sprachgebärden als Kontaktmittel zum Publikum genutzt werden.
- Citation du texte
- Dr. Wolfgang Ruttkowski (Auteur), 1975, Reflexion über die 'Grundhaltungen' in der Poetik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82639
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